Die Namen des Berliner Fernsehturms
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die Namen des Berliner Fernsehturms Berliner Volksmund Der Berliner Volksmund steht im Ruf, mit den Bauwerken seiner Stadt einen respektlosen Umgang zu pflegen. Ob „Kommode“ (Alte Bibliothek am Bebelplatz) oder „Suppenschüssel“ (Granitschale von Christian Gottlieb Cantian vor dem Alten Museum), ob „Präsidenten-Ei“ (Bundespräsidialamt mit ovalem Grundriss im Tiergarten) oder „Dreikäsehoch“ (dreißig Meter hohe, durchlöcherte Dreifigurenplastik in der Spree bei Treptow), um zwei sehr alte und zwei recht neue Spitznamen zu nennen, fast jedes Gebäude und fast jede öffentliche Skulptur in Berlin trägt solch einen spöttischen Zweitnamen. Was tatsächlich originärer Volksmund ist und was dem Volk vielmehr in den Mund gelegt wurde, ist freilich schwer auszumachen. Dass diese Art der Namensgebung, die alles Überhöhte und Respektheischende erst einmal auf Augenhöhe des „kleinen Mannes“ bringt, so gut mit dem Temperament manch eines Alteingesessenen zusammengeht, lässt eine gewisse Echtheit der Namen plausibel erscheinen. Der Berliner ist zunächst einmal von niemandem und gar nichts zu beeindrucken und wenn an der „Berliner Schnauze“ irgend etwas Wahres ist, dann auch an den Spitznamen. Andererseits dürften viele der spöttischen Bezeichnungen allein von Touristenführern und der einschlägigen Reiseliteratur am Leben gehalten werden, wenn nicht sogar erfunden worden sein. Wie ließe sich leichter eine Stadtführung auflockern, wie einfacher das touristische Publikum beglücken als durch das Zitieren dieser Namen. Was wäre besser geeignet, liebgewonnene Berlin-Klischees zu bestätigen („Zille sein Milljöh“, „Berliner Schnauze“, „Keen Respekt vor jarnüscht“, „frech wie Bolle“ ... ) ? Schließlich haben auch die Berliner Zeitungen und andere lokale Medien die Spitznamen ausgiebig benutzt. Zumal während des für Namensgebungen ohnehin sensiblen Ost-West- Konflikts („SBZ“, „BRD“, „Berlin, Hauptstadt der DDR“ ... ) diente ihre mediale Verwendung auch ideologischen Zwecken. Mit ihnen konnte Volksnähe zum Ausdruck gebracht und zugleich Einfluss auf die Entstehung und Verbreitung missliebiger oder erwünschter Bezeichnungen genommen werden. In westdeutschen Publikationen spielte beim Gebrauch der Spitznamen gleichermaßen die Popularisierung des Bildes vom nicht klein zu kriegenden, nie seinen Humor verlierenden (trotz allem!) und dadurch irgendwie liebenswerten West-Berlin-Insulaners eine im weiteren Sinne politische Rolle. Aber wie auch immer der Einfluss von Tourismus und Medien zu bewerten ist, Ursprung und Verbreitung dieser vor allem mündlich tradierten Beinamen lassen sich überhaupt schlecht ermitteln. Es wäre müßig hier klare Kriterien, Genauigkeit und Vollständigkeit zu suchen, denn schon über die Maßstäbe, z.B. was den eigentlichen Volksmund überhaupt ausmacht, ließe sich endlos theoretisieren.1 Immerhin einige Namen haben zweifellos große Bekanntheit erlangt, auch über Berlin hinaus, wie etwa „Schwangere Auster“ (Kongresshalle), „Gold-Else“ (Victoria auf der Siegessäule), „Langer Lulatsch“ (Funkturm), „Hungerharke“ (Luftbrückendenkmal) oder „Hohler Zahn“ (Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche) und sind in fast jedem Reiseführer wiedergegeben. Manch ein Gebäude kann sich gar mehrerer Spottnamen erfreuen. Für den ehemaligen Palast der Republik und Sitz der Volkskammer der DDR sollen „Palazzo 1 Auch für diese Untersuchung wurden nur einige Quellen ausgewertet, vor allem Berlin- bzw. Reiseliteratur, Literatur zum Fernsehturm und über das Internet zugängliche Quellen. Rundfunk und Fernsehen sind nicht untersucht worden, die Presse nur bezüglich der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel, Berliner Morgenpost, B.Z., BILD, Neues Deutschland und der Berliner Zeitung und zwar – sofern nicht durch Online-Zeitungsarchive recherchierbar - begrenzt auf die Monate um die Fertigstellung des Fernsehturmes 1968 und um seine Einweihung 1969. Seite 1
Prozzo“, „Ballast der Republik“, „Erichs Lampenladen“ und „Erichs Datsche am Kanal“2 im Umlauf gewesen sein. Kein Berliner Bauwerk dürfte aber so viele Namen kennen wie das höchste unter ihnen: Der Fernsehturm in Berlin-Mitte. Bis zur Einweihung des Fernsehturms 1969 Einer der oft zitierten Beinamen des am 3. Oktober 1969 nach vierjähriger Bauzeit eingeweihten Fernsehturms ist „Telespargel“3 (auch „Fernsehspargel“). Es war der bevorzugte Kosename für den Fernsehturm in ost-deutschen Medien. Die Ostberliner sollten durch ihn für „ihren Fernsehturm“ eingenommen werden und er sollte andere, unfreundlichere Bezeichnungen verdrängen.4 Anders als mancherorts behauptet,5 wurde „Telespargel“ aber nicht vom Neuen Deutschland, der Parteizeitung der SED, und wohl auch nicht vom Zentralkomitee der SED erfunden. Das Neue Deutschland hat zumindest bis zur Einweihung des Fernsehturms diesen Namen nicht verwendet. Es versuchte in den Jahren der Entstehung des in unmittelbarer Nachbarschaft zum Alexanderplatz gelegenen Turms vielmehr die Bezeichnung „Riese am Alex“6 (auch „Tele-Riese“ und „der Riese“) durch ständige Wiederholung zu etablieren. Die West-Berliner Zeitung B.Z. machte sich prompt darüber lustig und titulierte den Fernsehturm „einbeiniger Riese“.7 Wenn auch nicht vom Neuen Deutschland oder dem Zentralkomitee der SED erfunden, war „Telespargel“ doch eine DDR-Schöpfung. Die älteste dem Autor bekannte Fundstelle des Spitznamens ist jedenfalls ein Artikel der „Berliner Zeitung“, die in Ost-Berlin verlegt wurde und dem SED-Pressemonopol unterlag.8 In seiner Entstehungsphase wurde der Fernsehturms aber ebenso von der West-Berliner Springer-Presse (Bild, B.Z. und Berliner Morgenpost) „Telespargel“ geheißen.9 Vermutlich sollte die bieder-ungelenke DDR-Sprachkreation aus modernistischer Kurzform „Tele“ und dürrem Gemüse aufs Korn genommen werden. Was die Ost-Berliner Sozialisten als breitentaugliche Koseform betrachteten, die für sie allemal besser klang als andere bissige Spottnamen, erschien den West-Berliner Zeitungen komisch genug, um damit das Bauprojekt lächerlich zu machen. „Telespargel“ wurde von west-deutschen Publikationen (Reiseliteratur zumeist) aber auch wertfrei als der gültige Spitzname für den Fernsehturm angeführt.10 Erst nach der Wende 1989/1990 wurde es üblich, sich von ihm als DDR-Terminus zu distanzieren.11 2 In Anspielung auf Erich Honecker, den Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR. 3 Berliner Zeitung 26.Sept. 1968 S.8; B.Z. 8.Okt. 1968 S.5; B.Z. 22.Okt. 1968 S.5; ND 25.Sept. 1969 S.5 (Anzeige des VEB Industrievertrieb Rundfunk und Fernsehen); Berliner Zeitung 3.Okt. 1969 S.9 (Anzeige des VEB Industrievertrieb Rundfunk und Fernsehen); Berliner Morgenpost 5.Okt. 1969 S.5; BILD 6.Okt. 1969 S.3; Merian 1970 S.57; Berlin Information 1973 S.2; Baedekers 1975, S. 136; AMK 1976 S.67 4 Berliner Zeitung, 1.Okt. 1994 S.24; FAZ, 2.Nov. 1999 S. BS2; Bernau 2000 S. 9; Die Zeit 10/2003; Wieprecht 2007 S.73 5 Müller 1999 S.109/110; FAZ, 9.April 1999 S.9 bzw. Lemke 1998 S.6 6 ND 6.Juli 1968 S.8; ND 5.Sept. 1968 S.2; ND 17.Sept. 1968 S.8; ND 26.Sept. 1968 S.8; ND 3.Okt. 1968 S.8; ND 24.Okt. 1968 S.1; ND 24.Okt. 1968 S.8; ND 24.Okt. 1968 S.8; ND 3.Okt. 1969 S.8; ND 3.Okt. 1969 S.8. Vereinzelt auch die Berliner Zeitung: Berliner Zeitung 24.Okt. 1968 S.1; Berliner Zeitung 4.Okt. 1969 S.1 7 B.Z. 3.Okt. 1969 S.9 8 Berliner Zeitung 26.Sept. 1968 S.8. Der Name „Telespargel“ wäre damit zu der Zeit entstanden als die Außenverkleidung der Turmkugel weitgehend angebracht war und das Lichtkreuz sichtbar wurde. 9 Siehe Fn 3 10 Merian 1970 S.57; Baedekers 1975 S. 136; AMK 1976 S.67; Opprower 1978 S.12; Schwartz 1987 S.146, 155; APA Guide 1988 S. 224; Polyglott 1989/1990 S. 61; Jaath 2003 S. 172 11 Siehe Fn 4 und Fn 5. Im Berlin Baedeker verschwand die in früheren Ausgaben noch verwendete Bezeichnung schon 1987. Vgl. Baedekers 1975 S. 136 und Baedekers 1987 S.151 Seite 2
Und auch heute wird dieser Spitzname noch zitiert, mal neutral mal in Distanzierung, wohingegen andere Titel des Fernsehturms aus der DDR-Presse der sechziger Jahre, wie „Riese am Alex“, wie die Kurzform „Tele-Turm“12 oder die Totalform „der Turm“13 sich nicht verbreiten konnten. Gleiches gilt für den Spottnamen „Ulbrichts Zeigefinger“14, den Springers Berliner Morgenpost einmal als Volksmund auszugeben versuchte. Dass der Fernsehturm manch einen Bürger an einen drohend-mahnenden Zeigefinger des sozialistischen Regimes erinnert haben mag, ändert daran nichts.15 Weitere Namen des Turms Über Ursprung und Verbreitung weiterer Spitznamen des in der DDR amtlich „Fernseh- und UKW Turm der Deutschen Post“16 bzw. „Fernseh- und UKW Turm Berlin“17 und heute vom neuen Besitzer, der Deutschen Telekom AG, technisch „FMT (Fernmeldeturm) 32“18 genannten Bauwerks ist wenig bekannt. „Leuchtturm des Sozialismus“19 klingt deutlich nach DDR-Parole und wenig nach Volksmund. „Pik Walter“20 hingegen implizierte nicht nur für den Fernsehturm sondern auch für das damalige Oberhaupt der DDR, den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, einen ungünstigen Größenvergleich – ein Vergleich mit den höchsten Bergen der Sowjetunion, Pik Lenin und Pik Stalin bzw. ein Vergleich mit eben diesen beiden Staatslenkern. „Ulbrichts Bulettenspieß“21 ist banaler Spott in Anspielung auf die entfernte Ähnlichkeit des Turms mit einem in Berlin beliebten Imbiss. Provokant dagegen waren Spitznamen, die den großtuerischen Stolz der DDR-Sozialisten auf ihr Vorzeigeprojekt aufs Korn nahmen, wie „Protzkeule“22 (auch „Protzstengel“ oder „Imponierkeule“) sowie - angeblich aus dem Arbeitermilieu stammend - „Renommierpimmel“23 (auch „Ulbrichts Renommierpimmel“ oder „Großstadtpimmel“) und - mehr akademisch - „Penis socialisticus“24. Viele andere Spitznamen des Fernsehturms beziehen sich auf das Lichtkreuz, das sich bei Sonnenschein auf der Turmkugel zeigt. Wegen der christlichen Symbolik des Kreuzes entstanden Spottbezeichnungen wie „St. Walter“25 (auch „St. Ulbricht“), „Ulbrichts Kathedrale“26 (auch „Kathedrale des Sozialismus“) und „Ulbrichts Gedächtniskirche“27. 12 Berliner Zeitung 24.Okt. 1968 S.1; ND 3.Okt. 1969 S.8; ND 4.Okt. 1969 S.4; Berliner Zeitung 4.Okt. 1969 S.1 und 2 13 ND 26.Sept. 1968 S.8; ND 3.Okt. 1969 S.8; ND 4.Okt. 1969 S.4 14 Berliner Morgenpost 5.Okt. 1969 S.5 15 Fioretos 2004 S. 12-29 im Gespräch mit dem Dichter Durs Grünbein: „Der Fernsehturm war eine Kraftdemonstration: der Sozialismus hatte genug Muskeln um den Himmel zu erreichen. Man war auf gutem Wege den Äther selbst zu kolonisieren. Der Turm war der Zeigefinger, der sagte: ` Paßt auf, jetzt kommen wir ! ´ (...) Aber der hysterische Zeigefinger erfüllte natürlich auch eine andere Funktion. Er war zugleich eine Warnung und vielleicht eine Drohung: ` Nur in dieser Weise ! ´.“ 16 Berliner Zeitung 26.Sept. 1968 S.8; so auch die Benennung auf DDR-Postkarten. 17 ND 5.Sept. 1968 S.2; ND 3.Okt. 1968 S.8; Ministerium 1969 S.5 und 6; Schwartz 1987 S.155 18 DVD Fernsehturm 1995 19 http://de.wikipedia.org/wiki/DDR-Sprachgebrauch 31.Okt. 2007 20 http://de.wikipedia.org/wiki/DDR-Sprachgebrauch 31.Okt. 2007 21 http://de.wikipedia.org/wiki/DDR-Sprachgebrauch 31.Okt. 2007 22 Berliner Zeitung 31.Jan. 1994 S.30; Berliner Zeitung 1.Okt. 1994 S.24; Lemke 1998 S.6; FAZ 9.April 1999 S.9; FAZ 2.Nov. 1999 S. BS2; Bosetzky 2002 S.69 23 Kardorff 1989 S.254; Lemke 1998 S.6; Eik 1999 S.119; FAZ 2.Nov. 1999 S. BS2; Bosetzky 2002 S.69 24 http://home.fotocommunity.de/gromit/index.php?id=641867&d=5198429 31.Okt. 2007 25 So auf dem Plakat „The East Berliner“ von 1985 in: Berger 2003; Berliner Zeitung 1.Okt. 1994 S.24; Eik 1999 S.119; Müller 1999 S.8, 107, 109; FAZ 9.April 1999 S.9; FAZ 2.Okt. 1999 S. BS1; Berliner Zeitung 2.Okt. 1999 S.M4; FAZ 2.Nov. 1999 S. BS2 26 Berliner Zeitung 2.Okt. 1999 S.M4; http://www.berlincompact.de/Geschichte1989/Textinfo.htm 2001; http://www.rbb-online.de/_/themen/beitrag_jsp/key=teaser_1021188.html 14.Sept. 2004; http://www.rbb- online.de/_/themen/beitrag_jsp/key=teaser_1137816.html 30.Sept. 2004 27 http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Fernsehturm 31.Okt. 2007 Seite 3
In der Regierungszeit des atheistischen Staatsoberhaupts Walter Ulbricht, auf den sich der Spott der Namen richtete, wurde der Fernsehturm gebaut. Ulbricht war an der Entscheidung über der Standort des Turms beteiligt28 und er weihte ihn am 3. Oktober 1969 feierlich ein. Die Bezeichnung „Ulbrichts Kathedrale“ greift angeblich eine Äußerung von ihm auf, dass es in der DDR lieber weniger Kirchen als vielmehr nur noch Kathedralen des Volkes geben solle.29 „Ulbrichts Gedächtniskirche“ soll nach seinem Tod aufgekommen sein und nimmt ironisch Anleihe beim Namen der prominenten, an preußische Größe erinnernden Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche im Westen Berlins (vielleicht auch beim Namen der weit weniger bekannten Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Hansa-Viertel). Ein weiterer auf das Lichtkreuz Bezug nehmender Spitzname ist „Gottesrakete“30. Tatsächlich lassen sich in der Gestalt des Fernsehturms Planeten- und Raketenformen erkennen. Schon einem frühen Entwurf für einen Fernsehturm in Ost-Berlin, dessen Einfluss auf die Gestaltung des realisierten Turms allerdings umstritten ist, kam es auf diese Ähnlichkeit an. Der Entwurf eines „Turms der Signale“31 von Hermann Henselmann aus dem Jahre 1958 war der erste Vorschlag, einen Fernsehturm im historischen Zentrum von Berlin auf der Achse vom Alexander- zum Schloßplatz zu errichten und entsprach dem heutigen Fernsehturm unter anderem durch eine schlichte Kugel in über 200 Meter Höhe. „Turm der Signale“ war eine Anspielung sowohl an den funktechnischen Zweck des Bauwerks als auch auf die erste Strophe der „Internationale“: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht !“ Henselmann wollte mit seinem denkmalartig konzipierten Fernsehturm auch den Gedanken eines weiteren Arbeiterliedes verkörpern: „Brüder, zu Sonne, zum Lichte empor“, und er interpretierte diese Freiheitsmetaphorik auch in Richtung Raumfahrt: „Da unsere Generation den Griff in den Weltraum wagt, wollte ich diesem himmelstürmenden Unternehmen des Menschen, das sich für mich mit den Idealen von Marx und Engels verbindet, gleichzeitig ein Denkmal setzen und durch die Architektur ausdrücken.“32 Vor allem kann man sich angesichts des Entwurfs von Henselmann wie des gebauten Fernsehturms an die kugelförmige „Sputnik 1“ erinnert fühlen, mit welcher der Sowjetunion am 4. Oktober 1957 im ideologisch aufgeladenen „Wettlauf ins All“ ein Überraschungserfolg gelungen war. Planung und Bau des Fernsehturms fielen - zumal im damals raumfahrttechnisch überlegenen Osten - in eine Phase großer Raumfahrtseuphorie und schon 1965 schrieb das Neue Deutschland: „In 250 Meter Höhe wird sie [die Kugel des Fernsehturms, Anm. U.D.] hell über der Stadt `schweben´, und die erfinderischen Hauptstädter können ihr neues Wahrzeichen dann `Spree-Sputnik´ [Hervorhebung U.D.] oder ähnlich liebevoll titulieren.“33 Schon dieser älteste Spitzname für den Fernsehturm, verwendet noch bevor mit seinem Bau überhaupt begonnen war, zielte also bereits darauf ab, den Berliner Volksmund für einen bestimmten Namen zu gewinnen. 28 Müller 1999 S.74: „... legte das Politbüro dann am 22. September 1964 den heutigen Standort des Berliner Fernsehturms endgültig fest. Mit welcher Selbstverständlichkeit Walter Ulbricht diese städtebauliche Entscheidung traf, die das Stadtbild dauerhaft verändern würde und einen Großteil der Berliner Altstadt schlicht ausradierte, überlieferte Hans Gericke, der als Vertreter des Magistrats an der Politbürositzung teilnahm, in einer Anekdote: Ulbricht betrat den Raum, in dem die Modelle der DBA und des Stadtbauamtes aufgebaut waren, ging ohne jede Diskussion auf das der Bauakademie zu und entschied: `Nu, Genossen, da sieht man´s ganz genau: Da gehört er hin.´ “. 29 DVD Fernsehturm 1995 30 Bernau 2000 S. 21 31 In seltenen Fällen wurde auch der realisierte Fernsehturm so genannt, z.B. Berliner Zeitung 2.Okt. 1999 S. M4, Hoff 2002 S.100 32 Henselmann im Jahre 1960 zitiert nach Müller 1999 S.56. Auch zu den übrigen Ausführungen zum Turm der Signale, vgl. Müller 1999 S.54 ff. 33 ND 13.Febr. 1965 S.8 Seite 4
Namen des Lichtkreuzes Die Reaktion der regierenden Kommunisten auf die aus ihrer Sicht ärgerliche Verunzierung des neuen „Wahrzeichens der Hauptstadt der DDR“34 durch das weithin leuchtende Kreuz wurde Gegenstand verschiedenster Mutmaßungen und Legenden. So führte einer der allesamt nicht zur Einweihungsfeier geladenen Architekten des Turms ihre Nichtberücksichtigung darauf zurück, dass man sie für das Lichtkreuz verantwortlich gemacht habe.35 Andere Quellen behaupten, dass sogar Absicht vermutet wurde. Die Architekten seien deshalb von der Staatssicherheit verhört oder gar von Ulbricht persönlich zur Rede gestellt worden.36 Auch habe man zur Vermeidung der Reflexion überlegt, die Kugeloberfläche stumpf zu schleifen, mit Gold zu beschichten oder anderweitig einzufärben.37 Eine weitere Legende besagt, dass ein DDR-Regierungsmitglied eine Diskussion über das Kreuz mit der Behauptung beendet habe (bzw. in anderer Version dass sich einer der Architekten mit ihr verteidigt habe), es handele sich gar nicht um ein Kreuz sondern um ein „Plus für den Sozialismus“38. Diese Bezeichnung soll sogar DDR- Propaganda gewesen und von überzeugten DDR-Bürgern verwendet worden sein.39 Über das Lichtkreuz und die damit einhergehenden Gerüchte schreibt Peter Müller in dem von ihm verfassten Standardwerk zum Fernsehturm:40 „Ende Oktober [1968 Anmerkung U.D.] war die Kugel vollendet, und bei Sonnenschein leuchtete erstmals das das berühmt- berüchtigte sphärische Lichtkreuz auf, das die Popularisierung des Bauwerks in eine ungeahnte Richtung treiben sollte. Dieses Kreuz (...) war ein zufälliges und nicht geplantes `Nebenprodukt´. Grund dafür sind die polierten Edelstahlpyramiden, die das Sonnenlicht nur zum Teil reflektieren, denn während eine von der Sonne beschienene Pyramidenseite hell erstrahlt, verschattet sie zugleich den gegenüberliegenden Teil derselben Pyramide. Dieses bizarre Spiel von Licht und Schatten verschaffte dem Turm eine Reihe unerwarteter Spitznahmen, von denen der in Anspielung auf Walter Ulbricht geprägte Titel `Sankt Walter´ noch der schmeichelhafteste war. Das Lichtkreuz gab aber vor allem der bundesdeutschen Presse, die den Turmbau mit großem Unbehagen beobachtet hatte, neuen Anlass, die Ost- Berliner Führung auf Kosten ihres eigenen Prestigeobjekts zu verhöhnen. Das Lichtkreuz drohte nun nach Fertigstellung der Kugel, die über Jahre aufgebaute Stilisierung des Turms zum sozialistischen Stadt- und Staatssymbol zu unterlaufen, und es kursiert noch heute das Gerücht, dass die SED-Führung über das Lichtkreuz und den folgenden Spott so erbost gewesen sei, dass sie gar mit dem Gedanken gespielt hätte, den Turm wieder abreißen zu lassen. Ob es solche radikalen Vorschläge wirklich gegeben hat, darf indes bezweifelt werden. In den bisher ausgewerteten Dokumenten ist kein entsprechender Hinweis darauf aufgetaucht. Der im VEB Ipro [das mit der Planung und Projektierung des Fernsehturms beauftragte Büro, Anm. U.D.] an wichtiger Stelle positionierte Informelle Mitarbeiter des MfS, IM `John´, berichtete seinen Verbindungsoffizieren am 25. Juli 1969 vielmehr: `BMK Kohle/Energie – BT Industrieprojektierung Berlin - erstellt gegenwärtig die Reinigungstechnologie für die 34 So die offizielle Apostrophierung des Fernsehturms in der DDR, z.B. Ministerium 1969. Ähnlich Berliner Zeitung 26.Sept. 1968 S.8, Berliner Zeitung 6.Okt. 1968 S.16, ND 25.Sept. 1969 S.5 (Anzeige des VEB Industrievertrieb Rundfunk und Fernsehen); Berliner Zeitung, Beilage „Treffen Junger Sozialisten“ 28.Sept. 1969 S.13 (Anzeige der Berlin Information), Berliner Zeitung 3.Okt. 1969 S.9 (Anzeige des VEB Industrievertrieb Rundfunk und Fernsehen) 35 Müller 1999 S.132; Berliner Zeitung 1.Okt. 1994 S.24; Die Zeit 10/2003 36 Berliner Zeitung 31.Jan. 1994 S.30; http://www.rbb-online.de/_/themen/beitrag_jsp/key=teaser_1137816.html 30.Sept. 2004; http://reisen.ciao.de/Fernsehturm_Berlin__Test_3010302 6.Okt. 2005; http://grabenweger.at/gisi/archiv/2006/02/05/die-rache-des-papstes/ 5.Feb. 2006; http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Fernsehturm 31.Okt. 2007 37 DVD Fernsehturm 1995; http://www.rbb-online.de/_/themen/beitrag_jsp/key=teaser_1137816.html 30.Sept. 2004 38 Schwartz 1987 S.156; DVD Fernsehturm 1995; Berliner Zeitung 2.Okt. 1999 S.M4. Die Legenden sind erwähnt in: http://grabenweger.at/gisi/archiv/2006/02/05/die-rache-des-papstes/ 5.Febr. 2006; http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Fernsehturm 31.Okt. 2007 39 Schwartz 1987 S.156; DVD Fernsehturm 1995; Berliner Zeitung 2.Okt. 1999 S.M4 40 Müller 1999 S.107-110 Seite 5
Kugelaußenhaut. Nach der vorgenommenen Reinigung wird die Kreuzbildung auf der Kugel weitaus stärker wirksam werden. Z. Zt. befindet sich noch eine Schutzschicht auf dem Metall. Der IM schätzt ein, dass unter Hinzuziehung einiger Experten über Lichtbrechung die Kreuzbildung beseitigt werden könnte. Die entsprechenden praktischen Maßnahmen könnten gemeinsam mit der Reinigung der Kugel erfolgen, so dass eine Bevölkerungsdiskussion weitgehend ausgeschlossen werden könnte. Da der Projektant jedoch keinen entsprechenden Auftrag hat, werden keine entsprechenden Maßnahmen eingeleitet´. Das frevlerische Lichtkreuz blieb erhalten, und auch das MfS scheint der Angelegenheit nicht weiter nachgegangen zu sein. (...) So blieb dem `gesellschaftlichen Auftraggeber´ nichts weiter übrig, als sich mit dem Gegebenen zu arrangieren....“ Zu diesem Arrangieren gehört wohl auch, dass die DDR-Administration das unerwünschte Lichtphänomen ignorierte und soweit möglich öffentlicher Zurschaustellung entzog. In einer 2003 erschienenen, umfangreichen Sammlung grafischer Darstellungen des Fernsehturms gibt nicht eine der zahlreichen DDR-Grafiken das Lichtkreuz wieder41 - im Gegensatz zur einzigen dort enthaltenen Grafik west-deutscher Provenienz.42 In der Bundesrepublik hingegen wurde der Fernsehturm als Ganzes weitgehend ignoriert. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau berichteten nicht einmal über seine Einweihung.43 Entsprechend resümieren die Autoren des Grafik-Sammelbandes: Der Turm war „in der Realität nicht zu übersehen, medial jedoch praktisch nicht existent.“44 Die in ihrem Buch enthaltene Grafik aus der Bundesrepublik sei „das einzige oder zumindest eines der sehr seltenen Plakate aus West-Deutschland, die den Fernsehturm abbilden.“45 Mangelnde Kenntnis des Fernsehturms bezeugte sich auch im Irrtum manch eines West-Bürgers, das Lichtphänomen auf der Turmkugel wäre durch ein Kirchenkreuz (reflektierend oder spiegelnd von der Spitze des Berliner Doms oder der Marienkirche) verursacht.46 Vor dem Hintergrund dieser Nichtbeachtung des Fernsehturms im Westen erscheint allerdings auch die Behauptung von Peter Müller zweifelhaft, dass das Lichtkreuz der bundesdeutschen Presse Anlass gewesen wäre, die Ost-Berliner Führung zu verhöhnen. Jedenfalls auf Grundlage der dem Autor dieses Textes bekannten Quellen lässt sich das nicht belegen. Dass das Lichtkreuz Spott und Häme hervorrief und die Entstehung zahlreicher Spitznamen beförderte, lag nicht nur in der Ironie begründet, dass sich das Symbol der Kirchen auf dem Vorzeigebau eines dezidiert atheistischen Staatswesens zeigte. Die Reaktionen wurden auch dadurch provoziert, dass gerade dieses Bauwerk die Herrschaft einer radikal neuen, aus geschichtlichem Fortschritt geborenen Macht verkörpern sollte, der alle anderen gesellschaftlichen Kräfte, nicht zuletzt die Kirchen, sich unterzuordnen oder zu weichen hätten. Nachdem durch die Jahrhunderte der Berliner Geschichte ausnahmslos Kirchtürme das höchsten Bauwerk gestellt und die Silhouette der Stadt geprägt hatten,47 übertrumpfte 41 Auf manchen fotografischen Fernsehturm-Postkarten der DDR ist das Lichtkreuz dagegen durchaus zu sehen. 42 Eine weitere dem Autor bekannte Fernsehturm-Grafik westdeutscher Herkunft zeigt ebenfalls das Lichtkreuz: Informationszentrum Berlin 1984 S.117 43 Über die Einweihung berichtete unter den west-deutschen überregionalen Zeitungen allein die BILD-Zeitung. Überschrift: „Nur Funktionäre duften auf den `Tele-Spargel´ “. BILD 6.Okt. 1969 44 Berger 2003 (ohne Seitenzahl, da das Buch keine Seitenzahlen hat) 45 Siehe vorherige Fn 46 So lange Zeit der Vater des Autors, aber auch http://reisen.ciao.de/Fernsehturm_Berlin__Test_3010302 6.Okt. 2005. 47 Auf das gesamte Stadtgebiet bezogen hielt bis zum Bau des Fernsehturms der 1926 auf dem Messegelände errichtete Funkturm den Berliner Höhenrekord. Der „Lange Lulatsch“ hatte wegen seiner Lage am Rande der Stadt ihr Bild aber nicht geprägt. Dennoch stand er in gewisser Konkurrenz zum Fernsehturm und als dieser gebaut war blieb dem Funkturm nur der fragwürdige Trost des im Höhenwettlauf Unterlegenen: „Es dauerte ein halbes Jahrzehnt, bis sich ein noch Größerer in die Berliner Silhouette schob: 1969 war der `Fernsehspargel´ am Alexanderplatz in Ost-Berlin fertig, .... Aber der Größte ? Bleibt das nicht `der Funkturm´ ? Zu seinem 50. Geburtstag am 3. September 1967 jedenfalls könnte man das Lied anstimmen: `Was kann der Funkturm denn Seite 6
nun der Fernsehturm alle bisherigen städtebaulichen Größen. Vor allem stellte er die in seiner direkten Umgebung befindlichen Kirchen „in den Schatten“, nämlich die beiden ältesten Kirchen der Stadt, Marienkirche und Nikolaikirche, sowie den Berliner Dom. Außerdem wurde im Zuge der Umgestaltung des Areals um den Fernsehturm die im Krieg schwer beschädigte bürgerliche Altstadt zwischen Schloss und Alexanderplatz unwiederbringlich vernichtet, mitsamt einigen im Umkreis der Marienkirche gelegenen Zeugnissen christlicher Stadtgeschichte (wie die Bischof- und die Heilig-Geist-Straße, das Martin-Luther-Denkmal48 und das Heinrich-Grüber-Haus49). Nur die Marienkirche selbst blieb erhalten, wenn auch in der neuen Umgebung moderner Repräsentationsbauten wie ein museales Relikt. Vor allem im Verhältnis zum benachbarten Fernsehturm, aber auch durch Aufschüttung und Erhöhung der sie umgebenden Freifläche wirkte sie quasi herabgesetzt und etwas verloren an den Rand der neuen Achse Fernsehturm - Marx-Engels-Denkmal - Palast der Republik gerückt.50 Eine neue städtebauliche „Höhendominante“ zu errichten, war erklärtes Ziel der Planungen der DDR-Regierung. In ihr sollte die Ablösung älterer („feudaler“ und „bürgerlicher“) Gesellschaftsformen durch den Sozialismus zum Ausdruck kommen. Zunächst war zwar nach sowjetischem Vorbild ein Regierungsbau als „Zentrales Gebäude“ für diese Dominante vorgesehen, weil ein bloß technischer Zweckbau für den beabsichtigten Symbolgehalt nicht geeignet schien. Aber aufgrund unvorhergesehener Umstände fiel diese Rolle schließlich doch dem Fernsehturm zu. Durch seine Höhe und zentrale Stellung in der Stadtmitte hatte er zweifellos die geforderte Dominanz und es wurde wohl für ausreichend erachtet, dass er allein dank seiner Erbauer und Eigner als Herrschaftszeichen des Sozialismus wirken würde. Im Fernsehturm sollte die Suprematie des Arbeiter- und Bauernstaates unverstellt sichtbar werden, wie es auch der DDR-Architekturkritiker Bruno Flierl festhielt, obgleich er - dialektisch, aber wenig überzeugend - den Befund zugleich negierte: „Von allen Formen städtebaulich-architektonischer Dominanz ist keine so geeignet, gesellschaftliche Bedeutungen und damit Wertorientierungen strukturell ähnlich sichtbar zu machen wie die bauliche Dominante (...) - zumal wenn es darum geht, das eigene gesellschaftliche Wertsystem gegen das anderer gesellschaftlicher Kräfte oder Gesellschaftsordnungen der Gegenwart und der Vergangenheit zusetzten: selbstbewusst und zukunftsorientiert. [...] Als `Ersatzdominante´ für das zuvor geplante Zentrale Gebäude als Sitz und Symbol der sozialistischen Staatsmacht verkörpert der Fernsehturm die `aufgehobene´ Geschichte der [...] immer wieder unternommenen Bestrebungen, in Berlin eine klassenherrliche Höhendominante zu errichten. In diesem Sinne ist er die Verwirklichung und zugleich die Überwindung der unter klassengesellschaftlichen Bedingungen lebendige Vorstellung, gesellschaftliche Verhältnisse - Ideen und Macht - durch bauliche Höhe zu repräsentieren.“51 dafür, dass er so schön ist, was kann der Funkturm denn dafür, dass man ihn liebt? ... Man soll doch froh sein, dass es so was Schönes gibt´ “ AMK 1976 S. 67. Gelegentlich wurde der Fernsehturm mit dem Funkturm verwechselt und irrtümlich „Langer Lulatsch“ bezeichnet, so z.B. FAZ 2.Okt. 1999 S. BS1. Zur Geschichte der Berliner „Höhendominanten“ siehe Flierl 1986. 48 Von Martin Paul Otto entworfen und Robert Toberenz vollendet. 1895 eingeweiht. Es war mit seinem 250 Quadratmeter großen Granitunterbau, dem zentralen Lutherstandbild und bronzenen Figuren von Philipp Melanchton, Johannes Bugenhagen, Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen das zentrale Ensemble des ehemals vor der Marienkirche gelegenen Neuen Marktes. Die Bronzefiguren wurden im 2. Weltkrieg eingeschmolzen. Das steinerne Lutherdenkmal steht seit 1989 an der nördlichen Seiten der Marienkirche, nachdem es für zwei Jahrzehnte auf das Gelände der Stephanus-Stiftung am Weissen See „verbannt“ war. 49 Das nach Probst Heinrich Grüber benannte Haus der Evangelischen Kirche, das an der süd-östlichen Seite neben der Marienkirche den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden hatte und bis zu seinem Abriss u.a. die Bibliothek des Konsistoriums der Evangelischen Kirche für die Gemeindepfarrer von Berlin-Brandenburg beherbergte. Heinrich Grüber war Mitglied der Bekennenden Kirche während des Nationalsozialismus. Er half verfolgten Juden und war Häftling im KZ Sachsenhausen. Nach dem Krieg war er Probst der Marien- und der Nikolaikirche sowie Bevollmächtigter der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Regierung der DDR. 50 Positivere Sichtweisen: „Er [der Fernsehturm, Anm. U.D] übertrumpft sie [die historischen Türme und Kuppeln in seiner Umgebung, Anm. U.D.] aber er stellt sie auch kontrastreich aus im offenen Raum, der sie umgibt. Daraus erlangen die historischen Gebäude, die Marienkirche, das Rathaus und der Dom, eine räumliche Wirkung, die sie früher so nicht hatten.“ Flierl 1986 S.41 Oder: „Eine sorgsame Stadtplanung hat sie [die Marienkirche, Anm. U.D.] in die Vielfalt des modernen Stadtzentrums einbezogen.“ Tosetti 1974 S.38 51 Flierl 1986 S. 11 und 41 Seite 7
Vor diesem Hintergrund konnte nicht überraschen, dass sich höhnisch-spöttische Spitznamen für das Lichtkreuz bildeten als es sich auf dem „unübersehbaren Symbol des ersten sozialistischen Staates deutscher Nation“52 zeigte. "Strafe Gottes“53 (auch „Rache des lieben Gottes“), „Rache des Papstes“54 (auch „Rache des Vatikans“) und „Rache der Marienkirche“55 wurde es genannt.56 Weitgehend vergessen ist heute der Spottname „Rache des Dibelius“57, der auf den im Jahr vor der Fertigstellung des Fernsehturms gestorbenen evangelischen Bischof von Berlin, Otto Dibelius, Bezug nimmt. Der nicht zuletzt wegen seiner kompromisslos ablehnenden Haltung gegenüber dem sozialistischen Staat umstrittene58 aber auch populäre Bischof war permanentes Ziel ost-deutscher Schmähpropaganda und ihm wurde, nachdem er schon seit 1957 nicht mehr in die Bezirke der DDR reisen durfte, mit dem Bau der Berliner Mauer auch der Zugang nach Ost-Berlin und damit zu seiner Bischofskirche und Predigtstätte, der Marienkirche, endgültig versagt. Der Bischof war zu seinen Lebzeiten einer der prominentesten Gegenspieler der DDR überhaupt und wegen seiner kirchlichen Einflussmöglichkeiten im Hoheitsbereich der DDR von den Machthabern dort entsprechend „geschätzt“. Falls sich die SED tatsächlich wegen des Lichtkreuzes reizbar gezeigt haben sollte, wäre der Spitzname „Rache des Dibelius“ jedenfalls ein geeigneter Auslöser gewesen. Der schon für 1973 belegte59 aber für das protestantische (jedenfalls nicht sonderlich katholische) Berlin wenig beziehungsreiche Spitzname „Rache des Papstes“ erscheint demgegenüber wie eine nachträgliche Simplifizierung für das touristische Publikum. Fernsehturm heute Die zahlreichen Spitznamen des Fernsehturms haben heute mehr denn je nur noch anekdotische Bedeutung. Der Hintergrund ihrer Entstehung, die DDR, ist Vergangenheit und der Fernsehturm steht mittlerweile für ganz andere Seiten Berlins. Vor allem die Club- und Lounge-Szene von Berlin-Mitte hat sich seiner prägnanten Gestalt bemächtigt und benutzt ihn als Logo, auf Party-Flyern und Plakaten: Mal in Richtung futuristischer Techno-Welten verfremdet, mal dekorativ in psychedelische Formen eingebettet, mal mit seinem an DDR, Diskokugel oder Raumschiff Enterprise erinnernden Retro-Chick spielend.60 Wie von seinen sozialistischen Urhebern befürchtet zeigt er seiner Natur als Zweckbau entsprechend ein große symbolische Wandlungsfähigkeit. In dieser Hinsicht vergleichbar mit dem Olympiastadion und dem Flughafen Tempelhof, zwei anderen zweckarchitektonischen Hinterlassenschaften einer deutschen totalitären Diktatur in Berlin, ist der Fernsehturm auch in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit wohlakzeptiert. Neben den eher offiziellen Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt, dem Brandenburger Tor und dem Reichstag, ist der 52 Brandenburg 1970 S.11 53 FAZ 2.Okt. 1999 S. BS1; Die Zeit 10/2003 54 Troll 1973 S.19; Opprower 1978 S.12; Lemke 1998 S.6; FAZ 9.April 1999 S. 9.; Jaath 2003 S. 172; Die Zeit 10/2003. „Rache des Vatikans“ ist nur einmal belegt, in http://de.wikipedia.org/wiki/DDR-Sprachgebrauch 31.Okt. 2007 55 Bernau 2000 S. 21; http://www.seniorentreff.de/diskussion/archiv1/a1600.html 7.Okt. 2003; http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Berliner_Fernsehturm 31.Okt. 2007 56 Kein Spitzname sondern einmalige Überschrift in der „Zeit“ vom 27.Februar 2003 zu einen Artikel über die Namen des Lichtkreuzes ist „Kreuz des Ostens“. 57 Der Spitzname ist dem Autor aus familiärer Überlieferung bekannt (Der Autor ist Urenkel des Bischofs). Aber auch Leserbriefschreiber Klaus Junack in: Die Zeit 12/2003 und http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Fernsehturm 31.Okt. 2007 58 Daneben war sein Verhalten vor allem vor und zu Beginn des Nationalsozialismus Anlass für Auseinandersetzungen, die sich die DDR-Propaganda für ihre Zwecke nutzbar machte. Zwar frei von dem Verdacht dem Nationalsozialismus nahegestanden zu haben, war doch die „deutsch-nationale“ Einstellung des 1880 geborenen Bischofs nicht frei von antirepublikanischen wie antisemitischen Elementen und am „Tag von Potsdam“ (31. März 1933) hielt er den Gottesdienst für die evangelischen Reichstagsabgeordneten mit einer national und auf Aufbruch gestimmten (aber die staatlichen Machthaber auf ihre Grenzen verweisenden) Predigt. Ab 1934 war der Bischof im „Kirchenkampf“ auf der Seite der Bekennenden Kirche engagiert und von persönlichen Konsequenzen betroffen (Amtsverlust, Gerichtsverfahren, Auftrittsverbote u.a.). 59 Troll 1973 S.19 60 Berger 2003 Seite 8
Fernsehturm sogar zum „geheimen“ Wahrzeichen des neuen, jungen Berlins avanciert. Ob aus diesen neuen Zusammenhängen auch neue Spitznamen erwachsen werden, ist allerdings fraglich. Die alten Namen könnten sich in ihren anekdotischen Verpackungen und wegen der touristischen Prominenz des Fernsehturms als zählebig erweisen und das Aufkommen neuer Rufnamen erschweren. Aber wer braucht derer Namen ? Im Berliner Alltag wird der Fernsehturm „Fernsehturm“ genannt und dabei könnte es aus Berliner Sicht wohl gerne auch bleiben. Berlin, 8. Dezember 2007 Ulrich Dibelius Der Autor ist dankbar für Hinweise den Gegenstand dieses Artikels betreffend. In den Fußnoten zu den in fett hervorgehoben Spitznamen sind die jeweils ältesten dem Autor bekannten Fundstellen angegeben. Vor allem über Hinweise auf ältere Fundstellen würde sich der Autor freuen. Der Autor ist per E-Mail unter ulrich.dibelius@freenet.de zu erreichen. Seite 9
Literatur: APA Guide Berlin, Berlin (West) 1988 AMK Berlin Ausstellungs-Messe-Kongress-GmbH (Hrsg.): Wie man ein Wahrzeichen wird. 1926 bis heute. Eine Chronik des Berliner Funkturms, Berlin (West) 1976 Baedekers Berlin, 3. Aufl., Freiburg/Br. 1975 Baedekers Berlin, 5. Aufl., Freiburg/Br. 1987 Berger, Dirk / Müller, Ingo / Siewert, Sandra: Von der Partei zur Party. 1969 – 2003. Der Berliner Fernsehturm als grafisches Symbol, Berlin 2003 Berlin Information (Hrsg.): Der Fernsehturm, Berlin (Ost) 1973 Bernau, Nikolaus: Fernsehturm. Alexanderplatz. Berlin. In: Die Neuen Architekturführer Nr.20: Berlin 2000 Bosetzky, Horst / Eik, Jan: Das Berlin Lexikon, München 2002 Brandenburg, Ingrid / Harnisch, Rudolf / Kubiziel, Alfred: Fernsehturm Berlin, Berlin (Ost) 1970 DVD Fernsehturm-Geschichten, produziert von Berliner Presseagentur und Ad-Arta Videoproduktion, Berlin 1995 Eik, Jan: Luise Lemke. Im Spitznamen des Volkes. Berichte und Rezensionen. In: Berliner Monatsschrift Heft 7, Berlin 1999, S.119 Flierl, Bruno: Vom Münzturm zum Fernsehturm. Höhendominanten in der Stadtplanung von Berlin. In: Klingenburg, Karl-Heinz (Hrsg.): Studien zur Berliner Kunstgeschichte, Leipzig 1986, S. 11ff. Fioretos, Aris: Die Eroberung Berlins. Gespräch mit Durs Grünbein. In: Akzente, 2004, Nr. 1, S. 12 ff. Hoff, Sigrid: Berlins unbekannte Kulturdenkmäler, Berlin 2002 Informationszentrum Berlin (Hrsg.): Berlin für junge Leute, 4. Aufl., Berlin (West) 1984 Jaath, Kristine: Hauptstadt Berlin, 4. Aufl., Bielefeld 2003 Kardorff, Ursula von: Richtig Reisen. Berlin, 7. Aufl., Köln 1989 Lemke, Luise: Im Spitznamen des Volkes, Berlin 1998 Merian Berlin, Hamburg 1970 Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Das neue Wahrzeichen der Hauptstadt der DDR, Berlin (Ost) 1969 Müller, Peter: Symbol mit Aussicht. Die Geschichte des Berliner Fernsehturms, Berlin 1999 Opprower, Rolf / Cürlis Peter: Im Spitznamen des Volkes. Berliner Bauten mit Spreewasser getauft, Berlin (West) 1978 Polyglott Berlin, 19. Aufl., München 1989/1990 Schwartz, Horst: Berlin. Kennen und Lieben. Von der Avus bis zum Alex – Ansichten einer Doppelstadt, Lübeck 1987 Tosetti, Marianne: St. Marien zu Berlin. Aus 700 Jahren Kirchen-Geschichte, 2. Aufl., Berlin (Ost) 1974 Troll, Bernhard: Dufte, unser Berlin. Eine illustrierte Stadtrundfahrt mit Berliner Spitznamen, Berlin (West) 1973 Wieprecht, Volker / Skuppin, Robert: Berliner populäre Irrtümer. Ein Lexikon, Berlin 2007 Seite 10
Sie können auch lesen