Die dissoziative Identitätsstörung - häufig fehldiagnostiziert

 
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MEDIZIN

ÜBERSICHT

Die dissoziative Identitätsstörung –
häufig fehldiagnostiziert
Ursula Gast, Frauke Rodewald, Arne Hofmann, Helga Mattheß,
Ellert Nijenhuis, Luise Reddemann, Hinderk M. Emrich

ZUSAMMENFASSUNG                                               SUMMARY
Einleitung: Die dissoziative Identitätsstörung (DIS), auch    RECENT ADVANCES IN DISSOCIATIVE IDENTITY
Multiple Persönlichkeitsstörung genannt, wird in der ICD-10   DISORDER
noch als seltene Erkrankung angegeben. Studien mit Prä-       Introduction: Dissociative identity disorder (DID), also
valenzangaben von 0,5 Prozent in der Allgemeinbevölke-        called multiple personality disorder, is described in ICD-10
rung und 5 Prozent in psychiatrischen Populationen wei-       as rare. Studies suggesting a prevalence of 0.5 per cent in
sen jedoch auf eine versorgungsrelevante Häufigkeit hin.      the general population and 5 per cent in the psychiatric
Da inzwischen störungsspezifische Psychotherapieansätze       population, suggest that it must be considered as part of
vorliegen, kommt der frühzeitigen Diagnostik der DIS eine     service provision. Since specific psychotherapeutic appro-
besondere Bedeutung zu. Der „State-of-the-art“-Artikel        aches now exist, early diagnosis is increasingly important.
will für diese Diagnose sensibilisieren. Methoden: Syste-     This article on state-of-the-art treatment aims to raise
matische Literaturrecherche in den relevanten Fachlitera-     awareness of this condition. Methods: Systematic litera-
tur-Datenbanken (Medline, Psycinfo, Psyindex) sowie eige-     ture review of relevant databases (Medline, Psycinfo, Psy-
ne Forschungsergebnisse. Ergebnisse: Die DIS gilt als         index) and the author's own research results. Results: DID
Traumafolgestörung aufgrund schwerer Kindesmisshand-          is considered as a manifestation of childhood trauma result-
lung. Neurobiologische Befunde stützen das posttraumati-      ing from severe abuse. Neurobiological findings support
sche Modell. Das Symptomprofil ist häufig diskret, wird       this posttraumatic model. The symptomotology is often
durch komorbide Störungen überdeckt und muss aktiv            hidden, masked by comorbidity and must be actively en-
erfragt werden. Individuelle Psychotherapie hat die Inte-     quired after. Individual psychotherapy aims at integrating
gration der verschiedenen Persönlichkeitszustände zum         the various personality states. Discussion: Professional
Ziel. Diskussion: Professionelle Akzeptanz des Störungsbil-   recognistion of this syndrome is a prerequisite for more
des ist die Vorraussetzung dafür, das die Betroffenen         targetted and effective treatment.
gezielter aus den therapeutischen Möglichkeiten Nutzen                             Dtsch Arztebl 2006; 103(47): A 3193–200.
ziehen können. Dtsch Arztebl 2006; 103(47): A 3193–200.       Key words: dissociative identity disorder (DID), multiple
Schlüsselwörter: Dissoziative Identitätsstörung (DIS),        personality disorder (MPD), severe child abuse, neurobio-
Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS), Kindesmissbrauch,      logical findings, long term psychotherapy
Neurobiologische Befunde, Langzeit-Psychotherapie

P       osttraumatische Erkrankungen haben auf dem Ge-
        biet der Psychiatrie und Psychotherapie in den
letzten Jahren ein zunehmendes Interesse erfahren. Eine
                                                              in entsprechend modifizierter Form sowohl von tiefen-
                                                              psychologischer als auch von verhaltenstherapeutischer
                                                              Richtung angeboten werden (2). Während die Border-
                                                                                                                              Evangelisches Kran-
                                                                                                                              kenhaus Bielefeld (PD
                                                                                                                              Dr. med. Gast, Dr. med.
                                                                                                                              Reddemann)
Reihe von Krankheitsbildern wurde unter den aktuellen         line-Persönlichkeitsstörung und die Somatisierungsstö-          Abteilung für klinische
Erkenntnissen der Psychotraumatologie neu interpretiert,      rung inzwischen als gut akzeptierte Diagnosen gelten kön-       Psychiatrie und Psy-
                                                                                                                              chotherapie, Medizini-
so die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die Somatisie-      nen, ist dies für die DIS bislang noch nicht ausreichend        sche Hochschule
rungsstörung und die dissoziative Identitätsstörung           der Fall (3, e1). In der ICD-10 wird die DIS als seltene Er-    Hannover (PD Dr. med.
(DIS). Als übergreifende Diagnose wird die einer „Kom-        krankung angegeben (4), obwohl diese eine ähnliche              Gast, Dipl. Psych.
                                                                                                                              Rodewald, Prof. Dr.
plexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ diskutiert,       Häufigkeit aufweist wie die Borderline-Persönlichkeits-         med. Dr. phil. Emrich)
um die Folgen gravierender Belastungen in der Kindheit        störung. Studien gehen für die DIS von einer Prävalenz          EMDR-Institut
in Form von schwerer Vernachlässigung sowie emotiona-         von 0,5 bis 1 Prozent in der Gesamtbevölkerung und 5            Deutschland, Bergisch
                                                                                                                              Gladbach (Dr. med.
ler, körperlicher und sexueller Gewalt angemessen zu ka-      Prozent in stationären psychiatrischen Patientenpopula-         Hofmann)
tegorisieren (1). Obwohl es sich hierbei noch um eine         tionen aus (e2 – e14; Übersicht und Diskussion der Studi-       Institut für Psychotrau-
Forschungsdiagnose handelt, setzt sie sich doch im klini-     energebnisse siehe [5]). Frauen sind mit einem Verhältnis       matologie, Duisburg
schen Alltag durch, zumal damit sinnvolle therapeutische      9 : 1 sehr viel häufiger betroffen als Männer (4). Obwohl       (Dipl.-Phys. Mattheß)
Implikationen verbunden sind. Die so diagnostizierten         die Erkrankung keineswegs selten ist, werden die Patien-        Mental Health Care
                                                                                                                              Drenthe RA Assen, Nie-
Patientinnen und Patienten profitieren in der Regel gut       tinnen und Patienten gar nicht oder häufig fehldiagnosti-       derlande (Dipl.-Psych.
von Trauma-adaptierten Therapieprogrammen, wie sie            ziert (6; e15–e19). Sie werden somit auch nicht einer ent-      Nijenhuis, Ph. D.)

                     Jg. 103
Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                       24. November 2006                                                                                   A 3193
MEDIZIN

  KASTEN 1                                                                           Geschichtlicher Rückblick
                                                                                     Das Problem der „gespaltenen“ oder „multiplen Per-
  Dissoziative Identitätsstörung:                                                    sönlichkeit“ war in den Jahren von 1840 bis 1880 eines
  Diagnostische Kriterien nach DSM-IV                                                der von Psychiatern und Philosophen häufig diskutier-
                                                                                     ten Themen. Der französische Psychiater Pierre Janet
  a) Das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder          (1859 bis 1947) prägte den Begriff der Dissoziation als
     Persönlichkeitszuständen (jeweils mit einem eigenen, relativ überdauernden      Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins
     Muster der Wahrnehmung von der Beziehung zur und dem Denken über die            und beschrieb ein bis heute gültiges Diathese-Stress-
     Umgebung und das Selbst).                                                       Modell (7, 8). Die Aufnahme in die psychiatrischen
  b) Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen
                                                                                     Manuale erfolgte erstmals 1980 in das DSM III (9),
     wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person.
                                                                                     1991 auch in die ICD-10 (4). Der ursprüngliche Begriff
                                                                                     der „multiplen Persönlichkeit“ hat verschiedene Umbe-
  c) Eine Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die   nennungen erfahren; inzwischen hat sich die Bezeich-
     zu umfassend ist, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt zu werden.       nung der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) durch-
  d) Die Störung geht nicht auf direkte körperliche Wirkung einer Substanz
                                                                                     gesetzt (10, e20).
     (z. B. Blackouts oder ungeordnetes Verhalten während einer Alkoholintoxika-
     tion) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z. B. komplex-
                                                                                     Zum Spektrum dissoziativer Symptome
     partielle Anfälle).
                                                                                     und Störungen
                                                                                     Als dissoziative Störungen bezeichnet man diejenigen
  Beachte: Bei Kindern sind die Symptome nicht durch imaginierte Spielkamera-        psychischen Erkrankungen, bei denen die normalerwei-
  den oder andere Phantasiespiele zu erklären.                                       se integrierenden Funktionen des Bewusstseins nach-
                                                                                     haltig beeinträchtigt sind. Zu diesen integrierenden
                                                                                     Funktionen zählt
  KASTEN 2                                                                              > das Gedächtnis
                                                                                        > die Wahrnehmung von sich und der Umwelt
                                                                                        > das Identitätserleben.
  Unspezifische Hinweise                                                                Alle drei Funktionen des Bewusstseins helfen, erleb-
  auf dissoziative Identitätsstörung                                                 te Erfahrungen in einen persönlichen Gesamtzusam-
  > traumatische Erfahrungen in der Kindheit                                         menhang zu integrieren. Beispiele für dissoziative
                                                                                     Störungen sind die dissoziative Amnesien, bei der es zu
  > Misslingen vorhergehender Behandlungen
                                                                                     funktionellen Gedächtnisstörungen kommt oder die De-
  > drei oder mehr Vordiagnosen, insbesondere als „atypische“ Störungen (De-         personalisationsstörung, bei der die Wahrnehmung von
    pression, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Schizophrenie, Anpas-        sich selbst beeinträchtigt ist (10). Dissoziative Sympto-
    sungsstörungen, Substanzmissbrauch, Somatisierungs- oder Essstörungen)           me, insbesondere Depersonalisation im Sinnen von „ne-
                                                                                     ben sich stehen, sich nicht im Kontakt mit sich fühlen“,
  > selbstverletzendes Verhalten
                                                                                     treten bei vielen psychischen Erkrankungen auf (zum
  > gleichzeitiges Auftreten von psychiatrischen und psychosomatischen               Beispiel bei akuten Belastungsreaktionen, posttrauma-
    Symptomen                                                                        tischen Belastungsstörungen, Borderline-Persönlich-
                                                                                     keitsstörungen, Angststörungen, Depressionen). Sie
  > starke Schwankungen und Fluktuationen in Symptomatik und Funktionsniveau
                                                                                     können aber auch den Schweregrad einer eigenständi-
                                                                                     gen Störung haben und möglicherweise – insbesondere
                                                                                     bei Therapieresistenz – auf eine DIS hinweisen.
                      sprechenden Psychotherapie zugeführt oder sie profitie-           Die DIS gilt als die schwerste Erkrankung im Spek-
                      ren dort nicht erwartungsgemäß, weil die zugrunde lie-         trum der dissoziativen Störungen. Sie geht mit einem
                      gende DIS übersehen wird. Durch eine frühzeitige Dia-          durchgehend dissoziativen Funktionieren in allen drei
                      gnostik kann dagegen eine störungsspezifische Psycho-          Bereichen des Bewusstseins einher, sodass zusätzlich
                      therapie eingeleitet und der Erkrankungsverlauf günstig        zu dem Gedächtnis und der Wahrnehmung auch das
                      beeinflusst werden (6).                                        Identitätserleben beeinträchtigt ist. Es kommt zur kli-
                         Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über den       nischen Manifestation verschiedener Persönlichkeits-
                      aktuellen Wissensstand der DIS zu geben und sowohl             oder Selbstzustände („self-states“), die wechselweise
                      Hausärzte als auch Psychiater und Psychotherapeuten            die Kontrolle über das Erleben und Verhalten des Indi-
                      für diese Diagnose zu sensibilisieren. Die Darstellung         viduums übernehmen. Der Wechsel von einem Zu-
                      basiert sowohl auf der klinischen Erfahrung der Autoren        stand in den anderen ist hierbei mit Amnesie verbun-
                      als auch auf den Ergebnissen einer systematischen Lite-        den (Kasten 1).
                      raturrecherche in den wichtigsten medizinischen und
                      psychologischen Fachliteratur-Datenbanken (Medline,            Das klinische Erscheinungsbild
                      Psycinfo, Psyindex). Aus der umfangreichen Literatur           Das dissoziative Funktionieren in den Bereichen des
                      wurden unter klinischen Aspekten die wichtigsten Stan-         Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Selbsterle-
                      dardwerke, Übersichtsartikel sowie empirische Studien          bens äußert sich in folgenden klinischen Auffälligkeiten:
                      aufgenommen.                                                   Umfassende Bereiche des eigenen Wahrnehmens, Erin-

A 3194                                                                                                               Jg. 103
                                                                                                Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                                                                                                                       24. November 2006
MEDIZIN

  KASTEN 3                                                                                    nerns und Handelns werden im normalen Alltagbewusst-
                                                                                              sein gar nicht oder nur teilweise und dann „wie von ei-
  Diagnostische Kriterien für die dissoziativen                                               ner anderen Person“ erlebt (10, 11). Menschen mit DIS
  Identitätsstörungen (nach Dell 2001b, 2002)                                                 verhalten und/oder erleben sich so, als gäbe es mehrere
                                                                                              verschiedene Personen in ihnen. Leidensdruck entsteht
  Durchgängiges Muster dissoziativen Funktionierens mit folgenden Symptomen:
                                                                                              durch die teilweise erheblichen Alltagsamnesien durch
  A dissoziative Symptome des Gedächtnisses und der Wahrnehmung                               die mangelnde Kontrolle über das eigene Denken,
    (mindestens 4 von 6)                                                                      Fühlen, Erleben und Handeln sowie durch die hieraus
    > Gedächtnisprobleme, auffällige Erinnerungslücken                                        bedingten gestörten sozialen Interaktionen. Im klini-
    > Depersonalisation                                                                       schen Erstkontakt imponieren jedoch häufig Sekundär-
    > Derealisation                                                                           oder Folgeprobleme als „greifbarere“ Beeinträchtigun-
    > Flashback-Erleben                                                                       gen wie Depressionen, Angst, psychosomatische Sym-
      (Nachhall-Erinnerungen von traumatischen Erfahrungen)                                   ptome, Selbstverletzung, Essstörungen, Suchterkran-
    > somatoforme Dissoziation (somatoforme oder pseudoneurologische Sympto-                  kungen oder Beziehungsprobleme (11). Oft werden erst
      me, dissoziative Bewegungs- oder Empfindungsstörungen)                                  im Zuge eines therapeutischen Beziehungsaufbaus die
    > Trancezustände                                                                          bewusstseinsferneren und häufig schambesetzten disso-
                                                                                              ziativen Symptome offenbart, wodurch dann das Vor-
  B Anzeichen für die Manifestation teilweise abgespaltener Selbstzustände
                                                                                              handensein anderer Persönlichkeitszustände offensicht-
    (mindestens 6 von 11)
                                                                                              lich wird.
    > Hören von Kinderstimmen (Lokalisation im Kopf)
                                                                                                 Charakteristischer Weise findet man folgende psy-
    > innere Dialoge oder Streitgespräche
                                                                                              chische Konfiguration der Persönlichkeitszustände: Ne-
    > herabsetzende oder bedrohende innere Stimmen
                                                                                              ben sozial angepassten, im Alltag funktionierenden und
    > teilweise dissoziiertes (zeitweise als nicht zu sich gehörig erlebtes) Sprechen
                                                                                              traumatische Erinnerungen vermeidenden „anschei-
    > teildissoziierte Gedanken: eingegebene, sich aufdrängende Gedanken, auch
                                                                                              nend normalen Persönlichkeitszuständen“ (ANPs) exi-
      Gedankenentzug
                                                                                              stieren andere, häufig traumatische Affekte und Erinne-
    > teildissoziierte Emotionen: Gefühle werden als aufgedrängt oder eingegeben
                                                                                              rungen in sich tragende „emotionale Persönlichkeitszu-
      erlebt
                                                                                              stände“ (EPs), die in das Handeln, Denken und Fühlen
    > teilweise dissoziiertes Verhalten: Handlungen werden als nicht unter der eige-
                                                                                              der ANPs mehr oder weniger fortwährend hineinwirken
      nen Kontrolle erlebt
                                                                                              können oder für Minuten bis Stunden, gelegentlich auch
    > zeitweise nicht zu sich gehörig erlebte Fertigkeiten oder Fähigkeiten: Plötzli-
                                                                                              länger, die Kontrolle über das Individuum übernehmen
      cher Wechsel im Funktionsniveau: „Vergessen“, wie man Auto fährt, Computer
                                                                                              (12). Meist besteht eine teilweise oder vollständige Am-
      bedient etc.
                                                                                              nesie für das Vorhandensein oder die Handlungen der je-
    > irritierende Erfahrungen von verändertem Identitätserleben: sich wie eine ganz
                                                                                              weils anderen Persönlichkeitszustände. Der Grad an Be-
      andere Person fühlen oder verhalten
                                                                                              wusstsein für „die Anderen“ kann jedoch individuell un-
    > Unsicherheit über die eigenen Identität (aufgrund wiederholter ich-fremder
                                                                                              terschiedlich sein und sich auch im Verlauf der Erkran-
      Gedanken, Einstellungen, Verhaltensweisen, Emotionen, Fertigkeiten etc.)
                                                                                              kung verändern. Es kann – insbesondere zu Beginn der
    > Vorhandensein teildissoziierter Selbstzustände: In der Untersuchungssituation
                                                                                              Behandlung und vor allem im Zustand der ANPs – eine
      tritt teildissoziierter Selbstzustand direkt auf, der angibt, nicht die zu untersu-
                                                                                              nahezu vollkommene Amnesie vorliegen, aber auch ein
      chende Primärperson zu sein, anschließend jedoch keine Amnesie der Primär-
                                                                                              schattenhaftes oder traumähnliches Wahrnehmen bis zu
      person
                                                                                              einem deutlichen Co-Bewusstsein für die anderen Zu-
  C für objektive und subjektive Manifestationen vollständig abgespaltener                    stände.
    Selbstzustände (mindestens 2 )                                                               In der Regel finden sich in einem Individuum acht bis
    > wiederholte Amnesien für das eigene Verhalten:                                          zehn verschiedene Persönlichkeitszustände, allerdings
      – lückenhaftes Zeiterleben (Zeit verlieren, „Zu sich kommen“, Fugue-Episoden)           werden in etwa 20 Prozent der beschriebenen Fälle auch
    > nicht erinnerbares Verhalten:                                                           sehr viel komplexere Aufspaltungen mit 20 und mehr
      – Rückmeldung von Anderen über eigenes Verhalten, an das man sich nicht                 „Personen“ gefunden (11). Symptome treten häufig be-
         erinnern kann                                                                        reits im Kindesalter auf, doch manifestiert sich die DIS
      – Dinge in seinem eigenen Besitz finden, an deren Erwerb man sich nicht er-             häufig erst im Erwachsenenalter, wenn die eigene Le-
         innern kann                                                                          bensgestaltung angezeigt ist. Viele Betroffene können
      – Notizen oder Zeichnungen von sich finden, an deren Anfertigung man sich               die Symptome auch später noch lange Zeit kompensie-
         nicht erinnern kann                                                                  ren und erkranken schließlich durch äußere Krisen oder
      – Hinweise für kürzlich ausgeführte Handlungen, an die man sich nicht erin-             durch Erschöpfung der Kompensationsmöglichkeiten.
         nern kann
      – Entdecken von Selbstverletzungen oder Suizidversuchen, an die man sich                Diagnosestellung
         nicht erinnern kann                                                                  Aufgrund der häufig diskreten Phänomenologie und der
    > Vorhandensein volldissoziierter Selbstzustände: In der Untersuchungs-                   meist hohen Schamschwelle müssen die Symptome ak-
      situation tritt ein volldissoziierter Selbstzustand direkt auf, der angibt, nicht die   tiv erfragt werden, zumal Patienten sie in der Regel
      zu untersuchende Primärperson zu sein, anschließend Amnesie der Primär-                 nicht spontan mitteilen (13). Als unspezifische dia-
      person                                                                                  gnostischen Hinweise gelten die in Kasten 2 aufgeführ-
                                                                                              ten Merkmale. Bei entsprechenden Verdachtsmomenten

A 3196                                                                                                                        Jg. 103
                                                                                                         Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                                                                                                                                24. November 2006
MEDIZIN

sollte eine gezielte Diagnostik, wenn möglich von ei-         KASTEN 4
nem mit dem Krankheitsbild vertrautem Psychothera-
peuten oder Psychiater erfolgen.                              Test-Güte-Kriterien der
   Eine weitere Orientierung zur Diagnosestellung bie-        Diagnose-Fragebögen zur Erfassung
tet der Kriterienkatalog von Dell (Kasten 3) (14), der        dissoziativer Störungen
zurzeit für das DSM-V diskutiert wird. Funktions-
                                                              (Strukturiertes Klinisches Interview für dissoziative
störungen im Bereich des Gedächtnisses und der Wahr-
                                                              Störungen; SKID-D beziehungsweise SCID-D-R
nehmung äußern sich in den unter Kriterium A aufge-
                                                              von Steinberg; [17]) und das Multidimensionale Inventar
führten Symptomen. Die Manifestation teilabgespalte-
                                                              dissoziativer Symptome (MID von Dell; [18])
ner Selbstzustände (Kriterium B) mit der damit einher-
gehenden Dissoziation des Selbsterlebens äußert sich in
                                                              Beide Diagnoseinstrumente weisen sehr gute Werte auf:
permanenten Störungen der alltäglichen Funktionen:
Patienten erleben unter anderem nicht zu sich gehörig         SensitivitätSKID-D = .99
empfundenes Denken, Sprechen, Fühlen, Handeln so-             SpezifitätSKID-D = .99
wie Stimmenhören. Diese dissoziierten, ichdystonen            Interrater-Reliabilität des SKID-D: Κχ = .96
Wahrnehmungen einschließlich des Stimmenhörens ha-            SensitivitätMID = .90
ben – in Abgrenzung zur Schizophrenie – pseudohallu-          SpezifitätMID = .89
zinatorischen Charakter, das heißt, die Patienten sind
                                                              Interne Konsistenzen:
sich ihrer Trugwahrnehmung in der Regel durchaus be-
                                                              ␣MID gesamt = .99
wusst. Beim Vorliegen vollabgespaltener Selbstzustän-
de (Kriterium C) findet man wiederkehrende evidente           ␣ Subskalen = .74 – .96
Hinweise auf zurückliegendes Verhalten, an das man
sich nicht erinnern kann. Die Betroffenen berichten über      > siehe DFG-Abschlussbericht EM 18 / 16 - 2 sowie (19)
teilweise sehr drastische Erinnerungslücken – so wird
zum Beispiel die erst kurz zurückliegende eigene Ex-
amensprüfung, der gesamte Urlaub oder die Geburt des        förderten kontrollierten Studie an der Medizinischen
eigenen Kindes nicht mehr erinnert. Sie berichten von       Hochschule Hannover erprobt. Es handelt sich hierbei
Rückmeldungen aus dem Bekanntenkreis über Verhal-           um das Strukturierte Klinische Interview für Dissozia-
ten, an das sie selbst keinerlei Erinnerungen haben.        tive Störungen (SKID-D beziehungsweise SCID-D-R
Auch Amnesien für impulshaftes Verhalten wie Essan-         von Steinberg; [17]) und das Multidimensionale In-
fälle, Selbstverletzungen oder Suizidversuche können        ventar dissoziativer Symptome (MID von Dell; [18])
wichtige Hinweise auf das Vorhandensein dissoziierter       (Kasten 4).
Selbstzustände geben (Kasten 3). Sind eine vorgege-            Die Ergebnisse der Studie bestätigen den in Kasten 3
bene Mindestanzahl an A-, B- und C-Kriterien erfüllt,       dargestellten Kriterienkatalog. Für den Einsatz in der
liegt das Vollbild einer DIS vor. Liegen weniger als zwei   klinische Praxis wird an einer Kürzung der Diagnose-
C-Kriterien vor, würde man die Subform, „Nicht Näher        Instrumente gearbeitet.
Bezeichnete Dissoziative Störung“ (NNBDS) diagno-              Differenzialdiagnostisch muss aufgrund der Sym-
stizieren.                                                  ptomüberlappungen der B-Kriterien nach Dell (Kasten
   Der vorgestellte Kriterienkatalog von Dell (14) spe-     3) mit den Schneiderschen Symptomen eine Schizo-
zifiziert die im DSM-IV und in der ICD-10 bislang ab-       phrenie ausgeschlossen werden. Ausschlaggebend ist
strakt dargestellten Kriterien und gibt dem Diagnostiker    hierbei der pseudohalluzinatorische Charakter der dis-
Entscheidungsmerkmale an die Hand, mit denen das            soziierten Wahrnehmungen (insbesondere des Stim-
Vorhandensein abgespaltener Selbstzustände erkannt          menhörens) und die ingesamt erhaltene Realitätskon-
werden kann. Der bisherige Mangel solcher Kriterien         trolle. Bei der DIS fehlen also die meisten formalen so-
begünstigte in den USA eine polarisierte Debatte, in der    wie inhaltlichen Denkstörungen wie Wahnwahrneh-
das Krankheitsbild der DIS an sich als diagnostische        mungen und paranoide Symptome, während bei der
Entität in Frage gestellt und als ein von Therapeuten       Schizophrenie wiederum die C-Kriterien nach Dell (14)
durch Hypnose erzeugtes Phänomen angesehen wurde.           in Form gravierender und charakteristischer Gedächt-
In der Tat können durch den unsachgemäßen Einsatz           nisstörungen nicht vorhanden sind (13, e21).
von Hypnose oder suggestiver Techniken iatrogene               Ausgeschlossen werden müssen auch eine Border-
Identitätsaufspaltungen hervorgerufen werden (3). Die-      line-Persönlichkeitsstörung, affektive Störungen und
se sind jedoch flüchtigerer Natur und erfüllen nicht den    Angsterkrankungen, die jedoch auch zusätzlich zur DIS
oben beschriebenen Kriterienkatalog (15).                   in komorbider Form vorliegen können (11). Die Ab-
   Durch standardisierte Fragebögen kann die Diagno-        grenzung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung kann
stik weiter optimiert werden. Als Screening-Instru-         dadurch erschwert sein, das hier ebenfalls häufig ausge-
ment ist für die Diagnostik dissoziativer Störungen in      prägte dissoziative Symptome vorliegen können. Die
Deutschland der Fragebogen für dissoziative Sympto-         Beeinträchtigung des Identitätserlebens ist jedoch nicht
me (FDS; 16) verfügbar. Instrumente zur (Differen-          derart tiefgreifend, dass das eigene Handeln, Wahrneh-
zial-)Diagnostik dissoziativer Störungen wurden in          men und Erinnern einer „anderen Person“ zugeordnet
einer durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ge-         wird, entsprechend fehlen auch hier die C-Kriterien

                     Jg. 103
Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                       24. November 2006                                                                  A 3197
MEDIZIN

  Eine PET-Studie an
                             GRAFIK                                                     frühen Kindheit verstanden wird (15). Ein wichtiger
     elf Frauen mit DIS                                                                 kindlicher Entwicklungsschritt, nämlich die Herausbil-
  zeigt unterschiedli-                                                                  dung eines zentralen integrierenden Bewusstseins, wird
        che Reaktionen
                                                                                        durch die chronischen Traumatisierungen erschwert
      zweier Selbstzu-
 stände des Gehirns,
                                                                                        oder verhindert (11). Nijenhuis et al. (12) postulieren im
 gemessen am Blut-                                                                      Modell der strukturellen Dissoziation die mangelnde In-
 fluss im mediofron-                                                                    tegration zweier angeborener Funktionssysteme – ein
        talen Kortex. So                                                                normales Alltagssystem und ein Überlebenssystem für
      kann lediglich im                                                                 extreme Bedrohungen – die wechselweise aktiviert und
   Selbstzustand, der                                                                   im Laufe der kindlichen Entwicklung nicht ausreichend
 das Trauma erinnert                                                                    miteinander vernetzt werden konnten.
     („Emotionale Per-
                                                                                           Es wird weiter vermutet, dass die mangelnde Inte-
  son“, EP), eine sig-
    nifikante Reaktion
                                                                                        grationsfähigkeit den psychodynamischen Bewälti-
       des rechten me-                                                                  gungsmechanismus einer radikalen Verleugnung und
  diofrontalen Cortex                                                                   Abspaltung begünstigt und einem traumatisierten Kind
  auf einem Tonband                                                                     die Vorstellung ermöglicht, das erlittene Trauma sei
        mit der trauma-                                                                 nicht ihm, sondern „einem anderen“ passiert. Die indi-
   tischen Erinnerung                                                                   viduelle Phantasiefähigkeit und Vorstellungskraft des
(Skript, traumatisch;                                                                   Kindes, insbesondere die Schaffung von Projektionsfi-
     St) nachgewiesen
                                                                                        guren, geben den verschiedenen Persönlichkeitszustän-
    werden, wohinge-
     gen diese Erinne-
                                                                                        den schließlich ihre individuelle Ausprägung. Der be-
rung beim Selbstzu-                                                                     schriebene Prozess wird bei Kindern mit innerfami-
 stand, der das Trau-                                                                   liären Traumatisierungen, insbesondere bei inzestuö-
      ma nicht erinnert                                                                 sem sexuellem Missbrauch noch verstärkt, da das ex-
 („Normale Person“,                                                                     trem inkonsistente und widersprüchliche Verhalten der
    NP), keine zu neu-                                                                  Beziehungspersonen und deren Verleugnung der vom
 tralen Erinnerungen                                                                    Kind erlittenen Traumatisierungen die dissoziative Be-
  (Skript, neutral; Sn)
                                                                                        wältigungsstrategie zusätzlich fördern (11).
     unterschiedlichen
  Reaktionen hervor-
      ruft. Abdruck aus                                                                 Dissoziation und Neurobiologie
      (22) mit freundli-                                                                Neurobiologische Studien zur Dissoziation liegen in
   cher genehmigung                                                                     Form von neuroanatomischen und psychophysiologi-
            des Elsevier                                                                schen Messungen vor. Bei den neuroanatomischen Be-
               Verlages.                                                                funden von DIS-Patientinnen steht der Amygdala-
                                                                                        Hippocampus-Komplex im Zentrum der Betrachtung,
                                                                                        da dissoziative Symptome des Gedächtnisses mit einer
                                                                                        Dysfunktionalität dieser Strukturen in Zusammenhang
                           nach Dell (14, 20). Differenzialdiagnostisch muss auch       gebracht werden. Wie auch bei Borderline-Patienten mit
                           an die bislang seltene artifizielle oder vorgetäuschte DIS   positiver Traumaanamnese (e22, e23), fand man bei 21
                           gedacht werden, bei der Symptome eines Persönlich-           Patientinnnen mit komplexen dissoziativen Störungen
                           keitswechsels eher plakativ präsentiert werden (21),         (DIS/NNBDS) spezifische Atrophien, insbesondere im
                           ebenso an die oben erwähnte iatrogene Identitätsauf-         Bereich des bilateralen Hippocampus, des Gyrus para-
                           spaltung. Ferner müssen Suchterkrankungen sowie              hippocampalis und der Amygdala. Patientinnen mit ei-
                           Temporallappenepilepsien ausgeschlossen werden (11).         ner geheilten DIS (N = 13) hatten im Vergleich mit sol-
                                                                                        chen, die noch nicht geheilt waren, ein größeres hippo-
                           DIS als komplexe posttraumatische                            campales Volumen (e24).
                           Erkrankung                                                      Funktionelle Hirnuntersuchungen finden je nach ak-
                           Der Zusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation            tiviertem Persönlichkeitszustand unterschiedliche psy-
                           ist durch retrospektive und prospektive Studien gut be-      chobiologische Reaktionsweisen. Reinders et al. (23)
                           legt (siehe Übersichtsarbeit 22, in der 25 retrospektive,    untersuchten Patientinnen, die in der Untersuchungssi-
                           drei prospektive Studien sowie eine Metaanalyse über         tuation kontrolliert aus dem Zustand eines „anschei-
                           38 Studien beschrieben werden). In retrospektiven Stu-       nend normalen Anteils der Persönlichkeit“ (NP) in den
                           dien bei DIS-Patienten werden in über 90 Prozent der         eines „emotionalen Anteil der Persönlichkeit“ (EP)
                           Fälle traumatische Erfahrungen in der Kindheit in Form       wechseln konnten (Grafik). Sie fanden nicht nur zu-
                           von schwerer Vernachlässigung, seelischer, körperli-         standsabhängig unterschiedliche Herzraten, Blutdruck-
                           cher und sexueller Misshandlung angegeben (3, 15, 18).       werte und Herzratenvariabilitäten, sondern auch eine
                              Auf der Grundlage dieser Befunde wurde ein Diathe-        wechselnde Hirnaktivität im PET auf Konfrontation
                           se-Stress-Modell entwickelt, wonach die Erkrankung           mit traumatischen Erinnerungen. Im Zustand des NPs
                           als psychobiologische Antwort auf die erlittenen Trau-       zeigte sich eine starke Aktivität in den inhibitorischen
                           matisierungen in einem bestimmten Zeitfenster der            Hirnbereichen des rechten mediofrontalen Kortex. Im

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                                                                                                    Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                                                                                                                           24. November 2006
MEDIZIN

Zustand des EP – insbesondere bei Konfrontation mit           störungsspezifische Techniken zur Anwendung, die dar-
traumatischen Erinnerungen (siehe EPSt – fand sich            auf abzielen, die dissoziierten Selbstzustände aktiv in
diese Hemmung jedoch nicht und führt zu einer signifi-        die Therapie einzubeziehen, um somit einen Integra-
kant geringeren Durchblutung dieser Cortexregion. Die         tionsprozess zur Entwicklung eines kohärentes Selbst
Autoren interpretieren die Befunde dahingehend, dass          einzuleiten und zu unterstützen (24, 25). Als Therapie
im Zustand des überwiegend im Alltag aktiven NP               der Wahl gilt eine individuelle ambulante Langzeitpsy-
emotionale Reaktionen auf bedrohliche Situationen             chotherapie mit zwei Stunden pro Woche über mehrere
und Stimuli stark gehemmt werden, was den Betroffe-           Jahre, doch haben sich auch kombinierte Therapieange-
nen dabei hilft, alltäglichen Aufgaben relativ gut und        bote von ambulanter und stationärer Intervalltherapie
unauffällig zu bewältigen.                                    klinisch bewährt. Zudem liegen erste Erfahrungen von
   Waldvogel et al. (e25) beschreiben den eindrucksvol-       strukturierten Gruppenangeboten zur gezielten Stabili-
len Heilungsprozess einer DIS-Patientin, die nach 15-         sierung in Kombination mit individuellen Einzelthera-
jähriger, als „kortikal“ diagnostizierter Blindheit im Lau-   pien vor, die in Zukunft möglicherweise effizientere und
fe einer Psychotherapie schrittweise wieder zu sehen          ökonomischere Alternativen zur alleinigen Langzeit-
begann. Zunächst betraf dies nur einige Selbstzustände,       psychotherapie darstellen können.
während andere weiterhin blind waren. Dies konnte
durch elektrophysiologische Untersuchungen bestätigt          Fazit
werden, in denen die noch blinden Selbstzustände aus-         Die hier beschriebenen Befunde stehen im Kontrast zur
bleibende, die sehenden Zustände hingegen völlig un-          bislang geringen professionellen Akzeptanz des Krank-
auffällige, reguläre evozierte Potenziale aufwiesen. Als      heitsbildes. Die Tatsache, dass die DIS-Diagnose bisher
neuronale Grundlage der psychogenen Blindheit vermu-          in Deutschland wenig akzeptiert und entsprechend sel-
ten die Autoren eine „top-down“-Modulation der Akti-          ten gestellt wird, hat für Klinik und Forschung wichtige
vität der primären Sehbahn auf der Ebene des Thalamus         Implikationen:
oder des primären visuellen Kortex.                              1. Es ist ein fundierter wissenschaftlicher Diskurs
   Diese ersten neurobiologischen Untersuchungen an           einschließlich Fort- und Weiterbildung aller Berufs-
DIS-Patientinnen zeigen, dass sich für das subjektive         gruppen im psychosozialen Bereich hinsichtlich Entste-
Erleben und die klinische Beobachtung verschiedener           hung, Diagnostik und Behandlung der DIS in Deutsch-
dissoziativer Phänomene signifikante psychophysiolo-          land erforderlich.
gische Korrelate finden lassen.                                  2. Diagnose- und Behandlungsprogramme für die
                                                              betroffenen Patientinnen und Patienten sollten in die
Psychotherapie des DIS                                        psychiatrische und psychotherapeutische Regelver-
Mit dem Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen         sorgung implementiert und wissenschaftlich evaluiert
Beziehung, der Etablierung basaler Grundannahmen              werden.
von Sicherheit, Sinnhaftigkeit und Wertschätzung, der            3. Hausärzte, Psychiater und Psychotherapeuten soll-
Förderung von Affektdifferenzierung und -toleranz so-         ten bei entsprechenden Verdachtsmomenten an eine
wie der Entwicklung von Selbstverantwortung, Selbst-          mögliche DIS denken und eine weiterführende Diagno-
wirksamkeit und Selbstkontrolle werden zunächst               stik und Therapie einleiten.
grundsätzliche therapeutische Zielsetzungen ange-
strebt, die einer methodenintegrierten, individuellen         Interessenkonflikt
                                                              Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
Langzeitpsychotherapie bei traumatisierten Patienten          International Committee of Medical Journal Editors besteht.
entsprechen. Studien mit indirekter Effektivitätsmes-
sung über den Vergleich der durch DIS-Patientinnen            Manuskriptdaten
                                                              eingereicht 15. 4. 2005, revidierte Fassung angenommen: 14. 3. 2006
und -Patienten vor und nach der Diagnose verursachten
Behandlungskosten (e26–e28) sowie eine erste Behand-          LITERATUR
lungsstudie, in der eine deutliche Symptomreduktion            1. Herman JL: Sequelae of prolongued and repeated trauma: Evidence
anhand standardisierter Messinstrumente nachgewiesen              of a complex posttraumatic syndrome (DESNOS). In Davidson JRT,
wurde (6), bestätigen die Empfehlungen der Interna-               Foa EB (Eds.), PTSD: DSM-IV and beyond. Washington, DC: Ameri-
                                                                  can Psychiatric Press 1993; 213–28.
tional Society for the Study of Dissociation (Huber M:
                                                               2. Flatten G, Hofmann A, Liebermann P, Woeller W, Siol T, Petzold ER:
ISSD-Richtlinien für die Behandlung der Dissoziati-               Posttraumatische Belastungsstörung, Leitlinie und Quellentext.
ven Identitätsstörung [Multiple Persönlichkeitsstörung]           Stuttgart: Schattauer 2001.
bei Erwachsenen, Neufassung 1997, www.dissoc.de)               3. Gleaves DH, May CM, Cardena C: An examination of the diagnostic
bislang noch auf einem EBM-Level von III. Empfohlen               validity of dissociative identity disorder. Clin Psychol Rev 2001; 21:
wird ein eklektischer Therapieansatz, der psychodyna-             577–608.
mische, kognitiv-behaviorale, hypnotherapeutische und          4. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH: Internationale Klassifikation psychi-
traumaadaptierte Vorgehensweisen umfasst (24). Hier-              scher Störungen ICD-10. 2. korrigierte Auflage. Bern: Huber 1993.
bei hat sich wie bei allen posttraumatischen Störungen         5. Gast U, Rodewald F: Prävalenz dissoziativer Störungen. In: Redde-
                                                                  mann L, Hofmann A, Gast U (Hrsg.). Psychotherapie der dissoziativen
ein phasenorientiertes Vorgehen bewährt, bei dem                  Störungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezi-
zunächst eine Stabilisierung der Patienten angestrebt             fisch und schulenübergreifend. Stuttgart: Thieme 2003, 37–46.
wird, bevor man sich gezielt der Bearbeitung traumati-         6. Ellason JW, Ross CA: Two-year follow-up of in patients with dissocia-
schen Materials zuwendet. Darüber hinaus kommen                   tive identity disorder. Am J Psychiat 1997; 154: 832–39.

                     Jg. 103
Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                       24. November 2006                                                                                          A 3199
MEDIZIN

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                             American Psychiatric Press 1994.                                            25. Gast U: Der psychodynamische Ansatz zur Behandlung komplexer
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                         16. Freyberger HJ, Spitzer C, Stieglitz RD: Fragebogen zu dissoziativen         Priv-Doz. Dr. med. Ursula Gast
                             Symptomen FDS. Bern: Huber 1999.                                            Evangelisches Krankenhaus Bielefeld
                                                                                                         Graf-von-Galen-Straße 58
                         17. Steinberg M: The structured clinical interview for DSM-IV-dissocia-         33619 Bielefeld
                             tive disorders – revised (SCID-D). Washington, DC.: American
                             Psychiatric Press 1994.
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  REFERIERT

  Industrie-gesponserte Reviews                                                            vorbehaltlos für das evaluierte Pharmakon aus. Hingegen waren
  sind weniger differenziert                                                               die Autoren der Cochrane-Publikationen skeptischer: in sechs der
  Pharmaka werden in Übersichtsarbeiten positiver dargestellt, wenn die                    acht Arbeiten wurden Qualität, Relevanz oder Ergebnisse infrage
  Autoren industrielle Unterstützung erhalten. Dies vermuten Autoren                       gestellt. Siebenmal fanden die Cochrane-Autoren den höheren Preis
  vom Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen. Sie haben Übersichtsar-                        des neuen Medikaments problematisch. Diese Ansicht teilte keine
  tikel der Cochrane-Datenbank für systematische Übersichtsarbeiten                        der gesponserten Publikationen. Im Gegenteil, die Autoren zweier
  mit Artikeln anderer Fachzeitschriften verglichen.                                       durch die Industrie geförderter Arbeiten fanden, dass die Innova-
      Ziel war es, zu einer Cochrane-Veröffentlichung eine Arbeit zu fin-                  tion zum Vergleich zur herkömmlichen Behandlung kosteneffizient
  den, in der die gleichen Pharmaka und Krankheiten getestet wurden.                       war.
  Dies gelang in 24 Fällen. Die beiden zu vergleichenden Übersichtsar-                        Der Behandlungseffekt wurde in jeder Vergleichsarbeit annähernd
  beiten erschienen innerhalb von zwei Jahren. Acht Publikationen wie-                     gleich eingeschätzt. Die von der Industrie gesponserten Metaanalysen
  sen eine Unterstützung von der Industrie aus. Hierunter verstand man                     waren weniger transparent und kritisch hinsichtlich der methodischen
  den Erhalt von industriellen Drittmitteln, das Arbeitsverhältnis des Au-                 Einschränkungen der berücksichtigten Studien als die Cochrane-Ver-
  tors in der Industrie oder maßgebliche Unterstützung, beispielsweise                     öffentlichungen.
  bei der statistischen Analyse.                                                              Die Publikationen ohne veröffentlichten Interessenkonflikt zeigten
      Neun Arbeiten fehlte eine Erklärung, und in sieben Fällen bestand                    tendenziell die gleichen Schwachstellen wie die mit industrieller Un-
  kein Interessenkonflikt. Die Autoren bewerteten die Qualität der Meta-                   terstützung verfassten Reviews. Die Einschätzungen der Studien, in
  analysen mit maximal sieben Punkten. Dies erreichten alle Cochrane-                      denen kein Interessenkonflikt bestand, stimmten mit den Einschät-
  Arbeiten. Die anderen Reviews erlangten lediglich drei Punkte. In allen                  zungen von Cochrane gut überein, allerdings gab es Abweichungen,
  von der Industrie gesponserten Übersichtsarbeiten sprach man sich                        welches Medikament empfohlen wurde.                                 me

  Jørgensen A, HIlden J, Gøtzsche PC: Cochrane reviews compared with industry supported meta-analyses and other meta-analyses of the same drugs: systematic review.
  BMJ 2006; 333: 782–5. E-Mail: pcg@cochrane.dk

A 3200                                                                                                                                        Jg. 103
                                                                                                                         Deutsches Ärzteblatt         Heft 47
                                                                                                                                                                24. November 2006
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