Die Luftschadstoffe Feinstaub, Stick-stoffdioxid und Ozon beeinflussen deutlich die Kindergesundheit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
FORTBILDUNG Die Luftschadstoffe Feinstaub, Stick- stoffdioxid und Ozon beeinflussen deutlich die Kindergesundheit – Teil 1 Die Publikation befasst sich im 1. Teil mit dem Einfluss der Feinstäube als wesentlichem Luftschadstoff auf die Kindergesundheit. Dazu wird eingangs die WHO-Studie aus 2018 „Air Pollution and Child Health: Prescri- bing clean air“ vorgestellt und es werden die physiko-chemischen und (patho)-physiologischen Grundlagen der Feinstäube und ultrafeinen Partikel erläutert. Anschließend werden neben den bekannten Verkehrsemissionen bedeutsame andere Feinstaubquellen z. B. aus der Landwirtschaft, Kaminanlagen und von Feuerwerken er- läutert, um dann die feinstaubbedingten Auswirkungen auf die Kindergesundheit darzustellen und sinnvolle Minimierungsstrategien zu besprechen. Im 2. Teil sollen die gesundheitlichen Auswirkungen erhöhter Stickstoff- dioxid- sowie der sommertags erhöhten Ozonkonzentrationen für Kinder und Jugendliche besprochen werden. Bewusst nicht näher eingegangen wird auf die pulmonalen und systemischen Erkrankungen des Erwachse- nenalters, wie COPD, Lungenkarzinom, Schlaganfälle, Myokardinfarkte, Demenz und Diabetes Typ 2, die im Wesentlichen durch Feinstäube mit induziert werden. Hierzu sei u. a. auf die sehr übersichtliche und kompri- mierte Publikation von Ritz et al im Deutschen Ärzteblatt 2019 verwiesen (1) ferner auf die Monographie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie „Atmen- Luftschadstoffe und Gesundheit“ (2) Verzichtet wird auch auf die Darstellung der Corona-Pandemie bedingten Morbiditäts- und Mortalitätsveränderungen meist älterer und chronisch kranker Menschen sowohl in europäischen (3), nordamerikanischen (4) und chinesischen Regionen mit hoher versus niedriger Luftschadstoffbelastung. Angesichts der extremen Waldbrände weltweit sei auch ver- wiesen auf die massive Luftverschmutzung und die daraus resultierenden gesundheitlichen und sozialen Folgen z. B. für die USA, nachlesbar unter (5) WHO-Studie 2018 offener Verfeuerung von Holz, Bioabfäl- len und Kohle oder durch die Verbren- Im Oktober 2018 hat die WHO ihre um- nung von Treibstoff, wie z. B. Kerosin, fängliche Studie „Air Pollution and Child entsteht. Zusammen mit der äußeren Health: Prescribing clean air“ (6) vorge- Luftverschmutzung führte diese Belas- legt, in der sie anhand epidemiologischer tung 2016 zu mehr als 600.000 Todesfäl- Daten und einer Fülle von Studien folgen- len von Kindern unter 15 Jahren. Davon de zusammengefasste Aussagen trifft: Im sterben 13 % aller Kinder unter 5 Jahren Jahre 2016 atmeten weltweit 93 % aller an einer Pneumonie, jede zweite akute In- Kinder unter 15 Jahren – davon 630 Mio fektion des unteren Atemtrakts ist in den unter 5 Jahren – ständig verunreinig- armen oder Schwellenländern durch die te Luft mit Feinststaubkonzentrationen Luftverschmutzung bedingt. Dr. med. Thomas Lob-Corzilius PM 2,5 oder kleiner ein, die oberhalb der Erklärbar sind diese Erkrankungen durch die WHO formulierten Grenzwerte u. a. durch die Tatsache, dass Neuge- für die Luftqualität lagen. In den armen borene und kleine Kinder eine deutlich oder Schwellenländern der Welt betrifft höhere Atemfrequenz mit einer dadurch die Luftverschmutzung 98 % aller Kinder erhöhten inhalativen Depositionsrate ha- unter 5 Jahre, in den hochentwickelten ben, sie in der frühen Wachstumsphase Ländern immerhin noch 52 %, also mehr ohnehin mehr empfindlich sind und ei- als jedes 2. Kind wie auch Abb. 1 zeigt. nen Großteil ihres frühen Kinderlebens Eine Milliarde Kinder unter 15 Jahre bodennah in Hütten, Häusern oder Woh- v. a. in Afrika und Asien (Indischer Sub- nungen verbringen, die gegenüber den kontinent, Südostasien, China) atmet be- WHO-Empfehlungen mitunter bis zu lastete Luft ein, die im Haushalt durchs 100-fach erhöhte Konzentrationen von Kochen, Heizen oder die Beleuchtung mit PM 2,5 enthalten. 52. Jg. (2021) Nr. 3/21 | 153
FORTBILDUNG Abb. 1: Anteil von Kindern unter 5 Jahren, die in Regionen leben, in denen die WHO-Richtwerte bzgl. der Luftqualität (PM 2,5) überschritten werden. Angegeben sind die Länder, 2016 Quelle: WHO (2018) Air Pollution and Child Health, Prescribing clean air Was ist Feinstaub und • Ultrafeine Partikel (UFP) mit einer Ammoniak als wichtigste was sind seine Quellen? Größe bis zu 0,1 μm (PM 0,1) entspre- Feinstaubquelle aus der chen in etwa Virengröße oder sind Landwirtschaft Feinstaub besteht aus einem komple- noch kleiner. Sie werden über das al- xen Gemisch fester und flüssiger Parti- veokapilläre Interstitium in die Blut- Ammoniak (NH3 ) ist ein giftiges Gas kel unterschiedlicher Größe und Stoffe. bahn aufgenommen, über den Kreis- mit einem stechenden Geruch, das Au- Feinstaub ist ubiquitär verbreitet und lauf verteilt und können somit syste- gen und Atmungssysteme reizt. Sobald es hat teilweise natürliche Quellen wie Pol- misch wirksam werden. Sie sind auch freigesetzt wird, reagiert es rasch mit an- len, Insektenbestandteile, Mineralien in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke deren Luftschadstoffen und bildet Ammo- und aufgewirbelten Sand, z. B. aus der zu überwinden. Es gibt ferner Hin- niumsulfat sowie -nitrat Feinstaubpartikel Landwirtschaft, aber auch aus Wüsten weise darauf, dass sie über den Trac- < PM 2,5. Über 90 % der Ammoniak-Emis- stammend. Andere Anteile kommen aus tus olfactorius direkt ins Rhinence- sionen in Europa stammen aus der Land- Verbrennungsprozessen und Transport phalon gelangen können. wirtschaft. Ein großer Teil davon entsteht in in Verkehr, Industrie und Haushalt wie • Entscheidend für die biologische Wir- der Tierhaltung, meist bei der Zersetzung Ruß, Reifen- und Bremsabrieb, Metalle kung ist die reaktive PM-Oberfläche, von Harnstoff oder Eiweiß in der Gülle von und Salze. Entstehen die Partikel durch an die eine Vielzahl toxischer und Nutztieren. Ammoniumnitrat, das aus der gasförmige Vorläufersubstanzen wie z. B. auch karzinogener Substanzen wie Reaktion von Ammoniak mit Salpetersäure dem Ammoniak, werden sie als sekundä- z. B. Polyzyklische Aromate (PAK wie hervorgeht, trägt in vielen westeuropäi- re Feinstäube bezeichnet. Mehr als zwei Benzol, Phenol etc.), elementarer Koh- schen Städten mit einem Anteil von 10 bis Drittel des Gewichts aller Feinstäube sind lenstoff oder Metalle andocken kön- 20 % zur Feinstaubbelastung bei. In Regio- sekundärer Natur. nen und so in den Körper gelangen. nen mit intensiver Massentierhaltung wie Feinstäube werden in Partikelfraktio- Primäre UFP‘s haben eine kurze Le- z. B. im westlichen Niedersachsen liegt der nen unterteilt: bensdauer (Minuten bis Stunden) und Anteil noch wesentlich höher. Ammonium- • Lungengängige Stäube mit einer Grö- bilden rasch über Koagulations- und/ sulfat und – nitrat verbleiben als sekundär- ße bis zu 10 μm (PM 10), entsprechend oder Kondensationsreaktionen größe- er Feinstaub für einige Tage, teilweise sogar der Größe einer Zelle, sie werden als re, komplexe Aggregate bis etwa 1 μm. bis zu einer Woche in der Atmosphäre und Feinstäube bezeichnet, Sie befinden sich im Allgemeinen in werden über große Entfernungen trans- • Partikel bis zu 2,5 μm (PM 2,5), entspre- frischen Emissionen aus Verbren- portiert, beeinträchtigen somit Ökosyste- chend der Größe eines Bakteriums, nungsprozessen wie Kraftfahrzeug-, me sowie die Gesundheit von Menschen in gelten als Feinststäube. Diese werden Industrie- und Heizungsabgasen so- ganzen Regionen. (8) bis in die terminalen Bronchien und wie photochemischen Reaktionen in Wie die Abb. 2 des Umweltbundes- Alveolen inhaliert. der Luft wie z. B. beim Ammoniak. (6) amts zu ausgewählten Luftschadstoffen 154 | 52. Jg. (2021) Nr. 3/21
FORTBILDUNG Abb. 2: Emissionen ausgewählter Luftschadstoffe zeigt, sind die Ammoniak-Emissionen in frei, auch die jährlichen Silvesterfeuer- lichen Höchstwerte für Feinstaub um Deutschland als einzigem Luftschadstoff werke tragen erheblich dazu bei. Dabei 92 %. in Hamburg fiel die Luftbelastung in den letzten 25 Jahren nach anfänglicher werden rund 5000 Tonnen Feinstaub mit vollständigem Böllerverbot um 83 %. leichter Reduktion noch angestiegen. So (PM10) freigesetzt, dies entspricht in et- nahmen im Zeitraum 2005 bis 2016 die wa 17 % der jährlich im Straßenverkehr Einzelfeuerungsanlagen-Kamine gesamten Ammoniakemissionen um etwa abgegebenen Menge. Wie schnell die 6 % bzw. gut 37 Kilotonnen (kt) pro Jahr zu. Feinstaubbelastung nach dem Silvester- In Deutschland gibt es etwa 11,7 Mil- Im nationalen Luftreinhaltepro- feuerwerk abklingt, hängt v.a. von den lionen sogenannter Einzelraumfeu- gramm der Bundesrepublik Deutschland Wetterverhältnissen ab. Kräftiger Wind erungsanlagen. Ihr Einsatz vor allem ist nachzulesen, dass 2016 ca. 95 % der hilft, die Schadstoffe rasch zu verteilen. in Wohngebieten gilt als bedeutsame Ammoniak-Emissionen aus der Land- Bei windschwachen Wettersituationen Feinstaubquelle. Denn 2017 betrug der wirtschaft stammen, davon mit 361 kt mit eingeschränktem vertikalem Luft- PM10-Emissionsbeitrag 8,1 % und bei über die Hälfte aus der Ausbringung or- austausch verbleiben die Schadstoffe je- PM2,5 sogar 16,1 % der Gesamtfeinstau- ganischer Düngemittel inkl. Weidegang, doch über viele Stunden in der Luft und bemissionen in D. (10) Meist werden mineralischer Düngemittel und von reichern sich in den unteren Atmosphä- Kamine und Öfen zusätzlich zur Zentral- Gärresten aus dem Energiepflanzenan- renschichten an. So wurden zum Jahres- heizung betrieben – sei es aus Gründen bau zur Biogaserzeugung. Die übrigen wechsel 2016/2017 in Leipzig 1860 µg/m³ der Behaglichkeit („Wohlfühlheizen“) Emissionen stammen aus den Ställen PM10 gemessen. Aber auch in München oder auch als kostengünstige Alternati- und Wirtschaftsdüngerlagern in der Tier- und Nürnberg lagen die Konzentratio- ve. Allerdings verursacht auch das sach- haltung. (Abb. 3) nen über 1000 µg/m³ PM10. In Städten, gerechte Heizen mit Holz deutlich grö- Der Anstieg ist vor allem auf die Aus- in denen auch sonst erhöhte Feinstaub- ßere luftverschmutzende Emissionen bringung von Resten aus der Vergärung konzentrationen gemessen werden, führt von Feinstaub und polyzyklischen aro- von Energiepflanzen zurückzuführen. Bei die Zusatzbelastung durch das Silvester- matischen Kohlenwasserstoffen (PAK) der Mineraldüngerausbringung ist der feuerwerk oft zu besonders deutlichen als das Heizen mit Heizöl oder Erdgas. steigende Anteil des Harnstoffs mit ver- Überschreitungen des Tagesmittelwerts Davon nicht betroffen sind emissionsar- gleichsweise hohen Emissionsfaktoren bis hin zu 100 µg/m³. (9) me, automatische Pelletöfen und -heiz- für steigende Emissionen verantwortlich. Die optimale Minimierungsstrategie kessel. (11) Bei der letzten Novellierung Die Zunahme erfolgte trotz der in der ist es, den Konsum an Feuerwerksartikeln des 1. Bundesimmisionsschutzverord- EU vereinbarten, nationalen Emissions- an den Jahreswenden zumindest deut- nung (BImSchV) wurden für Einzelraum- höchstmenge (NEC) für Deutschland von lich zu reduzieren, wenn nicht ganz zu feuerungsanlagen zwei Grenzwertstufen 550 kt pro Jahr. vermeiden. So sind beim zurückliegen- mit konkreten Grenzwerten festgelegt. den Sylvester 2020/21 in vielen Städten Stufe 1 trat 2010, die anspruchsvollere Feinstaub zum Jahreswechsel neben dem generellen Verkaufsverbot Stufe 2 am 1. Januar 2015 in Kraft. Die auch allgemeine Feuerwerksverbote ver- Einhaltung dieser Werte wird seither Aber nicht nur die Landwirtschaft hängt worden. Das führte in München zu geprüft, bevor ein Gerätetyp auf den setzt erhebliche Mengen an Feinstäuben einem Rückgang der maximalen stünd- Markt kommt. Staubabscheider für neue 52. Jg. (2021) Nr. 3/21 | 157
FORTBILDUNG Abb. 3: Ammoniak-Emissionen nach Quellkategorien Kleinfeuerungsanlagen müssen einge- vertreten, dass diese nicht allein dem verlorenen Lebensjahren als begrenzt an. baut werden, bei alten innerhalb einer NO2 als Gas zuzuschreiben sind, son- […] Die Beweiskraft für Effekte der Lang- Übergangszeit bis 2025 nachgerüstet dern dass NO2 als gut messbarer und zeitexposition von Feinstaub (PM 2,5) auf werden. Dennoch kann bei winterlichen wesentlicher Indikator für ein Gemisch die Mortalität (Gesamtsterblichkeit) sowie Inversionswetterlagen die gesundheits- verkehrsabhängiger Luftschadstoffe wie Herz-Kreislauf- und Atemwegserkran- schädliche Feinstaubbelastung in Wohn- ultrafeine Partikel, Ruß [elementarer kungen wird von WHO/EU und US-EPA gebieten deutlich ansteigen. Kohlenstoff ], PAK etc. dient. So zeigten als hoch angesehen. […] WHO/EU ver- Luftschadstoffmessungen, die 2007 im weisen darauf, dass NO2 möglicherweise Feinstaub, UFP und Stickoxide Rahmen des UFIPOLNET-Projekts in ein Schadstoffgemisch repräsentiert und als verkehrsabhängige Dresden erfolgten, beispielhaft einen man nicht ausschließen kann, dass derar- Luftschadstoffe parallelen Emissionsverlauf von NO2 und tige Abschätzungen nicht die Wirkungen UFP’s. (Abb. 4) des NO2-Gases allein wiedergeben.“ Die große Bedeutung von Feinstaub Wichmann hat deshalb 2018 darge- und UFP‘s im Gemisch verkehrsabhängi- legt (12), dass „die Datenlage zu Effekten Grenzwerte von Feinstaub und ger Luftschadstoffe wird auch durch die der Langzeitexposition von NO2 weniger Stickstoffdioxid in EU und 2019 erneut geführte Diskussion um die eindeutig ist. In den quantitativen Ab- lt. WHO gesundheitlichen Wirkungen von Stick- schätzungen auf die Mortalität sehen US- oxiden (NO2) deutlich. Denn mehrheit- Environmental Agency und WHO/EU die Zum Schutz der menschlichen Ge- lich wird wissenschaftlich die Meinung Datenlage zu vorzeitigen Todesfällen und sundheit gelten seit dem 1. Januar 2005 für die europäische Union die in Tab 1 auf- geführten Jahresmittel- bzw. Grenzwerte für die Feinstaubfraktion bis PM 10, für die noch kleineren Partikel PM 2,5 ist seit 1. Januar 2015 ein Jahresmittelzielwert ver- bindlich einzuhalten. Dagegen liegen die von der WHO schon seit Jahren empfohle- nen Werte für PM 10 und PM 2,5 deutlich darunter (siehe Tab. 1). Seit dem 1.Januar 2008 beträgt der EU-Jahresmittelgrenz- wert für Stickstoffdioxid (NO2) 40 µg/ m³ und ist mit dem WHO-Grenzwert iden- tisch, während in der Schweiz der nied- Abb. 4: Vergleichsmessungen Nox Dresden Schlesischer Platz (29.01.-05.02.2007) rigere Wert von 30 µg/m³ gilt. Zum vor- 158 | 52. Jg. (2021) Nr. 3/21
FORTBILDUNG sorgenden Schutz der menschlichen Ge- mit einem ähnlichen Design wurde der te eindeutig die Assoziation zwischen der sundheit wurde europaweit für NO2 ein mögliche Einfluss von pränataler Luft- Feinstaub PM2,5-Konzentration und dem Ein-Stunden-Grenzwert festgelegt. schadstoffbelastung mit PM 2,5 auf die Risiko von Kindern, an Asthma zu erkran- Entwicklung von frühkindlichem Krebs ken, belegt werden: Mit einem OR von Feinstaubbelastung der an mehr 2.350.000 Kindern untersucht, 1,58 stieg dies um 58 % an, wenn die Kin- Schwangeren und die Folgen für die zwischen 1988 und 2012 in der Provinz der unmittelbar, also 1000 m entfernt lebten Über den Einfluss von Feinstaubbelas- einem Tumor, was der auch in Deutsch- (19). In einer Anfang 2016 publizierten tung während der Schwangerschaft auf land bekannte, statistischen Wahrschein- Metaanalyse, in der 15 Studien ausge- Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit und lichkeit von ~ 1:1000 Kindern entspricht. wertet wurden, konnte diese Beobach- frühkindliche Krebserkrankung liegen ei- Die Exposition mit PM 2,5 über die ge- tung bezogen auf den Feinstaub PM2,5 ne Reihe von epidemiologischen Studien samte Schwangerschaft, gemessen mit allerdings nicht reproduziert werden vor, von denen drei ausführlicher darge- einer Zunahme des Interquartilsabstands (20). Eine Erklärung dafür könnte sein, stellt werden sollen. (17), war assoziiert mit einem wachsenden dass die PM2,5-Konzentration Anfang In einer 2014 publizierten US-ameri- Astrozytomrisiko (HR pro 3,9 μg/m³ = 1,38 der 2000er Jahre höher lag als nach der kanischen Studie wurden über 420.000 (95 % CI: 1,01–1,88). gesetzlich verpflichtenden Einführung Babys eingeschlossen, die 2004 und 2005 Insgesamt bestärken die zitierten epi- von Feinstaubfiltern bei allen Verbren- in Florida geboren wurden. Über die ge- demiologischen Studien aus hochentwi- nungsmotoren im Verkehr 10 Jahre spä- samte Schwangerschaft konnte schon ckelten Industriestaaten die Hypothese, ter. In einer weiteren Metaanalyse von bei niedrigen PM2,5-Konzentrationen dass Feinststaubpartikel nach der Einat- 2012 wurden 19 Studien eingeschlossen. zwischen 9,7 und 10,2 μg/m³ – damit mung über die mütterliche Lunge in die Hier fand sich eine geringe, aber positive am WHO-Grenzwert liegend – eine si- Blutbahn aufgenommen und im Körper Assoziation zwischen Feinstaubkontakt gnifikant positive Assoziation zu einem und die Plazenta verteilt werden, von (PM10) mit erhöhter Inzidenz von pfei- erhöhten Risiko von niedrigem Geburts- wo sie über die Nabelschnur zum Feten fender Atmung (Wheezing) bei Kindern gewicht am Termin und Frühgeburt- gelangen und in ihm wirken können. Be- (meta-OR: 1,05, 95 % CI: 1,04–1,07) (21). lichkeit festgestellt werden (13). In der denkt man ferner, dass die beschriebenen Im Juli 2020 wurden Daten aus Barcelo- bislang größten populationsbezogenen Wirkungen schon bei niedrigen PM2,5- na berichtet, nach denen 19 % aller pä kanadischen Studie von 2016 (14) wurden Konzentrationen nachweisbar sind, ist die diatrischen Asthmaanfälle aufgrund von mehr als 3 Millionen Neugeborene zwi- Aussage der WHO über die armen und PM2,5 und 18 % derjenigen aufgrund von schen 1999 und 2008 eingeschlossen und Schwellenländer hochplausibel: Frühge- NO2 pro Jahr verhindert werden könnten, die mütterliche Exposition mit PM2,5 am burtlichkeit stellt weltweit mit einer To- wenn in Barcelona die WHO-Richtlinien Wohnort während der Schwangerschaft desrate von 16 % in der Neonatalzeit den zur jährlichen Exposition eingehalten mittels fixer Mess-Stationen und satelli- wichtigsten Faktor für kindlichen Tod bei würden (22). Bei den erwähnten Studien tengestützter Abschätzungen untersucht. unter 5-Jährigen dar und übertrifft damit und Metaanalysen ist aber grundsätzlich Es fand sich auch hier ein geringer, aber die akuten Infektionen der tiefen Atem- eindeutiger Zusammenhang zwischen wege (6). einem Anstieg des PM2,5 um 10 μg/m³ über die gesamte Schwangerschaft hin- Einfluss von Feinstaubbelastung weg für „Small for Gestional Age“ (odds auf die kindliche Lunge ratio = 1,04; 95 % CI 1,01–1,07) und redu- ziertes Geburtsgewicht am Termin (–20,5 2007 konnte in einer kalifornischen g; 95 % CI –24,7 bis –16,4). Metaanalyse belegt werden, dass das In einer 2017 publizierten Metaanalyse kindliche Lungenwachstum über einen (15) konnte gezeigt werden, dass das Ri- Zeitraum von 8 Jahren mit 81 ml des FEV1 siko für Frühgeburten eindeutig ansteigt, bei den Kindern vermindert war, die in- wenn die Mütter während der Schwan- nerhalb von 500 m an einer Hauptver- gerschaft mit PM2,5 belastete Luft durch kehrsstraße lebten im Vergleich zu jenen, Abb. 5: Schematische Darstellung der Dieselabgase oder offene Holzfeuer in die 1500 m oder mehr davon entfernt Belastungsregime für Feinstaub und Innenräumen einatmen. In einer wei- lebten (18). In der 2008 veröffentlichten Stickstoffdioxid, modifiziert nach teren kanadischen Studie von 2016 (16) Münchner Geburtskohortenstudie konn- Lenschow2 https://bit.ly/38yuLGK Tab. 1: zur Zeit gültige Luftschadstoffgrenzwerte EU / WHO Luftschad- Jahresmittelwert Jahresmittelwert EU-Tagesgrenzwert Feinstaub und EU- Ein-Stunden-Grenzwert NO2 stoff EU WHO max. Überschreitung/Jahr und max. Überschreitung /Jahr PM 10 40 µg/m³. 20 µg/m³ 50 µg/m³ max.35 x PM 2,5 25 µg/m³ 10 µg/m³ 25 µg/m³ max. 3 x NO2 40 µg/m³ 40 µg/m³ 200 µg/m³ max. 18 x 160 | 52. Jg. (2021) Nr. 3/21
FORTBILDUNG zu beachten, dass die gemessenen oder auf das Lungenwachstum und damit die stäube und UFP’s nach der inhalativen in Rechenmodellen verwendeten Fein- Lungenfunktion auswirkt und auch Infek- Aufnahme über die Lunge ins Kreislauf- staubkonzentrationen nicht immer die tionen des tiefen Atemtrakts begünstigt. system auch die Blut-Hirn-Schranke zu tatsächliche Belastung von Babys/Klein- überwinden. Zum zweiten wird eine di- kindern widerspiegeln, wie der im No- Einfluss von Feinstaub auf die rekte Aufnahme über den Riechnerv in vember 2018 in England erschienene Re- neurologische Entwicklung das Frontalhirn postuliert. Im Gehirn an- view zeigt (23). In ihm wird die Luftschad- gelangt, wirken die Feinstäube und UFP stoffbelastung von Babys und Kleinkin- 2016 wurden die Daten der beiden als oxidativer Stress auf die Nervenzellen; dern untersucht, die in Kinderwägen deutschen Geburtskohortenstudien sie können ferner die Regulierungsfunk- unterschiedlicher Größe und Höhe – als GINIplus and LISAplus publiziert. Im Al- tion des vegetativen Nervensystems ver- Einzel- oder Doppelsitzer – entlang von ter der zum Zeitpunkt der Erhebung 10- ändern. Verkehrsstraßen geschoben werden. Er- bis 15-Jährigen Kinder bzw. Jugendlichen fasst wurden Feinstäube der Größe PM wurde mit einem OR von 1,14 eine positi- Minimierungsstrategien – 10, PM 2,5 sowie UFP’s ≤ 0,10 μm, Koh- ve Assoziation gefunden zwischen einem Verhältnis- und lenstoff und Stickoxide mit dem Ergeb- Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeits- Verhaltensprävention nis, dass die Babys in ihren Kinderwägen defizit-Syndrom (ADHS) und der PM2,5- bis zu 60 % mehr Schadstoffe inhalieren Absorption gemessen am Geburtsort und Kinder und Jugendliche sind die Er- als begleitende Erwachsene. Als Erklä- den Wohnadressen im Alter von 10 und wachsenen von morgen, deshalb sind sie rung dient der Fakt, dass die Auspuff- 15 Jahren; dies entspricht einer 14 %igen besonders schutzwürdig in den sensiblen gase im ersten Meter über der Fahrbahn Erhöhung (23). Phasen ihres Wachstums, sei es intraute- besonders konzentriert sind und damit In der schon zitierten englischen Kin- rin oder organbezogen an Lunge oder im Bereich der Atemzone (ca. 0,85 m) der derwagenstudie (23) wird ebenfalls auf die Gehirn. Was in dieser Zeit an Entwicklung im Kinderwagen sitzenden Babys. Die Bedeutung von Verkehrsemissionen – an versäumt wird, kann später nicht mehr pulmonale Pathophysiologie im Kindes- Feinststaubpartikel gebundene toxische nachgeholt werden. Die WHO-Publikati- alter erklärt sich u. a. zum einen durch Metalle – für mögliche Frontallappen- on spricht deshalb von einer „lebensläng- eine luftschadstoffinduzierte, bronchi- schäden sowie Einschränkungen der Kog lichen Strafe“! Um diese zu vermeiden, ale Schleimhautinflammation als Basis nition und Hirnentwicklung hingewiesen. bedarf es weiterhin konsequenter regu- für ein hyperirritables Bronchialsystem, Die eingangs erwähnte WHO-Studie latorischer Strategien auf nationaler und sodass andere asthmatische Triggerfak- (6) benennt in ihrer Zusammenfassung, internationaler Ebene, kurz- und mittel- toren wirksam werden können; zum an- dass die Schadstoffbelastung der Luft die fristig weltweit einer drastischen Reduk- deren wird die TH2-Immunantwort ak- neurologische Entwicklung der Kinder tion und technischen Innovation bei der tiviert und dadurch die Sensibilisierung beeinflusst, erkennbar an schlechteren Verbrennung fossiler Energieträger im begünstigt als Voraussetzung für eine kognitiven Tests sowie der geistigen und Verkehr, zum Heizen und zur Produkti- mögliche spätere Allergie. (Abb. 6) motorischen Entwicklung. on von Lebensmitteln wie anderer Güter Ferner bewirken Feinstäube und ins- Als pathophysiologische Erklärung und deren Ersatz durch intensive Förde- besondere die UFP auch an der Lunge wird auf zwei mögliche Aufnahmepfade rung emissionsneutraler, regenerativer einen oxidativen Stress, der sich negativ verwiesen: Zum einen scheinen Feinst- Energien. Dies alles würde zudem zur notwendigen CO2-Reduktion beitragen, die laut dem Weltklimarat (IPCC) den globalen Temperaturanstieg auf 1,5° bis 2° C begrenzen könnte. Damit ist Emissi- onsschutz zur Erreichung von „clean air“ auch angewandter Klima- und Gesund- heitsschutz! Schlussfolgerungen • Kurzfristig muss die Einhaltung der EU-Jahresgrenzwerte für Feinstaub und Stickoxide durch geeignete ge- setzgeberische und verkehrslenkende Maßnahmen erzwungen werden. • Im Sinne einer primären Prävention müssen mittelfristig europaweit die von der WHO empfohlenen Richt- werte von 20 µg/m³ für PM 10 und 10 µg/ m³ PM 2,5 als verbindliche Grenzwerte umgesetzt werden. Denn Abb. 6: Einfluss der Luftschadstoffe auf die Lunge die neuesten Studien zeigen auf, dass 52. Jg. (2021) Nr. 3/21 | 161
FORTBILDUNG es dafür keinen unschädlichen, unte- aber eine 5-10-fache Einsparung an der offenen Oberfläche bei der Gülle ren Grenzwert gibt. Entsprechende Folgekosten bringen. lagerung, eine verbesserte Technik der EU-Initiativen sind angelaufen. • Im Sinne der Verhaltensprävention Bodendüngung, den Einsatz von ei- • Die Schadstoffmessung muss vor sollten Kinderwagenspaziergänge an weißarmem Futter und einer individu- Kinderbetreuungseinrichtungen und vielbefahrenen Straßen auf das not- ellen Reduktion des Fleischkonsums. Schulen, die an vielbefahrenen Stra- wendigste reduziert werden, genauso In den kommenden 10 Jahren wird ßen liegen, auf „Kindernasenhöhe“ wie die Mitnahme von Kindern auf Rä- auch aus Klimaschutzgründen eine erfolgen. dern bzw. Radanhängern. Man sollte gezielte Veränderung der landwirt- • Wie schon in der Schweiz erfolgt, also, wenn möglich lieber einen Um- schaftlichen Produktionsweise und ein müssen alle dieselbetriebenen LKW, weg in Kauf nehmen. Rückbau der intensiven Massentier- Busse und Baufahrzeuge, die vor 2014 • Zimmer lüften an vielbefahrenen Stra- haltung erfolgen müssen (7). zugelassen wurden, eine Nachrüstung ßen nur vor und nach dem Berufsver- mit Feinstaubfiltern erhalten, um so kehr. Literatur beim Verfasser die Emission von UFP drastisch zu re- • Das „Wohlfühlheizen“ mit Kaminen duzieren. Denn zu deren Minderung und Öfen ist deutlich zu reduzieren, Korrespondenzanschrift: reicht die SCR-Katalysatortechnik mit bei Inversionswetterlagen komplett zu Dr. med. Thomas Lob-Corzilius, Adblue nicht aus, da diese alleine (das vermeiden. Allergologie, Kinderpneumologie, allerdings effektiv) die Stickoxidemis- • Insbesondere in Städten ist der Sinn Umweltmedizin sion reduziert. Zu dieser Nachrüstung eines fossil betriebenen Individual- 49078 Osnabrück hat der Weltärztebund WMA bereits verkehrs täglich zu hinterfragen und E-Mail: thlob@uminfo.de 2014 aufgerufen. In Deutschland dürf- wenn möglich sind Alternativen wie ten noch 400.000 dieser heavy pollu- ÖPNV oder Rad zu nutzen, wozu na- Interessenkonflikt: ter (man sieht die Partikel nicht, da sie türlich auch das E-Bike gehört. Der Autor erklärt, dass kein kleiner als die Lichtwellenlänge sind) • Ammoniak – Minimierungsstrategien Interessenkonflikt besteht. ungefiltert unterwegs sein, die Nach- sind kurz-, mittel- und längerfristig Red.: Huppertz rüstung aller würde 4 Mrd. € kosten, notwendig z. B. durch Verkleinerung A nzeigen: Han- sisches Verlagskontor GmbH, 23547 Lübeck, Chris Systemen. 162 | 52. Jg. (2021) Nr. 3/21
Sie können auch lesen