Die Impfpflicht existiert bereits

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Die Impfpflicht existiert bereits
Gastautor                                                    2021-12-08T15:22:21

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YANNIK HOFMANN

Bei seinem Impfappell in der Fernsehsendung „Joko und Klaas“ sagte der
designierte Bundeskanzler Olaf Scholz in Anbetracht der Pandemielage:
„Wir werden tun, was notwendig ist, es gibt da keine roten Linien.“ Dass es
mit Blick auf die Ampel-Koalition politische und hinsichtlich der Verfassung
rechtliche rote Linien gibt, dürfte auch dem zukünftigen Bundeskanzler
klar sein. Eine derart vorbehaltliche Aussage erzeugt freilich nicht das
intendierte Medienecho. In Zeiten der Corona-Pandemie gilt es vor dem
Hintergrund überfüllter Intensivstationen und einer zu geringen Impfquote
daher Führungsstärke und Entscheidungsfreude zu verkörpern. Bezüglich
der angekündigten Impfpflicht lohnt sich ein Blick auf die roten Linien des
Grundgesetzes.

Mittel, Zwänge und Zwangsmittel

Im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) haben sich die
geschäftsführende Bundeskanzlerin und ihr voraussichtlicher Nachfolger
zusammen mit den Ministerpräsident*innen der Länder am 2. Dezember 2021
auf verschärfte Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verständigt.
Neben weitreichenden Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte soll ab Februar
2022 eine allgemeine Impfpflicht gelten. Der Begriff „allgemeine Impfpflicht“ ist
semantisch unklar und bedarf zunächst einer Charakterisierung. Gemeint ist
häufig das staatliche Gebot, sich impfen zu lassen und die Impfung nachzuweisen.
Regelmäßig geht es nicht darum, Menschen unter Anwendung körperlichen
Zwangs einen Impfstoff zu injizieren. Vielmehr sollen sie unter dem Druck in
Aussicht gestellter Nachteile ihre Einwilligung in einer Impfung erteilen (Rixen
in: Huster/Kingreen [Hrsg.], Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 5 Rn.
63). Soweit mit dieser Unterscheidung die synonyme Verwendung der Begriffe
„Impfpflicht“ und „Impfzwang“ als „irreführend“ abgelehnt wird (Rixen), überzeugt
dies nicht. Diese Unterscheidung verkürzt den Zwangsbegriff in unzulässiger

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Weise auf den im Verwaltungsrecht normierten unmittelbaren Zwang (vgl. §
12 VwVG), der die Anwendung direkter Gewaltanwendung unter bestimmten
Voraussetzungen legitimiert. Die entscheidende Frage ist aber, mit welchen
(Zwangs-)Mitteln die Impfpflicht durchgesetzt wird, d.h., mit welchen in Aussicht
gestellten Nachteilen die Einwilligung zur Impfung erteilt werden soll. Auch die
mit einem Betretungsverbot (z.B. für Schulen, Gaststätten, Museen) verbundene
Einschränkung kann einen Belastungsgrad erreichen, der den Betroffenen gegen
seinen Willen zur Teilnahme an der Impfung drängen könnte. Insofern kann auch bei
Maßnahmen zur Durchsetzung einer Impfpflicht, die keine direkt Gewaltanwendung
darstellen, von einem faktische-indirektem Impfzwang gesprochen werden (OVG
Lüneburg; kritisch: BVerwG). Die Unterscheidung zwischen „Impfpflicht“ und
„Impfzwang“ ist daher reine Kosmetik, um im Sprachgebrauch die Intensität des
Grundrechtseingriffs abzumildern. Für die rechtliche Einordnung ändert sich daran
gleichwohl nichts (so im Ergebnis auch Rixen in: Huster/Kingreen [Hrsg.], Handbuch
Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 5 Rn. 70).

In Anbetracht der in der MPK beschlossenen weitreichenden Maßnahmen stellt sich
die Frage, ob man von einer Impfpflicht sprechen kann, wenn sie nicht nur gesetzlich
angeordnet ist, sondern auch wenn grundrechtseinschränkende Maßnahmen
faktisch wie eine solche wirken.

Rechtliche und faktische Impfpflicht

Eines der wenigen Beispiele einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland war
im Gesetz über die Pockenschutzimpfungnormiert. Danach hatten alle Personen
ab dem 12. Lebensjahr die Rechtspflicht, sich gegen Pocken impfen zu lassen.
Ausnahmen bestanden nur für solche Personen, die nicht ohne gesundheitliche
Gefahren geimpft werden konnten. Verstöße stellten eine Ordnungswidrigkeit dar
und konnten mit einem Bußgeld geahndet werden. Ein derartige selbstständige
Rechtpflicht zur Impfung gegen das Coronavirus besteht (bisher) nicht. Hinsichtlich
der Masernimpfung normiert § 20 Abs. 8 IfSG unter anderem, dass Personen,
die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG (Kindertagesstätten, Schulen,
Ferienlager, etc.) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen
Masern aufweisen müssen. Diese Regelung wird in der Literatur durchweg als
Masernimpfpflicht bezeichnet (Gebhardt in: Kießling [Hrsg.], IfSG Kommentar,
2. Auflage 2021, § 20 Rn. 36, m.w.N.). Durch die Regelung wird insofern Druck
(auf die Eltern) aufgebaut, als dass bei fehlender Impfung der Entzug oder die
Verweigerung des Rechtsvorteils „Kita-Platz“ droht. Die in der MPK beschlossenen
Maßnahmen stellen, soweit sie von den Ländern umgesetzt werden, nichts anderes
dar. Danach soll bundesweit der Zugang zu Einrichtungen und Veranstaltungen der
Kultur- und Freizeitgestaltung (Kinos, Theater, Gaststätten, etc.) inzidenzunabhängig
nur für Geimpfte und Genesene (2G) möglich sein. Ergänzend kann ein aktueller
Test vorgeschrieben werden (2GPlus). Darüber hinaus werden die 2G-Regeln
bundesweit inzidenzunabhängig – mit Ausnahme von Geschäften des täglichen
Bedarfs – auf den Einzelhandel ausgeweitet. Daraus folgt, dass bei fehlender
Impfung die Rechtsvorteile „Besuche von Kultur- und Freizeitveranstaltungen
und Einzelhandelsgeschäften“ verweigert werden. Es handelt sich folglich um
eine Impfpflicht. Ebenso wie bei der Masernimpfpflicht bedarf es auch hier

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keiner Differenzierung zwischen „direkt“ und „indirekt“. Die Impfpflicht gegen das
Coronavirus existiert kraft der Normierung der in Aussicht gestellten Nachteile
(im Ergebnis wohl auch Rixen). Wollte man diese Differenzierung gleichwohl
vornehmen, müssten die Adjektive allerdings adverbial gebraucht werden. Bei einer
allgemeinen Rechtspflicht (Pockenimpfung) läge eine direkt wirkende Impfpflicht,
bei der Normierung rechtlicher Nachteile im Verweigerungsfall (Masernimpfung)
eine indirekt wirkende Impfpflicht vor. Sinnvoller wäre es m.E. allerdings, von einer
rechtlichen bzw. rechtlich normierten Impfpflicht in Abgrenzung zu einer faktischen
Impfpflicht zu sprechen. Im Ergebnis stimmen bei beiden Varianten Ziel und Wirkung
der Regelung überein: Bei der rechtlich normierten wie bei der faktischen Impfpflicht
werden Rechtsnachteile (Bußgelder zur Ahndung einer Ordnungswidrigkeit oder
Zutrittsverbot zu Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens)
in Aussicht gestellt, die dazu animieren sollen, der Pflicht nachzukommen, und
immer steht als Verursacher, der dieses Ziel und diese Wirkung erreichen will,
der Staat hinter dem Vorgang. Die demnächst geltende rechtliche Situation ist
auch nicht mit der bisherigen vergleichbar, in der Ungeimpfte mittels aktuellen
negativen Testnachweises Zutritt zu vielen Einrichtungen und Veranstaltungen
des öffentlichen Lebens hatten. Bei einer in überwiegenden Bereichen geltenden
3G-Regelung wäre es verfehlt, von einer Impfpflicht zu sprechen, da regelhaft die
Möglichkeit besteht, die in Aussicht gestellten Nachteile durch einen negativen
Testnachweis rechtskonform zu überwinden. Nunmehr stellt sich die Situation für
Ungeimpfte jedoch dergestalt dar, dass der Lebensbereich ohne Vorlage eines
negativen Testnachweises sich auf die eigene Wohnung und Geschäfte des
täglichen Bedarfs beschränkt. Mit Ausnahme des ÖPNV und der Arbeitsstätte, für
deren Zutritt ein negativer Testnachweis vorliegen muss, bleibt Ungeimpften der
Zugang zu sämtlichen Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens
verwehrt. Kurzum: Ungeimpfte dürfen noch Lebensmittelläden (einschließlich der
Geschäfte des § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 IfSG a.F.[Bundesnotbremse]) betreten
und ihren arbeitsvertraglichen Pflichten nachkommen. Solche weitreichenden
Einschränkungen der Freiheitsrechte Ungeimpfter auf ein absolutes Minimum
rechtfertigen es, von einer (faktischen) Impfpflicht zu sprechen.

Verfassungsrechtlich erforderlich

Diese Maßnahme stellen nach dem modernen Eingriffsbegriff mindestens einen
Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und in das Recht
auf körperliche Unversehrtheit in seiner Bedeutung als Selbstbestimmungsrecht
über den Körper dar (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar (Schwager-Wehming/Pieper;
Rixen). Abhängig von der Konstellation und dem Kontext kommen auch
weitere Grundrechtseingriffe in Betracht. Bei der sodann anzustellenden
Verhältnismäßigkeitsprüfung fällt bereits eine präzise Bestimmung des legitimen
Zwecks schwer. Unterstellt die Länder könnten auch nach dem 15. Dezember 2021
weiterhin auf die Maßnahmenkatalog des § 28a Abs. 1 IfSG zugreifen (vgl. § 28a
Abs. 9 IfSG), normiert § 28a Abs. 3 S. 1 IfSG als Ziele den Schutz von Leben und
Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Zwar ist das Ziel
„Schutz von Lebens und Gesundheit“ für sich genommen zu abstrakt, lässt sich
aber unter anderem auf Langzeitfolgen („Long Covid“) herunterbrechen, so dass
jedenfalls deren Verhinderung ein legitimes Ziel von Coronaschutzmaßnahmen sein

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kann (Kießling in: Kießling [Hrsg.], IfSG Kommentar, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 18
ff.). Dass eine Impfpflicht unter Beachtung des gesetzgeberischen Einschätzungs-
und Gestaltungspielraums geeignet ist, ist nach dem derzeitigen Wissensstand
für Personen ab dem 12. Lebensjahr nach Maßgabe der STIKO-Empfehlung
zu bejahen. Ebenso schützt eine Impfung gegen das Coronavirus vor schweren
Verläufen von COVID-19 und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in
erheblichem Maße (RKI).

Zur Frage der Erforderlichkeit, ob es also im Vergleich zur Impfpflicht gleich
wirksame mildere Mittel gibt, ist zuzugeben, dass diese noch vor einem halben
Jahr mit guter Begründung abzulehnen war (so Rixen). Eine adressatengerechte
Information über die Impfung ist neben der Bereitstellung ausreichender Infrastruktur
weiterhin notwendig und m.E. für das Kriterium der Erforderlichkeit unumgänglich.
Soweit in diesem Zusammenhang die Zahl fundamentalistischer Impfgegner*innen
auf 2-5% der Bevölkerung geschätzt wurde, ist dies vor dem Hintergrund
aktueller Befragungen nicht mehr haltbar. Trotz anhaltender Appelle sind 24% der
Bevölkerung in Deutschland nicht geimpft (keine von zwei Impfungen). Von diesen
sind 45% auch weiterhin nicht bereit, sich impfen zu lassen. Das entspricht 11% der
insgesamt Ungeimpften (Opinion Train 2021). Dabei ließe sich noch argumentieren,
dass diese 11% bei einer Zielimpfquote von 85% bis 90% der Bevölkerung
vernachlässig werden könnten. Das lässt aber die 37% der Ungeimpften außer Acht,
die angaben, sich „nicht in nächster Zeit, vielleicht später“ impfen zu lassen zu
wollen (die übrigen 18% gaben, sich zukünftig impfen zu lassen oder von Corona
genesen zu sein). Diesen 37% entsprechen weitere 9% der insgesamt Ungeimpften,
so dass rund 19% nicht in nächster Zeit oder überhaupt nicht bereit sind, sich
impfen zu lassen. Damit lässt sich die angestrebte Zielimpfquote ohne weitere als
die vor der MPK getroffenen Maßnahmen nicht erreichen. Dabei ist insbesondere
zu berücksichtigen, die Zielimpfquote noch ohne die neue Omikron-Virusvariante
berechnet wurde.

Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht

Bei der von der MPK beschlossenen Maßnahmen handelt es sich um eine faktische
Impflicht, die erforderlich und – die Angemessenheit unterstellt – insgesamt
verfassungsgemäß ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine
allgemeine Impfpflicht überhaupt verfassungsgemäß sein kann. Denn immerhin
verbleibt bei einer faktischen Impfpflicht Ungeimpften immerhin noch die Freiheit,
sich auf ein erheblich eingeschränktes soziales Leben zurückzuziehen und damit
rechtskonform einer Impfung zu umgehen. Diese Freiheit besteht – mit wenigen
medizinisch bedingten Ausnahmen – bei einer allgemeinen Impfpflicht nicht mehr,
was im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist.

Zitiervorschlag: Yannik Hofmann, Die Impfpflicht existiert bereits, JuWissBlog Nr.
108/2021 v. 08.12.2021, https://www.juwiss.de/108-2021/.

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