Die queere Perspektive auf die herrschende heteronormative Ordnung. Herausforderungen für die Soziale Arbeit

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Die queere Perspektive auf die
herrschende heteronormative
Ordnung. Herausforderungen
für die Soziale Arbeit

Finn Kristopher Hornhues

veröffentlicht unter den socialnet Materialien
Publikationsdatum: 29.10.2020
URL: https://www.socialnet.de/materialien/29129.php
FH Bielefeld
                                   University of Applied Sciences
                                     Fachbereich Sozialwesen
                                Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit

                                            Bachelorarbeit

 Die queere Perspektive auf die herrschende heteronormati-
  ve Ordnung. Herausforderungen für die Soziale Arbeit.

vorgelegt von: Finn Kristopher Hornhues

Erstbetreuung:   Prof. Dr. phil. Melanie Plößer
Zweitbetreuung: Prof. Dr. phil. Claudia Rademacher

Bielefeld, den 12.06.2020
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................................................................ 3
2 Heteronormative Ordnung ................................................................................................................ 7
   2.1 Historische Perspektive auf die binäre Geschlechterordnung und Heteronormativität ................. 8
   2.2 Biologisch-medizinische Sicht auf Zweigeschlechtlichkeit und ihre Entstehung ....................... 12
   2.3 Effekte der heteronormativen Ordnung ....................................................................................... 16
3 Queere Perspektive........................................................................................................................... 20
   3.1 Historische Entstehung der queeren Perspektive......................................................................... 21
   3.2 Biologisch-medizinischer Fokus der queeren Perspektive .......................................................... 27
   3.3 Rechtliche Fortschritte für queere Menschen .............................................................................. 30
4 Einfluss auf und durch Soziale Arbeit ............................................................................................ 37
   4.1 Reproduktion von Heteronormativität in Sozialer Arbeit ........................................................... 38
   4.2 Unterstützung queerer Menschen durch Kritische Soziale Arbeit .............................................. 39
5 Fazit ................................................................................................................................................... 42
6 Literatur- und Quellenverzeichnis.................................................................................................. 47
7 Anhang .............................................................................................................................................. 51

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1 Einleitung

Am 11.06.2020 wurde das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG)
verabschiedet (vgl. Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidisk-
riminierung (Hrsg.) 2020, S. 532). Es umfasst ein Diskriminierungsverbot auf-
grund „des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen und antise-
mitischen Zuschreibung, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung,
einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache, der sexuellen und
geschlechtlichen Identität sowie des sozialen Status“ (LADG §2) im öffentlich-
rechtlichen Handeln. Hier finden sich zwei Eigenschaften, deren zentrale Wich-
tigkeit in der kommenden Arbeit herausgestellt wird. Die Diskriminierung von
sexuellen Identitäten wird verboten, was im Grundgesetz (GG) Art. 3 Abs. 3 nicht
enthalten ist, somit bezieht sich das LADG direkt auf das öffentlich-rechtliche
Handeln und schließt bisher existente juristische Schutzlücken. Kritiker*innen1
dieses Gesetzes befürchten jedoch einen „Generalverdacht“, dem die Behörden
unterstellt würden; ein zitierter Politiker spricht in diesem Zusammenhang von
dem „‚Generalverdacht, grundsätzlich und strukturell zu diskriminieren‘“ (dpa
2020, o.S.) (vgl. dpa 2020, o.S.). In der vorliegenden Arbeit wird herausgestellt,
dass Heteronormativität grundsätzlich und strukturell Diskriminierungen begüns-
tigt und sie sogar legitimiert.
Die Verankerung von der Heterosexualität und einer binärer Geschlechterordnung
und Geschlechtertrennung als Norm, lässt sich auch in den Kritiken und der Ge-
genwehr erkennen die gegenüber der Vermittlung alternativer Familienordnungen
in der Schulbildung herrscht. Die Verteidigung essentialistischer Vorstellungen
der herrschenden heteronormativen Ordnung richtet sich gegen soziale Bewegun-
gen und Forschungen, die für die Anerkennung von Diversität stehen, und ver-
harrt auf der Reproduktion von Unterscheidungen von binären Geschlechtern und
Sexualitäten. (vgl. Bitzan/Kaschuba/Stauber 2018, S. 202ff.)
Eine gegensätzliche Ansicht ist die, dass bereits eine Sensibilisierung stattgefun-
den hat und klischeehafte Geschlechterrollen überwunden seien. Jedoch ist dieser
Blick nicht weitergeführt als bis zu der Idee, dass individuelle Lebensentwürfe,
die mit der heterosexuellen Norm brechen, bereits bestehen können. Hier fehlt
jedoch die Bewusstwerdung der ungleichen Machtverhältnisse, in dessen Konse-

1
 Die Schreibweise mit * wird gewählt, um alle Geschlechtsidentitäten zu benennen, die sich zwi-
schen den Polen „männlich“ und „weiblich“ befinden sowie sich außerhalb dieser binären Ge-
schlechterordnung verorten.
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quenz kollektiv die Betroffenheit von Menschengruppen verdeckt wird. (vgl. Bit-
zan/Kaschuba/Stauber 2018, S. 205ff.)

In der Hausarbeit2 vor einem Jahr habe ich mich dem Thema des Einflusses von
Heteronormativität genähert und persönlich zog ich die Konsequenz daraus, ge-
nauere Recherchen anzuregen und den Entstehungsprozess dieser Norm einge-
hender zu untersuchen. Diesem nähert sich die vorliegende Arbeit in Kapitel 2.1
und 2.2 an, worauf in 2.3 Effekte der Heteronormativität abgeleitet werden. Die
Analyse der heteronormativen Ordnung beschränkt sich auf den Blickwinkel von
Heteronormativität als Privileg eines eurozentristischen Konstrukts patriarchaler
Machtverhältnisse.3 In der vorliegenden Arbeit beziehen sich die Informationen,
wenn nicht anders bezeichnet, auf den europäischen und deutschen Raum. Im
Folgenden wird mithilfe des historischen Blicks und der Entwicklung der biolo-
gisch-medizinischen Forschung die Entwicklung der binären Geschlechterord-
nung zusammenfassend dargestellt, da eine detailliertere Ausarbeitung den Rah-
men dieser Arbeit überschreiten würde. Dieser Einblick in die Entstehung von
Zweigeschlechtlichkeit wird gegen Ende des Kapitels in 2.3 mit einer Erkundung
der Folgen der somit entstandenen Heteronormativität abgeschlossen. Hierbei
muss angemerkt werden, dass der Fokus auf denjenigen Theorien liegt, die zu
einer Festigung von Heteronormativität beitragen. Darüber hinaus existieren zahl-
reiche weitere Theorien um Geschlecht in Ausprägung, Entstehung und Erken-
nung, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden (vgl. Voß 2015, S. 89, 234). Was
ich im Umfang meiner Bachelorarbeit nicht anspreche, sind die Geschlechtertheo-
rien der Antike, mit denen sich Laqueur (1992) und Voß (2010) auseinanderge-
setzt haben, daher möchte ich an dieser Stelle auf sie verweisen und in den fol-
genden Kapiteln nur einen Einblick ab dem 18. Jahrhundert geben und die Verän-
derungen über die Zeit darstellen.
Queer Theory und Queer Studies betreiben Kritik an der Norm von Zweige-
schlechtlichkeit und Heterosexualität und decken dekonstruierend deren allumfas-
senden Einfluss auf. Über die Jahrhunderte wurden diskriminierende Verhaltens-
weisen mit wissenschaftlichen Begründungen legitimiert, diese erfuhren durch die
Bildung einer queeren Perspektive Veränderung. Wichtigen Merkmalen der Ent-
2
  Die Hausarbeit entstand 2019 im Rahmen des Seminars „Anerkennung – Macht – Norm: Judith
Butlers Ethik und die Soziale Arbeit“ von Prof. Dr. phil. Melanie Plößer unter dem Titel „Einfluss
der Heteronormativität auf die Gesellschaft, die Soziale Arbeit und den Umgang mit queeren Men-
schen.“.
3
  „Die Tatsache, dass Heteronormativitätsanalysen in der Regel den Machtverhältnissen um Ra-
ce/Ethnizität, Klasse und Behinderung wenig Relevanz zusprechen und in diesen Bereichen kaum
Aussagekraft haben, bietet einen Ansatzpunkt weitere Kritik.“ (Hartmann, Klesse 2007, S. 12)
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stehung von Begrifflichkeiten und Theorien geht das Kapitel 3.1 nach, gefolgt von
einer Dekonstruktion der medizinischen Legitimationsweise von Zweigeschlech-
tlichkeit in Kapitel 3.2. In Kapitel 3.3 wird der Kampf um die rechtliche Anerken-
nung von Menschen außerhalb der Heteronormativität dargestellt. Aufschluss ge-
ben die rechtlichen Regelungen jedoch nur über homosexuelle, trans*4 und inter*5
Menschen, da zum aktuellen Zeitpunkt keine weiteren Gesetzestexte und Rechte
für weitere Identitäten außerhalb des heteronormativen Systems existieren.
Abschließend findet sich die Verknüpfung von Sozialer Arbeit und Heteronorma-
tivität, die in Kapitel 4.1 in ihren reproduzierenden Eigenschaften und in 4.2 in
Unterstützungsleitungen für queere Menschen aufgeschlüsselt vorliegen. Hierbei
liegt der Fokus auf der Kritischen Sozialen Arbeit.

„Die konkrete Vielfalt und Besonderheit eines jeden Individuums wird im Kon-
text, in dem eine Anrufung wirkt, überblendet zugunsten eines Titels, eine Identi-
tät“ (Villa 2003, S. 69 nach Meyer 2013, S. 443). Damit das Individuum nicht auf
einen Aspekt der Identität reduziert wird, werde ich im folgenden Text die Eigen-
schaften von Menschen nicht zu deren Nomen machen, wie es durch pathologisie-
rende Diagnosen erfolgt, sondern sie als Adjektive belassen. Daher schreibe ich
im Folgenden immer von trans* Menschen oder inter* Menschen oder von homo-
sexuellen Menschen. Damit möchte ich niemandem die Selbstbezeichnung als
beispielsweise Homosexueller*m absprechen, ich möchte lediglich hervorheben,
dass die von mir gewählte Schreibweise intentional ist.
Wenn im Folgenden jedoch die Sprache von „Mann“/„männlich“ und
„Frau“/„weiblich“ ist, bezieht sich dies auf die gesellschaftliche Zuordnung auf-
grund der Zuweisung bei der Geburt zur jeweiligen dichotomen biologischen
„Tatsache“ oder „Wahrheit“ im Sinne der binären Geschlechterordnung und nicht
auf die geschlechtliche Identität als Mann* oder Frau*. „Mann“/„männlich“ und
„Frau“/„weiblich“ werden im folgenden Text in doppelten Anführungszeichen

4
  Trans* kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „jenseitig“ und „darüber hinaus“. Als Ober-
begriff und Selbstbezeichnung steht trans* für verschiedene Identitäten, die sich nicht im hetero-
normativen Sinne, als Übereinstimmung von sex und gender verstehen. Es beinhaltet Identitäten
zwischen den binären Kategorien sowie welche, die über sie hinausgehen oder sich außerhalb
jedes Geschlechts befinden. (vgl. Baumgartinger 2019, S. 45f.) Trans* umfasst unter anderem
transgender als Bezeichnung für diejenigen Menschen, die sich disgruent zu ihrem biologischen
Geburtsgeschlecht identifizieren und entgegen der sozial daraus geschlussfolgerten Geschlechter-
rolle leben, und transsexuell als Begriff für trans* Menschen, die geschlechtsangleichende Be-
handlungen wünschen (vgl. Scherpe 2018, o.S.).
5
  Inter* stammt von Intersexualität aus dem Lateinischen und bedeutet „zwischen“, ist jedoch als
Selbstbezeichnung dem pathologisierten Begriff Intersexualität vorgezogen. Da es sich um die
nicht-binärgeschlechtlich eindeutig biologische Zuordnung von Menschen handelt und nicht um
Sexualität, gilt inter* sowie intergeschlechtlich als Oberbegriff. (vgl. Baumgartinger 2019, S. 69f.)
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erscheinen, um zu verdeutlichen, dass an dieser Stelle die heteronormative Sicht
vorliegt, sprich: die Annahme, dass es sich um cis-gender6 Menschen handelt.
Auch finden Erläuterungen über cis-Frauen, die ebenfalls eine der unterdrückten
Gruppen darstellen, weniger Platz, da der Fokus hier auf der heterosexuellen, bi-
närgeschlechtlichen, cis-gender Ordnung und den queertheoretischen Ansichten
darauf liegen. Nur kurz wird auf feministische Bewegungen in Kapitel 3.1 einge-
gangen, da Feminismus eine Rolle in der Entstehungsgeschichte queerer Bewe-
gungen spielt.
Erwähnen möchte ich, dass die heteronormative Ordnung ebenfalls negative und
unterdrückende Auswirkungen auf cis-Männer hat; ein Produkt von heteronorma-
tiver Erziehung ist unter anderem toxische Männlichkeit. Auch dies findet im Fo-
kus der vorliegend Arbeit keine nähere Ausführung.
Ein weiterer wichtiger Begriff, der aus Gründen des Umfangs nicht in meiner
Ausarbeitung hervorkommt, ist Intersektionalität über die Verknüpfung von sex-
gender-desire7 (Begehren) hinaus, die die heteronormative Ordnung beinhaltet.
Die heteronormativen Machtungleichheiten wirken mit weiteren sozialen Un-
gleichheiten zusammen, da Menschen Mehrfachzugehörigkeiten haben. Bei-
spielsweise werden sich als Frauen* identifizierende Menschen mit einer lesbi-
schen Sexualität aufgrund ihrer Sexualität aber auch geschlechtlichen Identität
diskriminiert. Wenn hier noch ethnische Aspekte hinzukommen, wirkt Rassismus
zusätzlich auf beispielsweise Schwarze8 queere Menschen, die daraufhin von noch
stärkeren Ungleichheitsverhältnissen betroffen sind als weiße9 queere Menschen.

6
  Gender stammt aus dem Englischen und bedeutet das soziale/kulturelle Geschlecht. Geschlech-
terrollen und Geschlechteridentitäten (gender) stimmen bei cis-Menschen mit ihrem sex überein,
trans* Menschen sind ein Beispiel für eine Inkongruenz dessen, gender und sex sind verschieden.
(vgl. Hartman/Klesse 2007, S. 11)
7
  Englische Begriffe sind im folgenden Text klein geschrieben, auch wenn es sich bei den diesen
Worten um Substantive handelt, die im Deutschen groß geschrieben werden.
8
  „Schwarze Menschen ist eine Selbstbezeichnung und beschreibt eine von Rassismus betroffene
gesellschaftliche Position. ‚Schwarz[‘] wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich
um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine reelle ‚Eigenschaft‘, die auf die Farbe
der Haut zurückzuführen ist. So bedeutet Schwarz-Sein in diesem Kontext nicht, einer tatsächli-
chen oder angenommenen 'ethnischen Gruppe' zugeordnet zu werden, sondern ist auch mit der
gemeinsamen Rassismuserfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen
zu werden.‘“ (Amnesty International o.J, o.S.) Eine andere Selbstbezeichnung ist People of Color
(Amnesty International o.J, o.S.).
9
  „‚Weiß‘ und ‚Weißsein‘ bezeichnen ebenso wie ‚Schwarzsein‘ keine biologische Eigenschaft
und keine reelle Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit Weißsein ist die
dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die
sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt. Weißsein umfasst ein unbewusstes Selbst-
und Identitätskonzept, das weiße Menschen in ihrer Selbstsicht und ihrem Verhalten prägt und sie
an einen privilegierten Platz in der Gesellschaft verweist, was z.B. den Zugang zu Ressourcen
betrifft. Eine kritische Reflexion von Weißsein besteht in der Umkehrung der Blickrichtung auf
diejenigen Strukturen und Subjekte, die Rassismus verursachen und davon profitieren, und etab-
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Vor allem in heteronormativitätskritischer Arbeit findet sich häufig eine Ethnisie-
rung der Diskussionen um Tradition, in der Menschen mit Migrationshintergrund
verhaftet seien, und Moderne, in der weiße Menschen queer sein können, was da-
zu führt, dass die Erfahrungswelten queerer Menschen mit Migrationshintergrund
ungehört bleiben. (vgl. Hartmann 2013, S. 269f.)
Diese Arbeit beleuchtet also die Legitimierung von Heteronormativität, die De-
konstruktion dieser sowie die Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit, die
sich der Herausforderung von kritischer, queerer Reflektion annehmen sollte, um
die eigene Reproduktion der heteronormativen Ordnung zu unterbinden und ge-
sellschaftliche Veränderungen hin zu einer Vielfalt von Identitäten mitzugestalten.

2 Heteronormative Ordnung

Als Heteronormativität wird die gesellschaftliche Norm verstanden, die das binäre
Geschlechtermodell von ausschließlich „männlichen“ und „weiblichen“ biologi-
schen und sozialen Geschlechtern, mit der Übereinstimmung der Geschlechtsiden-
tität (gender) mit den biologischen Gegebenheiten des Körpers (sex), als wahr
anerkennt. Zentral ist die Ableitung des sexuellen Begehrens aufgrund des biolo-
gischen Geschlechts (sex), was die Heterosexualität und dichotome, binäre Ge-
schlechter als naturgegeben und somit als Norm formuliert. Daraus folgen „nor-
mative Annahmen über „gesunde“ Körperlichkeiten und angemessenes Sozialver-
halten sowie normalisierende Identitätszuschreibungen [..], die allesamt den vor-
herrschenden Glauben an die Natürlichkeit, Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit
von Geschlecht und sexueller Orientierung fundieren“ (Hartmann/Klesse 2007, S.
9). Die heteronormative Ordnung durchzieht die gesamte alltagsweltliche Gesell-
schaft, konstruiert andere Sexualitäten und Identitäten als Abweichungen von der
Norm und reproduziert sich in den Wissenschaften, die auf der zugrundeliegenden
Heteronormativität forschen und in ihren Theorien und Erkenntnissen Heteronor-
mativität in ihrer Hegemonie unterstützt. Die Privilegierung von heteronormativen
Handlungen bringt eine Hierarchie mit sich, die sich auf die unhinterfragte Natu-
ralisierung stützt und die von der unbewussten gesellschaftlichen Einschreibung
in die Menschen, Institutionen und Strukturen und den komplexitätsreduzierenden

lierte sich in den 1980er Jahren als Paradigmenwechsel in der englischsprachigen Rassismusfor-
schung.“ (Amnesty International o.J, o.S.)
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Erwartungshandlungen von dem, was „Männer“ und „Frauen“ tun oder nicht tun,
profitiert. (vgl. Hartmann/Klesse 2007, S. 9; Degele 2008, S.88ff.)
Die Heteronormativität ist nicht aus sich heraus entstanden, sondern bedarf einer
wissenschaftlichen Erörterung, um ihre Normfunktion zu rechtfertigen und ihre
vermeintliche Natürlichkeit zu belegen. Wie das vermeintliche Wissen um die
Wahrheit von binärer Geschlechterordnung und Heterosexualität als Norm, als
„natürlich“ und als Rechtfertigung entsteht, um andere, nicht den heteronormati-
ven Maßstäben entsprechenden Menschen, zu diskriminieren, zu pathologisieren
und ihnen Menschenrechte und im Grundgesetz (GG) verankerter Grundrechte zu
verwehren, wird im Folgenden erläutert.

2.1 Historische Perspektive auf die binäre Geschlechterordnung
und Heteronormativität

Bis zum 18. Jahrhundert ist das prominenteste Geschlechtermodell, welches eini-
ge Wissenschaftler*innen vertraten, die Ansicht des Ein-Geschlecht-Modells10,
das sich nur in der Ausprägung unterschied; was bei dem „Mann“ nach außen
gerichtet ist, sei bei der „Frau“ nach innen gerichtet. Vorrangig voneinander un-
terschied „Mann“ und „Frau“ jedoch ihre ungleiche gesellschaftliche Stellung.
(vgl. Laqueur 1992, S. 20f., S. 41)
      „Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der
      Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die
      eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen des Sexus zu
      sein.“ (Laqueur 1992, S. 20f.)
Die Pervertierung der nicht-Heterosexualität belief sich dahingehend, dass vor
allem dieser soziale Rang in Frage gestellt wird und nicht die Homosexualität
selbst das Problem darstellt. Bei schwulen Handlungen gebe es den „Mann“, der
penetriert und denjenigen, der wie die „Frau“ penetriert wird. Dies werte die Stel-
lung des „Mannes“ ab und mache ihn vergleichbar mit der Stellung der „Frau“.
Bei lesbischen Handlungen wiederum spiele eine „Frau“ die Rolle des „Mannes“.
Homosexuelles Agieren ist somit die Gefährdung des geltenden Machtgefüges des

10
  Hier ist anzumerken, dass dies nicht das einzige Geschlechtermodell vor dem 18. Jahrhundert
darstellt. Da anderen weniger Beachtung geschenkt wurden und sie weniger Einfluss in die mo-
derne Biologie und Medizin hatten und die aktuellen Dekonstruktionen von vermeintlich binärem
Geschlecht haben, verweise ich für genauere Informationen an dieser Stelle auf Voß (2010). (vgl.
Voß 2010, S. 87)
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Patriarchats und die damit einhergehende unterworfene soziale Stellung der
„Frau“; sprich: die Abwertung der Vormachtstellung des „Mannes“. (vgl. Laqueur
1992, S. 69f.)
Auch die vermeintlich gottgegebene Natürlichkeit von Heterosexualität und se-
xuellen Handlungen nur zum Zwecke der Reproduktion leistet ihren Beitrag zur
Abwertung von Homosexualität bei (vgl. Wagenknecht 2007, S. 19).
In Deutschland gab es zur Zeit der Weimarer Republik gesetzliche Regelungen für
damals sogenannte Zwitter. Die Zwitterparagraphen beinhalteten unter anderem
die Zuweisung zu einem Geschlecht durch die Eltern sowie die Möglichkeit, die
von den Eltern getroffene Entscheidung zu verändern, wenn die betroffene Person
das 18. Lebensjahr vollendet hatte. Da die Vorstellung galt, dass es keine „echten“
Hermaphroditen gäbe, sondern immer eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit
im Sinne der Identität vorläge, musste die Person einem Geschlecht zugeordnet
werden. Diese Möglichkeit bestand bereits seit 1794 im Preußischen Allgemeinen
Landesrecht (PrALR) (vgl. Pohlkamp 2014, S. 44). 1875 wurden mit dem neuen
Personenstandsrecht diese Paragraphen aus dem Recht des Deutschen Reiches
gestrichen und auch später im Bürgerlichen Gesetzbuch, das 1900 in Kraft trat,
nicht wieder aufgegriffen. (vgl. von Wahl 2018, S. 122f.)
Vor dem 19. Jahrhundert herrschte die Annahme vor, dass der Vater eine über-
geordnete Rolle bei der Zeugung eines Kindes spielte und die Auffassung, dass
die Mutter nur eine austragende und gebärende Rolle spielte und es durch die Wil-
lensstärke des Vaters zu einer Befruchtung kam. Der „Mann“ als Vater wird mit
der Eigenschaft belegt, verantwortlich zu sein für das Fortbestehen der Mensch-
heit, da die „Frau“ ohne ihn nicht in der Lage sei, Kinder zu gebären. Die Mei-
nung war, dass der „Mann“ den „kraftvolleren Samen“ (Laqueur 1992, S. 75) her-
vorbringe und dies seine geistige Überlegenheit und somit die geistige Unterle-
genheit der „Frau“ belege. „Da die normale Empfängnis ja in gewissem Sinne
nichts anderes ist, als daß der Mann eine Idee im Leib der Frau hat, ist die abnor-
male Empfängnis […] folglich eine Selbstüberschätzung […]“ (Laqueur 1992, S.
75f.). (vgl. Laqueur 1992, S. 74ff.)
Im 18. Jahrhundert fand eine Ausdifferenzierung dieser Unterschiede statt, um
den ungleichen sozialen Stellungen eine Erklärungsgrundlage zu geben, die sich
auf die Unterschiedlichkeit zweier biologischer Geschlechter stützt (vgl. Laqueur
1992, S. 172f.). Die Suche nach einer Erklärung war vorrangig die nach einer
Rechtfertigung der ungleichen Verhältnisse und der Machtpositionen in der Ge-

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sellschaft und Politik, die mit der Sexualanatomie von „Frau“ und „Mann“ Be-
antwortung fanden (vgl. Laqueur 1992, S. 175).
Trotz der Belege eines geschlechtlich gemeinsamen Ursprungs in der Entwick-
lung des Embryos ab 1850, war das Ein-Geschlecht-Modell, das auf einer sozialen
Geschlechterdifferenzierung vom „Mann“ als Norm bestand, bereits durch den
Fokus auf die Unterschiedlichkeit der biologischen Ausprägung des binären Ge-
schlechtermodells ersetzt (vgl. Laqueur 1992, S. 23). Innerhalb dessen erklärten
Wissenschaftler*innen mit der biologischen Verschiedenheit von „Mann“ und
„Frau“ die ungleichen Charaktereigenschaften und unterschiedlichen sozialen
Stellungen in der Gesellschaft (vgl. Laqueur 1992, S. 19). Hier schlossen sich
auch Ansichten von christlich gläubigen Menschen an, die zwei Geschlechter als
gottgegeben nach der Bibelstelle Genesis 1,27 ansehen (vgl. Scoralick 2018). So
wird der Geschlechterunterschied sowie die Unterlegenheit der „Frau“ mit dem
Sündenfall in der Bibel begründen, da die „Frau“, Eva, es war, die die verbotene
Frucht gegessen hat (vgl. Laqueur 1992, S. 19; Ammicht Quinn 2018, S. 80) 11.
Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden viele
Theorien, die sich bemühten, wissenschaftlich sowie entwicklungsgeschichtlich
Herleitungen zu bilden, um die damalige Annahme von zwei bestehenden Ge-
schlechtern zu erklären. Die Disziplinen der Paläoanthropologie und Archäologie
standen jedoch vor der Herausforderung, die menschlichen Knochenfunde und
Überreste von verschiedenen Gegenständen in einen sozialen und geschlechtli-
chen Kontext zu stellen. Vor allem letzteres wurde bei nicht eindeutiger ge-
schlechtlicher Zuweisung der Skelettfunde häufig mithilfe der Grabbeigaben getä-
tigt, die durch die damaligen Forscher*innen aktiv den binären Geschlechtern
zugeordnet wurden. Diese Zuschreibungen auf die Skelettfunde wurden herange-
zogen, um wiederum die Natürlichkeit von bestimmten Eigenschaften je nach
Geschlecht zu argumentieren. „Durch ihren wissenschaftlichen Kontext tragen
diese Modelle dazu bei, traditionelles Rollenverständnis zu festigen und fortzu-
schreiben“12 (Haidle 2018, S. 26). Auch wurden nur ausgewählte Eigenschaften
des modernen Menschen bei diesem Rückgriff auf die „Urmenschen“ berücksich-
tigt; unberücksichtigt blieben die Vielfalt, Komplexität und Veränderlichkeit der
Menschen auch im Hinblick auf die Veränderungen von Gesellschaften und Ent-

11
   Für weitere Beispiele zu Geschlecht in der Bibel des Christentums und auch zu möglichen Le-
sarten in Bezug auf trans* verweise ich auf die Textquellen Scoralick (2018) und Ammicht Quinn
(2018) zu weiteren theologischen Abhandlungen.
12
   Gemeint sind hier Modelle des Lebens der „Urmenschen“, unter anderem das der Jäger und
Sammlerinnen. Zum weiteren Verständnis wird auf Haidle (2018) verwiesen.
                                                                                            10
wicklungen in der Geschichte des Menschseins (vgl. Schmitz 2006b, S. 200). (vgl.
Haidle 2018, S. 16ff.)
1869 prägte Karoly Maria Benkert13 den Begriff Homosexualität (vgl. Kraß 2003,
S.14) und daraufhin ebenfalls den Begriff Heterosexualität (vgl. Takács 2004, S.
29, 39). Homosexualität löste die mittelalterliche Bezeichnung Sodomie14 ab und
verbesserte die Konnotation weg von der eines wählbaren Übels, hin zu einer An-
sicht von Homosexualität als angeborene Krankheit (vgl. Pohlkamp 2014, S. 83;
Kraß 2003, S. 14).
1871 fand der §175 Einzug in das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Kaiser-
reichs. Der Neurologe Magnus Hirschfeld trat mit dem von ihm 1897 gegründeten
WISSENSCHAFTLICH-HUMANITÄRE KOMITEE (WHK), gegen den §175 ein und ver-
suchte zur Zeit der Homophilenbewegung Ende des 19. und Beginn des 20. Jahr-
hunderts den Blick auf Homosexualität zum Besseren zu wenden (vgl. Degele
2008, S. 44f.; Kraß 2003, S. 14f.). Homosexualität war im 20. Jahrhundert mit
dem Bild eines androgynen Menschen oder Zwitters verbunden. Es entstand die
Theorie, dass Homosexualität angeboren ist, daher entwickelte sich die These
Magnus Hirschfelds von Homosexualität als ein „drittes Geschlecht“ (vgl. Pohl-
kamp 2014, S. 83; Kraß 2003, S.14). Ziel der WHK war es, durch das „dritte Ge-
schlecht“ Homosexualität zu naturalisieren, um eine rechtliche Gleichstellung zu
erwirken (vgl. Wagenknecht 2007, S. 20). Der Kampf gegen den §175 war jedoch
vergebens, stattdessen war 1909 die Ausweitung auf die Homosexualität von
„Frauen“ in der Diskussion, was jedoch nicht zustande kam (vgl. Degele 2008, S.
44).
1910 brachte Magnus Hirschfeld die Begriffe Transvestit und Transvestitismus
hervor. 1932 unterscheidet er den Wunsch nach Anpassung an das binärge-
schlechtlich andere Geschlecht als seelischen Transsexualismus (vgl. Baumgar-
tinger 2019, S. 70).
Durch die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verschwanden die wissen-
schaftlichen Uneindeutigkeiten zur Zweigeschlechtlichkeit und wurden ersetzt
durch klare naturalisierte Vorstellungen von dem, was „Frau“ und „Mann“ zu sein
haben (vgl. Voß 2018, S. 160). Der „soldatische Mann“ reproduzierte sich mit der
„Frau-als-Mutter“, um „Rassenreinheit“ beizubehalten (vgl. Wagenknecht 2007,
13
   Er ist auch bekannt unter Karl Maria Benkert oder Károly Mária Kertbeny wird von Kraß (2003,
S. 14) als schweizer Arzt bezeichnet, laut Takács (2004, S. 39) bezeichnet er sich selber als unga-
rischen Schriftsteller.
14
   Sodomie steht heutzutage für den Geschlechtsverkehr mit Tieren, war im Mittelalter aus der
Bibel, einer Mythe im Buch Genesis 19, dem Namen der Stadt Sodom entlehnt. Der Inhalt der
Mythe wurde zur Begründung genutzt, Homosexualität zu verfolgen und zu bestrafen (vgl. Kraß
2003, S.10f.).
                                                                                                11
S. 21). Außerdem wurde 1935 das Gesetz verschärft, das Homosexualität bereits
seit 1871 pathologisierte und kriminalisierte (vgl. Pohlkamp 2014, S.83; Kraß
2003, S.13). Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die verschärfte Version des §175
in das Strafgesetzbuch der neuen Regierung über (vgl. Kraß 2003, S.14).
Die Theorie vom sozialen Geschlecht (gender), also dass die Geschlechterrolle in
der Kultur verortet und somit unabhängig vom biologischen Geschlecht (sex) bis
zum zweiten Lebensjahr formbar sei, formulierte John Money, Mediziner und
Psychologe, in den 1950er Jahren. Dadurch wurden in den 1970er Jahren verein-
deutigende Operationen an inter* geborenen Menschen im Kindesalter begründet.
Die anatomischen Gegebenheiten wurden entweder „weiblich“ oder „männlich“
verändert und den Eltern empfohlen, die Kinder dementsprechend streng in die
jeweilige Geschlechterrolle erzogen. Begründet wurden diese Operationen auch
durch das Abwenden eventueller späterer Diskriminierungen des Kindes. (vgl.
von Wahl 2018, S. 124f.; Schmitz 2006a, S. 45; Baumgartinger 2019, S. 53)

2.2 Biologisch-medizinische Sicht auf Zweigeschlechtlichkeit und ihre
Entstehung

An die historischen Erklärungen für die Legitimation der binären Geschlechter
und Heterosexualität, schließen sich an vielen Stellen biologisch-medizinische
Theorien und Forschungsergebnisse an. Diese wurden ebenfalls genutzt, um die
binäre Geschlechterordnung zu naturalisieren.
Begriffliche Unterscheidungen der „männlichen“ und „weiblichen“ Geschlechts-
organe sind erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstanden, zeitgleich mit den
Fragen um die Zeugungsbeiträge vom „Mann“ mit dem Spermium und von der
„Frau“ mit dem Ei (vgl. Voß 2018, S. 153; Laqueur 1992, S. 183f.). Zuvor wurde
die Annahme vertreten, dass es sich bei den Genitalien von „Frau“ und „Mann“
im Prinzip um das gleiche handele, jedoch bei der „Frau“ die Ausbildung fehler-
haft oder unvollständig sei. Erst im 18. Jahrhundert veränderte sich diese Ansicht
hin zu einer deutlicheren Unterscheidung dahingehend, dass es sich bei den Geni-
talien von „Mann“ und „Frau“ um zwei verschiedene, gegensätzliche handele
(vgl. Laqueur 1992, S. 16 ff.; Schmitz 2006a, S. 34).
Was das Ein-Geschlecht-Modell herausstellte ist, dass es sich bei dem menschli-
chen Körper um einen „männlichen“ handelt und der Körper der „Frau“ der eines
unvollkommenen „Mannes“ ist. Bei der weiteren Unterscheidung von „Mann“

                                                                               12
und „Frau“ bleibt diese Vorstellung bestehen. In 31 analysierten anatomischen
Werken des späten 19. bis zum Ende 20. Jahrhunderts wird der „weibliche“ Kör-
per nur in Abgrenzung und Gegensatz zu dem des „Mannes“ beschrieben, wie in
der Studie von Lawrence und Bendixen 1992 herausgestellt wurde (vgl. Deplus
2018, S. 135 ff.). Die Geschlechtsorgane werden hier jedoch noch auf eine Weise
einander gegenübergestellt, die ihren Fokus auf die Ähnlichkeit „weiblicher“ und
„männlicher“ Geschlechtsorgane legt; so gäbe es für jedes vorhandene Ge-
schlechtsorgan im „männlichen“ Körper ein identisch „weibliches“ (vgl. Voß
2018, S. 154f.).
Im 19. Jahrhundert entstand durch Karoly Maria Benkert der Begriff Homosexua-
lität, den er als medizinische Abweichung und angeborene Krankheit definierte.
Homosexuellen Menschen wurde außerdem nachgesagt, androgyn oder zwittrig
zu sein und durch diese physiologischen Eigenschaften erkennbar zu sein. (vgl.
Pohlkamp 2014, S. 83; Kraß 2003, S. 14f.)
In den 1850er Jahren folgte die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die primären
Geschlechtsorgane von „Mann“ und „Frau“ im Fötalstadium den gleichen Urs-
prung haben (Keimblatttheorie), bevor sie sich unterschiedlich entwickeln (vgl.
Laqueur 1992, S. 23). Dies stützt die Theorie des Ein-Geschlecht-Modells, bezie-
hungsweise steht diese Entdeckung entgegen der strikten Suche nach Unterschie-
den zwischen „Mann“ und „Frau“. Das Ein-Geschlecht-Modell war jedoch nicht
mehr die aktuelle wissenschaftliche Meinung, stattdessen wurden 1759 Unter-
schiede des „männlichen“ und „weiblichen“ Skeletts hervorgehoben; dies erfolgte
durch die Darstellung eines „weiblichen“ Skeletts als Abgrenzung zu dem zuvor
als allgemein geltenden „männlichen“ Skelett (vgl. Laqueur 1992, S. 23, 181).
Auch das Nervensystem „wurde[..] von jetzt an differenziert, damit [es] zu dem
paßte[..], was in der Kultur männlich und weiblich war“ (Laqueur 1992, S. 172).
Die Dichotomie15 der beiden Geschlechter stand im Fokus der Wissenschaft und
sie galt es zu belegen. Die Dichotomie von „Mann“ und „Frau“ stellt neben den
ungleichen Eigenschaften je nach Geschlecht und der nicht vorhandenen Schnitt-
menge dieser auch die Bewertung dieser Eigenschaften heraus, wobei die des
„Mannes“ positiv bewertet werden, die der „Frau“ eine Abwertung erfahren (vgl.
Schmitz 2006b, S. 208).
15
  Die Dichotomie ist eine Zweiteilung, bei der das eine das jeweils andere ausschließt. „Phäno-
mene werden entgegengesetzten Polen mit einer scheinbar undurchlässigen Grenzlinie zugeord-
net“ (Schmitz 2006c, S. 331). Im Zusammenhang von Geschlecht ist in diesem Fall die zweiteilige
Einteilung in „männlich“ – „weiblich“ gemeint, was in der Folge alles entweder „männlich“ oder
„weiblich“ konnotiert. So werden Eigenschaften, wie hart – weich, laut – leise, öffentlich - privat,
aktiv – passiv, binär zugeordnet. Dichotomie umfasst jedoch auch die Sexualitäten von heterose-
xuell – homosexuell. (vgl. Schmitz 2006c, S. 331)
                                                                                                 13
1923 entdeckt Theophilus Shickel Painter in seinen Forschungen einen Unter-
schied in den Chromosomen von „Männern“ und „Frauen“. Die Ansicht blieb
dennoch, dass die später ausgebildeten Geschlechtsmerkmale nicht nur eindeutig
binärgeschlechtlich zuzuordnen seien, sondern es zwischen „männlich“ und
„weiblich“ auch andere Ausprägungen gebe. (vgl. Voß 2018, S. 158; Voß 2015, S.
246)
Außerdem wurden 1947 die Beteiligung von Gonaden (Keimdrüsen) zur Ge-
schlechtsentwicklung durch A. Jost erforscht (vgl. Voß 2015, S. 246). Sie wurden
zur medizinischen Belegung der Zweigeschlechtlichkeit herangezogen und die
geschlechtliche Zuordnung erfolgte je nach dem Vorhandensein als spezifisch
„weiblich“ oder „männlich“ klassifizierter Gonaden (vgl. von Wahl 2018, S. 123).
1905 entdeckte Ernest Henry Starling Hormone und ist außerdem für diese Be-
zeichnung verantwortlich, jedoch war die eindeutige binärgeschlechtliche Zuord-
nung von Hormonen unerreichbar (vgl. Voß 2018, S. 159). Die damals sogenann-
ten „Determinierungsstoffe“ konnten sich der Ansicht einiger Wissenschaft-
ler*innen nach während der Entwicklung abwechseln. Je nachdem, wann dies
passiert („Drehpunkt“) war entscheidend für den „Grad der Ausprägung von
Weiblichkeit bzw. Männlichkeit in dem jeweiligen Individuum“ (Voß 2018, S.
159). In diesem Zusammenhang fand der Begriff Intersexualität Anwendung, den
Richard Goldschmidt 1915 einführte und der sich auf die Zwischenstufen zwi-
schen dem „männlichen“ und „weiblichen“ Sexus (lat. Geschlecht) bezieht; die
Menschen, die sich ab dem besagten „Drehpunkt“ im binär anderen Geschlecht
weiterentwickeln bezeichnet er als Intersex (vgl. Baumgartinger 2019, S. 69).
In den 1920er und 1930er Jahren wurden die neuen wissenschaftlichen Erkenn-
tnisse zur körperlichen Entwicklung von „Mann“ und „Frau“ sowie der Reproduk-
tion mit Interpretationen belegt, um Geschlechtsunterschiede zu erklären (vgl.
Laqueur 1992, S. 176).
Aufgrund des Nationalsozialismus und der Verfolgung von Wissenschaft-
ler*innen jüdischen Glaubens kam die Weitererforschung von Genen und Hormo-
nen inklusive der Fragen nach Übergängen zwischen den binären Geschlechtern
zum Stillstand. Die aufgrund ihres Glaubens verfolgten Wissenschaftler*innen
wurden durch nationalsozialistische Wissenschaftler*innen ersetzt. Der Ideologie
dieser Menschen zufolge wurden uneindeutige Forschungsergebnisse nicht veröf-
fentlicht und stattdessen gab es Aussagen zu klaren Trennungen zwischen „männ-
lich“ und „weiblich“. (vgl. Voß 2018, S. 160)

                                                                                14
Um Körper und Identität zur Übereinstimmung zu bringen, fanden ab 1922 erste
Operationen statt, um das anatomische Geschlecht anzupassen. Diese Eindeutig-
keit war notwendig, um die Zweigeschlechtlichkeit aufrecht zu erhalten. Somit
wurden auch inter* Menschen operiert, zunächst nur an erwachsenen Menschen,
ab den 1950er Jahren jedoch auch an Neugeborenen und Kindern. Die Behand-
lungsmöglichkeiten umfassten auch eine Hormongabe, um dem normierten Bild
eines „Mannes“ oder einer „Frau“ zu entsprechen. Ziel war neben der eindeutigen
Geschlechtszugehörigkeit auch das spätere Ausführen von heterosexuellem Ge-
schlechtsverkehr. (vgl. von Wahl 2018, S. 124f.)
Die Vertreibung der Sexualwissenschaften durch die NS-Zeit führte dazu, dass
sich erst 1953 transvestism (dt. Transvestitismus) als Begriff in der Medizin etab-
lierte (vgl. Baumgartinger 2019, S. 71).
In den 1950er Jahren entwickelte sich das „Stufenmodell“ zu einem bio-
medizinischen Geschlechtsentwicklungskonzept, das bis heute vielfach Bestand
hat. Es bezieht sich vor allem auf die Chromosomen. Das sogenannte „chromo-
somale Geschlecht“ wird durch das Vorhandensein von XX für „weibliche“ und
XY für „männliche“ Chromosomen ermittelt. Die Gonaden entwickeln sich auf
dieser Basis und bilden somit das „hormonelle Geschlecht“. Die Gonaden wiede-
rum steuern das sogenannte „morphologische Geschlecht“, also die inneren und
äußeren Genitalien. (vgl. Schmitz 2006a, S. 36)
1960 greift Henry Benjamin den 1915 von Richard Goldschmidt eingeführten
Begriff Intersexualität auf und unterscheidet davon Transvestitismus und Transse-
xualismus, was seit 2006 medizinisch mit der Abkürzung DSD betitelt wird („Di-
sorders of Sex Development“, dt. „Störung der Geschlechtsentwicklung“). (vgl.
Baumgartinger 2019, S. 69f.)
Moneys Theorie von gender und den damit begründeten Zwangsbehandlungen
von inter* geborenen Kindern wurde in den 1960er Jahren weitergeführt. Robert
Stroller unterteilte in sex, gender identity und gender role; also in biologisches
Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle. Bei der Erforschung von
trans* Menschen zu deren Abweichungen definiert Stroller, was genau die Norm
ist und zieht diese Erkenntnisse heran, um eine „Heilung“ des pathologisch ange-
sehenen trans* Seins durch Zwangsbehandlungen herbeizuführen. (vgl. Baumgar-
tinger 2019, S. 55, 101f.)
Dem setzt der Forscher Milton Diamond in den 1970er Jahren ein Modell entge-
gen, das genau gegenteilig arbeitet. Das biologische Geschlecht determiniere mit
den Hormonen schon vor der Geburt, wie die Geschlechtsausprägung ausfallen

                                                                                15
werde. Diamond nach ist Moneys Idee von Operation und Umerziehung überflüs-
sig, da das Gehirn bereits biologisch die geschlechtliche Veranlagung besitze und
die Geschlechtsidentität sich aufgrund des sex durchsetzen werde. (vgl. Schmitz
2006a, S. 46)

2.3 Effekte der heteronormativen Ordnung

Diese Entwicklung von Theorien und Erklärungsversuche, die eine Binarität im-
mer weiter festigen, wie urgeschichtliche Funde und geschlechtliche Aufladungen
dieser, stellen eine Basis dar, auf der Geschlechterrollen als natürlich angesehen
werden können. Bis heute gelten, rückgreifend auf das Phänomen retrospektiver
Zuordnungen, die Aussagen zu den Geschlechterrollen menschlicher Vorfahren
als ursprünglich (vgl. Haidle 2018, S. 18). Trotz neuer biologischer Erkenntnisse,
die sich nur auf rein wissenschaftlicher Ebene befinden, waren die hieraus ge-
schlussfolgerten Antworten auf gesellschaftliche Fragen kulturhistorisch vorbelas-
tet; die wissenschaftlichen Beobachtungen lassen empirisch keine Schlussfolge-
rungen auf die unterschiedlichen Geschlechtereigenschaften und sozialen Stellun-
gen zu, trotzdem wurde entgegen dieser Tatsache gehandelt (vgl. Laqueur 1992,
S. 176f., 187).
Die Schlussfolgerung, die schon aus dem Ein-Geschlecht-Modell entstand, hält
sich bis heute. Es wurde argumentiert, dass in den biologischen Gegebenheiten
der Genitalien Begründungen zu den binär aufgeladenen Charaktereigenschaften
und somit der Vormachtstellung des „Mannes“ lagen. Der Penis des „Mannes“
läge bei der „Frau“ nach innen gerichtet und hierdurch sei die Passivität der
„Frau“ zu erkennen, um nur ein Beispiel hierfür zu nennen (vgl. Laqueur 1992,
S.16). Die Unfähigkeit, sich ohne einen „Mann“ fortzupflanzen, stand als ein Be-
weis für die geistige Überlegenheit des „Mannes“ (vgl. Laqueur 1992, S. 75).
„[A]us demselben Grund, aus dem ihre Person unter der rationalen Lenkung und
Weisung ihres Ehemannes steht, steht ihr Schoß unter der Herrschaft seines
Spermas“ (Laqueur 1992, S. 75-76).
Die hieraus resultierende Unterlegenheit der „Frau“ aufgrund stigmatisierter bio-
logischer geschlechtlicher Ausprägungen, unter anderem auf Ebenen des Körpers
und der Hormone, fand sich abhängig von der jeweiligen Zeit mit ihren histori-
schen Besonderheiten in der dichotomen Konstruktion verschiedener Eigenschaf-
ten wieder, die als Rechtfertigungen genutzt wurden, um die hierarchischen Un-

                                                                               16
terschiede zwischen „Mann“ und „Frau“ beizubehalten. Durch die hierarchischen
Herrschafts- und Machtstrukturen werden jedoch auch dichotome Unterschiede
geschaffen und diese Dichotome schlagen sich in Denkmustern und Handlungen
der Gesellschaft nieder. Durch biologische und medizinische Erkenntnisse werden
Erklärungen gesucht, die sich auf die vermeintliche Unterschiedlichkeit von
„Mann“ und „Frau“ beziehen und legitimieren, warum die gesellschaftliche Stel-
lung der „Frau“ unter der des „Mannes“ liegt; somit werden die sozialen Un-
gleichheiten durch ihre Naturalisierung legitimiert. (vgl. Schmitz 2006c, S. 334f.,
S. 354)
Gleichzeitig umfasst diese Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit auch die
Naturalisierung von Heterosexualität, was vor allem durch die Lehre christlichen
Glaubens passierte, der Sexualität nur als Reproduktionsmittel gutheißt. Homose-
xualität wurde unter anderem aus diesem Grund pathologisiert und verfolgt. (vgl.
Wagenknecht 2007, S. 17,19).
Die binäre Geschlechterordnung sorgt vor allem dafür, dass „männlich“ und
„weiblich“ als einzige biologische Geschlechter, aber auch als einzige Ge-
schlechtsidentitäten anerkannt sind. Durch die oben erläuterten Ansichten der
Wissenschaften besteht Zweigeschlechtlichkeit als „Wahrheit“, auf deren Grund-
lage Macht ausgeübt wird. Die Vormachtstellung der heterosexuellen, zweige-
schlechtlichen Ordnung wird auch als heteronormative Hegemonie bezeichnet
(vgl. Pohlkamp 2014, S. 68).
Die dichotomen binären Geschlechter mit der Bewertung der zugelassenen Ge-
schlechterrolle des „aktiven Mannes“ und der „passiven Frau“ sind das Ergebnis
der herrschenden heteronormativen Ordnung (vgl. Schmitz 2006b, S. 208). Zwei-
geschlechtlichkeit beinhaltet die Forderung nach eindeutiger geschlechtlicher Zu-
weisung, nach dem Entweder-Oder des „wahren Geschlechts“ (vgl. En-
gel/Schuster 2007, S. 141f.).
Im Glauben an die binärgeschlechtliche Eindeutigkeit entstanden Behandlungsan-
sätze, die zu vermeintlichen „Heilungen“ führen. In der Folge werden Menschen
vereindeutigt; sie müssen sich dem Zwang unterwerfen, sich eindeutig zuzuord-
nen oder damit leben, bereits im Kleinkindalter zugeordnet worden zu sein. Den
Eltern wird vielmals geraten, den Kindern nichts zu sagen und die Ärzte verwei-
sen auf die Schweigepflicht (vgl. Woweries 2018, S. 109). Die vereindeutigenden
medizinischen Eingriffe sind nur zu einem kleinen Prozentsatz gesundheitlich
notwendig, weshalb viele inter* geborene Menschen unter psychischen Proble-

                                                                                17
men leiden, die in Folge dieser Operationen auftreten (vgl. von Wahl 2018, S.
123).
Der Zwang nach Eindeutigkeit umfasst außerdem die Übereinstimmung von bio-
logischem Geschlecht, Geschlechtsidentität und dem gegengeschlechtlichen Be-
gehren, der intelligiblen Geschlechtsidentität. Alles, was hiervon abweicht unter-
liegt der Ausgrenzung, dem Verwehren von Anerkennung und Pathologisierung.
Um eine solche intelligible Geschlechtsidentität zu erlangen bedarf es fortwähren-
der Abgrenzung der Identität und Sexualität zu den jeweils als gegensätzlich an-
gesehenen anderen. (vgl. Distelhorst 2009, S. 28f.)
Ein weiterer Effekt der heteronormativen Ordnung ist der des Verlustes, den Ju-
dith Butler Melancholie nennt. Nicht-Heterosexualität und eine Geschlechtsidenti-
tät außerhalb der binären Norm wird als „unlebbar“ dargestellt. Die eigene ge-
schlechtliche und sexuelle Identität muss demnach in starker Abgrenzung zu dem
stehen, was sie nicht ist, um eindeutig zu bleiben. Zur Heteronormativität gibt es
keine Alternative, ausgeschlossen sind Möglichkeiten von Identitäten „dazwi-
schen“ oder „anders“; sie unterliegen einem kulturellen Verbot. (vgl. Distelhorst
2009, S. 55ff.)
Anerkennung erhalten nur diejenigen Menschen, deren Identität im Rahmen der
heterosexuellen, binärgeschlechtlichen Norm liegt. Wenn die Geschlechtsidentität
oder Sexualität sich außerhalb der gebotenen zweigeschlechtlichen und heterose-
xuellen Kategorie verorten, droht Ausschluss in Form des Verlustes des Subjekt-
status und ein Entzug der Anerkennung. Toleranz erfahren können andere Sexua-
litäten und Geschlechtsidentitäten maximal, indem sie als Ausnahme angesehen
werden, was wiederum impliziert, dass eine vollständige Anerkennung niemals
stattfinden kann, da sonst die heteronormative Matrix den Status der gültigen
Norm zu verlieren droht. (vgl. Distelhorst 2009, S. 28, 73)
„Geschlechtliche Wahrheiten und die Wahrheit der Heterosexualität bilden eine
Basis der Gewaltförmigkeit der heteronormativen Geschlechterverhältnisse“
(Pohlkamp 2014, S. 82). Somit führt Heteronormativität zu einem Leiden in und
an der Gesellschaft durch die Pathologisierung von all denjenigen, die unter dem
Begriff queer16 zusammengefasst werden können. Ein bereits angesprochenes
Beispiel sind die Zwangszuweisungen von inter* Personen im Kindesalter durch

16
  Das Wort queer stammt aus dem Deutsch des 16. Jahrhunderts von „verquert“, findet sich seit
dem 20. Jahrhundert als Beleidigung für Homosexuelle in der englischen Sprache und ist seit der
Queer Nation aus den USA in den 1980er Jahren eine Selbstbezeichnung nicht-heterosexueller
Menschen (vgl. Kraß 2003, S.17f.; Degele 2008, S. 43). Als Überbegriff bezeichnet queer all die-
jenigen Menschen, „die sich nicht in das Korsett eindeutiger heterosexueller Orientierungen und
binärer Geschlechtszugehörigkeiten zwängen lassen wollen“ (Degele 2008, S. 42).
                                                                                              18
Operationen, die sie ihr gesamtes späteres Leben prägen. Homosexuelle Men-
schen haben nicht die gleichen Rechte wie heterosexuelle Menschen und ihnen
wurde die Anerkennung ihrer Beziehungen, auch vor dem Gesetz, verwehrt17.
Trans* Personen18 stehen vor der Herausforderung, sich pathologisierten zu las-
sen, um die Behandlungen in Anspruch nehmen zu können, die ihnen zustehen,
um sich in ihrem Körper wohl zu fühlen mit dem Zwang, auch dies „eindeutig“
binärgeschlechtlich umzusetzen (vgl. Woweries 2018, S. 108). Im Gesetzestext
findet sich die Formulierung „das andere Geschlecht“ an verschiedenen Stellen
und im Grundgesetz steht „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3 Abs.
2 GG), was die binären Geschlechter vor Diskriminierung schützt (vgl. Pohlkamp
2014, S. 42); so steht im Gesetz über die „Änderung der Vornamen und die Fest-
stellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“ („Transsexuellenge-
setz“, TSG) als eine Voraussetzung zur Änderung des Vornamens, dass „mit ho-
her Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden
zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“ (§1 Abs. 1 Nr. 2 TSG), um ein
Beispiel zu nennen. Die Version der „International Statistical Classification of
Disease and Related Health Problems“ („Internationalen statistischen Klassifika-
tion der Krankheiten und verwandter Gesundheitsproblemen“, ICD) der World
Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation, WHO) ist als ICD-10-WHO
von 2020 gültig und beinhaltet noch immer „Transsexualismus“ (F64.0) unter
„F64.- Störung der Geschlechtsidentität“ im Kapitel V „Psychische und Verhal-
tensstörungen“ (DIMDI (Hrsg.) 2020, o.S.). Dazu kommt die aktive Ablehnung
durch Menschen innerhalb des heteronormativen Systems im privaten Leben bis
hin zu Gewalterfahrungen (vgl. Rauchfleisch 2018, o.S.). Nur um ein paar Bei-
spiele zu nennen, die jedoch viele andere queere Menschen nicht vergessen ma-
chen sollen. Theorien zu „Heilungsbehandlungen“ zielen darauf ab, die Ge-
schlechtsidentitäten oder Sexualitäten außerhalb der heteronormativen Ordnung
auszulöschen (vgl. Wagenknecht 2007, S. 17).
Heteronormativität findet sich im Alltag und somit auch in Institutionen wieder,
wie den Gesetzgebungen, den Rechten, bevorteilten Beziehungsformen (Ehe) und
den Zugang zu bestimmten Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen. Auch
die ökonomischen Verhältnisse in Form von Arbeitsteilung und wohlfahrtsstaatli-

17
     Mehr dazu in Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

                                                                             19
che Systeme reproduzieren die Ungleichheiten, die jedoch als normal wahrge-
nommen werden und demnach verdeckt bleiben. (vgl. Meyer 2013, S. 442)
Der „Mann“ als Norm hat sich auch in der Sprache niedergelassen. Der Kampf
um eine gendergerechte Sprache ist noch immer mit viel Gegenwehr verbunden.
Das „männliche“ Genus in der Sprache zu benutzen ist beispielsweise mit „besse-
rem Lesefluss“ begründet. Formen, die „Frauen“ mitdenken (Bsp.: Mitarbeiter/in)
oder auch andere Geschlechtsidentitäten, wie trans*, inter*, non binary19 mit dem
Gender Gap (Bsp.: Mitarbeiter_in oder Mitarbeiter*in) ansprechen, sind verbrei-
tet, jedoch noch immer nicht in allen Bereichen des Lebens angekommen. Kaum
Verwendung finden dagegen geschlechtsneutrale Formulierungen, da sie an man-
chen Stellen nicht so leicht zu finden scheinen (Bsp.: Wissenschaftler*innen als
Wissenschaffende? Oder Schüler*innen als zur Schule Gehende?), wie an anderen
(Bsp.: Mitarbeitende oder Studierende); Anreden mit „Herr“ und „Frau“ schließen
ebenfalls andere Identitäten aus, da noch keine Alternativen Einzug in die Sprache
gefunden haben.
       „Ohne Grenze, ohne binäre/dichotome Trennung käme es zu Vermischungen, zu
       Uneindeutigkeiten und Unbestimmtheiten sowie zu nicht kontrollierbaren Bezie-
       hungen in einer Gesellschaft, die den Geschlechterdimorphismus verteidigen will.“
       (Woweries 2018, S. 113)
Heteronormativität kann als Gewaltform bezeichnet werden, denn sie trägt „pro-
duktiv dazu bei, dass sich Zweigeschlechtlichkeit konstituiert, obgleich sich
Grenzphänomene jenseits der normativen Konvention von Geschlecht und Sexua-
lität zeigen können“ (Pohlkamp 2014, S. 81). Sie nimmt Einfluss auf alle Aspekte
des Alltags, der Selbstdefinition und dem, was sozial anerkannt ist und, was dem-
gegenüber Diskriminierung erfährt. (vgl. Pohlkamp 2014, S. 81f.)

3 Queere Perspektive

Was zuvor bereits mit den Begriffen Heteronormativität, heteronormative Matrix,
intelligible Geschlechtsidentität beschrieben wurde, gibt bereits erste Einblicke in
die Queer Theory.
Queer Theory analysiert und hinterfragt die kulturellen Einschreibungen der
Normierungsmacht Heteronormativität. Durch ein Aufdecken dieser Macht wer-

19
  Als non binary (nicht binär) bezeichnen sich die Menschen, die ihre Geschlechtsidentität nicht
binär „männlich“ oder „weiblich“ verorten.
                                                                                               20
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