Zur Frage getrennter Versorgungsbzw. Vergütungsbereiche für die Psychotherapie

 
WEITER LESEN
Zur Frage getrennter Versorgungs- bzw. Vergütungsbereiche für die Psychotherapie
Albrecht Stadler, München

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich befürchte, dass ich das mir gestellte Thema verfehlen werde, weil ich nicht alle politischen, und
das heißt hier für mich verteilungspolitischen und geldpolitischen, Implikationen durchschaue, die die
Frage eines eigenen Versorgungs- bzw. Vergütungsbereiches betreffen. Vermutlich muss ich mich
selbst der politischen Naivität zeihen, wenn ich mich emotional begründet gegen eine Abspaltung der
Psychotherapie im System der GKV ausspreche.
Ich möchte Sie auf eine kleine Reise mitnehmen, die eher dem freien Einfall zum gestellten Thema
folgt und nicht einer stringenten Logik. Sie mögen daraus erkennen, dass mich das Thema eigentlich
überfordert und trotzdem möchte ich Ihnen gerne ein paar Gedanken übermitteln und freue mich, dass
der Vorstand mich dazu gefragt hat.

Ich möchte gerne zwei Zitate vorausschicken, die mir in der jüngeren Zeit begegnet sind und mich
beschäftigt haben:

Das erste Zitat:
„Die große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern
Transformationen und Formveränderungen … das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum
Leben“ (Christoph Schlingensief 2011)
Es stammt von dem vor einiger Zeit verstorbenen Christoph Schlingensief

Das zweite Zitat ist etwa 100 Jahre alt und stammt von dem großen Gustav Mahler, der die
musikalischen Horizonte so sehr erweitert hat:

„Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche“ (Gustav Mahler).

Beide Zitate betrachte ich als Motto für meine weiteren Ausführungen.

Welche Bedeutungen können wir den Ideen zumessen, die Psychotherapie in einem eigenen
Versorgungsbereich zu organisieren? Ist es überhaupt möglich, ist es überhaupt zulässig, von
Verteilungsaspekten abzusehen? Angeblich soll ein eigener Versorgungs- bzw. Vergütungsbereich
eine Lösung dieser Verteilungsfragen herbeiführen. Daran müssen jedoch erhebliche Zweifel
bestehen. Worum geht es also In Wirklichkeit? Geht es darum, das Scheitern der Integra-
tionsbemühungen (für die Psychotherapie und die Psychotherapeuten) zu konstatieren, oder geht es
darum dass die Integration der Psychotherapie im System der GKV, und zwar nicht nur die Integration
der psychologischen Psychotherapie, rückgängig gemacht werden soll?

Ein eigener Versorgungsbereich Psychotherapie bedroht aus meiner Sicht die Stellung der
Psychotherapie insgesamt. Wie könnte es denn aussehen? Wird die gesamte Psychotherapie in ein
eigenes System ausgelagert, würden die Grundberufe an Bedeutung verlieren. Entscheidend wäre
dann nicht mehr der Grundberuf, sondern die Ausbildung. Jeder, der eine anerkannte Ausbildung in
Psychotherapie macht, würde diesem Versorgungsbereich zugeordnet werden. Dies würde dem
Diktum Freuds entsprechen, der die Frage des Grundberufs in den Hintergrund rückte und die
Ausbildung in Psychoanalyse in den Vordergrund und damit den Weg zur Laienanalyse bereitete.

Wie wir in Holger Schildts historischer Darstellung des Weges zum Psychotherapeutengesetz lernen
(Schildt 2006/2007), würde damit ein Rückgriff auf das sogenannte „Sektionsmodell“ vorgenommen
werden, der 1996 in einem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vorgesehen war. Innerhalb der KVen
sollten damals vier Sektionen gebildet werden, nämlich Hausärzte, Fachärzte, Zahnärzte und
Psychotherapeuten. Letztere Sektion sollte aus Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten
und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bestehen. Jede Sektion sollte mit einem eigenen
Verhandlungsmandat ausgestattet sein. Dies war damals besonders für unsere ärztlichen Kolleginnen
und Kollegen undenkbar. Aus heutiger Sicht muss man zu der Auffassung kommen, dass dieses
Szenario den Weg für das Integrationsmodell bereitete. Es kam sicher nicht zustande, weil es auf
allen Seiten gewollt wurde, sondern weil andernfalls Schlimmeres befürchtet wurde. Das damals
knappe Ergebnis in der Vertreter-Versammlung der der KBV (52 : 40 : 4) für das Integrationsmodell

Vortrag anlässlich des Berufspolitischen Seminars der DGPT 2012
                                                                                           1
spiegelt die Situation wider. Ich glaube nicht, dass dies heute anders wäre. Für die DGPT und ihre
Fachgesellschaften bedeutete dies, dass die, verschiedene Berufsgruppen übergreifende fachliche
Gemeinschaft der Psychoanalytiker erhalten werden konnte.

Heute sehe ich diese Gemeinschaft in mehrerer Hinsicht bedroht, eine Gemeinschaft, die ihre Stärken
bisher auch aus den Reibungen unterschiedlicher beruflicher Identifikationen bezieht, wobei mögliche
Schwächen dieser Konstellation sicher auch zu akzeptieren sind.

Wenn es also einen eigenen Versorgungsbereich Psychotherapie geben sollte, sind aus meiner Sicht
zwei Möglichkeiten gegeben:

1. Die Ärzte werden vor die Entscheidung gestellt, ob sie sich diesem Bereich der Psychotherapie
zugesellen wollen und damit aus dem Bereich der Fachärzte ausgegliedert werden. Zu vermuten ist,
dass die Ärzte, wie damals beim Sektionsmodell, dies nicht mitmachen wollen und werden.
Konsequenz: Sie bleiben bei den Fachärzten, wo sie, wie ich es oft mitbekommen habe, eher ein
marginales Schatten-Dasein fristen. Ob sich dies verändern wird, sei in Zeiten zunehmender
Einengungen dahingestellt.

Die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
bekommen den ihnen zugewiesenen Bereich, haben keine Wahl, und kommen mit der Psychotherapie
in eine abgespaltene Außenseiterposition, in der sie sich der übermächtig erscheinenden Gruppe der
Ärzte gegenübersehen. Ich gebe zu, dass es unter den Psychologischen Psychotherapeuten
durchaus viele gibt, die dies begrüßen würden, weil sie, wie ich meine, sich illusionistisch erhoffen,
endlich frei für ihre Interessen eintreten zu können. Man stelle sich vor, welche Formen von
Verwirrung auf Seiten der Patienten entstehen würden, die auf psychotherapeutische Versorgung
angewiesen sind.

2. Die ärztlichen Psychotherapeuten, die psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und
Jugendliche Psychotherapeuten werden per Verfügung in einen dritten Versorgungsbereich verlegt,
alle anderen P-Fachärzte bleiben jedoch bei den Fachärzten. Das wäre die völlige Abspaltung der
Psychotherapie innerhalb der GKV. Hier würde m.E. ein „Sperrbezirk Psychotherapie“ entstehen. Aus
einer organisatorischen Abgrenzung würde sich auf längere Sicht eine inhaltliche Entfernung zur
medizinischen Versorgung kranker Menschen ergeben, die weder für die Patienten noch für die
Psychotherapeuten ein Gewinn sein kann. Wie die Erfahrung zeigt, haben solche organisatorischen
Veränderungen in der Regel auch inhaltliche Implikationen.

In meiner Zeit als Vorsitzender der Sektion der Psychologischen Psychoanalytiker in der DGPT habe
ich großen Wert gelegt auf die gute Kooperation zwischen den Ärzten und den Psychologen. Dies ist,
wie ich meine, trotz vieler strittiger Fragen, die auch streitbar diskutiert wurden, immer wieder
gelungen. Der gemeinsame nachhaltig vorhandene psychoanalytische „common ground“ hat uns
darin bestärkt. Die nicht vergleichbaren beruflichen Herkünfte traten hinter einer gemeinsamen
analytischen Identität und Solidarität zurück. Ich habe diese gemeinsame Arbeit als ausgesprochen
befriedigend erlebt. Unser gemeinsames Interesse in der DGPT und den Fachgesellschaften kann
m.E. nur sein, der Psychoanalyse in ihren verschiedenen Ausformungen Raum in uns, in unseren
Institutionen und in übergeordneten systemischen Zusammenhängen zu verschaffen. Dies kann nur
gelingen, wenn wir offen und neugierig bleiben. Grenzziehungen und Partikularisierungen haben meist
destruktive Auswirkungen. Dies betrifft in gleicher Weise interne Grenzziehungen durch sektiererische
Schulen-Interessen, wie auch Grenzziehungen im äußeren Raum, sowie künstliche Grenzziehungen
zwischen Ärzten und Psychologen. Sie werden uns von außen diktiert und werden zu Spaltungen
führen, deren Auswirkungen wir nicht kennen.

Die Psychoanalyse steht überall auf dem Prüfstand und muss sich zunehmend nach außen
artikulieren. Hier befinden wir Psychoanalytiker uns im Vergleich zu anderen Psychotherapeuten in
einer schwierigen und ungewöhnlichen Lage, weil unsere Arbeit mit Patienten in einer relativ starken
Abgeschiedenheit stattfindet, die sich den verborgenen unbewussten Prozessen zuwendet und uns
einsam machen kann. Auf dem IPV-Kongress in Chicago 2009 wählte Warren Poland (Poland 2009)
folgenden Vergleich: „Wie es unseren Augen schwerfällt, sich nach längerer Dunkelheit wieder ans
Licht zu gewöhnen, so ist es auch für unser Selbstgefühl nicht einfach, den Wechsel vom In-der-
Praxis-Sein zum In-der-Außenwelt-Sein zu vollziehen.“ Poland ging in seinem Referat auf die
Probleme der Psychoanalytiker ein, sich über die unterschiedlichen Schulen untereinander zu

Vortrag anlässlich des Berufspolitischen Seminars der DGPT 2012
                                                                                   2
verständigen. M.E. können seine Überlegungen nicht nur für die Verhältnisse innerhalb der
Psychoanalyse geltend gemacht werden, sondern auch darüber hinaus im gesellschaftlichen Raum.

Polands Gedanken erscheinen mir vertraut, weil sie, wie ich meine, individualpsychologisches
Gedankengut aufgreifen. Wir fühlen uns als Psychoanalytiker in Frage gestellt und in der Folge
scheinen wir zu vergessen, die asymmetrische Partnerschaft der analytischen Situation in unseren
Behandlungszimmern zurückzulassen. Außerhalb der klinischen Situation kehrt diese Asymmetrie in
Form eines Überlegenheitsgefühls wieder, das uns dazu verführt, eine überlegene Deutungsposition
einnehmen zu wollen. Wenn wir uns unsicher fühlen, erniedrigen wir offen oder subtil das Gegenüber,
das wir für unsere Unsicherheit verantwortlich machen. Mir fällt an dieser Stelle einer meiner
Lieblingssätze der kürzlich verstorbenen Christa Wolf ein, der aus ihren Frankfurter Poetikvorlesungen
stammt, die sie nach der Veröffentlichung von Kassandra hielt: „Aus Unsicherheit Freude gewinnen,
wer hätte uns das beigebracht.“ (Wolf 1982)

Das Überlegenheitsstreben schlägt immer dann zu, wenn wir unsere eigenen Schwächen verschleiern
wollen. Wenn wir, so Poland, unsere Schwächen anerkennen können, können wir untersuchen, wie
sie sich im interpersonalen Raum ausbreiten. Wir wollen uns über andere erheben und haben zugleich
den Wunsch, von anderen akzeptiert zu werden. Wir wollen uns einerseits als getrennte Individuen
erleben können und andererseits haben wir die Sehnsucht nach Verbundenheit mit einer Gemein-
schaft. Dieser uns oft unbewusste Konflikt ist nicht wirklich lösbar und muss mit einer erheblichen
Ambivalenztoleranz ausgehalten werden. Wenn nicht, entbrennen Machtkämpfe auf allen
interpersonalen Ebenen, die von Vorurteilen, Ressentiments und narzisstischen Kränkungen bestimmt
sind, deren lange Halbwertszeiten Poland betont. Der bayerische Sprachkünstler Herbert
Achternbusch kommt in einem seiner Theaterstücke zu der Aussage: Das Vorurteil ist die Mutter des
Urteils (Achternbusch 1990).

Es bleibt uns nicht erspart, uns mit dem Fremden und der damit verbundenen Ungleichheit
auseinander zu setzen und trotzdem zu Gemeinsamkeiten zu finden, die das Unterschiedliche nicht
auslöschen. Das Ungleiche ist der Ausgangspunkt unserer Existenz, es ist der Ausgangspunkt
unseres Fremdheitserlebens. Das Ungleiche gleich zu machen, gelingt nur in totalitären
Beziehungsverhältnissen oder es gelingt scheinbar und mit Bitterkeiten verbunden durch immer
weitergetriebene Abspaltungen. Vermutlich ist das Ungleiche auch der Ausgangspunkt, sich in
Gemeinschaften zu organisieren, um nicht alleine zu bleiben.

Hier ist die Frage nach einer psychoanalytischen Identität zu stellen. Offenbar stellt sich diese Frage
nach der Identität besonders dann, wenn sie bedroht erscheint, wenn also auch das Nicht-Identische
angesprochen ist. Ist die Frage nach der Identität schon ein Symptom der Krise? In seinem
erhellenden Artikel in der „Psyche“ vom Juli 2011 geht der Münchener Psychoanalytiker Andreas
Hermann dieser Frage nach (Herrmann 2011). Das Identitätsgefühl strebt die Erhaltung von
Kohärenz, Konstanz und Integrität an. Das Unbewusste wird als ein Agent des Nicht-Identischen
erlebt. Also kommt die Gefährdung des Identitätsgefühls nicht einzig, aber eben auch aus dem
Unbewussten, das ein Gegenstand unserer beruflichen Tätigkeit ist. Thomä vertritt nach Herrmann die
Auffassung, dass man den Begriff der psychoanalytischen Identität ganz abschaffen solle. Er sei ein
Hemmnis für die Entwicklung der Psychoanalyse zu einer scientific community. Thomä befürchte, so
Herrmann, dass hoch entwickelte psychoanalytische Gruppenidentitäten zu sehr darüber bestimmen,
wie unbewusste Prozesse zu verstehen seien. Damit werden, so könnte man sagen, in einem Bereich
Normen gesetzt, der sich der Normierung entzieht, nämlich im Bereich des Unbewussten.

Herrmann nennt verschiedene berufspolitische Entwicklungen, die aus seiner Sicht die psycho-
analytische Identität betreffen und sie womöglich gefährden. Zum einen die Überprüfung der
Wissenschaftlichkeit unseres Verfahrens beim Wissenschaftlichen Beirat und im Gemeinsamen
Bundesausschuss. Diese Überprüfung stellt unsere Berufstätigkeit als Psychoanalytiker in Frage, weil
die zukünftige Finanzierung unserer Tätigkeit in Frage gestellt ist. Die DGPT und die analytischen
Fachgesellschaften unternehmen große und schon Erfolg versprechende Aufwände, um über teure
Untersuchungen unser Verfahren und damit auch einen Teil unserer Identität zu retten.

Weiterhin wird, laut Herrmann, als Gefährdung psychoanalytischer Identität die zunehmende
Diskussion störungsspezifischer Behandlungsansätze betrachtet, die z.B. in den groß angelegten
Leitlinienprozessen sichtbar werden und denen wir uns nicht verschließen können. Wir sehen unsere

Vortrag anlässlich des Berufspolitischen Seminars der DGPT 2012
                                                                                    3
Identität bedroht, weil wir noch nicht wissen, wie diese uns zunächst fremden Behandlungs-Ansätze
mit unserem menschenspezifischen individualisierten Behandlungsverständnis zu vereinbaren sind.

Ein weiterer Punkt, der unsere analytische Identität zunehmend zu gefährden scheint ist, und damit ist
schon das morgige Thema unseres berufspolitischen Seminars angesprochen: die Entwicklung der
Ausbildung, wie sie sich seit dem Psychotherapeutengesetz gestaltet hat. Die ärztliche Weiterbildung
und die Ausbildung nach dem Psychotherapeutengesetz driften auseinander. Wie wird es mit unserer
analytischen Identitätsbildung weitergehen, wenn sich die Ausbildung nicht mehr an unseren Instituten
abspielt, wo sich ein erheblicher Teil unserer Identitätsbildung vollzieht, wenn auch zum Teil mit
Schmerzen verbunden. Die jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich um Ausbildung an unseren
Instituten bemühen, sind an diesen Identitätsfragen weniger interessiert, im Gegenteil, sie finden die
implizite Aufforderung zur Ausbildung einer psychoanalytischen Identität eher einschränkend und
behindernd. Ist dies ein Ergebnis der „flüchtigen Moderne“, wie sie uns Zygmunt Bauman auch schon
im Rahmen der DGPT-Tagung in Bonn an die Wand gemalt hat? Die flüchtige Moderne braucht und
konstituiert den flexiblen Menschen, der mit seinen Identitäten spielen kann. Die Bedrohung kommt für
die jüngeren Menschen eher aus der Verfestigung von Identitäten. Die Welt erwartet von uns, so
sagen sie, dass wir Identitäten auch über Bord werfen können, ohne mit dem Schiff unterzugehen.
(Bauman 2008)

Wir können nicht mehr sicher sein, ob derjenige, der die psychoanalytische Ausbildung macht, sich mit
dem Ziel identifiziert, Psychoanalytiker zu werden. Auf allen Seiten unserer grundberuflichen
Voraussetzungen, sei es bei den Ärzten, bei den Psychologen oder den Pädagogen wird unserem
Angebot zur Identitätsbildung mit Skepsis begegnet. Dieses scheinbar Sicherheiten vermittelnde
Angebot wird in der Tendenz eher als Einschränkung der Freiheit erlebt.

Die Lösung unserer Krise kann, so meine ich, nicht darin bestehen, den psychoanalytischen Raum
durch organisatorische, schon gar nicht durch Verteilungskämpfe motivierte, Abtrennungen und
inhaltliche Abspaltungen zu verengen, sondern wir können die Krise nutzen, um den Raum zu öffnen
und im Bewusstsein eines sicheren Fundaments, das ich zum Beispiel in einem schöpferischen
Unbewussten sehe, den Raum weiterhin offen zu halten. Was also tun? Wolfgang Mertens schlug auf
einer Sitzung der Münchener DGPT-Institute im vergangenen Jahr vor, ein psychoanalytisches
Zentrum zu gründen. Dieses Zentrum soll ein offener Raum sein, der jenseits der analytischen
Ausbildung, die Möglichkeit schafft, in einen offenen Dialog mit anderen wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Gruppen zu treten, damit wir, so habe ich das für mich verstanden, aus der Enge
der psychoanalytischen Identität herauskommen, oder wie Herrmann das in seinem Artikel in der
Psyche benennt, damit wir in einen Dialog mit dem Nichtidentischen eintreten können. Es hat sich das
Psychoanalytische Forum München gegründet, das vorsichtige Versuche im Sinne dieses Vorschlags
von Wolfgang Mertens unternimmt. Das Forum ist der Marktplatz, auf dem sich alle treffen können, die
den Zugang finden wollen.

Im Zusammenhang mit dieser Forumsidee, die den sokratischen Dialog ermöglichen könnte, fällt mir
ein Theatererlebnis ein:

1992 wurde am Wiener Burgtheater ein Stück von Peter Handke (Handke 1992) uraufgeführt mit dem
Titel: „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Es ist ein Stück ohne Sprache. Auf einem
offenen Platz treten von verschiedenen Seiten Figuren auf, gehen über den Platz und verschwinden
wieder. Insgesamt sollen es ca. 260 Figuren sein, die uns in Handkes Stück das Leben auf einem
städtischen Platz vorführen. Die Figuren sind aus dem Leben gegriffen, Alte und Junge, Verliebte und
Einsame, Berufstätige und Arbeitslose, Funktionäre und Schauspieler, Artisten und Behinderte und
alle anderen treten auch auf. Sie gehen aneinander vorbei, sie begegnen sich, sie stoßen zusammen,
sie kommen in Gruppen, sie kommen alleine, sie bleiben kurz stehen oder stoßen aneinander, sie sind
gesund und krank und kaum sind sie da, gehen sie auch schon wieder. So geht das über 90 Minuten.
Ich war damals fasziniert von dieser Aufführung. Heute erkenne ich darin eine Dramatisierung des
flüchtigen Lebens im Sinne Zygmunt Bauman‘s, das von etwa 10 Schauspielern dargestellt wird. Sie
mussten sich andauernd und zügig umziehen, um in andere Identitäten zu schlüpfen. Manchmal und
besonders in solchen Zusammenhängen, wie oben beschrieben, denke ich an dieses Stück und ich
möchte den Titel Handkes verändern: „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ und möchte es
nennen: „Die Zeit, da wir mehr voneinander wissen werden.“ In diesem Stück darf auch gesprochen
werden.Ich möchte Sie noch einmal an Christoph Schlingensief erinnern und an seine Rede: „Die
große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern

Vortrag anlässlich des Berufspolitischen Seminars der DGPT 2012
                                                                                   4
Transformationen und Formveränderungen … das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz
großes Ja zum Leben“ (Christoph Schlingensief 2011)

Vor ziemlich genau 100 Jahren lässt Arthur Schnitzler (Schnitzler 1911) den Hoteldirektor Aigner in
seinem Stück „Das weite Land“ den Satz sprechen: „Die Seele ist ein weites Land.“ Schnitzler
beschreibt die Menschen mit ihren Seelenqualen von Liebe und Hass, von Liebes-Enttäuschung und
Rachsucht, von Begehren und Macht, von Ohnmacht und Verzweiflung. Er nennt sein Stück eine
Tragikomödie, in der das Komische in die Tragik der verwirrten Beziehungsverhältnisse, der Täter und
der Opfer des Strebens nach Liebe eingebettet ist. Ein Ja zum Leben scheinen Schnitzlers Figuren
nicht zu finden. Die Geschichte endet tödlich. Ich möchte mir hier wünschen, dass wir das weite Land
der Seele nicht einengen und es uns nicht einengen lassen. Ich weiß, dass dies ein frommer Wunsch
ist. Trotzdem möchte ich daran mitwirken.

Literaturangaben:
Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon 2011; 54.Internationale Kunstaustellung; La Biennale die Venezia;
Hrg: Susanne Gaensheimer
Holger Schildt: Vom „nichtärztlichen“ zum Psychologischen Psychotherapeuten/KJP; Vortrag 2006 und 2007
Warren S. Poland: Probleme des kollegialen Lernens in der Psychoanalyse: Narzißmus und Neugier; in Psyche
Supplement 2009: Konvergenzen und Divergenzen
Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra; Frankfurter Poetik Vorlesungen, Frankfurt 1982
Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten; Drama; Uraufführung Kammerspiele München 1990
Andreas P. Herrmann: Psychoanalytische Identität in Psyche 7. Juli 2011
Zygmunt Bauman: Vortrag gehalten bei der DGPT Tagung in Bonn 2008
Peter Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wussten; Drama; Uraufführung Burgtheater Wien 1992
Arthur Schnitzler: Das weite Land; Drama; Wien 1911

Vortrag anlässlich des Berufspolitischen Seminars der DGPT 2012
                                                                                           5
Sie können auch lesen