Die gewaltigen Herausforderungen des europäischen Bankensektors

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Die gewaltigen Herausforderungen des europäischen Bankensektors

     Von Barbara Mainieri, Buy-side Credit Analyst bei DPAM

     Im Gegensatz zu früheren Finanzkrisen werden im Jahr 2020 die Banken nicht als Ursache
     angesehen. Stattdessen haben die Entscheidungsträger umgehend massive Unterstützung
     geleistet, um sicherzustellen, dass die Banken Teil der Lösung sind. Die Zentralregierungen
     haben Einzelpersonen und Unternehmen über das Bankensystem fiskalische Anreize in Form
     von Moratorien, Kreditbürgschaften, direkten Liquiditätshilfen und einer stärkeren
     Kreditvergabe an kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) gewährt.

     Um die Rolle der Banken in dieser Krise zu stärken, hat die Europäische Zentralbank (EZB) sehr
     unterstützend gewirkt und beschlossen, vorübergehend folgende Punkte zuzulassen:

         •   Kapitalentlastung: Kapitalfreisetzung in Höhe von über 120 Mrd. EUR, um Verluste
             aufzufangen (weltweit etwa 500 Mrd. USD), dank des vorübergehenden Einsatzes von
             Kapital- und Liquiditätspuffern, Umsetzung von Artikel 104.a (der es den Banken erlaubt,
             AT1- und Tier2-Anleihen zum Aufbau von Kapitalpuffern zu verwenden), Verpflichtung
             der Banken, keine Dividenden zu zahlen und Aktienrückkäufe zu tätigen (ca. 30 Mrd.
             EUR Kapitalersparnis)..

         •   Liquiditätshilfe: Lockerung der TLTRO 3-Bedingungen zur Unterstützung der
             Kreditvergabe an KMU, was der Nettozinsmarge zugute kommt (bis zum -1%-
             Zinsniveau). Im September 2020 erreichte die gesamte Mittelverwendung der EZB den
             neuen Rekord von 1,75 Billionen EUR (gegenüber 1,26 Billionen EUR während der
             Staatskrise 2011/2012).

         •   Buchhalterische Entlastung: Flexibilität bei der Anwendung von IFRS9 bei der
             Anerkennung notleidender Kredite (NPLs), die durch öffentliche Maßnahmen
             unterstützt werden.

         •   Regulatorische Erleichterungen: Verschiebung von Stresstests, Aufschub bei der
             Umsetzung von Basel IV und Änderung des ‚Temporären Rahmens‘ für staatliche
             Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft.

    Der Bankensektor reagiert sehr empfindlich auf die wirtschaftlichen und geopolitischen
    Spannungen. Während die Qualität der Kreditaktiva vorerst unter Kontrolle zu sein scheint, hat
    COVID-19 das makroökonomische Umfeld stark beeinträchtigt, was eine
    Qualitätsverschlechterung der Aktiva in den nächsten Quartalen impliziert. In der Zwischenzeit
    werden sich lang anhaltend niedrigere Zinssätze auf die Einnahmengenerierung auswirken. Die
    Risikokosten erreichten im ersten Halbjahr 2020 rund 88 Basispunkte (fast das 4,4-fache im
    Vergleich zum Vorjahreszeitraum mit 20 Basispunkten), und der Marktkonsens geht davon aus,
    dass die Risikokosten für EU-Banken bis Ende 2020 im Durchschnitt über 100 Basispunkte liegen
    werden. Doch selbst wenn die Rückstellungen zugenommen haben, bieten die Bilanzzahlen nicht
    genügend Klarheit über neue notleidende Kredite, was hauptsächlich auf die fiskalische
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Unterstützung der Volkswirtschaften und die Unterlassungsmaßnahmen der Banken
    zurückzuführen ist. Kredite der Stufe 3 (notleidende Kredite) sind nahezu stabil, während Kredite
    der Stufe 2 (mit deutlichem Anstieg des Kreditrisikos) moderat zugenommen haben, was Zweifel
    an der Stärke des Bankensektors aufkommen lässt; die Qualität der Aktiva einiger Banken könnte
    sich in den nächsten Quartalen als wesentlich schwächer erweisen als erwartet. Im Durchschnitt
    haben europäische Banken ein Kreditengagement von 15 bis 20% gegenüber denjenigen Sektoren,
    die am stärksten von COVID-19 betroffen sind. Transparenz- und Sensitivitätsanalysen von
    Bilanzen und Wertentwicklungen sind von entscheidender Bedeutung, um die Bedenken der
    Investoren hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle von Banken Rechnung zu tragen.

    In einigen europäischen Regionen, in denen das Wachstumstempo der NPLs im Allgemeinen höher
    ist, dürfen die Risiken nicht unterschätzt werden. Kürzlich hat die italienische Bankenvereinigung
    (“Associazione Bancaria Italiana”) hervorgehoben, dass die durchschnittliche Höhe notleidender
    Kredite in Italien immer noch über dem von der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde
    vorgegebenen Ziel von 5% liegt, ungeachtet der Reduzierung um 130 Milliarden Euro, die im
    Zeitraum zwischen 2015 und 2020 erreicht wurde. Es besteht ein hohes Risiko, dass sich der
    positive Trend umkehrt und die bisher unternommenen Anstrengungen gefährdet werden. Positiv
    zu vermerken ist, dass die Schaffung einer europäischen ‚Bad Bank‘ an Dynamik gewinnt und der
    Markt für NPLs trotz der Pandemie noch immer lebendig ist: Unicredit verkauft gerade NPLs in
    Höhe von 1,5 Milliarden Euro, während BPER eine Verbriefung in Höhe von 1,2 Milliarden Euro
    abschließt.

    Seit Beginn der COVID-19-Krise sind die Rating-Herabstufungen bei Banken im Vergleich zum
    Unternehmenssektor recht intensiv gewesen, mit einer deutlichen Verschiebung zu BBB+/BBB
    und einem weiterhin negativen Ausblick. In einigen Fällen wurde dies auch durch das Länderrisiko
    verschärft, wie unter anderem bei Italien, Belgien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich.

    Unter diesen fragilen Umständen vernichten die europäischen Banken eindeutig
    Unternehmenswert, wobei die Eigenkapitalrendite (ROE) unter den Eigenkapitalkosten liegt.
    Kostensenkung und Fusionen und Übernahmen (M&A) sind zwei Optionen, die in diesem Umfeld
    niedriger Zinsen und schrumpfender Wirtschaft (BIP der EU bei -21,1% im 2. Quartal 2020) zur
    Verfügung stehen. Dank eines günstigen EZB-Ansatzes (keine Kapitalaufstockung und Verwendung
    von ‚Badwill‘, einer Bedingung, die entsteht, wenn der für identifizierbare Vermögenswerte
    gezahlte Preis niedriger ist als ihr fairer Nettomarktwert) gewinnt die inländische und
    grenzüberschreitende Konsolidierung an Tempo.

    Die Rentabilitätslücke europäischer Banken gegenüber den US-Banken wächst eindeutig, und
    obwohl die sechs größten Wall-Street-Banken rund 35 Milliarden USD für potentiell notleidende
    Kredite zurückgelegt haben, erzielten sie im zweiten Quartal immer noch fast 13 Milliarden USD
    Gewinn. Die grenzüberschreitende Konsolidierung ist daher die wichtigste Triebkraft, um
    europäische Champions zu schaffen, die im internationalen Wettbewerb bestehen können. In den
    vergangenen Wochen sorgten mehrere Schlagzeilen im Zusammenhang mit möglichen M&A-
    Aktivitäten von europäischen Champions für Schlagzeilen: Der CEO der Deutschen Bank betrachtet
    M&A als eine Option für das nächste Jahr; UBS ist ein möglicher Kandidat für nationale und
    grenzüberschreitende M&A-Aktivitäten; BBVA ist an Sabadell interessiert und Credit Agricole wird
    wahrscheinlich sein Italien-Geschäft ausbauen. Auch die Commerzbank ist ein starker Kandidat für
    eine Konsolidierung. Das Haupthindernis ist jedoch nach wie vor die Nichtvollendung des
    Europäischen Einlagensicherungssystems (EDIS), das auch als dritte Säule der Europäischen
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Bankenunion bezeichnet wird.

    In Italien, Spanien und Deutschland ist der Bankensektor immer noch zu zersplittert, obwohl dies
    der richtige Zeitpunkt wäre, um Ineffizienzen zu beheben. In Italien und Spanien sind die
    mittelgroßen/kleinen Banken schwach, haben eine geringe Rentabilität, eine relativ hohe
    Kostenbasis und ein erhebliches Niveau an NPLs. Darüber hinaus gefährden sowohl der teure als
    auch der eingeschränkte Marktzugang die Emission von ‚Bail-In‘-fähigen Anleihen, mit dem Risiko,
    dass der Steuerzahler erneut die Verluste von Banken, die in Konkurs gehen oder gehen könnten,
    zu tragen hat. Meiner Meinung nach ist Konsolidierung ein Weg, um stärkere Institute in Europa
    zu haben, die in der Lage sind, das Interesse institutioneller Anleger zu wecken und über höhere
    Eigenmittel und Passivpuffer verfügen.

    In dieser Hinsicht kann die Konsolidierung von Intesa und UBI in Italien sowie Caixa und Bankia
    in Spanien als Auslöser für mehr M&A-Aktivitäten in Europa angesehen werden.

    Vom Bankensektor emittierte Anleihen machen rund 27% des Iboxx Euro Corporate Investments
    Grade Index aus und damit zum größten Sektor. Ein Engagement bei Banken ist daher für
    festverzinsliche Anleger unvermeidlich. Nach einer massiven Ausweitung im März/April 2020
    erholten sich die Spreads von Bankanleihen rasch wieder, was hauptsächlich auf die
    Unterstützung der EZB und die fiskalischen Maßnahmen der nationalen Regierungen
    zurückzuführen ist. Im September 2020 betrug der Anteil der negativ verzinslichen Anleihen im
    Investment-Grade-Universum 22% bei Finanztiteln gegenüber 20% bei Unternehmen, während er
    im Dezember 2019 13% respektive 14% betrug. Mit ihrem derzeitigen Spread sind sowohl
    vorrangige als auch nachrangige Anleihen (Tier 2), die von Banken ausgegeben wurden, hoch
    bewertet. Nachrangige Anleihen scheinen im Vergleich zu hybriden Unternehmensanleihen mit
    einer Rendite von 1,16% gegenüber 2,33% (2,35% und 3,17% im April 2020) teuer zu sein.

    Zusätzliche Tier 1-Bankanleihen (AT1) haben einen besseren relativen Wert im Vergleich zu Tier 2
    und hochverzinslichen BB-Anleihen. Dennoch profitiert das AT1-Segment von der
    vorübergehenden Unterstützung durch die Regulierungsbehörden, die Kupons gegenüber
    Dividenden bevorzugen, und von der Umsetzung des Artikels 104.a, der es den Banken ermöglicht,
    mehr AT1 zu emittieren, um ihr Kapital zu erhöhen, was zu einem niedrigeren Kupon und einem
    geringeren ‚Non Call‘-Risiko führt. AT1 sind jedoch komplexere Produkte, und nur spezialisierte
    Investoren sollten in diesem Segment aktiv sein.

    Es ist davon auszugehen, dass die Spreads von Bankanleihen in den kommenden Monaten
    aufgrund der zweiten COVID-19-Welle, der allgemeinen Wirtschaftsaussichten und der
    Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahlen unter Druck geraten werden. Die Höhe der NPLs wird
    auch von der Ausweitung der fiskalischen Unterstützungsprogramme und
    Schuldentilgungsaufschüben abhängen. Der Bloomberg-Konsens erwartet einen Rückgang der
    Gewinne um 48% im Jahr 2020 und eine Erholung um etwa 58% im Jahr 2021. Nichtsdestotrotz
    liegt der Puffer des ‚Common Equity Tier 1‘ (CET1) im Vergleich zu den Anforderungen (%RWA) für
    die meisten Banken über 3%, einschließlich der italienischen nationalen Champions (Unicredit
    liegt bei etwa 4% und Intesa deutlich über 4,5%).

    Daher ist es besser, den sichersten Teil der Kapitalstruktur zu bevorzugen (vorrangige Anleihen,
    obwohl der Anteil der Anleihen mit negativer Rendite beträchtlich ist) und Banken mit einer
    besseren Rentabilität und einem niedrigeren Niveau an NPLs. Die nordischen Banken und Retail-
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Banken aus Kerneuropa (hauptsächlich französische, Benelux- und Schweizer Institute) sind die
    bevorzugte Wahl, während wir Großbritannien und die Banken der europäischen Peripherie
    angesichts der aktuellen Bewertung am wenigsten bevorzugen. Letztere schnitten aufgrund von
    Konsolidierungen und besseren Wertentwicklungen der Staatsanleihen recht gut ab. Daher ist die
    Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen Katalysators in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 begrenzt.

    Auf der anderen Seite des Ozeans haben US-Banken bereits niedrigere Rückstellungen im 3.
    Quartal 2020 und weiterhin hohe Kapitalmarkteinnahmen aus dem Handel vorweggenommen.
    Angesichts der guten Rentabilität der Wall-Street-Banken sind Anzeichen für höhere
    Zahlungsrückstände bei Verbraucher- und gewerblichen Immobilienkrediten verkraftbar. Für
    Anleihegläubiger ist auch hier ein positives Element die Ankündigung der FED, dass die größten
    US-Banken zum Zweck der notwendigen Kapitalerhaltung für weitere drei Monate
    Beschränkungen bei Dividenden und Aktienrückkäufen unterliegen werden.

    Kapitalerhaltung ist und wird für Anleiheninvestoren ein Hauptaugenmerk sein. Eine
    durchschnittliche Eigenkapitalrendite von etwa 5 bis 6% ist nicht nur niedrig, um Aktienanleger
    anzuziehen, sondern auch um internes Kapital zum Schutz der Anleihengläubiger zu generieren.
    Darüber hinaus wird ein Risikoaufwand von 150 bis 200 Basispunkten über einen längeren
    Zeitraum zu erheblichen Verlusten für den Bankensektor führen, da die Zinssätze niedrig sind.
    Europäische Banken stehen wieder einmal vor wirklich schwierigen Zeiten.

    SCHLÜSSELBOTSCHAFTEN

     •   Der Bankensektor reagiert sehr empfindlich auf wirtschaftliche und geopolitische
         Spannungen. Infolgedessen haben die Entscheidungsträger dem Bankensektor
         vorübergehend Liquidität und Kapital zur Verfügung gestellt, um die Stabilität des Sektors zu
         sichern und sicherzustellen, dass die Banken Teil der Lösung der COVID-19-Krise sind.

     •   Auf der einen Seite unterstützen Schuldentilgungsmoratorien und andere
         kreditnehmerfreundliche Maßnahmen die Kreditqualitäten. Auf der anderen Seite
         verschleiern sie die zugrunde liegende Notlage vieler Kreditnehmer. Dies hat zur Folge, dass
         sich die Qualität der Aktiva der Banken viel schwächer erweisen könnte als es die Zahlen
         vermuten lassen. Im Durchschnitt halten europäische Banken Kreditengagements von 15
         bis 20% in Sektoren, die am stärksten von COVID-19 betroffen sind.

     •   Ein hohes Risiko einer Qualitätsverschlechterung von Vermögenswerten in Verbindung mit
         dem Niedrigzinsumfeld und einem schwierigen Zugang zu den Aktien- und Anleihen-
         Primärmärkten für einige Finanzinstitute könnte die Stabilität der nationalen
         Bankensektoren gefährden.

     •   Konsolidierung scheint im gegenwärtigen Marktkontext eine der wenigen Optionen zu sein,
         die zur Sicherung der Stabilität und zur Verbesserung der Effizienz der europäischen Banken
         sowie zur Schaffung internationaler Champions zur Verfügung stehen.

     •   Mit Blick auf festverzinslichen Anlagen sollte in der zweiten Jahreshälfte vorsichtig agiert
         werden. Die zweite COVID-19-Welle, die gesamtwirtschaftlichen Aussichten und die US-
         Präsidentschaftswahlen werden vermutlich zu einer erhöhten Volatilität und erhöhten
         Risiken im Bankensektor führen, so dass es vorzuziehen wäre, in den sichersten Teil der
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Kapitalstruktur zu investieren (vorrangige Anleihen, obwohl der Anteil der Anleihen mit
    negativer Rendite beträchtlich ist) und in Banken mit einer besseren Rentabilität und
    niedrigeren Kreditausfällen.

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