DFP: Antidepressive Pharmakotherapie: Aktueller Stand und neue Entwicklungen - Krause und Pachernegg
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems DFP: Antidepressive Homepage: Pharmakotherapie: Aktueller Stand www.kup.at/ und neue Entwicklungen JNeurolNeurochirPsychiatr Baghai TC, Volz HP, Möller HJ Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2011; 12 (1), 70-81 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
EINLADUNG ZUM WEBINAR MS UND DIE VERBORGENEN SYMPTOME DER KOGNITION Freitag, 12. November 2021 | 16.00 bis 18.00 Uhr Erkenntnisse zum Thema “MS & Kognition” werden von nationalen und internationalen Experten und Expertinnen vorgetragen. Die Vorträge decken die wissenschaftliche Perspektive über Diagnose, neuropsychologische Aspekte als auch die Patientensicht eines Betroffenen ab. Hier geht´s zum Programm Wissenschaftlicher Vorsitz REFERENT*INNEN Univ.-Prof. Dr. Christian Enzinger Univ.-Prof. Dr. Prof. Dr. Dipl.-Psych. MBA, FEAN Christian Enzinger Iris-Katharina Penner Uniklinik Graz MBA, FEAN Düsseldorf Uniklinik Graz Prim. Univ.-Prof. Dr. Priv.-Doz. Mag. Dr. Elisabeth Fertl Daniela Pinter Wien Uniklinik Graz Bitte melden Sie sich über folgenden Link für die virtuelle Veranstaltung an: Nach erfolgreicher Anmeldung erhalten Sie innerhalb weniger Minuten ein E-Mail mit Informationen zur Teilnahme. https://medahead-fortbildung.at/event/ms-und-kognition-2021/ Entsprechende Vorkehrungen für die Veranstaltung und bei der Veranstaltung werden nach der aktuellen COVIDGesetzgebung bzw. COVID-Verordnung getroffen. Live-Übertragung aus Wien Laut Regelwerk der Ärztekammer (Ärztlicher Verhaltenskodex) und Pharmaindustrie (Pharmig Verhaltenskodex) gilt diese Einladung ausschließlich für Ausübende von Gesundheitsberufen und ist nicht übertragbar. Novartis Pharma GmbH Jakov-Lind-Straße 5 / Top 3.05, 1020 Wien Mit freundlicher Unterstützung der Novartis Pharma GmbH Tel.: 01-866 57-0, Fax.: 01-866 57 16369, www.novartis.at Datum der der Erstellung Erstellung 10/2021 11/2021 AT2110041868 AT2111021580 Schlaganfall Akademie Fortbildungsreihe zum Thema Stroke ÖGSF Online-Fortbildung Management raumfordernder Hirninfarkte 15. November 2021 14.00 bis 15.00 Uhr Referent: Priv.-Doz. DDr. Simon Fandler-Höfler Universitätsklinik für Neurologie Medizinische Universität Graz Jetzt online unter Onlineanmeldung https://bit.ly/3AuYk7J anmelden AT/PX/0921/PC-AT-102638 Die Teilnahme an dieser Fortbildungsveranstaltung ist Angehörigen der Fachkreise gemäß Pharmig VHC Artikel 2.2 vorbehalten und ist nicht übertragbar. Wissenschaftlicher Fortbildungsanbieter: Österreichische Schlaganfall Gesellschaft, 1070 Wien Mit freundlicher Unterstützung von
Antidepressive Pharmakotherapie DFP Antidepressive Pharmakotherapie: Aktueller Stand und neue Entwicklungen T. C. Baghai1, H. P. Volz2, H. J. Möller1 Kurzfassung: Während der vergangenen Deka- lichkeit der Therapie in die Therapieplanung mit- high rate of non-responsiveness during antide- de wurden vielversprechende neue Substanzen einbezogen werden. pressant treatment, a latency of sometimes sev- und Therapieprinzipien in die Pharmakotherapie Die Erforschung neuer Behandlungsmöglich- eral weeks until clinical improvement and remis- depressiver Störungen eingeführt, die nicht nur keiten ist von höchster Wichtigkeit, um in Zukunft sion can be achieved, and a variety of possible die serotonerge und noradrenerge Neurotrans- bessere klinische Strategien in der Behandlung side effects also present during treatment with mission verstärken, sondern ebenso das Dopamin- depressiver Erkrankungen gewährleisten zu kön- modern compounds. oder das Melatonin-System beeinflussen. nen. Dies ist zudem von herausragender sozio- Predominantly depression of medium to high Die Hauptvorteile neuer Substanzen bestehen ökonomischer Bedeutung. severity should be treated pharmacologically. In in der Erweiterung des Behandlungsspektrums case of severe depression dually acting antide- und der besseren Verträglichkeit im Vergleich zu Schlüsselwörter: Antidepressiva, selektive Se- pressants may be of advantage. Besides the se- älteren Präparaten. Fortbestehende Probleme rotonin-Wiederaufnahmehemmer, trizyklische verity of the disease subtypes of depression, sind immer noch eine zu hohe Nichtansprech- Antidepressiva, Melatonin, Dopamin, MAO- specific symptoms as well as age and comor- rate, die Wirklatenz von mitunter einigen Wo- Hemmer bidity of the patients may play a role in influenc- chen sowie verschiedene unerwünschten Arz- ing the treatment course. The treatment provid- neimittelwirkungen, die auch bei Einsatz moder- ing the highest response probability and the ner Substanzen auftreten können. Abstract: Antidepressive Pharmacotherapy best tolerability should be preferred in treat- Vor allem mittel- bis schwergradige Depres- – State of the Art and Recent Develop- ment plans. sionen sollten pharmakotherapeutisch behandelt ments. During the past decade a variety of The study of new treatment options is of ma- werden, wobei bei besonders schweren Depres- promising new compounds was launched onto jor importance to provide better strategies for sionen dual wirksame Substanzen überlegen the market not only enhancing serotonergic and the clinical management of depression in the fu- sein können. Neben dem Schweregrad der De- noradrenergic neurotransmission, but also influ- ture, and is thus also of great socio-economic pression können die Subtypologie und Sympto- encing the dopamine and the melatonergic importance. J Neurol Neurochir Psychiatr matik der Erkrankung sowie Alter und Begleit- receptor system. 2011; 12 (1): 70–81. erkrankungen der Patienten eine den Therapie- The main advantages of the newer drugs are verlauf beeinflussende Rolle spielen. Hierbei soll- the broadening of the treatment spectra and a Key words: antidepressants, selective sero- ten sowohl die Wahrscheinlichkeit eines Thera- far better tolerability profile in comparison to tonin reuptake inhibitors, tricyclic antidepres- pieerfolges als auch die bestmögliche Verträg- older compounds. Still unresolved issues are the sants, melatonin, dopamine, MAO inhibitors Einleitung 1980er- und 1990er-Jahren, der selektiven Noradrenalin-Wie- deraufnahmehemmer (NARI), der Neueinführung von dual Die Therapie depressiver Erkrankungen ist häufig eine Kom- wirksamen selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wieder- binationstherapie mit individuellen Schwerpunkten, die durch aufnahmehemmern (SNRI), noradrenerg und spezifisch sero- die jeweilige Ausgestaltung des Krankheitsbilds determiniert tonerger, die α-Rezeptoren blockierender Antidepressiva werden. Die typische Symptomatik depressiver Störungen ist (NaSSA), der Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme- in Tabelle 1 dargestellt. hemmer (DNRI) sowie selektiver reversibler MAOI („rever- sible inhibitors of the monoaminooxidase A“ [RIMA]) war Grundpfeiler der antidepressiven Therapie sind die Phar- ein enormer Fortschritt vor allem bezüglich der Verträglich- makotherapie, die Psychotherapie und die Soziotherapie. keit antidepressiver Pharmakotherapien erreicht. Dies gilt ins- Während manchmal bei leichteren Depressionen auf eine besondere für die Behandlungssicherheit und für medizinisch Pharmakotherapie verzichtet werden kann, ist dies bei schwe- relevante Nebenwirkungen (eine ausführliche Übersicht über ren Depressionen kaum möglich. Insofern stellte die Ent- den aktuellen Stand ist bei [1] zu finden). deckung antidepressiv wirksamer Substanzen einen Meilen- stein der Therapie dieser Erkrankungen dar. 1951 wurden Obwohl die neueren Antidepressiva vor allem anticholinerge die antidepressiven Wirkeigenschaften des Monoamino- unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) weitgehend oxidasehemmers („monoamine oxidase inhibitor“ [MAOI]) vermissen lassen, ist eine Reihe möglicher anderer UAW zu Iproniazid, 1958 des trizyklischen Antidepressivums (tri- beachten (Tab. 2). Insbesondere sind bei NARI Tremor, Tachy- cyclic antidepressant [TCA]) Imipramin beschrieben. Mit der kardie und Unruhe zu nennen, bei SSRI Appetitminderung, Entwicklung der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehem- Gewichtsreduktion, Übelkeit, Kopfschmerzen sowie sexuelle mer (selective serotonin reuptake inhibitor [SSRI]) in den Funktionsstörungen. Über letztere UAW wird nur selten ohne explizites Nachfragen suffizient berichtet. Bei zusätzlich antihistaminerg wirkenden Antidepressiva, z. B. NaSSA, ist Eingelangt am 2. Februar 2009; angenommen nach Revision am 29. Mai 2009 an Müdigkeit sowie Gewichtszunahme zu denken [2]. Aus der 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München und der 2 Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Ein weiteres Problem bei der Pharmakotherapie der Depres- Medizin Schloss Werneck, Werneck Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Thomas C. Baghai, Klinik für Psychiatrie und sion ist die mitunter mehrwöchige Latenz bis zur antidepressi- Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München, D-80336 München, ven Wirksamkeit. Dies gilt sowohl für TCA als auch für die Nußbaumstraße 7; E-Mail: Baghai@med.uni-muenchen.de große Gruppe der neueren Antidepressiva. Die Tatsache, dass 70 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Antidepressive Pharmakotherapie beispielsweise während einer Wachtherapie ein deutlicher Tabelle 1: Symptomatik depressiver Störungen (Mod. nach antidepressiver Effekt bei zwei Drittel der depressiven Patien- [1]). ten bereits am nächsten Tag zu verzeichnen ist [3] sowie Hin- Kategorie Symptome weise für eine antidepressive Wirksamkeit von Ketamin nach bereits 72 Stunden [4], belegt eindrucksvoll, dass ein Thera- Affektive Symptome – Depressive Verstimmung pieeffekt bereits innerhalb einer kurzen Zeitspanne, wenn – Anhedonie – Angst auch bislang meist nur vorübergehend, erreicht werden kann. Psychomotorische Störungen – Hemmung Ein weiteres Problem bei der Pharmakotherapie der Depres- – Agitation sion ist die Non-Response von ca. 30 % [5]. Häufig wird in – Energie- und Lustlosigkeit diesem Fall auf ein Präparat mit einem anderen Wirkprinzip Denkstörungen, Störungen von – Schuldgefühle Konzentration, Merkfähigkeit und – Wertlosigkeitsgefühle gewechselt oder eine Augmentationsstrategie, z. B. mit Lithi- Gedächtnis – Synthymer, kongruenter und um, durchgeführt. Bei fortbestehendem Nichtansprechen parathymer, inkongruenter stellt weiterhin die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) das Wahn – Verminderte Konzentrations- Mittel der Wahl dar [6]. fähigkeit – Gedächtnisstörungen Im Folgenden werden die Grundprinzipien einer antidepressi- Psychovegetative und somatische – Schlafstörungen (Schlaflosig- Beschwerden keit, morgendliches Früherwa- ven Pharmakotherapie dargestellt. Zudem wird vergleichend chen) erläutert, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiede- – Tagesschwankungen ner pharmakodynamischer Wirkprinzipien der derzeit erhält- – Appetit- und Gewichtsverlust – Sexuelle Funktionsstörungen lichen Antidepressiva hinsichtlich der Wirksamkeit und Ver- – Obstipation träglichkeit festgestellt werden können. Ziel ist daher zu er- – Schmerzsyndrome, veränder- läutern, welche differenzialtherapeutischen Möglichkeiten tes Schmerzempfinden – Hypertonie für depressive Patienten derzeit oder in naher Zukunft zur – Tachykardie Verfügung stehen. Somatische Veränderungen – Hyperkortisolämie – Schilddrüsenfunktionsstörung – Schlafpolygraphische Verände- Behandlungsziele rungen – Hippokampusatrophie Traditionell wird die Behandlung depressiver Erkrankungen – Genetische Risikofaktoren in die Therapieabschnitte Akuttherapie, Erhaltungstherapie – Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und Rezidivprophylaxe eingeteilt [7, 8]. Ziel der Behandlung ist es, nach möglichst kurzer Zeit zunächst ein Ansprechen auf die Therapie zu erreichen. Dies wird meist durch eine 50%ige Analysen abgebildet werden, bei denen nach oben genannten Symptomreduktion definiert, die beispielsweise mittels der Kriterien Placebo-Verum-Differenzen von ca. 20 % errechnet „Hamilton Depression Rating Scale“ (HAM-D) [9] oder der werden können. Dies entspricht einer so genannten NNT „Montgomery-Åsberg-Depression Rating Scale“ (MADRS) („number needed to treat“) von 5, d. h. es müssen 5 Patienten [10] gemessen werden kann. Das klinische Management de- behandelt werden, damit einer von der Behandlung profitiert pressiver Erkrankungen geht jedoch weit über diese Kriterien [15]. Eine solche NNT von 5 wird als mittelstarke bis starke hinaus. Das Ziel der klinischen Remission wird häufig nicht Wirksamkeit angesehen und entspricht den diesbezüglichen einheitlich definiert [11], letztlich ist aber die vollständige Werten vieler Therapien, die z. B. in der inneren Medizin Symptomfreiheit ohne Vorliegen der diagnostischen Kriteri- Standardtherapien sind. Beispielsweise müssen nach einem en der depressiven Erkrankung das klare Behandlungsziel. Herzinfarkt 187 Patienten mit Acetylsalicylsäure behandelt Bei klinischen Prüfungen antidepressiver Behandlungen wird werden, um einen weiteren Todesfall durch Herzinfarkt zu eine Annäherung oft dadurch erzielt, dass ein absoluter Sum- verhindern (NNT = 187) [16]. men-Score, beispielsweise bei der HAM-D-Skala von ≤ 7, er- reicht oder unterschritten werden soll. Dies gilt als Vorausset- Aus Sicht der behandelten Patienten bestehen die wichtigsten zung, mittel- bis langfristig eine vollständige Wiederherstel- Remissionskriterien in einer Rückkehr zu Optimismus, lung der prämorbid vorhandenen sozialen und beruflichen Selbstvertrauen und der prämorbid üblichen Selbsteinschät- Leistungsfähigkeit zu erreichen. Neben der vollständigen Ge- zung, die ein normalisiertes Funktionsniveau auf allen Ebe- sundung ist es das Ziel der antidepressiven Behandlung, wei- nen einschließt [17]. Besonders wichtig ist dieses Therapie- tere Krankheitsepisoden zu verhindern und eine zumindest ziel aber auch deshalb, weil nur nach möglichst vollständiger ausreichende Lebensqualität zu erhalten [12]. Remission von einem reduzierten Rückfallrisiko ausgegan- gen werden kann [18, 19]. Die in einer Metaanalyse von Kirsch et al. [13] publizierten mittleren Placebo-Verum-Differenzen bei SSRI-Therapie von Einleitung einer antidepressiven insgesamt 2 Punkten auf der HAM-D-Skala entsprechen da- gegen keineswegs dem individuell erreichbaren Therapieziel, Pharmakotherapie sondern verursachen eher eine Verunsicherung der behandel- Eine erste antidepressive Pharmakotherapie sollte neben einer ten Patienten, die zu unkalkulierbaren Risiken für die Betrof- guten klinischen Wirksamkeit, die im Mittel für alle zugelas- fenen führen kann [14]. Vielmehr kann das individuelle Be- senen Antidepressiva in gleichem Maße anzunehmen ist [20] handlungsziel, das häufig durch eine sequenzielle und kombi- (Ausnahmen, die für spezielle Subgruppen depressiver Pati- nierte Behandlung erreicht wird, besser durch Responder- enten gelten, werden in den folgenden Kapiteln genauer erläu- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 71
Antidepressive Pharmakotherapie Tabelle 2: Ursachen unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) (aus [1]). Einfluss auf Rezeptoren Wirkmechanismus der UAW Typische UAW (Rezeptor) oder Neurotransmitter M1-Rezeptor antimuskarinisch/anticholinerg – Mundtrockenheit – Hyperhidrosis – Akkommodationsstörungen – Kognitive Störungen – Obstipation – Delir – Miktionsstörungen – Kardiale Arrhythmien – Verschlechterung eines Engwinkel- glaukoms H1-Rezeptor antihistaminerg – Sedierung – Appetitsteigerung – Benommenheit – Gewichtszunahme – Tagesmüdigkeit – Metabolisches Syndrom α1/2-Rezeptor antiadrenerg – Hypotonie NA-Transporter Noradrenalin-Wiederaufnahme- – Tremor – Unruhe hemmung/noradrenerge Effekte – Mundtrockenheit – Schlafstörungen – Tachykardie – Hypertonie 5-HT-Transporterblockade/ Serotonin-Wiederaufnahme- – Kopfschmerz (5-HT1D) – Übelkeit (5-HT3) 5-HT-Rezeptoragonismus hemmung/serotonerge Effekte – Unruhe, Agitation, Akathisie (5-HT2) – Diarrhö (5-HT4) – Angst, Panik (5-HT2) – Schwindel (5-HT3) – Verminderter Appetit (5-HT2) – Serotoninsyndrom – Gewichtsreduktion (5-HT2) (alle 5-HT-Rezeptoren) – Schlafstörungen (5-HT2) – Emotionslosigkeit (SIADH)1 – Sexuelle Dysfunktion (5-HT2) – Erhöhtes Blutungsrisiko2 1 Syndrom der inadäquaten ADH- (antidiuretisches Hormon-) Sekretion (Hyponatriämie und generalisierte epileptische Anfälle möglich). 2 Durch verminderte Thrombozytenzahl oder verringerte Thrombozytenaggregation. tert), besonders gut verträglich sein, um die Therapietreue der makodynamischen Wirkmechanismen (Blockade des Seroto- behandelten Patienten zu fördern. Als Mittel der ersten Wahl nintransporters) und somit die klinische Effektivität sehr ähn- gelten daher vor allem in Ländern, in denen der ökonomische lich sind, ergeben sich in der praktischen Anwendung vor Druck dem nicht entgegensteht, SSRI, NARI, RIMA oder se- allem aufgrund der Verschiedenheit der UAW-Spektren, des lektiv dual wirkende Antidepressiva (SNRI, NaSSA, DNRI). Interaktionspotenzials und unterschiedlicher Eliminations- Allerdings können weiterhin auch diejenigen TCA eingesetzt halbwertszeiten klinisch relevante Unterschiede. werden, die weniger starke anticholinerge und antihistaminer- ge Eigenschaften besitzen. Die Behandlung mit irreversiblen Wirksamkeit und Effektstärke von SSRI werden im Vergleich MAOI sowie antidepressive Augmentations- und Kombina- zu anderen Antidepressiva im Allgemeinen ähnlich gesehen tionsstrategien und die EKT bleiben zunächst schwierig zu [23]. Gleiches gilt für den Effektivitätsvergleich zwischen behandelnden depressiven Störungen mit erhöhter Pharmako- verschiedenen SSRI [24]. Ein leichter Vorteil von Escitalo- therapieresistenz vorbehalten. Lediglich Symptomkomplexe, pram gegenüber Citalopram [25–27] und Paroxetin [26], so- die bei alleiniger Gabe von Antidepressiva zunächst nicht wie von dual wirksamen SNRI [28] gegenüber Fluoxetin wur- rasch genug beeinflussbar sind, wie z. B. Depressionen mit den allerdings beschrieben. Im Vergleich zu NaSSA ergaben psychotischen Symptomen oder mit ausgeprägter Insomnie sich widersprüchliche Hinweise, während zunächst ein Vor- (bei gleichzeitiger Behandlung mit nicht-sedierenden Anti- teil angenommen wurde [29], konnte dieser in einer kürzlich depressiva), erfordern häufig eine entsprechende Begleit- veröffentlichten Metaanalyse lediglich nominell bestätigt behandlung z. B. mit Neuroleptika oder Hypnotika. werden, ein statistisch signifikanter Unterschied ergab sich jedoch nicht [30]. Escitalopram war in einer Metaanalyse im Im Folgenden werden die in Europa derzeit verfügbaren Anti- Vergleich zu anderen SSRI (Citalopram, Fluoxetin, Sertralin) depressiva kurz vorgestellt (Tab. 3). Die Wirksamkeitsdaten und dem SNRI Venlafaxin hinsichtlich der Ansprechge- beziehen sich meist auf randomisierte kontrollierte Studien schwindigkeit von Vorteil [31]. Bei Subgruppen stationär be- („randomized controlled trial“ [RCT]), die an Erwachsenen handelter depressiver Patienten und besonders schwer kran- im Alter zwischen 18 und 65 Jahren durchgeführt wurden. ker Patienten ergaben sich allerdings Vorteile von TCA, vor Aus historischen Gründen wird eine gemischte Klassifikation allem Amitriptylin im Vergleich zu SSRI [32, 33]. nach Wirkmechanismen und chemischer Struktur beibehal- ten, die medizinisch sinnvolle Einteilung nach Wirkmecha- Vergleicht man SSRI hinsichtlich anderer klinisch rele- nismen wird jedoch betont. Aktuelle Leitlinien in deutscher vanter Parameter, so sind besonders Citalopram [34], und englischer Sprache sind bei Bauer et al. [21, 22] zu fin- Escitalopram [35] und Sertralin [36] aufgrund ihrer hohen den. Selektivität und des geringen Interaktionspotenzials her- vorzuheben. Eine besonders gute Wirksamkeit gerade bei Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer ängstlich gefärbten depressiven Syndromen wurde für (SSRI) Escitalopram [35], Paroxetin [37] und Fluvoxamin [38] Zurzeit sind in Europa 6 SSRI zur Behandlung depressiver beschrieben, während für Fluoxetin [39] und Sertralin Erkrankungen zugelassen: Citalopram, Escitalopram, Fluoxe- [36] besonders gute Behandlungserfolge bei atypischen tin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin. Obwohl die phar- Depressionen publiziert wurden. 72 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Antidepressive Pharmakotherapie Tabelle 3: Dosierungsempfehlung für Antidepressiva (aus [1]). Wirkstoff Dosisempfehlung des Herstellers Wirkstoff Dosisempfehlung des Herstellers Startdosis Erhaltungstherapie Startdosis Erhaltungstherapie (mg) (mg/Tag) (mg) (mg/Tag) Agomelatin 25 25–50 Mianserin 30 60–120 Amitriptylin 25–75 150–300 Milnacipran1 50 100–200 Amitriptylinoxid 30–60 180–300 Mirtazapin 15 30–45 Amoxapin1 50 100–400 Moclobemid 150–300 300–600 Bupropion 100 200–300 Nefazodon1 100 300–600 Citalopram 20 20–60 Nortriptylin 25–50 75–300 Clomipramin 25–50 100–250 Paroxetin 20 20–60 Desipramin 25–75 100–300 Phenelzin1 15 30–90 Dibenzepin1 120–180 240–720 Protriptylin1 10 20–60 Dosulepin/Dothiepin 75 75–150 Reboxetin 4 8–12 Doxepin 25–75 150–300 Selegilin1 oral 30 30–60 Duloxetin 60 60–120 transdermal 6 6–12 Escitalopram 5–10 10–20 Sertralin 50 50–200 Fluoxetin 20 20–80 Tianeptin1 37,5 37,5 Fluvoxamin 50–100 100–300 Tranylcypromin 10 20–40 Imipramin 25–75 150–300 Trazodon 50–100 200–600 Isocarboxacid1 20 20–60 Trimipramin 25–50 150–400 Lofepramin1 70 140–210 Venlafaxin 75 75–375 Maprotilin 25–75 150–225 Viloxazin1 100 200–500 Melitracen1 20 20–30 1 Derzeit in vielen Ländern Europas noch nicht oder nicht mehr zur Behandlung depressiver Störungen zugelassen bzw. erhältlich. Fluoxetin und sein pharmakologisch aktiver Metabolit zeich- rend ihre Effektivität bei atypischen und eher antriebsarmen net sich durch eine Eliminationshalbwertszeit von mehr als Depressionen besser ist. SSRI sind im Vergleich zu älteren 300 Stunden [39] im Vergleich zu 15–30 Stunden bei anderen trizyklischen Präparaten also deutlich besser verträglich ge- SSRI [40] aus. Dies kann aufgrund des Ausbleibens von Ab- genüber anderen neueren Präparaten (SNRI, NaSSA, RIMA), setzeffekten nach (zu) schneller Dosisreduktion oder durch es sind, erneut mit Ausnahme von Escitalopram, keine die Möglichkeit der Gabe nur 1× pro Woche [39] im Sinne wesentlichen Unterschiede erkennbar [23]. Absetzeffekte eines „antidepressiven Depotpräparats“ von Vorteil sein, sind vor allem nach zu raschem Absetzen des ältesten SSRI schränkt jedoch die Verwendung aufgrund einer schlechteren Paroxetin zu erwarten [44]. Hinsichtlich der Sicherheit erge- Steuerbarkeit und einer auch nach dem Absetzen wochenlang ben sich aufgrund der geringeren kardiovaskulären Toxizität bestehenden Interaktionsgefahr (z. B. bei dem Wunsch, eine deutliche Vorteile sowohl gegenüber den TCA [45] als auch dann kontraindizierte MAOI-Therapie einzusetzen) deutlich gegenüber SNRI [46]. ein. Zu beachten ist auch, dass bei einer Behandlung mit Paroxetin milde anticholinerge Effekte mit deutlich höherer Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme- Wahrscheinlichkeit als bei den selektiveren anderen SSRI hemmer (NARI) auftreten können [37]. Bislang ist Reboxetin der einzige NARI, der in Europa zur Behandlung depressiver Erkrankungen zugelassen ist (andere Das Profil serotonerger UAW [41] umfasst gastrointestinale Substanzen mit ähnlichem Wirkmechanismus wurden entwe- Störungen (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö), Unruhe und Agita- der in der Entwicklung gestoppt oder erhielten die Indikation tion, Schlafstörungen, Benommenheit und Kopfschmerzen. zur Behandlung anderer Erkrankungen). Im Vergleich zu an- Vor allem bei Langzeittherapie kann es nicht selten zu sexu- deren Antidepressiva wurde Reboxetin als ähnlich gut wirk- ellen Funktionsstörungen (Libidominderung, Anorgasmie, sam beschrieben. Ein Vergleich mit dem TCA Imipramin er- erektile Dysfunktion, verzögerte Ejakulation) kommen. Des- gab keinen Unterschied [47], bei Vergleich mit dem SSRI orientierung, Unruhe und Myoklonien können zusammen mit Sertralin ergab sich ebenfalls kein unterschiedliches Anspre- Hyperreflexie und Tremor auf ein potenziell lebensbedroh- chen auf die Therapie [48]. In dieser Studie konnten lediglich liches Serotonin-Syndrom, das mit höherer Wahrscheinlich- hinsichtlich der Remissionsraten Vorteile von Reboxetin fest- keit bei Überdosierung oder Interaktionen auftritt, hinweisen gestellt werden. Bei generell gleich guter Wirkung konnten [42]. bei einer Subgruppe schwer depressiver Patienten Vorteile von Reboxetin im Vergleich zu Fluoxetin detektiert werden [49], Zusammenfassend kann man den meisten SSRI mit Ausnah- gleiches galt für Patienten mit antriebsarm-depressiven Syn- me von Escitalopram [43] eine leichte Unterlegenheit gegen- dromen nach Schlaganfall im Vergleich zu Citalopram [50]. über dual wirkenden Antidepressiva bei schweren Depressio- Hingegen fanden sich bei Depressionen mit melancholischen nen, die häufig stationär behandelt werden, attestieren, wäh- Symptomen Vorteile von TCA gegenüber dem NARI [51]. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 73
Antidepressive Pharmakotherapie Das Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil von Reboxetin ist satz von Duloxetin geringer zu sein [55], allerdings wurden bislang in allen Studien gut [52] und vor allem den TCA ge- auch hier mehr UAW als bei einer Paroxetin-Behandlung genüber überlegen. Im Vergleich zu SSRI wird bei NARI- registriert [63]. Therapie seltener über sexuelle Funktionsstörungen [53] so- wie seltener über Nervosität, Ängstlichkeit und gastrointesti- Typische UAW von SNRI sind (vor allem bei Gabe unretar- nale Störungen berichtet [51]. Typische UAW nach Gabe von dierter Präparate [70] und höheren Dosierungen [71]) gastro- Reboxetin sind hingegen Unruhe, Schlafstörungen und ver- intestinale Störungen, sexuelle Funktionsstörungen, Blut- mehrtes Schwitzen. Selten können Tachykardie, Mundtro- drucksteigerungen durch noradrenerge Effekte und Absetz- ckenheit, Blutdrucksteigerung und Gewichtsverlust auftreten. effekte bei zu raschem Therapieabbruch. Die Toxizität von Trotz des Fehlens anticholinerger Effekte können durch Venlafaxin bei Überdosierung liegt, wie bereits beschrieben, α-Rezeptor-agonistische Effekte Miktionsstörungen auftre- zwischen der von TCAs und SSRIs [46]. ten. In diesem Fall kann die Gabe des α1A-Rezeptorantago- nisten Tamsulosin hilfreich sein. Zusammenfassend bereichern SNRI das zur Verfügung ste- hende Pharmakotherapiespektrum wesentlich und werden in Reboxetin erweitert das Spektrum der verfügbaren Anti- der klinischen Routine auch häufig bei Pharmakotherapie- depressiva um die Möglichkeit, eine sehr selektive und damit resistenz nach Gabe von selektiven Substanzen mit nur einem gut verträgliche Therapie ohne große Interaktionsgefahr Wirkmechanismus eingesetzt. Die Verträglichkeit ist dabei durchzuführen, die zudem antriebsfördernde Eigenschaften insgesamt sehr gut, die Sicherheit ausreichend. ohne Sedierung und Appetitsteigerung aufweist. Noradrenerge und spezifisch serotonerge Anti- Selektive Noradrenalin- und Serotonin- depressiva (NaSSA) – α -Rezeptor-blockierende Wiederaufnahmehemmer (SNRI) tetrazyklische Antidepressiva Die erste Gruppe in der Reihe der dual wirkenden selektiven Vor allem das neuere Mirtazapin verstärkt aufgrund einer Monoamin-Wiederaufnahmehemmer stellen die SNRI dar. In α2-adrenergen Blockade von Auto- und Heterorezeptoren die Europa sind Venlafaxin und Duloxetin zur Behandlung Serotonin- und Noradrenalinfreisetzung. Eine zusätzliche depressiver Störungen zugelassen. Obwohl für Duloxetin im serotonerge Wirkung resultiert aus der synergistisch wirken- Vergleich zu Venlafaxin eine stärkere Blockade des Seroto- den Noradrenalinfreisetzung, die eine erhöhte Feuerrate sero- nin- und Noradrenalintransporters beschrieben wurde [54] tonerger Raphé-Zellen durch Stimulation von α1-Adreno- (für den Serotonintransporter gilt dies vor allem im niedrige- rezeptoren an serotonergen Zellkörpern verursacht. Zudem ren Dosisbereich), wurde eine ähnliche klinische Effektivität wird diese Erhöhung durch die gleichzeitige Blockade von für alle SNRI (einschließlich Milnacipran, für das eine Zulas- α2-adrenergen Heterorezeptoren an serotonergen Nerven- sung im deutschsprachigen Raum lediglich in Österreich, je- endigungen unterstützt, die ansonsten der verstärkten Feuer- doch nicht in Deutschland und in der Schweiz vorliegt) postu- rate entgegenwirken würde [72]. Bei Mianserin wirkt dage- liert [55], auch nach Metaanalysen wurden für beide Substan- gen der α1-antagonistische Effekt dem α2-antagonistischen zen gleiche Ansprechraten publiziert [56]. Effekt eher entgegen. Beide Präparate besitzen eine hohe Affinität zu histaminergen H1-Rezeptoren, dies unterstützt Für Venlafaxin wurden im Vergleich zu den SSRI Sertralin sowohl die sedierenden und schlaffördernden als auch die [57] und Fluoxetin [58] vergleichbare Ansprechraten gefun- appetitanregenden Eigenschaften beider Substanzen. den. Bei direktem Vergleich mit Escitalopram wurden z. T. widersprüchliche Ergebnisse publiziert [59, 60]. In Meta- Mirtazapin und Mianserin werden als mindestens genauso analysen konnte dagegen im Vergleich zu Fluoxetin oder wirksam wie TCA beschrieben [73, 74] und haben gegenüber Paroxetin vor allem bei Berücksichtigung der Remissions- anderen modernen Antidepressiva einige Vor- [75], aber auch raten ein Vorteil von Venlafaxin gefunden werden [28, 55, Nachteile. Zusätzlich zu den antidepressiven Effekten wird 61]. Für Duloxetin gilt Ähnliches, sowohl eine Überlegenheit eine günstige Wirkung auf Schlafstörungen beschrieben [76], gegenüber Paroxetin [62] als auch eine gleich gute Wirksam- zudem berichtet neben einigen retrospektiven Studien auch keit im Vergleich zu Paroxetin [63] und Escitalopram [64] eine prospektive, randomisierte, kontrollierte Studie von wurden publiziert. Im Vergleich zu TCA (Milnacipran vs. einem schnelleren Ansprechen auf die Therapie im Vergleich Imipramin) [65] und NaSSA (Venlafaxin vs. Mirtazapin) [66] zum SSRI Paroxetin [77]. Auch gegenüber Fluoxetin konnte konnten keine signifikanten Effektivitätsunterschiede gefun- eine bessere Reduktion depressiver Symptome beobachtet den werden. Hervorzuheben ist neben der antidepressiven werden [78]. Im Vergleich zu NARI oder SNRI konnte hinge- Wirksamkeit eine signifikante Reduktion von Schmerzsyn- gen kein Vorteil hinsichtlich eines schnelleren Ansprechens dromen bei Einsatz von SNRI [67, 68], dies gilt insbesondere gefunden werden [79, 80]. für Duloxetin, das auch bei der Behandlung von Schmerzsyn- dromen unabhängig von depressiven Erkrankungen, z. B. bei Die Verträglichkeit von NaSSA wird deutlich besser als der diabetischen Polyneuropathie, wirksam war [69]. die von TCA eingeschätzt [81], die Sicherheit wird der von SSRI gleichgesetzt [80]. Typische serotonerge UAW wie Im Vergleich zu TCA wurde ein deutlich günstigeres Spek- z. B. sexuelle Funktionsstörungen und gastrointestinale Stö- trum an möglichen UAW für SNRI beschrieben [55], aller- rungen sind nach Gabe von Mirtazapin seltener zu beobachten dings konnte im Vergleich zum SSRI Sertralin für Venlafaxin [82], dies beruht wahrscheinlich auf den 5-HT2- und 5-HT3- ein höheres Risiko für Absetzeffekte und Blutdrucksteige- Rezeptor-blockierenden Eigenschaften. Die häufigsten UAW rung gezeigt werden [57]. Das UAW-Risiko scheint bei Ein- entstehen dagegen durch antihistaminerge Eigenschaften der 74 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Antidepressive Pharmakotherapie NaSSA, in erster Linie sind initiale Benommenheit und Sedie- des geringeren Risikos für sexuelle Funktionsstörungen. Bei rung sowie eine Appetitsteigerung mit konsekutiver Ge- bipolarer Depression ist der Einsatz von DNRI aufgrund des wichtszunahme zu nennen [81]. Die Gefahr einer im weiteren geringeren Switch-Risikos, vor allem im Vergleich zu ande- Verlauf deutlichen Gewichtszunahme kann bei einigen Pati- ren dual wirkenden Antidepressiva, von besonderem Vorteil. enten durch das Frühsymptom massiver Heißhungerattacken Ein im Vergleich zu anderen Antidepressiva höheres Risiko, in den ersten Behandlungstagen rechtzeitig erkannt werden. epileptische Anfälle auszulösen muss vor allem bei Über- Vor allem für Mirtazapin kann die Entwicklung oder Verstär- dosierungen, aber auch bei prädisponierenden Begleiterkran- kung eines Restless-Legs-Syndroms (RLS) eine relativ häufi- kungen beachtet werden. ge UAW sein [83]. Als sehr seltene, aber potenziell lebens- bedrohliche UAW ist für beide Präparate die Verstärkung Unselektive Serotonin- und Noradrenalin- oder Auslösung einer Neutropenie [84] und für Mianserin die Wiederaufnahmehemmer, tri- und tetra- Gefahr einer Agranulozytose zu beachten [85]. zyklische Antidepressiva (TCA) Tri- und tetrazyklische Antidepressiva können anhand ihrer NaSSA erweitern das Spektrum dual wirkender Antidepres- pharmakodynamischen Wirkprinzipien in Substanzgruppen siva bei sehr guter Wirksamkeit vor allem auch bei depres- eingeteilt werden, welche überwiegend, aber nicht selektiv, sionsassoziierten Schlafstörungen. Das Sicherheits- und Ver- die monoaminerge Neurotransmission durch Wiederaufnah- träglichkeitsprofil ist dabei deutlich besser als bei den meisten mehemmung verstärken. Während Clomipramin überwie- TCA, wobei metabolische Veränderungen oder eine RLS- gend serotonerg, Maprotilin überwiegend noradrenerg und Symptomatik die Therapietreue beeinflussen können. Trimipramin überwiegend dopaminerg wirkt, entfalten die übrigen TCA (Amitriptylin, -oxid, Desipramin, Dosulepin, Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme- Doxepin, Imipramin, Nortriptylin, Protriptylin) ihre Wirkung hemmer (DNRI) durch kombinierte serotonerge und noradrenerge Effekte. Bupropion ist das einzige derzeit erhältliche dual wirkende Tianeptin wird hingegen als modifiziertes Trizyklikum be- Antidepressivum, das die noradrenerge und dopaminerge zeichnet, das adaptive Veränderungen kortikaler Serotonin- Neurotransmission vor allem durch eine selektive Wiederauf- transporter induziert [99] und die antidepressive Wirkung nahmehemmung beider Monoamine aus dem synaptischen über eine Modulation des glutamatergen Systems [100] und Spalt verstärkt [86]. Es ist damit neben dem NARI Reboxetin über neuroprotektive Effekte entfalten könnte [100]. eines der wenigen Antidepressiva ohne Wirkung auf das zen- tralnervöse Serotoninsystem [87]. TCA können meist unabhängig vom Subtyp depressiver Er- krankungen eingesetzt werden. Eine im Vergleich zu SSRI Die antidepressive Wirksamkeit von Bupropion war in Ver- bessere Wirkung von TCA wurde bei besonders schweren gleichsstudien nicht verschieden von der Wirkung der SSRI Depressionen und bei hospitalisierten Patienten beschrieben Sertralin [88], Fluoxetin [89] und Paroxetin [90], dem SNRI [32, 33]. Für Tianeptin wurde lediglich in einer Studie eine Venlafaxin [91] sowie der TCA Doxepin [92], Amitriptylin Unterlegenheit gegenüber Fluoxetin erwähnt [101], während [93] und Imipramin [91]. Da bei Behandlung mit Bupropion alle anderen RCT eine den SSRI vergleichbare Effektivität eine sedierende Wirkkomponente fehlt, zeigte sich allerdings belegten [102]. Eine deutlich schwächere Evidenz liegt hin- beim direkten Vergleich mit TCA eine deutlichere Verbesse- gegen für die beschriebene bessere Wirksamkeit von TCA in rung von Schlafparametern nach Gabe von Doxepin [92]. höherem Alter [103] oder die besonders gute Wirksamkeit Aufgrund eines möglicherweise geringeren Risikos der antriebssteigernder TCA wie z. B. Clomipramin und Desipra- Induktion einer Manie oder Hypomanie („Switch-Risiko“) min bei gehemmten Depressionen [104] vor. Aufgrund der [94] wird Bupropion trotz des dualen Wirkmechanismus zur guten Beeinflussbarkeit chronischer neuropathischer Schmerz- Behandlung bipolarer Depressionen empfohlen [95]. syndrome durch TCA (klassischer Vertreter ist hier vor allem Amitriptylin [105]) haben TCA, die sowohl auf die sero- Hinsichtlich der Verträglichkeit ergeben sich durch das Feh- tonerge als auch auf die noradrenerge Neurotransmission wir- len anticholinerger und antihistaminerger Effekte Vorteile ken, ihren besonderen Stellenwert in der Behandlung von De- von Bupropion im Vergleich zu TCA [92], durch das Fehlen pressionen mit komorbiden Schmerzsyndromen. Allerdings serotonerger Wirkungen konnte eine niedrigere Rate an gas- konnte bei diesen Krankheitsbildern eine ebenso gute Wirk- trointestinalen Beschwerden und an sexuellen Funktionsstö- samkeit von NaSSA [106] und SNRI [107] gezeigt werden. rungen im Vergleich zu den SSRI Sertralin [88] und Fluoxetin Bei der Behandlung atypischer Depressionen, die durch [89] registriert werden. Obwohl die Induktion generalisierter Appetitsteigerung, Hypersomnie, die so genannte „bleierne zerebraler Krampfanfälle durch Bupropion ein eher seltenes Schwere in Armen oder Beinen“ und eine seit Langem beste- Ereignis darstellt [96], muss dieser möglichen UAW bei zu- hende (und nicht nur auf Episoden der affektiven Störung be- sätzlichen Risikofaktoren wie Alkoholentzug oder Elektro- schränkte) Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisun- lytstörungen bei Anorexie oder Bulimie [97], bei Patienten gen, die zu deutlichen sozialen oder beruflichen Beeinträchti- mit vorbekannter Epilepsie sowie vor allem nach Überdosie- gungen führt, charakterisiert sind, scheinen TCA im Ver- rungen [98] besondere Beachtung geschenkt werden. gleich zu MAO-Hemmern und SSRI hingegen eher eine un- terlegene pharmakotherapeutische Option darzustellen [108]. Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer erwei- tern das Spektrum dual wirkender, antriebsfördernder Anti- Bei den meisten TCA stellen anticholinerge (Mundtrocken- depressiva bei günstigem Profil vor allem hinsichtlich des heit, Akkomodationsstörungen, Obstipation, Miktionsstörun- Fehlens sedierender und appetitfördernder Wirkungen sowie gen bei Prostatahypertrophie, Erhöhung des Augeninnen- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 75
Antidepressive Pharmakotherapie drucks bei Engwinkelglaukom) und antihistaminerge (Mü- ren Depressionen angehoben werden kann [116]. Im Ver- digkeit, Benommenheit, Appetitsteigerung, metabolisches gleich zu SSRI und TCA werden keine Wirksamkeitsunter- Syndrom) UAW Einschränkungen dar, die sich auf die Behand- schiede angenommen. Der MAOBI Selegilin wird in Europa lungssicherheit, Compliance und Therapietreue auswirken bei oraler Gabe zur Behandlung des Mb. Parkinson eingesetzt. [1]. Ebenso muss eine mögliche Erhöhung des Switch-Risi- Signifikante antidepressive Effekte des transdermalen Sys- kos bei bipolaren Depressionen berücksichtigt werden [109]. tems konnten belegt werden, in der niedrigsten wirksamen Zudem ist die Toxizität von TCA im Vergleich zu moderneren Dosierung von 6 mg/24 h sind keine dietätischen Maßnahmen Antidepressiva höher, dies gilt im Besonderen für die erhöhte erforderlich [117]. Kardiotoxizität bei Überdosierungen mit QTc-Zeit-Verlänge- rung beispielsweise im Zusammenhang mit suizidalem Verhal- Trotz der guten Wirksamkeit werden irreversible MAOI auf- ten [110], wobei sich einige TCA, beispielsweise Tianeptin grund ihres Potenzials für schwere UAW, wie z. B. hypertone [111] oder Desipramin, durch deutlich schwächere anticho- Krisen bei Diätfehlern mit tyraminreicher Nahrung oder Gabe linerge und kardiotoxische UAW auszeichnen. sympathomimetischer Medikation, heute als Therapieoption der 2. Wahl betrachtet [118]. Gleiches gilt für Ultra-Hoch- Seit Entdeckung von Imipramin waren TCA weltweit die pri- dosisstrategien bei schwer zu behandelnden Depressionen märe Option für antidepressive Pharmakotherapien und noch [119]. Ohne Diätfehler sind nicht selten eher hypotone Kreis- heute ist Amitriptylin das einzige Antidepressivum, das in laufreaktionen zu beobachten, bei Hochdosistherapie sowie der Liste der essenziellen Pharmaka der Weltgesundheits- nach abruptem Absetzen kann ein Delir auftreten. Es wurde organisation (WHO) geführt wird. Nach Einführung von se- diskutiert, ob Absetzeffekte sowie Symptome einer Substanz- lektiveren und daher meist besser verträglichen modernen abhängigkeit möglicherweise durch dopaminerge Effekte von Antidepressiva haben TCA ihren Status als Therapieoption Tranylcypromin sowie amphetaminartige Effekte der Abbau- der ersten Wahl zumindest in den meisten Industrienationen produkte entstehen [120]. Aufgrund der Gefahr eines Seroto- verloren. Nichtsdestoweniger repräsentieren sie gerade bei ninsyndroms dürfen MAOI nicht mit anderen serotonerg wir- schwierig zu behandelnden, so genannten „therapieresisten- kenden Substanzen kombiniert werden. Bei irreversiblen ten“ Depressionen weiterhin eine bislang nicht vollständig MAOI ist bei Therapieumstellungen eine definierte Wartezeit ersetzbare Behandlungsmöglichkeit, die bei Beachtung der einzuhalten. Bei Umstellungen von serotonergen Antidepres- genannten Kontraindikationen auch ausreichend verträglich siva auf Tranylcypromin sollte ein Abstand von 5 Halbwerts- und relativ sicher ist. zeiten, d. h. meist ca. 5–7 Tagen eingehalten werden (ledig- lich bei vorherigem Einsatz von Fluoxetin sollte der Abstand Monoaminooxidasehemmer (MAOI, RIMA, auf mindestens 5 Wochen ausgedehnt werden), bei umgekehr- MAOBI) ter Reihenfolge sollte ein Abstand von 14 Tagen eingehalten Derzeit werden 3 verschiedene Subtypen von Monoamino- werden [1]. Bei Einsatz eines RIMA kann ein solcher Abstand oxidasehemmern in der Therapie depressiver Erkrankungen aufgrund der kürzeren Wirkung auf 3 Tage reduziert werden eingesetzt. Zu den unselektiven und irreversiblen MAO- [1]. Bei Einsatz von RIMA muss bei üblichen Dosierungen Hemmern gehört Tranylcypromin, für das aufgrund der irre- keine Diät eingehalten werden, bei Hochdosistherapie versiblen Enzymhemmung im zentralen Nervensystem von > 900 mg/d können Interaktionen mit tyraminreicher Nah- bis zu 2 Wochen spezielle Sicherheitsabstände bei Einsatz vor rung allerdings wieder klinische Relevanz erlangen [121]. anderen Antidepressiva und spezifische Diätrichtlinien gelten Ebenso muss auf mögliche Interaktionen mit anderen sero- (s. u.). Nach serotonergen Antidepressiva muss entsprechend tonergen Substanzen bis hin zum Serotoninsyndrom geachtet der Halbwertszeit dieser Substanzen zur Vermeidung der werden [122]. Ebenso muss bei Verordnung von Selegilin Gefahr eines Serotoninsyndroms ebenfalls ein Sicherheits- (transdermales Applikationssystem) von 9 oder 12 mg/d eine abstand eingehalten werden. Aufgrund der selektiven und re- tyraminarme Diät eingehalten werden. versiblen MAO-Hemmung durch Moclobemid ist bei Einsatz dieses Präparats im üblichen Dosisbereich keine Diät erfor- Irreversible MAOI bereichern das Spektrum therapeutischer derlich. Gleiches gilt für den MAO-B-Hemmer Selegilin bei Möglichkeiten gerade bei schwierig zu behandelnden Depres- transdermaler Anwendung im niedrigen Dosisbereich, der sionen, werden aber aufgrund des Potenzials schwerer UAW allerdings in Europa bislang noch nicht zur Behandlung de- nur als Therapie der 2. Wahl eingesetzt. RIMA und MAOBI pressiver Erkrankungen zugelassen ist. stellen eine sehr gut verträgliche, aber im klinischen Alltag nicht ganz so wirksame Therapiealternative dar. Für irreversible MAOI wird ein den TCA vergleichbares Wirksamkeitsprofil berichtet, das allerdings überwiegend an Melatoninagonist und selektiver 5-HT2c-Anta- ambulanten Patienten untersucht wurde [112]. Im Vergleich gonist zur SNRI/NaSSA-Kombinationstherapie mit Venlafaxin und Im Gegensatz zu reinen Melatoninagonisten wurde für Mirtazapin konnte kein signifikanter Unterschied hinsichtlich Agomelatin, welches das neue Therapieprinzip des MT1- der Wirksamkeit gezeigt werden [113]. Zumindest in retro- und MT2-Melatonin-Rezeptoragonisten bei gleichzeitigem spektiven Studien wurde eine gute Effektivität gerade bei selektiven 5-HT2c-Serotoninantagonismus repräsentiert, therapieresistenten depressiven Erkrankungen [114] und bei eine gute antidepressive Wirksamkeit belegt [123]. Zudem antriebsarmen [115] und atypischen [108] Depressionen be- konnte ohne direkt sedierende Wirkkomponente sowie ohne richtet. Für den RIMA Moclobemid wird in einer Metaana- Unterdrückung des REM- (rapid eye movement-) Schlafs lyse eine im Vergleich zu Tranylcypromin etwas niedrigere eine gute Wirkung auf Schlafstörungen beobachtet werden Effektstärke berichtet, die durch Dosissteigerung bei schwe- [124, 125]. 76 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Antidepressive Pharmakotherapie Im Vergleich zum SSRI Paroxetin [126] sowie zum SNRI Antidepressive Pharmakotherapie bei Venlafaxin [127] zeigte Agomelatin eine vergleichbare gute Jugendlichen antidepressive Wirksamkeit bei gleich hohen Remissions- raten. Das klinische Bild eines depressiven Syndroms zeichnet sich bei Kindern und Jugendlichen häufig durch Verhaltensauffäl- Verträglichkeitsuntersuchungen zeigten dabei dosisabhängig ligkeiten und psychosoziale Schwierigkeiten anstelle der UAW, die im Mittel nicht häufiger als bei Placebogabe auftra- klassischen affektiven Symptome aus. Die wissenschaftliche ten [126]. Insbesondere fanden sich im Vergleich zum SNRI Evidenz für die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Anti- Venlafaxin weniger häufig sexuelle Funktionsstörungen depressiva ist bei dieser Altersgruppe aufgrund der aktuellen [127] sowie im Vergleich zu dem SSRI Paroxetin ein geringe- Studienlage im Vergleich zu Erwachsenen weniger gut fun- res Risiko für Absetzeffekte [128]. diert. Mitte der 1980er-Jahre wurde eine erste, gut konzipierte kontrollierte Studie mit TCA bei Jugendlichen durchgeführt Eine Zulassungsempfehlung des zuständigen Ausschusses [142], eine gute antidepressive Wirksamkeit wurde jedoch der europäischen Zulassungsbehörde EMEA wurde bereits nicht belegt. Metaanalytisch konnte hingegen eine signifikan- 2008 publiziert [129], die Zulassung durch die EMEA er- te antidepressive Wirkung von TCA bei kleiner Effektstärke folgte Anfang 2009. Das Präparat ist in Deutschland seit April gezeigt werden [143]. Seitdem wurde vor allem der Einsatz 2009 erhältlich, in Österreich ist es aktuell (Juli 2009) eben- von SSRI bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Eine bes- falls verfügbar. sere antidepressive Wirkung als bei Placebobehandlung wur- de erstmals für Fluoxetin belegt [144]. Später konnte auch Aufgrund der besonders guten Verträglichkeit und des neuen eine signifikante Wirksamkeit von Paroxetin [145] und pharmakodynamischen Wirkprinzips stellt Agomelatin eine Citalopram [146] und von Escitalopram [147] bei Jugendli- wesentliche Bereicherung des therapeutischen Spektrums dar. chen gezeigt werden. Zu den genannten SSRI wurden aller- Insbesondere die kurz- bis mittelfristig schlaffördernde Wir- dings auch Negativbefunde publiziert, gleiches gilt für Venla- kung ohne sedierende und appetitsteigernde Effekte würde es faxin und Mirtazapin. Andere Substanzen wie z. B. MAOI zu einer klinisch sehr interessanten Behandlungsalternative und der DNRI Bupropion wurden bislang bei Jugendlichen machen. nicht untersucht. Pflanzliche Präparate: Hypericum perforatum Bei Jugendlichen besteht die bislang robusteste Evidenz für Obwohl pflanzliche Präparate im Einsatz gegen depressive den wirkungsvollen Einsatz von Fluoxetin. Für neuere Anti- Erkrankungen weit verbreitet sind, ist eine antidepressive depressiva sollten zunächst weitere kontrollierte Studien Wirksamkeit lediglich für Johanniskraut (Hypericum perfo- abgewartet werden, um zu einer validen abschließenden Beur- ratum) belegt. Als Wirkmechanismen wurden zunächst vor teilung zu kommen. Unabhängig von den bisherigen Studien- allem serotonerge Mechanismen analog den SSRI und den ergebnissen gilt, dass sorgfältiges und engmaschiges Thera- MAOI diskutiert [130, 131]. Untersuchungen der vergange- piemonitoring sowie eine besonders gute Psychoedukation nen Jahre zeigten allerdings, dass Hyperforin durch die Be- von Patienten und Familien erforderlich sind. einflussung von Natrium-Ionen Kanälen nicht nur Eigen- schaften eines Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamin- Besonderheiten der antidepressiven wiederaufnahmehemmers besitzt, sondern seine antidepres- sive Wirkung möglicherweise über neurotrophe Effekte ent- Pharmakotherapie bei älteren Patienten faltet [132, 133]. Bei älteren Patienten ist eine adäquate Therapie depressiver Erkrankungen besonders wichtig, da sie häufig vorkommen, In ausreichend hoher Dosierung, d. h. bei ausreichendem häufig einen rezidivierenden Verlauf zeigen und signifikant Hypericingehalt der Präparation, ist es durchaus zur Behand- mit medizinischen Komorbiditäten [148] sowie mit einer er- lung leicht- bis mäßiggradiger Depressionen geeignet [134]. höhten Mortalität [149] assoziiert sind. Zudem reagieren älte- In Vergleichsstudien konnte eine den SSRI Citalopram [135], re Patienten besonders sensibel auf UAW, bei antidepressiven Fluoxetin [136], Paroxetin [137] und Sertralin [138] ebenbür- Pharmakotherapien leiden sie vor allem unter kardiovasku- tige Wirkung belegt werden. lären und behandlungsassoziierten kognitiven Nebenwirkun- gen [150]. Die Sicherheit und Verträglichkeit von Hypericum wurde insgesamt als sehr gut und besser als bei SSRI [137] oder TCA Für die SSRI Fluoxetin, Sertralin und Paroxetin [151–153] [139] beurteilt. Trotzdem muss das Risiko einer Photosensi- sowie für Venlafaxin [77] konnte im Vergleich zu Placebo bei bilisierung sowie eines nicht unbeträchtlichen Interaktions- älteren Patienten eine signifikant bessere Wirkung gezeigt potenzials beachtet werden [134]. Aufgrund der serotonergen werden. Bei TCA, die aufgrund ihres UAW-Profils für ältere Wirkung sollte Hypericin nicht mit MAOI kombiniert werden Patienten weniger gut geeignet sind, gibt es häufig nur be- [130], zudem wurden Interaktionen mit Digoxin [140] sowie grenzte Evidenz für eine signifikante Wirksamkeit [151]. In mit oralen Kontrazeptiva [141] berichtet. einer Metaanalyse konnte die signifikante Wirksamkeit von TCA, SSRI und MAOI gut belegt werden [155]. Johanniskraut bereichert das Spektrum gut verträglicher anti- depressiver Therapien, wenn beachtet wird, dass es im Gegen- Während antidepressiver Therapien leiden geriatrische Pati- satz zu allen anderen Antidepressiva nicht zur Behandlung enten häufiger unter orthostatischen Regulationsstörungen schwerer Depressionen geeignet ist. und Sedierung. Deswegen lösen derzeit SSRI aufgrund ihres J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 77
Antidepressive Pharmakotherapie Tabelle 4: Cytochrom-P-450-Hemmer und -Induktoren (Mod. nach [1]). Antidepressiva und CYP-Induktoren (+) und Antidepressiva und CYP-Induktoren (+) und andere CYP-450-Substrate CYP-Hemmer (–) andere CYP-450-Substrate CYP-Hemmer (–) Broccoli Ketoconazol CYP3A – (Brassica oleracea) CYP1A2 + Koffein CYP1A2 – Carbamazepin CYP2C9 +, CYP3A + Levomepromazin CYP2D6 – Cimetidin CYP1A2 –, CYP2D6 –, CYP2D6 – Mexiletin CYP3A – Ciprofloxacin CYP1A2 – Mifepriston CYP3A – Clarithromycin CYP3A – Nefazodon CYP3A – Dexamethason CYP2C9 – Nevirapin CYP3A + Dihydralazin CYP1A2 – Norfloxazin CYP1A2 – Diltiazem CYP3A – Omeprazol CYP1A2 + Efavirenz CYP3A + Paroxetin CYP2D6 – Erythromycin CYP3A – Phenytoin CYP2C9 +, CYP3A + Fluoxetin CYP2C19 –, CYP2D6 – Primidon CYP2C9 + Fluvoxamin CYP1A2 –, CYP2C9 –, CYP2C19 – Rauchen (Nikotin) CYP1A2 + Grapefruitsaft (Citrus paradisi) CYP3A – Rifampicin CYP1A2 +, CYP2C9 +, CYP3A + Haloperidol CYP2D6 – Ritonavir CYP1A2 +, CYP3A – Indinavir CYP3A – Rofecoxib CYP1A2 – Intraconazol CYP3A – Saquinavir CYP3A – Johanniskraut Valproinsäure CYP3A –, CYP2C9 – (Hypericum perforatum) CYP2C9 +, CYP3A + Verapamil CYP3A – besseren Verträglichkeitsprofils TCA bei der Behandlung Verschiedene Antidepressiva und ihre Metaboliten sind rele- dieser Patientengruppe ab [154, 156]. Gerade ältere Patienten vante Hemmer des Cytochrom-P-450-Systems. Daher können haben aufgrund internistischer Komorbiditäten und der des- pharmakokinetische Interaktionen wichtige klinische Konse- halb durchgeführten pharmakologischen Kombinations- quenzen haben, da Substanzen wie z. B. Fluoxetin, Paroxetin, therapien ein höheres Risiko, unter UAW und Interaktionen Fluvoxamin, Trimipramin u. a. Substrate oder Hemmer des zu leiden (s. u.) [157]. Aufgrund eines häufig bei älteren Pati- Cytochroms P 450 sind. Seit Langem bekannte Beispiele sind enten eingeschränkten hepatischen Metabolismus und einer die Interaktionen zwischen TCA und Fluoxetin [157] oder verminderten renalen Eliminationsrate sind geeignete Dosie- Fluvoxamin [161]. rungen häufig niedriger anzusetzen [158]. Ein Therapie- beginn im niedrigen Dosisbereich und ein in Abhängigkeit In Tabelle 4 ist eine Auswahl einiger Antidepressiva, Nah- von der Verträglichkeit langsames Aufdosieren in den thera- rungs- und Genussmittel sowie internistischer Präparate auf- peutischen Dosisbereich werden daher empfohlen. geführt, die eine potente Hemmung oder Induktion der Cytochrom-P-450-Isoformen CYP1A2, CYP2C9, CYP2C19, Im Gegensatz zu jüngeren Patienten ist es auch nach anfängli- CYP2D6 and CYP3A4/5 verursachen [162, 163]. Zur opti- cher schneller Besserung [155] oft erforderlich, länger zu malen Therapiebegleitung kann daher therapeutisches Drug- warten, bis beurteilt werden kann, ob eine ausreichende Monitoring (TDM) dringend empfohlen werden, um die Aus- Remission vorliegt. Häufig vergehen bis zu 12 Wochen, bis wirkungen potenzieller pharmakokinetischer Interaktionen ein ausreichender therapeutischer Effekt beobachtet werden auf die Plasmaspiegel der verabreichten Antidepressiva und kann, mindestens 6 Wochen Behandlung sind erforderlich, somit möglicherweise auch auf die Wirksamkeit und Verträg- um optimale Therapieeffekte zu erzielen [155]. Nach Remis- lichkeit der Therapie besser abschätzen zu können [164]. sion muss wie bei jüngeren Patienten eine konsequente Erhal- tungstherapie für mindestens 6 Monate durchgeführt werden, Interessenkonflikt um die Wahrscheinlichkeit für Rezidive deutlich zu senken [159]. TCB erhielt Vortrags- oder Beraterhonorare der Firmen Astra- Zeneca, Glaxo-Smith-Kline, Janssen-Cilag, Organon, Pfizer und Servier. Pharmakokinetische Interaktionen HJM hat von den folgenden Firmen Forschungsgelder erhal- Viele ältere, aber auch jüngere Patienten mit somatischen Ko- ten, ist Mitglied des Advisory Boards oder aber erhält Hono- morbiditäten erhalten neben der antidepressiven Pharmako- rare für Vorträge: AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb, Eisai, therapie weitere, häufig internistische Pharmakotherapien. Des Eli Lilly, GlaxoSmithKline, Janssen Cilag, Lundbeck, Merck, Weiteren ist es gerade bei Pharmakotherapieresistenz depressi- Novartis, Organon, Pfizer, Sanofi-Aventis, Schering-Plough, ver Erkrankungen trotz begrenzter wissenschaftlicher Evidenz Schwabe, Sepracor, Servier und Wyeth. nicht unüblich, pharmakologische Kombinationstherapien durchzuführen. In der Folge können UAW erwartet werden, HPV hat Honorare als Berater bzw. für die Teilnahme an Ad- wenn eine pharmakodynamische Interaktion beispielsweise zu visory Boards erhalten von: Astra/Zeneca, Eli Lilly, Lundbeck, einer Erhöhung der Plasmaspiegel verabreichter Medikamente in Pfizer, Schwabe, Janssen, Otsuka, Merz und Wyeth; sowie für toxische Bereiche führt. Interaktionen, die zu einer Erniedrigung Vortragstätigkeiten von Astra/Zeneca, Eli Lilly, Lundbeck, der Plasmaspiegel z. B. durch Enzyminduktion führen, können Schwabe, Janssen, Merz, Wyeth, Lichtwer, Steigerwald, hingegen zu einem Nichtansprechen auf die Therapie führen. Hormosan und Bristol-Myers Squibb 78 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
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