DIETER BORCHMEYER "Die Genies sind eben eine große Familie " Goethe in Kompositionen von Richard Strauss

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DIETER BORCHMEYER

           "Die Genies sind eben eine große Familie ..."
           Goethe in Kompositionen von Richard Strauss

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Publikation
Erstpublikation in: Goethe-Jahrbuch 111 (1999) [2000], S. 206-223.
Neupublikation im Goethezeitportal
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Eingestellt am 03.05.2004
Autor
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Germanistisches Seminar
Hauptstraße 207-209
69117 Heidelberg
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Dieter Borchmeyer: „Die Genies sind eben eine große Familie …“ Goethe in
Kompositionen von Richard Strauss (03.05.2004). In: Goethezeitportal. URL:

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Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.1

                             DIETER BORCHMEYER

             "Die Genies sind eben eine große Familie ..."
             Goethe in Kompositionen von Richard Strauss

          Goethe in der Musik des 20. Jahrhunderts  Strauss in den Spuren
          Goethes  Strauss' Lila-Plan  Musikalische Spruchpoesie 
          Metamorphosen  Musikalische Berührungsscheu vor Goethe

                    Goethe in der Musik des 20. Jahrhunderts

Goethe und die Musik seiner Mit- und Nachwelt: das ist ein weites, ja eines der
weitesten Felder seiner Wirkungsgeschichte. Wohl kein Dichter in der Ge-
schichte der Weltliteratur hat einen vergleichbaren Einfluß auf die Musik ge-
wonnen hat wie er. Fast keiner der großen Komponisten - zumindest in
Deutschland - von der Schwelle des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen Fällen - es seien nur die Namen Beet-
hoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler,
Strauss, Busoni oder Webern genannt - stehen die Lektüre und musikalische
Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kos-
mos, daß man beinahe behaupten kann: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere
geistige, ja vielfach eine andere künstlerische Gestalt. Vor allem eine be-
stimmte musikalische Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je
als Inbegriff deutscher Kultur gilt, hätte sich ohne ihn niemals in dieser Form
und zu dieser Höhe entwikelt: das Kunstlied, "le lied", wie die Franzosen sa-
gen, ein Wort, das niemals im Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gege-
ben, dessen Gedichte seit fast zweihundert Jahren nach den Worten von Fried-
rich Blume "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der Weltlitera-
tur" sind.1
        Beethoven hat gegenüber Rochlitz behauptet, daß "keiner sich so gut
komponieren lasse wie Goethe"2, wobei er wohl vor allem die Biegsamkeit
seines Rhythmus im Auge hatte, welche der Vertonung einen weiten Spielraum

  1
    Artikel "Goethe" in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Kassel und Basel 1956. Bd. V,
Sp. 451.
  2
    Vgl. Joseph Müller-Blattau: Goethe und die Meister der Musik. Stuttgart 1969, S. 47.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.2

gönnt. Die ideale Vertonbarkeit Goethes und überhaupt die Affinität seiner
Dichtung zur Musik haben sich den Komponisten immer wieder aufgedrängt,
bemerkenswerter Weise auch nichtdeutschen, die oft auf Übersetzungen ange-
wiesen waren wie etwa Giuseppe Verdi bei seinen Vertonungen von Gretchen
am Spinnrad und Ach neige du Schmerzenreiche. Wirkungsgeschichtlich be-
trachtet steht Goethe weit näher bei der Musik als bei der bildenden Kunst,
zumindest spielte sich seine Wirkungsgeschichte wahrhaft - wenn auch leider
nicht nur - auf den obersten Rängen der Musik ab, in der bildenden Kunst da-
gegen überwiegend auf den unteren Rängen.
        Kein Zweifel freilich, daß Goethe-Texte in der Musik des 20. Jahrhun-
derts eine erheblich geringere Rolle gespielt haben als im 19. Jahrhundert. Die
gewaltige Konkurrenz der Liedkomponisten von Schubert bis Wolf, die ab-
nehmende Bedeutung der Gattung Lied im allgemeinen, die Ferne des außer-
lyrischen Oeuvres von Goethe zu den Formen und Tendenzen der Musik dieses
Jahrhunderts mögen Gründe für den Rückgang der Goethe-Vertonungen sein.
Deren gewaltigste und bedeutendste ist zweifellos der zweite Satz von Gustav
Mahlers Achter Symphonie (1910) mit der Vertonung der Bergschluchten-
Szene des Faust II, deren Ausstrahlung auf die Musik der Wiener Schule um
Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern nicht zu unterschätzen ist.
Goethe war einer ihrer selbstverständlichen Bezugspunkte, wie Wien über-
haupt das Zentrum der musikalischen Wirkungsgeschichte Goethes von Gustav
Mahler bis Ernst Krenek (der z.B. 1927 eine Bühnenmusik zum Triumph der
Empfindsamkeit schrieb) gewesen ist. Die größte Bedeutung hatte Goethe
zweifellos für Anton Webern. Das zeigen weniger seine eigentlichen Goethe-
Kompositionen ("Gleich und gleich" aus den Vier Liedern für Singstimme und
Klavier op. 12 und die Zwei Lieder für gemischten Chor und fünf Instrumente
op. 19 aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten, die durch Mah-
lers Achte Symphonie angeregt wurden, sowie die anderen, Fragment gebliebe-
nen Versuche der Goethe-Vertonung aus den zwanziger Jahren) als der emi-
nente Einfluß von Goethes Farbenlehre und Morphologie auf seine Kompositi-
onslehre, die mäeutische Rolle, die sie für ihn bei der Entwicklung der Rei-
hentechnik spielten - ein Zeichen dafür, daß Goethe nicht nur die spätromanti-
schen Repräsentanten der bürgerlichen Musiktradition, sondern auch die radi-
kalen Neuerer zu inspirieren vermochte.
        Obwohl die musikalische Goethe-Rezeption dieses Jahrhunderts nicht
so uferlos ist wie diejenige des neunzehnten, ist es doch unmöglich, sie im
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.3

Rahmen eines knappen Vortrags angemessen zu würdigen. Ich möchte mich
deshalb auf ein wichtiges Exempel konzentrieren, das sich hier trotz der Kürze
der mir zur Verfügung stehenden Zeit einigermaßen umfassend darstellen läßt:
auf die Goethe-Spuren bei Richard Strauss.

                            Strauss in den Spuren Goethes

Als Richard Strauss im November 1892 zu einer achtmonatigen Reise nach
Griechenland, Ägypten und Sizilien aufbricht, nimmt er einen geistigen Reise-
begleiter mit, dessen Schriften und Gespräche er sich in den folgenden Mona-
ten immer wieder zu Gemüte führt: Goethe. So studiert er während seines Auf-
enthalts in Sizilien die Italienische Reise und empfiehlt diese Lektüre in einem
Brief aus Palermo an Ludwig Thuille vom 16. Mai 1893 auch dem Freund mit
Nachdruck: "das [Goethe] ist doch ein Prachtkerl, mit dem geht es Einem auch
wie mit den egyptischen Tempeln, je mehr man ihn anstaunt, desto größer wird
er! Zudem spricht er gerade da so vieles aus, was ich seit 7 Monaten selbst
erlebt und empfunden habe, aber nicht so herrlich klar aussprechen könnte."3
        Richard Strauss spiegelt sich selber in aller Bescheidenheit in Goethe,
wie zehn Tage später in seinem Brief an Cosima Wagner vom 27. Mai mit
größerer Unbefangenheit Goethe in Wagner. Anläßlich der begeisterten Lektü-
re von Eckermanns Gesprächen mit Goethe schreibt er da an die mütterliche
Freundin: "Ich hatte in Palermo die Italienische Reise gelesen und kaum ge-
wagt, so viel des dort so herrlich zum Ausdruck gebrachten als meine eigenen
Reiseempfindungen in Ägypten und Italien wiederzuerkennen, bei der Lektüre
der Gespräche muß ich aber oft immer wieder die Jahreszahl ansehen, um nicht
zu glauben, so und so vieles sei heute geschrieben oder stünde in den Gesam-
melten Schriften [natürlich Wagners]: so Goethes Bemerkungen über Publi-
kum, Politik usw. Die Genies sind eben eine große Familie und in ihrer herr-
lichsten Harmonie durch alle Zeiten hindurch ein unnachahmliches Muster für
alle kleinen Familien, wo es der Mißverständnisse kein Ende gibt."4
        Sehr behutsam und verhohlen reiht sich der beurlaubte Großherzoglich
sächsische Kapellmeister zu Weimar in diese "große Familie" ein. In Weimar

  3
    Richard Strauss - Ludwig Thuille. Ein Briefwechsel. Veröffentlichungen der Richard-Strauss-
Gesellschaft München. Hrsg. v. Franz Trenner. Bd. IV. Tutzing 1980, S. 133
  4
    Cosima Wagner - Richard Strauss. Ein Briefwechsel. Veröffentlichungen der Richard-Strauss-
Gesellschaft München. Hrsg. v. Franz Trenner. Bd. II. Tutzing 1978, S. 159.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.4

wandelte er ja wirklich gleichermaßen in den Spuren Goethes und Wagners.
Einige Jahrzehnte zuvor hatte sein Vorgänger Franz Liszt das sogenannte Sil-
berne Zeitalter Weimars heraufgeführt, das unmittelbar an die große literari-
sche Tradition der Residenz anzuknüpfen suchte, wie vor allem die im Zu-
sammenhang mit den Säkularfeiern 1849 und 1859 entstandenen symphoni-
schen Dichtungen und Chorkompositionen von Franz Liszt zu Werken Goethes
und Schillers sowie die von ihm geplante "Goethe-Stiftung" zeigten, durch die
nach seinen Worten Weimar seinen Ruf eines "Neu-Athen" bewahren sollte.5
"Zu einer bestimmten Zeit", schreibt er selbst in seinem von Resignation ge-
prägten Testament vom 14. September 1860, "hatte ich für Weimar eine neue
Kunstepoche erträumt, ähnlich der von Carl August, wo Wagner und ich die
Führer gewesen wären, wie einst Goethe und Schiller".6 Zehn Jahre zuvor hat
Liszt in Weimar Wagners Lohengrin uraufgeführt. Gérard de Nerval bemerkt
zu diesem Ereignis, es habe "ganz den Bemühungen des jetzigen Großherzogs"
entsprochen, "in Weimar jenes Erbe an Kunstgesinnung zu wahren, die dieser
Stadt zu dem Namen >das Athen Deutschlands< verholfen hat".7 Und Wagner
selbst schreibt am 24. Dezember 1850 aus Zürich an Liszt: "Wahrlich, teurer
Freund, Du hast aus diesem kleinen Weimar für mich einen Feuerherd des
Ruhms gemacht".8
        Auch durch Richard Strauss sollte Weimar zu einer Hochburg des
Wagnerismus werden: Vor seiner Weltreise, Anfang 1892 hatte er Tristan und
Isolde zum erstenmal ohne jeden Strich in Weimar dirigiert und Cosima Wag-
ner einläßlich darüber berichtet, Hänsel und Gretel von Wagners Adlatus und
musikalischem Erben Engelbert Humperdinck wird er nach seiner Reise Ende
1893 zur Uraufführung bringen. Wagner ist der eine, im Vordergrund stehende
Gott in seinem ästhetischen Kosmos, der andere, wenn auch weniger deutlich
wahrnehmbare im Hintergrund ist Goethe. Kein Zweifel, daß der Genius loci
Strauss zu seiner intensiven Goethe-Lektüre in dieser Zeit, auch und zumal auf
seiner Weltreise inspiriert hat.
        Goethe stand als Dichter und Symbolgestalt deutscher Kultur für Ri-
chard Straus von seiner Jugend bis in die letzten Lebensjahre, als er noch ein-
mal das Gesamtwerk Goethes in den 49 Bänden der "Propyläen-Ausgabe"
  5
    Zitiert nach Herbert Greiner-Mai (Hrsg.): Weimar im Urteil der Welt. Stimmen aus drei
Jahrhunderten. Berlin u. Weimar 1977, S. 204.
  6
    Ebd. S. 236.
  7
    Ebd. S. 208.
  8
    Ebd. S. 218.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.5

Band für Band studierte, im Zentrum seines musikalischen Denkens. Daher ist
das 50. Todesjahr von Richard Strauss und der 250. Geburtstag von Goethe
wohl ein legitimer Anlaß, dieser Beziehung noch einmal nachzuspüren. Sie ist
weit mehr eine hinter- und tiefgründige als eine Vordergrund-Beziehung, die
für jedermann ersichtlich wäre. Die indirekten Anregungen und diffusen Inspi-
rationen durch Goethe sind im Falle von Strauss weit intensiver als die direkten
kompositorischen Bezüge, d.h. die Vertonungen Goethescher Texte, die vor
allem in die zweite Lebenshälfte des Komponisten fallen.
         Zum Bereich der indirekten Inspirationen gehört auch die Wirkung
Goethes auf Strauss' bedeutendsten Librettisten Hugo von Hofmannsthal. Des-
sen Goethe-Aneignung, zumal die Goethe-Reminiszenzen in den Libretti wa-
ren zweifellos ein tief verbindendes Element zwischen Komponist und Dichter,
ohne daß sich die direkte Wirkung dieser Goethe-Spuren auf die Musik mit
philologischen Mitteln nachweisen ließe. "Ich habe mir oft gedacht", schreibt
Hofmannsthal am 8. März 1912 an Strauss, "daß in unseren Stoffen - Rosen-
kavalier, Ariadne, Frau ohne Schatten -, wo es sich um Läuterung, um eine
Goethesche Atmosphäre handelt, durch deren tiefes Verständnis Sie mich un-
endlich erfreut haben -, daß bei allen diesen Stoffen vieles von dem, was in
Ihnen liegt, hervorgerufen wird", erst "ans Licht gebracht wird". Hofmannsthal
rechnet sich zweifellos das Verdienst zu, durch die Stoffwahl seiner Libretti
dieses Goethesche Element in Strauss erweckt und das andere Grundelement
seiner "produktiven Natur": das "Wuchtige", "Grandiose", "Finstere", um nicht
zu sagen: das Wagnersche (Hofmannsthal redet hier freilich nicht davon, mag
allenfalls daran gedacht haben) in den Hintergrund gedrängt zu haben, nach-
dem dieses andere, bewußt antigoethesche, dionysisch-orgiastische, um nicht
zu sagen hysterische Element in der Elektra - sowohl auf der dichterischen als
auch auf der musikalischen Seite - noch so stark dominiert, ja beide Künstler
überhaupt erst zu gemeinsamer Opernarbeit zusammengeführt hatte. Doch, so
Hofmannsthal: "Mit Absicht bin ich, nach der Elektra, dieser Linie nicht ge-
folgt"9 - und so hat er auch Strauss von ihr fortzulocken gesucht.
         Das gilt nicht zuletzt für die Frau ohne Schatten, deren Libretto so
vielfältig auf Goethes Epos Die Geheimnisse, sein Märchen, das fragmentari-
sche Libretto Der Zauberflöte zweiter Teil und andere Werke der klassischen
Periode Goethes zurückweist. Das Verspaar aus Goethes Geheimnissen: "Von
  9
   Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Willi
Schuh. 3. Auflage Zürich 1964, S. 170f.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.6

dem Gesetz, das alle Wesen bindet, / befreit der Mensch sich, der sich über-
windet" hat Hofmannsthal in seinem Brief an Strauss vom Anfang April 1915
als den "innersten Gehalt" der Frau ohne Schatten bezeichnet.10 Diesen Gehalt
hat Strauss seiner Komposition gewiß ebenso zu vermitteln gesucht wie ihm
später der Stil der Iphigenie, des von Strauss neben Tasso am höchsten ge-
schätzten Werks von Goethe,11 für die Ägyptische Helena vorbildlich wird,
ohne daß sich das begreiflicherweise in der Musik strukturell dingfest machen
ließe: "Ich will dem Ganzen den reinen, geläuterten Stil der Goetheschen Iphi-
genie geben", schreibt er am 1. Juni 1925 an Hofmannsthal.12 Diese erstrebte
Iphigeniennähe resultiert freilich nicht zuletzt aus der Goetheverwandtschaft
des Librettos der Ägyptischen Helena, das nicht nur auf den Helena-Akt des
Faust II, sondern in dem todesmutigen Entschluß Helenas zur Wahrheit und
Offenheit gegenüber Menelaos auf das Kardinalthema der Iphigenie zurück-
weist, eben jener Iphigenie, deren vermeintlichem Klassizismus sich die hyste-
risierte Antike der Elektra noch so entschieden entgegengesetzt hatte, redet der
Dichter doch in einem Brief einmal davon, daß er jene Tragödie "nicht ohne
eine gewisse Lust am Gegensatze zu der >verteufelt humanen< Atmosphäre
der Iphigenie" konzipiert habe.13

                                   Strauss' Lila-Plan

Hofmannsthal glaubte, Strauss spätestens seit der von ihm in Form und Inhalt
angeregten, vom Komponisten anfänglich so lustlos akzeptierten Ariadne auf
Naxos überhaupt erst der Wagnerschen Seele in seiner Musikerbrust entfrem-
det, das Goethesche und Mozartische in ihm erweckt zu haben, das Goethesche
durchaus auch im Hinblick auf die Opernform, denn Goethes Singspiele, denen
er einen schönen Essay gewidmet hat,14 blieben ihm immer ein Muster der
Gattung, obwohl sie zu seinem Leidwesen nie die adäquate musikalische Reali-
sierung gefunden haben. Über sein Verhältnis zu Goethes Libretti berichtet er
auch Richard Strauss in seinem Brief vom 20. Januar 1913 - zu eben der Zeit,

  10
    Strauss - Hofmannsthal. Briefwechsel, S. 303.
  11
    Vgl. Strauss' Brief an Willi Schuh vom 15. 11. 1946: Iphigenie und Tasso seien für ihn
Goethes "oberste Werke". Richard Strauss. Briefwechsel mit Willi Schuh. Zürich 1969, S. 107.
 12
    Strauss - Hofmannsthal. Briefwechsel, S. 541.
 13
    Hofmannsthal: Briefe. Wien 1937, S. 383.
 14
    Hofmannsthal: Einleitung zu einem Band von Goethes Werken, enthaltend die Singspiele und
Opern (1913/14). In: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. Frankfurt a.M. 1979, S. 443-448.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.7

aus welcher jener Opernessay stammt.
         Immer wieder bittet der Librettist den Komponisten um "dünnere Mu-
     15
sik" , um das Zurücktreten des Orchesters hinter der Gesangsstimme, also um
die Absage an das Wagnersche Musikdrama mit seiner Dominanz des Orches-
ters. "Wenn sich, als ein neuer Stilversuch, nicht absteigender Kräfte, sondern
gesteigerter Kunsteinsicht, zu einem Weniger von Musik gelangen ließe, wenn
die Führung, die Melodie etwas mehr in die Stimme gelegt werden und das
Orchester, mindestens auf große Strecken, begleitend und nicht in der Sym-
phonie sich auslebend, sich der Stimme subordinieren würde [...] - so wäre, für
ein Werk dieser Art, der Operette ihr Zauberring entwunden, mit dem sie die
Seelen der Zuhörenden so voll bezwingt!" schreibt Hofmannsthal am 26. Juli
1928 an Strauss.16 Dieser verspricht denn auch seinem Librettisten immer
wieder, den "Wagnerschen Musizierpanzer"17 abzustreifen und, was die Or-
chesterbehandlung betrifft, "über meinen eigenen Schatten zu springen".18
         Doch war Strauss die Welt der Goetheschen Singspiele, bevor er von
Hofmannsthal über sie belehrt wurde, tatsächlich so unbekannt, war es wirklich
so, daß Hofmannsthal Strauss den "bestimmten Stil" der Ariadne "förmlich
aufdrängte", wie er in seinem Brief vom 23. Juni 1912 so stolz behauptet?19
Merkwürdig, daß Strauss dem Freund nie erzählt zu haben scheint, daß er sich
mit Goethes Singspielen schon zu einer Zeit beschäftigt hatte, als jener fast
noch in Windeln lag, und zwar unter einem ganz ähnlichen operndramaturgi-
schen Vorzeichen, wie es ihm Hofmannsthal zur Ariadne-Zeit nahezubringen
suchte. Bereits der vierzehnjährige Strauss hatte sich mit einer Vertonung von
Goethes Singspiel Lila (1777/78) getragen und drei Szenen entworfen. Zwei
Arien für Sopran und Tenor mit gemischtem Chor und Orchester haben sich
erhalten.
         Diesen Plan griff er fast zwanzig Jahre später (im Herbst 1895) in Ver-
bindung mit dem Regisseur Savits, dem Erfinder der Münchner Shakespeare-
Bühne, wieder auf. Aus diesem Grunde bat er eine berühmte Witwe, die mit
einem noch viel berühmteren Komponisten verheiratet gewesen war, ihm lib-
rettistisch zur Seite zu stehen, da "das feinsinnige duftige Stück" ganz un-
verändert nicht mehr zu vertonen sei. Die Freundin verspricht, ihren "alten
  15
     Strauss - Hofmannsthal. Briefwechsel, S. 484.
  16
     Ebd. S. 650f.
  17
     Ebd. S. 359.
  18
     Ebd. S. 652.
  19
     Ebd. S. 185.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.8

Kopf" zu bemühen, "und wer weiß, ist der Pegasus nicht sattelfest, so ist viel-
leicht der Hexenbesen zum zweitenmal beflügelt!" Sie macht sich zusammen
mit der schriftstellernden Freundin Ada Pinelli gleich an die Arbeit, berichtet
Strauss von deren Fortschritten und schickt ihm einen "skizzenhaften Vorwurf"
zu, der sich erhalten hat und zeigt, daß die neu gewonnene Librettistin dem
"duftigen Stück", das die Heilung einer dem Wahnsinn verfallenen Frau durch
die "psychische Kur" (Goethe)20 von Musik und Poesie zum Inhalt hat, auf-
grund der Identifizierung des Dämons Oger mit dem Gatten Lilas die etwas zu
schweren Gewichte eines Ehedramas anhängt.
        Strauss gibt zwar vor, den Grundeinfall "goethlich" zu finden, doch
befürchtet er, daß durch ihn, vor allem aber durch die von der Bearbeiterin
vorgesehene Zurückdrängung des gesprochenen Dialogs - welche das Stück
seines Singspielcharakters mit seinem Nebeneinander von "Musik und Prosa"
entkleiden würde - der "Mondscheinduft" des Spätrokoko und der Zelter-Zeit
>ertötet< werde, und zwar "mit der Elektrizität des 20.Jahrhunderts" (das noch
gar nicht angebrochen ist). Die Freundin verspricht zwar in ihren Antwortbrief,
die Stiltrennung von Prosa und Musik zu erhalten, findet es freilich "wunder-
lich", daß ausgerechnet Strauss "Rokoko - Zelter" vertritt. Wenn die Musik
auch gewiß "fern jeder Überladung sich halten müßte, da der Stoff dies nicht
zuläßt, und eine unendliche Unschuld das Waltende sein müßte", so glaubt sie
doch, "daß alles, was altmodisch erschiene, die Seele der Dichtung verscheu-
chen würde".
        Das "gewisse Veraltete, Modernde, Rokokohafte", das mit der Sing-
spielform verbunden ist, liegt Strauss jedoch gerade am Herzen. Ariadne läßt
grüßen! "Das Ganze darf durchaus nichts Opernhaftes bekommen, die Musik
soll dabei nur aufs Notwendigste beschränkt werden, äußerst diskret sein [wie
es später Hofmannsthal ersehnte], und ein großer Reiz am Ganzen ist: das
Problem von geschickt vermittelten Übergängen von Dialog zur Musik und
daraus zurück zwar zu lösen, aber in einem Sinne zu lösen, als wenn >die
Werke< nicht geschrieben". Natürlich meint Strauss mit >den< Werken die
Musikdramen Wagners. Die Goethesche Seite seiner produktiven Natur ist also
nicht erst von Hofmannsthal entdeckt, wenn auch gewiß aus langem Winter-
oder besser: Wagner- und Nietzsche-Schlaf geweckt worden. Hat Strauss Lila
doch zugunsten des Zarathustra aufgegeben. "Er ist andere Wege gewandelt!"
  20
    Goethe: Sämtliche Werke. Bd. V: Dramen 1776-1790. Hrsg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt
a. M. 1988, S. 938.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.9

schreibt wirklich zu Recht Cosima Wagner am 12. Mai 1914 an Ernst Fürst zu
Hohenlohe-Langenburg in lächelndem Rückblick auf das abgebrochene Lila-
Projekt, von dem drei Akte im Particell vorliegen. Nun wissen wir auch den
Namen von Strauss' Librettistin: es ist Cosima Wagner.21

                               Musikalische Spruchpoesie

Schon vor Lila hat Strauss - im Alter von dreizehn Jahren - zwei Goethe-Texte
vertont:22 es handelt sich um die beiden Klavierlieder Der Fischer und Lust
und Qual aus dem Jahre 1877. Eine Handvoll weiterer Goethe-Kompositionen
sind aus der ersten Lebenshälfte von Strauss überliefert: Wandrers Sturmlied
für Chor und Orchester (1884), das Orchesterlied Pilgers Morgenlied (1897)
und das Klavierlied Gefunden (1903). Hinzu kommt die Instrumentierung von
Beethovens Klavierlied Wonne der Wehmut aus dem Jahre 1898.
        Diese frühen Kompositionen zwischen 1877 und 1903 sind durch eine
Pause von fünfzehn Jahren getrennt von den neun Goethe-Vertonungen, sämt-
lich Klavierliedern, zwischen 1918 und 1942.23 Bemerkenswert, daß diese

  21
      Cosima Wagner - Richard Strauss. Briefwechsel, S. 211-217. Vgl. dazu die einläßliche
Untersuchung und Dokumentation von Stephan Kohler: "Glück auf zum Veralteten, Modernden,
Rokokohaften!" Richard Strauss und Cosima Wagner als Bearbeiter von Goethes Singspiel Lila.
In: Jahrbuch der Bayerischen Staatsoper V. München 1982, S. 100-119. Der Beitrag enthält auch
Kopien aus Cosima Wagners Libretto-Entwurf und aus Strauss' Entwürfen. Der Zitattitel des
Kohlerschen Aufsatzes korrigiert die Lesart "Modernen" in der Ausgabe des Briefwechsels von
Franz Trenner (S. 215). Den vollständigen Abdruck des Libretto-Entwurfs von Cosima Wagner
enthält der folgende Beitrag von Stephan Kohler: Goethes Singspiel Lila in der Bearbeitung
Cosima Wagners für Richard Strauss und das Fragment eines Singspielentwurfs von Hugo von
Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Blätter 26 (1982), S.19-31. Vgl. ferner ders.: Das Singspiel als
dramatischer Formtypus: Goethe - Strauss - Hofmannsthal. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.):
Goethe im Kontext. Tübingen 1984, S. 181-193.
   22
      Sämtliche von Strauss vertonte Goethe-Gedichte sind in der Ausgabe zusammengestellt: Die
Texte der Lieder von Richard Strauss. Kritische Ausgabe von Reinhold Schlötterer.
Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München. Bd. X. Pfafffenhofen 1988, S. 54-
65. - Das Joseph Goebbels gewidmete Lied Das Bächlein, mit dem Strauss 1933 dem
Propagandaminister eine lyrische Kußhand zuwarf, wohl um ihm für die Ernennung zum
Präsidenten der Reichsmusikkammer zu danken, geht glücklicherweise nicht auf ein echtes
Goethe-Gedicht zurück. So unerfreulich und überflüssig Strauss' opportunistische Geste gewesen
ist - sie wurde ihm nie gedankt: Goebbels scheint auf die Widmung nicht einmal reagiert zu haben -
, eine Huldigung an die neuen Machthaber ist das Lied trotz der dreimaligen Wiederholung des
Wortes "Führer" in der letzten Verszeile mitnichten, hat dieses idyllische Lied, auch und gerade in
seiner letzten Zeile, doch nichts Affirmatives, schon gar nichts Martialisches, sondern unterläuft
durch seine gänzlich unheroische Vertonung der Worte des Bächleins: "Der, denk ich, wird mein
Führer sein" jegliches Führerpathos. Gerade die dreimalige Wiederholung des Wortes "Führer"
verstärkt die antipathetische, wenn nicht ironische Tendenz dieser Passage.
   23
      Hinzu kommen eine Reihe von unvollendeten, nur skizzierten Goethe-Vertonungen. Vgl. dazu
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.10

Lieder ausschließlich auf dem West-östlichen Divan - und zwar gerade nicht
auf dessen lyrischen Gedichten - und den Zahmen Xenien beruhen.24 Dazu
gehören u.a. das Romain Rolland gewidmete Divan-Gedicht Durch allen
Schall und Klang (1925), Zugemeßne Rhythmen für Peter Raabe (ebenfalls aus
dem Divan, 1935) und das Xenion Nichts vom Vergänglichen, "Gerhart
Hauptmann, dem großen Dichter und hochverehrten Freunde mit herzlichen
Glückwünschen" zum 80. Geburtstag zugeeignet (1942).
        Es ist, ganz ähnlich wie im Falle von Anton Webern, von dem Strauss
ansonsten durch eine Welt getrennt ist, die Spruchpoesie des späten Goethe,
nicht seine Lyrik im engeren Sinne, die Strauss zu seinen musikalischen Refle-
xionen - als solche sind seine Vertonungen eher zu bezeichnen denn als "Lie-
der" - inspiriert haben. Fast immer handelt es sich da um Gelegenheitskompo-
sitionen mit aphoristischen musikalischen Anspielungen und Pointen, die
Strauss, abgesehen von den drei Liedern aus dem "Buche des Unmuts" des
Divan (op. 67; 1918), nicht veröffentlicht und mit Opuszahlen versehen hat.
Weite Teile des Liedschaffens von Strauss sind entweder Gelenheitskompositi-
onen privaten Anstrichs oder aber eine Art Experimentierfeld, auf dem er kom-
positorische Verfahrensweisen erprobt, die er vom allgemeinen "Publikum"
abschirmt: eine musikalische Geheimpoesie hinter den Kulissen der Öffent-
lichkeit. Den späten Strauss und den späten Goethe verbindet eine Affinität im
Geiste poetisch-musikalischer Aphoristik und Reflexionskunst: Spruchdich-
tung und Spruchmusik als "offenbar Geheimnis" (mit dem Titel des Divan-
Gedichts aus dem "Buch Hafis" zu reden).
         Eines dieser musikalischen Spruchgedichte sei hier näher betrachtet:
Zugemeßne Rhythmen aus dem "Buch Hafis" des West-östlichen Divan.25 Die-
ses knappe und doch mit musikalischen Zitaten gespickte Lied ist aus polemi-
schem Anlaß entstanden. Peter Raabe hatte sich 1935 in der "Allgemeinen
Musikzeitung" kritisch mit Walter Abendroths versteckter Attacke auf Richard
Strauss in seiner Pfitzner-Biographie auseinandergesetzt. Dieser Artikel gefiel
Strauss so gut, daß er am 25. Februar 1935 für den Autor das zu diesem Anlaß

Barbara A. Petersen: Ton und Wort. Die Lieder von Richard Strauss. Veröffentlichungen der
Richard-Strauss-Gesellschaft München. Bd. VIII. Pfaffenhofen 1986, passim.
   24
      Vgl. dazu Willi Schuh: Verstreute Goethe-Vertonungen. In: Richard Strauss-Jahrbuch
1959/60, S. 147-152 (mit der Veröffentlichung von vier Liedern).
   25
      Vgl. zum folgenden Willi Schuh: Zur Vertonung des Divan-Gedichts Zugemeßne Rhythmen
in: Richard-Strauss-Jahrbuch 1954, S.122-124, ferner Norman del Mar: Richard Strauss. Bd. III,
Ithaca, New York 1986, S. 398f.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.11

passende Goethe-Gedicht "Nachbildung" vertonte und mit einer Unterschrift
versah, die auf Abendroths anonyme Gehässigkeit über Strauss' "feminines
Schwelgen und Duseln in [...] klanglichen Fettpolstern"26 anspielt: "Ein im
Abendrot des femininen 19. Jahrhunderts auf klanglichen Fettpolstern duseln-
der Programmmusiker", lautet nun Strauss' parodistische Selbstbezeichnung.
Hier Goethes Gedicht:

           Zugemeßne Rhythmen reizen freilich,
           Das Talent erfreut sich wohl darin;
           Doch wie schnelle widern sie abscheulich,
           Hohle Masken ohne Blut und Sinn;
           Selbst der Geist erscheint sich nicht erfreulich,
           Wenn er nicht, auf neue Form bedacht,
           Jener toten Form ein Ende macht.27

So sehr Goethe der orientalischen Poesie nachzuschaffen suchte, lag ihm doch
die pedantische Nachahmung ihrer Formen fern. Deren bloße Nachbildung ist
die Sache des "Talents", des bloßen Virtuosen. Doch derartige Formimitation
führt nur zu "hohlen Masken". Der "Geist" bedarf der "neuen Form", und er
vermag das Vergangene - den Zauber der orientalischen Dichtung - nur wieder-
zubeleben, wenn er durch diese neue die alte Form aufhebt.
        Das war auch die Grundüberzeugung von Strauss. Sie überträgt er nun
in eine Zitatcollage. Der zweiten Zeile - "Das Talent erfreut sich wohl darin" -
unterlegte er das Allegro-Hauptthema des Finalsatzes der Ersten Symphonie
von Brahms, der Strauss immer noch - der Meinungstradition der neudeutschen
Schule gemäß, die Arnold Schönberg später durch seinen Aufsatz Brahms der
Fortschrittliche auf den Kopf stellen sollte - als der musikalische Sachwalter
der traditionellen, >zugemeßnen< Formen galt. Die "hohlen Masken" abgeleb-
ter und sinnentleerter Formen werden in eine altertümelnde e-moll-Kadenz à la
Pfitzners Palestrina übersetzt. Der >richtige
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.12

the-Vertonung. Im winzigen Kosmos dieses polemisch-musikalischen Spruch-
gedichts sollen sich Goethe und Wagner einmal mehr als Genies offenbaren,
die "eben eine große Familie" sind.

                                     Metamorphosen

Mit Goethe und seiner Spruchdichtung hat aber auch das bedeutendste Werk
aus Strauss' letzter Schaffensphase zu tun: die Metamorphosen von 1945. Die-
se "Studie für 23 Solostreicher", sein letztes Orchesterwerk, die sich variierend
dem Telos des Trauermarsches aus Beethovens Eroica zubildende Nänie auf
das zerstörte Deutschland28, ist in seinem geistigen, ja strukturellen Kern ein
letztes kompositorisches Zeugnis der Goethe-Verehrung von Richard Strauss.
Das zeigen die Skizzenbücher zu den Metamorphosen, in die er auch Früchte
seiner Lektüre der von ihm so sehr geliebten, als wahlverwandt empfundenen
Spruchdichtung des späten Goethe eintrug, so gleich zu den ersten Skizzen
zwei der nachgelassenen Zahmen Xenien, deren Abschrift Strauss' Irritation
durch den Weltlauf spiegelt und durch die er sich selbst zur illusionslos-nüch-
ternen Tagesarbeit im Zeichen erprobten Könnens aufruft:

         Wie's aber in der Welt zugeht
         Eigentlich niemand recht versteht,
         Und auch bis auf den heutigen Tag
         Niemand gern verstehen mag.
         Gehabe du dich mit Verstand,
         Wie dir eben der Tag zur Hand,
         Denk immer: ist's gegangen bis jetzt,
         So wird es auch wohl gehen zuletzt.

Und:

         Niemand wird sich selber kennen
         Sich von seinem Selbst-Ich trennen;
         Doch probier' er jeden Tag
         Was nach außen endlich klar,
         Was er ist und was er war,

  28
     "Das Goethehaus, der Welt größtes Heiligtum, zerstört! Mein schönes Dresden, Weimar,
München: alles dahin!" schreibt er an Joseph Gregor - bemerkenswert, daß er das Goethehaus,
nicht etwa Wahnfried für der Welt größtes Heiligtum hält. Vgl. dazu und zum folgenden Stephan
Kohler: Von der Fähigkeit zu trauern. Zu den Metamorphosen o.op.AV 142. In: Hans Jörg Jans
(Hrsg.): Komponisten des 20. Jahrhunderts in der Paul- Sacher-Stiftung. Aus Anlaß der Eröffnung
der Paul-Sacher-Stiftung am 28. April 1986 ... Basel 1986, S. 65-68.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.13

        Was er kann und was er mag.29

Doch nicht nur solche versteckten Bezüge zu Goethe prägen Strauss' Variati-
onswerk, sondern sein Titel weist über dessen ovidisch-mythologische Bezüge
hinaus auf einen Kardinalbegriff der Goetheschen Naturforschung zurück: die
Metamorphose.
        Strauss ist nicht der erste und einzige Komponist dieses Jahrhunderts,
der diesen metaphorischen Begriff dem traditionellen musikalischen Terminus
der Variation vorzieht.
        Es sei an Paul Hindemiths Symphonische Metamorphosen über Themen
von C. M. v. Weber (1943) erinnert. Und der wohl rigoroseste Goetheaner der
Musikgeschichte: Anton Webern hat seine ganze dodekaphonische Kompositi-
onslehre aus Goethes Morphologie abgeleitet, die Reihentechnik immer wieder
durch die Begriffe von Urpflanze und Metamorphose erläutert. Erstere steht für
die Reihe in der Zwölftonkomposition, letztere fällt bei ihm mit dem Begriff
der entwickelnden Variation zusammen.30 Webern insistierte so sehr auf dieser
Goethe-Parallele, daß Freunde wie Karl Amadeus Hartmann sie für eine rechte
Grille hielten. So schreibt Webern etwa im Juni 1941 an seine Freundin und
Textdichterin Hildegard Jone zum Konzept seiner Orchestervariationen op.30:
"Stell Dir vor: da sind sechs Töne gegeben, in einer Gestalt, die durch die
Folge und Rhythmus bestimmt ist und was nun kommt ... ist nichts anderes als
immer wieder diese Gestalt!!! Freilich in fortwährender >Metamorphose< (im
musikalischen heißt dieser Vorgang >Variation
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.14

Der Bezug von Strauss' Variationswerk zu Goethes Morphologie, von dem die
Forschung überzeugt ist,33 ist anders als bei Webern freilich eine Spekulation,
hat weit weniger strukturelle Konsequenzen für seine Kompositionsweise, als
es bei seinem Wiener Antipoden der Fall ist.

                    Musikalische Berührungsscheu vor Goethe

Überhaupt ist es merkwürdig, wie relativ selten Strauss' tiefe Goethe-Liebe,
Verehrung und umfassende Werkkenntnis sich in seinem Oeuvre komposito-
risch unmittelbar niedergeschlagen haben - eine merkwürdige Parallele zu den
musikalisch ebenfalls so tief in Goethes Spuren wandelnden Komponisten
Busoni und Webern -, daß sie weniger in als zwischen den Notenlinien zu fin-
den sind. Dafür gibt es einen wesentlichen Grund: die musikalische Berüh-
rungsscheu von Strauss gegenüber einem über alles bewunderten Dichter, des-
sen Worte in ihrer poetischen Vollendung (im ganzen Bedeutungsumfang des
Wortes) nach seiner Überzeugung der Töne nicht bedurften34 - trotz der von
Goethes Poesie ausgelösten großen deutschen Liedtradition von Schubert bis
Wolf. Das hat er immer wieder gegenüber Freunden wie Joseph Gregor35,
Romain Rolland36) oder Willi Schuh betont. In einem Brief an diesen vom 11.
Juni 1946 polemisiert er deshalb heftig gegen Charles Gounod und Ambroise
Thomas, wider deren "Goetheverhunzende Margarethe und Mignon" er sein
Leben lang protestiert habe.37
        Als Joseph Gregor 1939 für das spätere Capriccio das "merkwürdige
Milieu" vorschlägt, "in das der junge Goethe in Weimar eintrat" - mit dem von
ihm geleiteten Liebhabertheater, einem Komponisten mit Spuren von Knebel,

  33
     Vgl. neben dem Aufsatz von Kohler Norman del Mar: Richard Strauss, Bd. III, S. 426f. und
Brian Gilliam (Hrsg.): Richard Strauss. New Perspectives on the Composer and His Work.
Durham and London 1992, S. 201 (Timothy L. Jackson).
  34
     In diesem Punkt kommt seine Anschauung der seines Antipoden Johannes Brahms nahe, der
behauptete, Goethes Gedichte seien in sich so vollkommen, daß keine Vertonung ihnen etwas
hinzufügen könne. Selbst Schubert sei dies nur ein einzigesmal: in seinen Suleika-Liedern
gelungen. Vgl. dazu Ludwig Finscher: Brahms' Early Songs: Poetry versus Music. In: Brahms
Studies. Analytical and Historical Perspectives. Ed. by George S. Bozarth. Oxford 1990, S. 331-
344.
  35
     Vgl. Norman del Mar: Richard Strauss. Bd. III, S. 247.
  36
     "Die wirklichen, poetischen Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares genügen sich selbst: sie
bedürfen keiner Musik". Zitiert nach Maria Hülle-Keeding: Richard Strauss - Romain Rolland.
Briefwechsel und Tagebuchnotizen. Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft. Bd.
XIII. Berlin 1951, S. 182.
  37
     Strauss - Schuh. Briefwechsel, S. 95.
Borchmeyer: Goethe in Kompositionen von Richard Strauss, S.15

einer Schauspielerin als Ebenbild der Jagemann, der Comtesse und dem sie
umschwärmenden Poeten als Frau von Stein und Goethe -, war Strauss ent-
setzt: "Um Gottes willen keine Anspielungen auf große Persönlichkeiten:
Göthe - Frau von Stein! Brr!"38 Und später noch einmal: "Ich bitte um Gottes
willen keine direkten Anspielungen auf Weimar, Wilhelm Meister39 oder gar
direkte Nennung geheiligter Namen" - was Gregor nicht begreifen will: "Nicht
recht verstanden habe ich auch, warum z.B. von Goethe oder von Beethoven
nicht gesprochen werden darf?"40
        Warum nicht? Es war, was Gregor bei einem Komponisten vom Range
Strauss' wohl nicht begreifen konnte, dessen ungeheurer Respekt vor diesen
Namen, der es ihm nicht erlaubte, sie in seiner eigenen musikdramatischen
Sprache reden zu lassen. Daß er so wenige Goethe-Texte und gerade nicht die
bedeutendsten vertont hat, daß er die Spuren Goethes in seinem Werk ver-
wischt, sein Bild in heimlichen Nischen und hinter zart gewebten Vorhängen
verborgen hat, zeigt, daß ihm Goethe ein Stern höchster Höhe war, den er
durch seine Musik nicht zu erreichen wagte. Und doch bedeuten diese heimli-
chen Spuren mehr als die bedenkenlose Komposition und musikalische Trivia-
lisierung der Dichtung Goethes, gegen die Strauss sich zeitlebens verwahrt hat.
Noch in dessen musikalischen Schweigen ist der Geist Goethes freilich gegen-
wärtiger als in der Masse so vieler redseliger Vertonungen seiner Dichtungen.

  38
     Vgl. Kurt Wilhelm: Fürs Wort brauche ich Hilfe. Die Geburt der Oper Capriccio von Richard
Strauss und Clemens Krauss. München 1988, S. 53f.
  39
     Was Richard Strauss nicht gewußt hat: Hofmannsthal plante schon 1900 ein "Singspiel nach
W. Meister" mit dem Titel Die Gräfin, welches dasselbe dritte Buche von Wilhelm Meisters
Lehrjahre zum Inhalt hat, das - mit dem Schloß des Grafen - später Joseph Gregor zu seinem
abgelehnten Libretto-Entwurf für Richard Strauss inspirierte. Vgl. dazu die bereits angeführten
Aufsätze von Stephan Kohler in: Hofmannsthal-Blätter 26 (1982), hier S. 22 u. in: Wolfgang
Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Tübingen 1984, hier S. 187f.
  40
     Ebda. S. 68 u. 71. Vgl. auch Norman del Mar: Richard Strauss. Bd. III, S. 183 ff.
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