"Deutschland soll Wasserstoff-Weltmeister werden." - gwf-gas.de

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INTERVIEW

„Deutschland soll Wasserstoff-Weltmeister werden.“
Im Interview mit gwf Gas + Energie fordert Katherina Reiche Berlin und Brüssel auf, schneller für
die entsprechenden Rahmenbedingungen zu sorgen, um den Wasserstoff-Hochlauf anzuschie-
ben. Gleichzeitig mahnt die Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG und Vorsitzende des Natio-
nalen Wasserstoffrates, nicht zu vergessen, dass die Energiewende auch eine Gaswende sei, bei
der dem bestehenden Gasnetz eine Schlüsselrolle für den Erhalt des Industriestandortes
Deutschland zukomme.

gwf: Frau Reiche, Sie sind Vorstandsvor-     Reiche: Inhaltlich liegen beide Rollen nah    sche Förderung und die zwei Milliarden
sitzende der Westenergie und auch Vor-       beieinander. In beiden Positionen arbeite     für internationale Projekte sind beachtlich.
sitzende des Nationalen Wasserstoffra-       ich an der Zukunft der Energieversorgung      Andere Nationen sind jedoch mit noch
tes. Ist das nicht beim neuen Megathema      Deutschlands. Die Praxiserfahrungen aus       deutlich mehr Kraft und Engagement un-
Wasserstoff derzeit eine fortwährende        der täglichen Arbeit bei Westenergie hel-     terwegs. Will sagen: Wir haben gute Vor-
Zerreißprobe?                                fen sehr dabei, im Wasserstoffrat die Bun-    aussetzungen, aber wir sind leider im Mo-
Reiche: Nein, denn die Prioritäten sind ja   desregierung beim Hochlauf der Wasser-        ment noch zu sehr damit beschäftigt, uns
klar: Zuallererst bin ich Vorstandsvorsit-   stoffwirtschaft zu beraten.                   mühsam an die Spitze zu kämpfen.
zende der Westenergie, damit selbstre-           Wasserstoff ist neben der Digitalisie-
dend verantwortlich für unser Unterneh-      rung eines der zentralen Zukunftsthe-         gwf: Der „Nationale Wasserstoffrat“ soll
men und unsere Mitarbeiterinnen und          men, die wir mit Entschiedenheit anpa-        nun dafür sorgen, dass wir schneller vor-
Mitarbeiter. An zweiter Stelle bin ich eh-   cken. Wir haben einen breiten gesell-         ankommen beim Thema Wasserstoff-
renamtliche Vorsitzende des Nationalen       schaftlichen Konsens darüber, dass            Hochlauf. Ist er dazu überhaupt in der
Wasserstoffrates.                            Wasserstoff eine entscheidende Rolle für      Lage?
                                             unser Energiesystem einnehmen soll.           Reiche: Die Bundesregierung hat im Som-
gwf: Anders gefragt: Wie kommen Sie da-      Und das parteiübergreifend, in allen Bun-     mer vergangenen Jahres die Nationale
mit klar, dass das Thema Wasserstoff der-    desländern, in den Mitgliedstaaten der        Wasserstoffstrategie beschlossen. Einer
art auch Ihre Agenda als Westenergie-        Europäischen Union und auch global            der Bestandteile ist die Einrichtung des
Chefin dominiert?                            über viele Industriezweige hinweg. Ich        Wasserstoffrates. Das ist jetzt knapp ein
                                             kann mich nicht erinnern, dass wir schon      dreiviertel Jahr her. Unsere wichtigste
                                             einmal eine solche energiepolitische          Aufgabe ist, aus den 38 Einzelmaßnah-
                                             Konstellation hatten, wo es eine derarti-     men der Nationalen Wasserstoffstrategie
                                             ge Aufbruchsstimmung, so viele gemein-        eine Roadmap, einen Masterplan zu erar-
                                             same Initiativen und Anstrengungen und        beiten, und zu empfehlen, wie die einzel-
                                             so viel positive Energie gab wie aktuell      nen Maßnahmen bestmöglich umge-
                                             beim Thema Wasserstoff.                       setzt werden können. Wir sind ein sehr
                                                                                           aktives Beratungsgremium und werden
                                             gwf: Bevor wir ins Schwärmen kommen:          auch konkret in laufende Gesetzge-
                                             Dem großen nationalen Konsens sind            bungsverfahren eingebunden. Beispiels-
                                             aber bislang leider noch nicht allzu große    weise zum Erneuerbare-Energie-Gesetz,
                                              Taten gefolgt.                               zur RED II oder auch zum Aufschlag des
                                               Reiche: Im globalen Maßstab ist die He-     Bundeswirtschaftsministeriums und der
                                                rausforderung für uns als Industrienati-   Bundesnetzagentur zur zukünftigen Re-
                                                  on gewaltig. Viele Länder haben be-      gulierung von Wasserstoffnetzen. Wir
                                                   reits nationale Wasserstoffstrategi-    wagen aber auch den Blick über den Tel-
                                                         en      ausgearbeitet     oder    lerrand und beschäftigen uns mit lang-
                                                                                                                                             Fotos: © Westenergie AG

                                                            befinden sich schon mitten     fristigen Fragestellungen.
                                                            in der Umsetzung. Da ist
                                                            Deutschland nicht in der       gwf: Die da lauten?
                                                           Pole-Position. Zugegeben,       Reiche: Eine der zentralen Fragen lautet:
                                                           die bereitgestellten sieben     Wo kann Wasserstoff erzeugt werden?
                                                           Milliarden Euro für inländi-    Dazu gehört als erste Erkenntnis, dass wir

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INTERVIEW

die benötigten Mengen nicht allein in        getroffen. Dieser vergleichsweise hohe       hende Erdgas-Infrastruktur transportiert
Deutschland werden erzeugen können.          Takt ist erforderlich, um unsere gesetzten   werden kann. Das gilt für die großen
Momentan braucht die deutsche Indust-        Ziele zu erreichen. Wir wollen der Bundes-   Pipelines genauso wie für das regionale
rie rund 1,5 Millionen Tonnen Wasserstoff.   regierung noch vor der Bundestagswahl        Verteilnetz.
Dieser wird überwiegend aus fossilen         konkrete Hinweise und Empfehlungen
Brennstoffen gewonnen oder ist ein Ab-       geben. Bislang läuft das auch schon sehr  gwf: Ist denn das deutsche Gasnetz über-
fallprodukt aus Raffinerieprozessen. Le-     erfolgreich: Viele unserer Stellungnahmen haupt H2-ready?
diglich sieben Prozent decken wir über       und Initiativen haben Eingang in die aktu-Reiche: Grundsätzlich ja. Alles deutet dar-
Elektrolyse ab. Wenn wir jetzt sagen wür-    ellen Gesetzesvorhaben gefunden.          auf hin, dass Gasnetze mit überschauba-
den, wir ersetzen den deutschen Gasbe-                                                 rem Aufwand auf Wasserstoff umgestellt
darf vollständig durch grünen Wasser-       gwf: Nennen Sie uns ein Beispiel?          werden können. Es werden lediglich klei-
stoff, bräuchten wir rund 25 Millionen      Reiche: Es war beispielsweise nicht aus- nere Anpassungen erforderlich sein. Die
Tonnen oder 1.200 TWh pro Jahr. Das ist     gemacht, dass wir eine EEG-Befreiung für Experten in unserem Unternehmen haben
doppelt so viel wie unser derzeitiger       Elektrolyseure bekommen. Es war ledig- mir eine einfache Formel mitgegeben: Al-
Strombedarf insgesamt.                      lich die besondere Ausgleichsregelung les was unter der Erde liegt, ist weitgehend
                                            im Gespräch. Jetzt gibt es beides. Das ist wasserstofftauglich.     Herausfordernder
gwf: Derzeit gibt es viele unterschiedliche ein erster Meilenstein. Jetzt brauchen wir wird es bei allem über der Erde, wenn wir
Studien und Szenarien zum Ausbau der noch die Verordnung für den Herkunfts- von Kompressoren sprechen, dem Druck-
Erneuerbaren Energi-                                                                                     ausgleich, den Verdich-
en. In vielen kommt                                                                                      tern. Da werden an ein-
dabei elektrolysierter
Wasserstoff - weil in
                            „Wir werden signifikante Mengen an Wasserstoff zelnen                                   Komponenten
                                                                                                         Anpassungen erforder-
der Produktion zu                              importieren müssen.“                                      lich sein.
teuer - gar nicht vor.                                                                                       Wenn es uns aber
Wie und in welchen                                                                                       gelingt, unser beste-
Etappen kann denn dann ein Wasser- nachweis. Wir müssen wissen, wie grüner hendes Gasnetz technisch anzupassen,
stoff-Hochlauf überhaupt stattfinden?       Strom definiert wird. Ohne Herkunfts- wird der Transport von Wasserstoff hoch-
Reiche: Es gibt eine ganze Reihe von Stu- nachweise wird das nicht funktionieren.      effizient und kostengünstig. Wir könnten
dien mit einer Fülle variabler Determinan-                                             dann das bereits existierende Gasnetz
ten wie zum Beispiel heutiger oder prog- gwf: Wie stehen die Chancen dafür?            von 511 000 Kilometer Länge für Wasser-
nostizierter CO2-Preis, Kosten für Strom Reiche: Es wurde jetzt zunächst einmal stoff nutzen. Wir müssten kaum neue
aus erneuerbaren Energien mit oder ohne die grundsätzliche Entscheidung gefällt, Leitungen verlegen. Das spart Kosten
EEG-Umlage, aber auch Elektrolyseur-Kos- dass die Elektrolyse plus die nachgelager- und Streit. Eine Debatte wie beim Ausbau
ten. Dies führt dann im Ergebnis zu teils ten Prozesse von der EEG-Umlage entlas- der Stromautobahnen bliebe uns erspart.
sehr unterschiedlichen Aussagen zum tet werden. Was sehr wichtig ist, denn die             Die Umstellung von Gas auf Wasser-
Wasserstoff-Hochlauf. Weil das so ist, ha- Elektrolyse endet ja nicht zwischen Ka- stoff ist vor allem ein Koordinationsauf-
ben wir als Nationaler Wasserstoffrat eine thode und Anode. Die Umsetzung dieses wand. Das ist wie eine Partnerbörse: Wir
Studie bei der Fraunhofer-Gesellschaft in wichtigen Punktes zeigt, dass sich unsere müssen Erzeuger und Nutzer zusammen-
Auftrag gegeben. Sie soll die unterschied- Anstrengungen lohnen.                       bringen. Wir müssen herausfinden, wo es
lichen Analysen zusammenfügen und die                                                  Bedarf für reinen Wasserstoff gibt. Hier
jeweils zugrunde gelegten Annahmen gwf: Sie sagen, dass wir hierzulande nicht muss das Netz als erstes umgestellt wer-
vereinheitlichen, um endlich belastbare genügend grünen Wasserstoff werden den. In anderen Regionen kann man mit
Aussagen zum Wasserstoff-Hochlauf tref- produzieren können. In Ihrer Keynote bei Beimischungen arbeiten.
fen zu können. Wir brauchen diese Meta- der von der Bundesregierung initiierten
Erhebung, um eine Abschätzung zu er- Wasserstoffvollversammlung haben Sie gwf: Gibt es bei Westenergie einen Mas-
halten, was wir wirklich zu erwarten ha- angedeutet, dass über Nordstream 2 Was- terplan zur H2-readyness?
ben. Diese Studie wrid uns in der serstoff aus Russland transportiert wer- Reiche: Den gibt es. Heute sind zehn Pro-
kommenden März-Sitzung des Nationa- den könnte. Was hat es damit auf sich?             zent Wasserstoff-Beimischung erlaubt.
len Wasserstoffrates vorliegen.             Reiche: Wir werden signifikante Mengen Tests zeigen: Wir könnten auch bereits 20
                                            an Wasserstoff importieren müssen. Dies bis 30 Prozent beimischen, ohne dass wir
gwf: Der Wasserstoffrat tagt demnach wird entweder per Pipeline oder per etwas anpassen müssten. Heizungsbauer
monatlich?                                  Schiff erfolgen. Nordstream ist lediglich sagen uns, dass moderne Anlagen mit
Reiche: Ja, seit dem Start haben wir uns ein prägnantes Beispiel dafür, dass zu- einer Beimischung von 20 bis30 Prozent
monatlich in mehrstündigen Sitzungen künftig Wasserstoff auch über die beste- sicher betrieben werden können.

gwf Gas + Energie   4/2021                                                                                                    21
INTERVIEW

                                                                                          Denn wenn ein Element fehlt, funktio-
                                                                                          niert die ganze Kette nicht. Als erstes er-
                                                                                          fordert dies, sich auf die Erzeugung zu
                                                                                          fokussieren: sowohl auf den Hochlauf im
                                                                                          eigenen Land, aber auch auf Importe.
                                                                                              Zwingend erforderlich ist darüber hin-
                                                                                          aus, dass die Bundesregierung noch vor
                                                                                          der Bundestagswahl die Netzregulierung
                                                                                          so ausgestaltet, dass konkrete Investitio-
                                                                                          nen in Wasserstoffnetze getätigt werden
                                                                                          können.
                                                                                              Zu guter Letzt müssen Förderregime
                                                                                          für die Umstellung von fossilen Energie-
                                                                                          trägern auf Wasserstoff etabliert werden,
                                                                                          damit die Stahlindustrie in Anlagen für
                                                                                          die Produktion von grünem Stahl inves-
                                                                                          tiert und wir die ersten Wasserstoff-Lkw
                                                                                          auf unseren Straßen sehen.

                                                                                          gwf: Muss nicht auch auf Abnehmerseite,
                                                                                          speziell auf Seiten der Industrie, regulie-
                                                                                          rend eingegriffen werden?
                                                                                          Reiche: Ja, es wird eine ganze Menge Re-
    Es gilt nun, in den kommenden zehn        gwf: Wie stellen Sie sich den Übergang      geln brauchen. Teile davon sind das EEG,
bis zwanzig Jahren Erfahrungen zu sam-        vor?                                        die RED II und der Regulierungsrahmen
meln und die Infrastruktur sukzessive an-     Reiche: Wir schauen einfach ganz prag-      für Infrastrukturen. Die Stahlbranche sagt
zupassen. Im Wärmemarkt haben wir 60          matisch, was wir an verschiedenen Stel-     zurecht, dass die klimaneutrale Produkti-
Prozent des Primärenergieverbrauchs           len für eine Komplettumstellung von Erd-    on momentan doppelt so teuer ist und
und damit einen gigantischen CO2-Fuß-         gas auf Wasserstoff benötigen. Bei unse-    man sich so im Weltmarkt nicht behaup-
abdruck. Deswegen muss die Logik jetzt        rem Pilotprojekt in Holzwickede bei         ten kann. Ich persönlich glaube nicht an
sein: Wie kommen wir bei vertretbaren         Dortmund bauen wir neben eine beste-        Klimazölle wie den Carbon Border Adjust-
volkswirtschaftlichen Kosten zu einer         hende Gasleitung einen Zwilling, damit      ment Mechanism. Aus meiner Sicht ist es
möglichst hohen Reduktion von CO2, um         die am Projekt beteiligten Unternehmen      das falsche Instrument und auch interna-
schlussendlich dann an der rein grünen        abgesichert sind. Die bestehende Lei-       tional nicht durchsetzbar. Gleichwohl
Lösung zu arbeiten. Wovor ich warne, ist      tung werden wir mit reinem Wasserstoff      brauchen wir einen Ausgleich für die
bereits jetzt Hürden aufzubauen, die die-     befüllen. Sie ist gleichsam die Hose, die   Mehrkosten, hier könnten es Carbon
se Phase der Umstellung gar nicht erst        man trägt. Durch die Extraleitung be-       Contracts for Difference sein.
möglich machen.                               kommen die Unternehmen einen Gürtel
                                              und Hosenträger, damit nichts verrut-       gwf: Was muss noch regulierend getan
gwf: Sie meinen eine einseitige Förderung     schen kann. Dadurch ist die Energiever-     werden, um Wasserstoff auf die Beine zu
eines reinen Wasserstoffnetzes?               sorgung doppelt abgesichert, falls Teile    helfen?
Reiche: Ich sage nur, wir brauchen einen      der Leitungen den Wasserstoff doch          Reiche: Von der Bundesregierung brau-
Übergang, keine Revolution. Warum den         nicht vertragen. So können wir an einer     chen wir jetzt relativ schnell die Auktionie-
Ast absägen, auf dem wir sitzen? Wir ha-      Bestandsleitung durchtesten, was alles      rung der fünf GW Elektrolyseurkapazität,
ben eine Infrastruktur, die wir nutzen kön-   benötigt wird, um auf reinen Wasserstoff    die in der Nationalen Wasserstoffstrategie
nen und aus volkswirtschaftlichen Grün-       umzustellen.                                angekündigt ist. Wir brauchen außerdem
den auch nutzen müssen. Es geht ja nicht                                                  eine Grün-Gas-Quote, zum Beispiel für die
nur um die Assets von privatwirtschaftli-     gwf: Was erwarten Sie als Vorsitzende des   Nutzung von grünen Gasen im Wärme-
chen Unternehmen wie der Westenergie,         Nationalen Wasserstoffrates von der Poli-   markt oder im Verkehrssektor. Im Ver-
es geht auch um die Anlagenwerte eini-        tik?                                        kehrssektor bin ich für eine Gleichbe-
ger tausend Kommunen mit eigenen              Reiche: Die Politik muss eine sehr kom-     handlung von Wasserstoff und Elektrizität.
Gasnetzen. Diese stehen jetzt vor der Fra-    plexe Gesetzgebung in Gang setzen. Da-         Der Nationale Wasserstoffrat hat vor-
ge, was ihr Gasnetz wert ist und was sie      bei wird es die Kunst sein, die gesamte     geschlagen, in der RED II statt einer Vier-
damit künftig machen können.                  Wertschöpfungskette zu betrachten.          fach-Anrechnung von Strom und einem

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INTERVIEW

quasi Negieren von Wasserstoff eine           stand hingegen kann ich Wärmepumpen           um jeden Cent Preisvorteil kämpfen müs-
Zweifach-Anrechnung von Wasserstoff           nur schwer einbauen, da dafür eine Isolie-    sen.
und Strom gleichermaßen zu schaffen           rung der Gebäude notwendig ist, die in
und damit für ein Level-Playing-Field zu      der Regel nicht wirtschaftlich und oft        gwf: Was muss in Brüssel geschehen, um
sorgen. Im Endeffekt haben wir es ge-         auch einfach nicht zu finanzieren ist. Hier   Wasserstoff zu einem gesamteuropäi-
schafft, von einer Vierfach- auf eine Drei-   bietet sich Wasserstoff auch als eine ge-     schen Thema zu machen?
fach-Anrechnung von Strom und zu ei-          sellschaftlich soziale Lösung an, wenn es     Reiche: Wichtig ist, einen Wasserstoff-
ner Zweifach-Anrechnung von Wasser-           eine ausgewogene und realistische Re-         Backbone in Form eines Gasleitungs-
stoff zu kommen. Das ist wichtig, denn        gulierung im Wärmemarkt gibt.                 Backbone europäisch zu planen. Wichtig
wir müssen hier möglichst holistisch den-                                                   ist auch, dass wir einen Energie-Binnen-
ken, ansonsten ist der Hochlauf der Was-      gwf: Der Wohnungsmarkt ist ja aber nur        markt haben, den wir dafür nutzen kön-
serstoffwirtschaft nicht zu erreichen. Eine   ein Teil des Wärmemarktes.                    nen. Unser Ziel muss sein, Wasserstoff als
in diesem Sinne vernünftige Gesetzge-         Reiche: Ja, Wärmepumpe hin oder her: Es       handelbares Gut an den Rohstoffbörsen
bung vorausgesetzt, werden wir von Mit-       wird gerne vergessen, dass an unser Gas-      anzubieten. Da sind beispielsweise die
te der 2020er Jahre bis 2030 einen Hoch-      netz auch Industriekunden angebunden          Niederländer uns schon voraus. Umso
lauf sehen. Von jetzt auf gleich kann es      sind, die Prozesswärme brauchen. Und          mehr müssen wir von vielen nationalen
nicht gelingen.                               Prozesswärme kommt in der Diskussion          Regelungen hin zu einem einheitlichen
                                              bislang zu kurz. 40 Prozent des Gases, das    europäischen Ansatz kommen. Über
gwf: In welchen Bereichen wird Wasser-        durch unser Verteilnetz fließt, ist soge-     Nacht wird das nicht gelingen, aber am
stoff zuerst Fuß fassen?                      nanntes Prozessgas. Von diesen Prozess-       Ende werden die Einsicht und die schlich-
Reiche: Als erstes definitiv in den Grund-    gaskunden können 70 Prozent nicht auf         te Notwendigkeit gewinnen.
stoffindustrien, der chemischen Industrie,    Strom umstellen. Das sind allein in unse-
der Stahlindustrie und bei den Raffineri-     rem Netzgebiet fast 1.000 Unternehmen.  gwf: Wird Deutschland für Europa die
en. Überall dort, wo es Prozesse gibt, die    Meine dringende Empfehlung an die       Wasserstoff-Lokomotive sein?
sich nicht elektrifizieren lassen. Dort wird  Bundesregierung ist deshalb, die Prozess-
                                                                                      Reiche: Die gute Nachricht ist, dass wir im
es als erstes einen Hochlauf geben, bei       wärme nicht zu unterschätzen. Sie ist für
                                                                                      Bereich Forschung und Entwicklung füh-
dem auch Effekte in unserer Klimabilanz       einen Großteil des deutschen Mittelstan-rend sind. Elektrolyseure, Membrantech-
zu sehen sein werden. Allein                                                                        nologien,      Schlüsselferti-
aus dem Stahlsektor kom-                                                                            gung, da sind wir vorne mit
men sechs Prozent der
deutschen CO2-Emissionen.
                                    „Prozesswärme kommt in der Diskussion dabei.                            Der Rückschritt baut
                                                                                                    sich jetzt langsam auf, weil
    Beim Thema Mobilität                             bislang zu kurz.“                              wir in einem sehr komple-
sehe ich mittelfristig den                                                                          xen regulatorischen Ge-
Hochlauf bei Schwerlast-                                                                            flecht stecken. Der politi-
und Fernverkehr. Hier werden wir Wasser- des lebensnotwendig. Nicht allen scheint sche Wille ist da, aber die regulatorischen
stofflösungen sehen und wenig bis gar heute schon klar zu sein, um was es bei Rahmenbedingungen, die wir für lang-
keine Batterielösungen. Auch im ÖPNV der Nutzung von Wasserstoff geht.                fristige Investitionsentscheidungen brau-
wird Wasserstoff eine Rolle spielen, aller-                                           chen, sind noch nicht gegeben. Das
dings nicht überall. Im bergigen Wupper- gwf: Und um was geht es in Wahrheit?         bremst uns. Technologisch sind wir her-
tal etwa wird es schwierig, mit Elektro- Reiche: Es geht um die Frage, ob wir In- vorragend aufgestellt. Wir haben einen
bussen unterwegs zu sein, hier sind Was- dustrieland bleiben wollen. Wenn wir die international konkurrenzfähigen industri-
serstoffbusse eine Lösung. Im flachen Wertschöpfungstiefe bei uns erhalten ellen Mittelstand, darunter viele Welt-
Berlin hingegen funktionieren Elektro- wollen, dann muss eine schrittweise marktführer. Daher kam in den vergange-
busse durchaus.                              Transformation und keine Revolution in nen Jahren auch unser Erfolg. Dieser Er-
                                             unserem Energiesystem erfolgen. Des- folg steht jetzt auf dem Spiel, wenn wir
gwf: Verbleibt zuletzt noch der Hochlauf wegen halten meine Kolleginnen und nicht zügig die notwendigen energiepo-
im Wärmemarkt…                               Kollegen im Nationalen Wasserstoffrat litischen Rahmenbedingungen schaffen
Reiche: Viele meiner Kollegen, ich einge- und ich es für wichtig, jene Branchen zu- und die Energiewende auch zu einer Gas-
schlossen, sehen den Wärmemarkt als erst in den Blick zu nehmen, die das größ- wende machen. Dann kann Deutschland
Abnehmer von Wasserstoff. Hier ist leider te Potenzial für CO2-Einsparungen und die Wasserstoff-Lokomotive für Europa
ein fast schon heftiger, teils ideologiebe- für eine schnelle Etablierung der Wasser- werden oder sogar mehr. Das Ziel der
hafteter Streit entbrannt. Natürlich gibt es stoffwirtschaft haben. Hier müssen wir Nationalen         Wasserstoffstrategie     ist
die Wärmepumpen, die definitiv Sinn vor allem jene Branchen unterstützen, schließlich, dass Deutschland Wasser-
machen bei Neubauten. Im Altbaube- die sich im Weltmarkt behaupten und stoff-Weltmeister wird.

gwf Gas + Energie   4/2021                                                                                                        23
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