Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen - Berichte zur Suchtkrankenhilfe - Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und ...

 
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Niedersächsisches Ministerium
für Soziales, Gesundheit
und Gleichstellung

DOKUMENTATION DER 30. NIEDERSÄCHSISCHEN SUCHTKONFERENZ 10| 2020

Update.
Genderbewusste Arbeit
bei Suchtstörungen

Berichte zur Suchtkrankenhilfe
30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ                  Berichte zur Suchtkrankenhilfe           10.2020

                  Update.
                  Genderbewusste Arbeit
                  bei Suchtstörungen

                  Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Impressum

Herausgegeben vom
Niedersächsischen Ministerium für Soziales,
Gesundheit und Gleichstellung
Hannah-Arendt-Platz 2
30159 Hannover

in Zusammenarbeit mit der
Landesvereinigung für Gesundheit und
Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V.
Fenskeweg 2
30165 Hannover

Redaktion:
Thomas Altgeld
Alexandra Schüssler

Layoutkonzept und Gestaltung:
hgb – Homann Güner Blum,
Visuelle Kommunikation,
Hannover

Erschienen im April 2021

Druck:
Unidruck, Hannover

Titelbild: © AdobeStock / Photographee.eu
I N HA LT   5

                                VORWORT

BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG,       Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen                                   6
Niedersächsisches Ministerium
für Soziales, Gesundheit und
Gleichstellung

                                VORTRÄGE

PROF. DR. IRMGARD VOGT          Suchtrisiken und Suchthilfen:                                                      8
                                Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

ANDREAS BÖGGERING               Wie gelingt männersensible Suchtarbeit?                                           16

DR. CAROLA REIMANN              Statement der Sozial- und Gesundheitsministerin                                   21

DORIS HEINZEN-VOß               Cross-Work – Frauen in der Arbeit mit suchtmittel-                                24
                                abhängigen Männern

HANS-JOACHIM LENZ               Mann oder Opfer? Die Verdeckung männlicher Verletzbarkeit                         28
                                im Kontext von männlicher Gewaltbetroffenheit und
                                Suchtabhängigkeit

                                ANHANG                                                                            34

                                Themen bisheriger Suchtdokumentationen
                                Verzeichnis der Referent*innen

                                30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
6   V O R W O RT

                                                       BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG
                                                       Niedersächsisches Ministerium für Soziales,

                                                       Gesundheit und Gleichstellung

    Update.
    Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    liebe Kolleg*innen,

    ganz herzlich begrüße ich Sie zur                  schungsergebnisse belegen, dass               Sollten Sie Interesse haben, das
    heutigen Suchtkonferenz „Update.                   die Kategorie Geschlecht sowohl               Thema erweiterter geschlechtlicher
    Genderbewusste Arbeit bei Sucht-                   für die Entwicklung von Suchterkran-          Identitäten im Kontext von Sucht zu
    störungen“.                                        kungen als auch für deren Behand-             diskutieren und im Rahmen einer
                                                       lung eine wichtige Rolle spielt. Die          Konferenz zu behandeln, können wir
    Als wir die Konferenz im letzten                   Berücksichtigung geschlechtsspezi-            gerne im Verlauf des nächsten Jahres
    Jahr geplant haben, war noch nicht                 fischer Unterschiede trägt dazu bei,          einen Workshop dazu organisieren,
    abzusehen, dass wir virtuell tagen                 dass suchtspezifische Beratung und            um einschätzen zu können, wie der
    werden. Vieles hat sich seither                    Behandlung zielgruppenspezifischer            Bedarf in der Praxis ist. Bitte nutzen
    geändert und ich bin Herrn Altgeld,                erfolgen kann und dadurch erfolg-             Sie die Gelegenheit, uns im Laufe
    Frau Schüssler, dem Team der                       reicher wird.                                 der Konferenz dazu ein Feedback
    LVG und den Referent*innen sehr                                                                  zu geben.
    dankbar, dass wir die Suchtkon-                    Die niedersächsische Richtlinie
    ferenz in diesem Format durch-                     „über die Gewährung von Zuwen-                Heute machen wir Ihnen das Ange-
    führen können.                                     dungen an Fachstellen für Sucht               bot, sich mit geschlechtergerechter
                                                       und Suchtprävention“ sieht schon              Suchtarbeit auseinander zu setzen,
    Herzlichen Dank dafür!                             seit vielen Jahren vor, dass die Sucht-       mit aktuellen, wie ich finde sehr
                                                       beratungsstellen geschlechtsspezi-            interessanten Akzentuierungen.
    Ich muss aber auch gestehen, dass                  fische Arbeit berücksichtigen und
    ich mich im Geheimen schon jetzt                   umsetzen.                                     Denn auch wenn die Essentials klar
    auf die nächste Konferenz freue, bei                                                             sind und genderbewusstes Arbeiten
    der wir uns hoffentlich wieder per-                Die heutige Konferenz stellt aus-             als selbstverständlich betrachtet wird,
    sönlich begegnen können, uns in den                schließlich Beiträge zu frauensen-            ist es doch notwendig, sich immer
    Pausen austauschen und vernetzen                   sibler und männersensibler Arbeit             mal wieder zu vergewissern:
    können und in der Mittagspause                     vor. Das heißt nicht, dass die Diskus-
    unser Nudelbuffet genießen können.                 sion um ein erweitertes Spektrum              Stimmen Theorie und Praxis der
                                                       geschlechtlicher Identitäten an               Suchthilfe überein?
    Genderbewusstes Arbeiten ist seit                  Niedersachsen vorbeigegangen ist.             Arbeiten wir tatsächlich geschlechts-
    mehr als 30 Jahren ein Thema der                   Es heißt einfach nur, dass wir nicht          sensibel, mit allen Konsequenzen?
    Suchthilfe und seit vielen Jahren ein              alle wichtigen Themen in der wenigen          Was hat sich in der Praxis verändert,
    fachlich akzeptierter Standard. Denn               Zeit, die wir hier und heute zur Ver-         worauf weisen neuere Forschungs-
    sowohl Erfahrungen als auch For-                   fügung haben, bearbeiten können.              ergebnisse hin?

    30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VOR W O RT          7

                    BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen

Gibt es neue Erkenntnisse, Phäno-             Im Workshop I haben Sie die Mög-                  Wie Sie wissen, erreichen wir mit
mene, die es notwendig machen,                ichkeit, sich mit den Chancen von                 unseren suchtspezifischen Bera-
den geschlechtssensiblen Blick zu             Cross-Work auseinander zu setzen.                 tungs- und Behandlungsangeboten
erweitern?                                    Cross-Work bedeutet „Über-Kreuz-                  Menschen mit suchtbezogenen
                                              Pädagogik“ bezogen auf das Ge-                    Problemen erst nach durchschnitt-
Ich freue mich auf die Eingangsvor-           schlecht, d.h. Frauen arbeiten mit                lich 10,2 Jahren.
träge, die darauf eingehen, wie               Jungen/Männern, Männer arbeiten
männersensible und frauensensible             mit Mädchen/Frauen. Die Chancen                   Eine lange, oft zu lange Zeit vergeht,
Suchtarbeit gelingen kann. Ich freue          und Möglichkeiten dieses bewusst                  in der sich Abhängigkeitsprobleme
mich auch auf die Workshops, denn             eingesetzten Arbeitsansatzes wer-                 manifestieren können, an dieser
in den Workshops können wir einen             den in dem Workshop erläutert. Im                 Stelle können wir noch besser
Blick auf sich verändernde Realitäten         Workshop II haben Sie die Möglich-                werden …
werfen. Denn es hat sich tatsächlich          keit, sich mit den Auswirkungen
eine ganze Menge geändert – nicht             geschlechtsspezifischer Gewalt auf                Der gendergerechte Blick ist für die
nur pandemiebedingt.                          Jungen und Männer und der Bedeu-                  Behandlung wichtig, aber auch für
                                              tung dieser Gewalterfahrungen auf                 die Prävention und die Ansprache
Beispielsweise haben wir es in den            die Bedingungsfaktoren von Sucht-                 suchtspezifischer Themen. Möglicher-
sogenannten helfenden Berufen,                erkrankungen zu befassen. Ebenfalls               weise gelingt es uns durch gender-
einschließlich Medizin und Psycho-            ein sehr spannender und notwen-                   gerechte Ansätze eher Menschen in
logie mittlerweile mit einer konse-           diger Blickwinkel.                                ihrer Lebensrealität zu erreichen und
quenten Feminisierung zu tun:                                                                   dadurch frühzeitiger Beratungs- und
                                              Ich möchte nicht unerwähnt lassen,                Behandlungsangebote zu vermitteln.
» Sozialarbeit war schon immer –              dass wir noch einen weiteren Exper-
  mit einigen wenigen Ausnahmen               ten für Männergesundheit heute hier               Ich denke, dass wir die Möglichkeiten
  wie zum Beispiel Sucht/Drogenar-            an Bord haben und zwar Thomas                     gezielter, geschlechtsspezifischer An-
  beit und Jugendarbeit – weiblich            Altgeld. Thomas Altgeld begleitet die             sprache für Prävention, Beratung und
  geprägt,                                    Suchtkonferenzen seit vielen Jahren               Behandlung noch besser nutzen
                                              inhaltlich und führt uns als versierter           könnten und sollten.
» in der Medizin haben wir es aktuell         Moderator gut durch die Konferenzen
  mit einem Geschlechterverhältnis            – dafür an dieser Stelle ausdrück-                Nun möchte ich Ihnen eine an-
  bei den Studierenden von 70 %               lichen Dank!                                      regende Tagung wünschen und
  Frauen zu 30 % Männern zu tun,                                                                freue mich auf die Beiträge
                                              Ich würde mich sehr freuen, wenn                  unserer heutigen Referent*innen
» in der Psychologie mit 80/85 :              Sie an der ein oder anderen Stelle                und übergebe die Moderation
  20/15 % weiblichen : männlichen             Ihre Expertise heute hier einbringen              an Herrn Altgeld.
  Studienanfängern.                           würden, insbesondere den Blick auf
                                              die geschlechtsspezifische Kommu-
Es ist wirklich wichtig zu schauen,           nikation zu Gesundheitsthemen,
was daraus für die jeweiligen Arbeits-        den Blick darauf, wie wir Männer
bereiche folgt. Dies gilt insbesondere        und Frauen zielgruppenspezifischer
für Arbeitsbereiche wie Sucht, in             ansprechen und damit besser er-
denen auf der Klient*innenseite               reichen können. Dies bezieht sich
circa /3 Männer sind.
     2
                                              sowohl auf präventive Ansätze, auf
                                              Frühintervention, aber auch auf
                                              Beratung und Behandlung.

                                                                       30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
8   V O RT R ÄG E

                                                       PROF. DR. IRMGARD VOGT

    Suchtrisiken und Suchthilfen:
    Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

    Vorbemerkung                                       liche Konsummuster zu entwickeln,         und verfeinern Kinder ihre Konzepte
                                                       unterschiedlich verteilt. Das liegt zum   über den angemessenen und un-
    Das Thema Wie gelingt frauensensible               einen an den sozialen Normen und          angemessenen Umgang mit einer
    Suchtarbeit? ist anspruchsvoll und                 Regeln, die unseren Alltag beherr-        Reihe von psychoaktiven Substanzen.
    komplex. Aus pragmatischen Gründen                 schen, und zum anderen an den Risi-       Kommen sie ins Jugendalter, haben
    konzentriere ich mich auf substanz-                kofaktoren, die ungleich verteilt sind.   sie bereits viel Wissen über Alkohol,
    bezogene Süchte, also auf Probleme                                                           Nikotin (Zigaretten beziehungswei-
    von Mädchen und Frauen mit dem                                                               se Nikotinprodukte), Cannabis und
    Konsum von Alkohol und von Stras-                  Hintergründe und                          andere psychoaktive Substanzen
    sendrogen (im Folgenden: Sam-                      Risikofaktoren                            gesammelt. Mit dem Einstieg in den
    melbezeichnung für illegale Subs-                                                            eigenen Konsum zwischen 12 und
    tanzen wie Heroin, Kokain, Meth-                   Ich beginne mit einigen Anmerkun-         15 Jahren formen sie ihre eigenen
    amphetamin usw.) sowie auf psy-                    gen zu den sozialen Normen und            Konzepte über diese Substanzen aus
    choaktive Medikamente (vornehm-                    Regeln und den Geschlechtern.             und wie sie selbst damit umgehen
    lich Beruhigungs- und Schmerzmit-                  Pauschal gilt: Weltweit haben Jungen/     wollen. Die Ergebnisse einer Vielzahl
    tel) und auf die professionelle und                Männer im Vergleich zu Mädchen/           von empirischen Studien belegen für
    frauensensible Behandlung von                      Frauen ein höheres Risiko, von Alko-      Deutschland die Differenzen zwischen
    Substanzkonsumproblemen. Ich                       hol, Nikotin, Cannabis (THC) und          den Geschlechtern immer wieder (vgl.
    gehe hier nicht ein auf frauenspe-                 anderen Straßendrogen abhängig            Tabelle 1), wobei sich im Zeitverlauf
    zifische Verhaltenssüchte und de-                  zu werden. Mädchen/Frauen haben           leichte Schwankungen ergeben, auf
    ren Behandlung, auch nicht auf                     im Vergleich zu Jungen/Männern            die ich hier nicht eingehen kann.
    geschlechtersensible Präventions-                  ein höheres Risiko, von psychoakti-
    ansätze.                                           ven Medikamenten, die Ärzt*innen          Bemerkenswert ist, dass die meisten
                                                       verschreiben, abhängig zu werden.         Jugendlichen Risikokompetenzen
    Ich gehe grundsätzlich von der                     Mit dem Alter (60 Jahre und älter)        im Umgang mit psychoaktiven Subs-
    Annahme aus, dass jede Frau be-                    verändern sich die Konsummuster           tanzen erwerben und als Erwachsene
    ziehungsweise jeder Mensch im                      beider Geschlechter etwas.                beibehalten. Das bedeutet, dass Men-
    Lebenslauf Episoden mit gesund-                                                              schen im Alter zwischen 15 und circa
    heitsgefährdendem beziehungs-                      Die Unterschiede zwischen den             25 Jahren lernen, wie sie intentional,
    weise süchtigem Konsum von psy-                    Geschlechtern im Konsum von Alko-         erfolgreich und verantwortungsvoll
    choaktiven Substanzen durchleben                   hol, Nikotin, Cannabis und anderen        mit psychoaktiven Substanzen um-
    kann. Viele überwinden solche Episo-               Straßendrogen haben sehr viel mit         gehen können. Allerdings gibt es
    den, manche bleiben daran hängen.                  sozialen Normen zu tun. Wir „lernen“      suchtspezifische Risikofaktoren, die
    Psychoaktive Substanzen zu konsu-                  von der Kindheit an, welches Verhal-      es für alle Geschlechter schwieriger
    mieren, die Sucht erzeugen können,                 ten für welche Personengruppe in          machen, kompetent und verantwor-
    ist also normal! Allerdings sind die               welchen Kontexten akzeptiert wird         tungsvoll mit Alkohol und anderen
    Risiken, über längere beziehungs-                  und welches eher nicht. In der Beob-      psychoaktiven Substanzen umzuge-
    weise lange Zeit gesundheitsschäd-                 achtung von Erwachsenen ergänzen          hen. (vgl. Tabelle 2)

    30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E           9

       PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

Substanzen                                                        Frauen %                   Männer %                Gesamt %

Riskanter Konsum von Alkohol                                      13,4                       17,0                    15,2

Abhängigkeit von Alkohol                                          2,0                        4,8                     3,4

Rauchen Abhängigkeit                                              9,0                        12,5                    10,8

Missbrauch von Cannabis                                           0,2                        0,8                     0,5

Abhängigkeit von Cannabis                                         0,2                        0,8                     0,5

Abhängigkeit von Heroin                                           0,1                        0,3                     0,2

Abhängigkeit von Amphetaminen                                     0,3                        1,2                     0,7
und verwandten Stoffen

» Ungünstige genetische Ausstattung (etwa durch Sucht eines Elternteils)
» Konsum der Mutter von psychoaktiven Substanzen während der Schwangerschaft
» Bindungsstörungen (und ungenügende Förderung oder Vernachlässigung in der Kindheit und Jugend)
» Stress in der Familie wegen Armut und schlechten Umweltbedingungen
» Opfer von psychischer, körperlicher, sexueller Gewalt in der Familie oder im sozialen Nahraum
    und Beobachtung von Gewalttätigkeiten in der Familie
» Negatives Selbstbild und niedriges Selbstwertgefühl
» Problematischer Kreis von Freund*innen (wenig Unterstützung durch Familienangehörige
   oder andere Personen)
» Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung

Tabelle 1:   ANGABEN ZUM MISSBRAUCH UND ZUR ABHÄNGIGKEIT VON VERSCHIEDENEN PSYCHOAKTIVEN
             SUBSTANZEN NACH GESCHLECHT, IN PROZENT (vgl. Vogt, 2021)
Tabelle 2:   RISIKOFAKTOREN ALS DISPOSITION ZU SUBSTANZKONSUMSTÖRUNGEN (ebd.)

                                                                           30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
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            Gewalttätigkeiten                                       Frauen ohne Suchtprobleme                     Frauen mit Suchtproblemen

            Schwere körperliche Gewalt                                              37 %                                       50– 60 %

            Sexuelle Gewalt                                                         13 %                                       30– 40 %

           Tabelle 3:   FRAUEN OHNE UND MIT SUCHTPROBLEMEN: ANGABEN ZU ERLEBTER GEWALT
                        (Befragte ab 16 bzw. 18 Jahren, Müller & Schröttle, 2006; Zenker et al., 2002).

     Auf viele Risikofaktoren haben Men-                zerstörerisch für die Entwicklung der                 sondere qualitative Studien belegen,
     schen keinen oder nur einen sehr                   Persönlichkeit ist die Erfahrung von                  dass sich sexuelle Gewalterfahrungen
     begrenzten Einfluss, wie auf die gene-             sexueller Gewalt in der Kindheit, in                  in der Regel negativ auf das Selbst-
     tische Ausstattung oder das Bindungs-              der Jugend und im Erwachsenen-                        wertgefühl und das Selbstbild aus-
     verhalten der wichtigsten Bezugsper-               leben. Diese Erfahrungen können                       wirken. Frauen, die lange in gewalt-
     sonen in den ersten Lebensjahren.                  tiefe Spuren im Gedächtnis hinter-                    tätigen und von Sucht bestimmten
     Sie haben auch keinen Einfluss da-                 lassen. Je nach Fall kommt es zu un-                  Beziehungen gelebt haben, beschrei-
     rauf, ob sie in der Kindheit/frühen                terschiedlichen Stress-Reaktionen,                    ben ihre eigene Wertlosigkeit dras-
     Jugend Opfer von körperlicher, psychi-             die die Entwicklung von Posttraumati-                 tisch: „das Gefühl, dass Du minder-
     scher oder sexueller Gewalt werden,                schen Belastungsstörungen nach sich                   wertig bist, wenn Du Dich schlagen
     müssen aber mit den damit verbun-                  ziehen können, ebenso von Ängsten                     lässt, das ist mir klar. Dass Du ein
     denen Folgen im eigenen Leben                      oder Depressionen sowie von Per-                      wehrloses Menschenbündel bist, das
     fertigwerden. Wir wissen heute, dass               sönlichkeitsstörungen (u.a. Borderline                geprügelt wird, ist mir klar Du wirst
     viele erwachsene Männer und man-                   PS, dependente PS, multiple PS). Um                   wertlos gemacht. Du wirst zum Spiel-
     che Frauen unter der Einwirkung von                diesen Erinnerungen zu entkommen,                     ball, du wirst zum Spielzeug. Du bist
     Alkohol und einigen anderen Drogen                 setzen die Opfer sehr oft selbst psy-                 eigentlich ein wertloser Gegenstand,
     dazu neigen, gewalttätig gegenüber                 choaktive Substanzen ein. Das Risiko,                 mehr bist Du gar net“ (vgl. Vogt, 2021,
     anderen Personen zu werden (z.B.                   dass sie selbst von diesen Substanzen                 S.160). Überdies behindern das
     Duke et al., 2018). Im häuslichen Um-              abhängig werden, ist groß, wie die                    negative Selbstbild und das Gefühl
     feld sind die Opfer von körperlicher               Daten in Tabelle 3 belegen.                           der eigenen Wertlosigkeit die Suche
     Gewalt überdurchschnittlich häufig                                                                       nach Hilfen und deren Annahme.
     Kinder und Mütter beziehungsweise                  Im Vergleich zu Jungen werden Mäd-
     Frauen. Kinder und Jugendliche, die                chen häufiger Opfer von sexuellen                     Frauen, die zur Entlastung von psy-
     Gewalttätigkeiten zwischen Vater und               Übergriffen und sexueller Gewalt.                     chischem Stress psychoaktive Subs-
     Mutter oder Mutter und aktuellem                   Die Gefahr, Opfer von Gewalttätigkei-                 tanzen konsumieren und in ihren
     Partner beobachten, sind davon in                  ten zu werden, wächst im Jugendalter                  Freundeskreisen zudem dazu ermun-
     ähnlicher Weise betroffen wie Kinder               und im Erwachsenenleben, wenn sie                     tert werden, erleben vergleichsweise
     und Jugendliche, die selbst Opfer von              selbst unter dem Einfluss von Alkohol                 schnell Ausgrenzungen und Stigma-
     Gewalt geworden sind. Besonders                    und anderen Drogen stehen. Insbe-                     tisierungen. Besonders betroffen da-

     30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E           11

           PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

von sind neben Frauen auch sexuelle                 Diagnostik                                            Persönlichkeitsstörungen (etwa ab-
Minderheiten (Vogt, 2018). Das liegt                                                                      hängige, dissoziale PS, Borderline-PS).
auch daran, dass Frauen, die süchtig                Am Anfang jeder Suchtbehandlung                       Im Rahmen der psychosozialen Dia-
sind, oft im Verhalten und im Ausse-                sollte ein ausführliches Beratungs-                   gnostik ist auch zu erheben, ob die
hen von der Modellvorstellung einer                 gespräch stehen und vor Beginn                        Klientin mit Gewalttätigkeiten in der
„normalen“, „durchschnittlichen“ Frau               einer längeren Behandlung eine                        Kindheit, Jugend und im Erwachse-
abweichen. Das spiegelt sich wider                  gute medizinische und psychosoziale                   nenalter konfrontiert war, ob sie Op-
in vielen Berichten von Frauen mit                  Diagnostik stattfinden. Medizinische                  fer von körperlicher, psychischer und
Suchtproblemen. „Die [Ärzte] denken,                diagnostische Schemata stellt die                     sexueller Gewalt wurde und welche
ach, das sind Junkies, das sind keine               ICD-10 (International Code of Disea-                  Folgen dies für ihre Entwicklung und
Menschen. Das hat mir schon der                     ses, ab 2022 die ICD-11) sowie das                    Lebensführung früher und heute hat.
Kinderarzt so gesagt... Ja. Is‘ leider so.          DSM-5 (Diagnostisches und Statisti-                   Wie neuere Studien zeigen, werden
Wir werden oft in eine Schublade ge-                sches Manual Psychischer Störungen)                   entsprechende Daten eher selten er-
steckt und zugemacht, weil viele den-               zur Verfügung. Für eine psychosoziale                 hoben (Bailey et al., 2019), obwohl
ken oder viele haben keine Ahnung                   Diagnostik können im Rahmen des                       sie für die Hilfeplanung unverzicht-
von uns. Die denken, ach, das sind                  Sozialberichts Module des ICF (Inter-                 bar sind.
Junkies, das sind keine Menschen“                   national Classification of Functioning,
(vgl. Vogt, 2021, S. 331).                          Disability and Health) eingesetzt                     Zum Abschluss müssen alle diagnos-
                                                    werden.                                               tischen Befunde zusammengebracht
Die Öffentlichkeit und in abge-                                                                           und gewichtet werden, um in enger
schwächter Form auch das Fachperso-                 Nach ICD-10 diagnostiziert man eine                   Zusammenarbeit mit den Betroffenen
nal des Gesundheitswesens spiegeln                  Abhängigkeit von einer psychoaktiven                  einen guten Behandlungsplan erar-
den Betroffenen ihre Abweichung                     Substanz anhand von sechs Kriterien                   beiten zu können.
von der Norm zurück – sie machen                    (Wunsch/Zwang zum Konsum, Kon-
sehr deutlich, dass sie Frauen, die                 trollverlust, körperliches Entzugssyn-
„so aussehen“ oder sich „so verhal-                 drom, Entwicklung einer Toleranz,                     Behandlungen
ten“, ablehnen. Auch die Erfahrung                  Vernachlässigung sozialer Verpflich-
von Ausgrenzung und Stigmatisierung                 tungen, Konsum trotz schädlicher                      In Deutschland erlaubt ein gut aus-
senken die Bereitschaft, sich Hilfe                 Wirkungen), von denen für die Dauer                   gebautes Hilfenetz für Menschen mit
wegen der Sucht zu suchen.                          eines Jahres mindestens drei erfüllt                  Substanzkonsumproblemen die Wahl
                                                    sein müssen. Wenn eine Person                         zwischen einer stationären Behand-
Auf vielen Umwegen finden in                        mehrere psychoaktive Stoffe verwen-                   lung in unterschiedlichen Typen von
Deutschland dann doch erstaunlich                   det, muss für jede Substanz geprüft                   Rehabilitations-Kliniken und einer
viele Menschen einen Weg in das                     werden, ob eine Abhängigkeit vorliegt                 ambulanten Behandlung, etwa in
Suchthilfenetz, aber oft erst nach                  oder nicht. Ebenso sollte in jedem                    einer anerkannten Beratungsstelle
vielen Jahren der Abhängigkeit von                  Einzelfall festgestellt werden, ob die                oder einer Instituts-Ambulanz. Da die
Alkohol und anderen Drogen. Wich-                   Person unter weiteren psychischen                     ambulanten Angebote zahlenmäßig
tige Anlaufstellen sind die Suchtbera-              Störungen leidet wie Depressionen                     sehr beschränkt sind und weitere
tungsstellen, die es in allen Städten               (affektive Störungen einschließlich                   Vorschriften die Aufnahme in diese
und schwerpunktmäßig auch in den                    Manien sowie bipolare Störungen),                     erschweren (Frischknecht, 2017),
Landkreisen gibt. Dort entscheidet                  Angststörungen (etwa phobische und                    stehen diese nur einer vergleichs-
sich meist, ob und wie es weiter-                   andere Angststörungen), für akute                     weise kleinen Gruppe von Personen
gehen soll und welche Schritte für                  und posttraumatische Belastungs-                      offen. Das ist bedauerlich, weil einige
eine Behandlung eingeleitet werden                  störungen (PTBS) sowie dissoziative                   Hinweise darauf bestehen, dass die
sollen (Vogt & Hansjürgens, 2020).                  oder somatoforme Störungen und                        stark auf den Einzelfall zugeschnit-

                                                                               30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
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     tenen Behandlungspläne der ambu-                   Suchtproblemen genommen haben.                        helfen will. Aufseiten der Beraterin-
     lanten Angebote oft gute Ergebnisse                Die Gründerinnen dieser Einrich-                      nen und Behandlerinnen bedeutet
     erzielen.                                          tungen standen (und stehen) der                       das, dass sie ihren Klientinnen em-
                                                        Frauenbewegung sehr nahe. Moti-                       pathisch entgegenkommen, ihnen
     Die Mehrzahl der Menschen mit Dia-                 viert wurden sie durch die faktisch                   ihre Wertschätzung wiederholt
     gnosen für Substanzkonsumstörun-                   sehr schwierige Lage von heroinab-                    zeigen, sie deren Erklärungen für
     gen nimmt stationäre Behandlungs-                  hängigen Frauen in konventionellen                    die Entwicklung der Sucht und an-
     angebote wahr. Die meisten der                     Beratungs- und Behandlungsein-                        derer psychischer Störungen auf-
     Sucht-Rehabilitations-Kliniken (im                 richtungen, von denen sehr viele in                   nehmen und würdigen. Sie müssen
     Folgenden: Reha-Kliniken) nehmen                   der Kindheit und Jugend Opfer von                     diese aber nicht teilen. Je nach Ver-
     Männer, Frauen und andere Ge-                      Gewalt geworden waren, insbeson-                      lauf der Zusammenarbeit können
     schlechter im Verhältnis 3:1 auf.                  dere von sexuellen Übergriffen in                     die unterschiedlichen Sichtweisen
     Männer stellen also in diesen Ein-                 der Familie und im sozialen Nahraum                   hinsichtlich der Hintergründe und
     richtungen die größte Gruppe von                   (z.B. Schmidt, 2000). In den Bera-                    des Verlaufs der Substanzabhängigkeit
     Patienten. Einige wenige der Reha-                 tungsgesprächen mit diesen Frauen                     in der Behandlung thematisiert und
     Kliniken nehmen nur Männer oder                    ergaben sich Hinweise darauf, dass                    besprochen werden. Neben dem
     nur Frauen auf. Solche Einrichtungen               die Entwicklung einer Sucht in ursäch-                Beziehungsaufbau haben sich diver-
     nur für Frauen oder nur für Männer                 lichem Zusammenhang mit diesen                        se psychosoziale und psychothera-
     gibt es seit den Anfängen der statio-              Gewalterfahrungen stand beziehungs-                   peutische Angebote bewährt. Im
     nären Hilfen für Menschen mit Alko-                weise steht. Man nahm an, dass die                    ambulanten Bereich arbeitet man
     holproblemen (damals: Trunksucht),                 Frauen zum Beispiel Heroin eingesetzt                 mit einer Vielzahl von Interventio-
     also etwa seit 1870. Ursprünglich                  haben, um ihre Gewalterfahrungen                      nen, etwa traumatherapeutische
     wurden sie eingerichtet, weil man                  und die damit zusammenhängen-                         Gruppenangebote, angelehnt an
     annahm, dass trunksüchtige Frauen                  den psychischen (und physischen)                      das Programm „Sicherheit finden“
     auch sexsüchtig seien. Um die Män-                 Schmerzen aus dem Bewusstsein                         (Najavits, 2009; Schäfer et al., 2019).
     ner vor der Gefahr, von Frauen sexuell             auszuschalten. Die Forschungen zu                     Dazu kommen heute einzelthera-
     „überfallen“ zu werden, zu bewahren,               akuten und posttraumatischen Belas-                   peutische Hilfen zur Behandlung
     wurden für Frauen und Männer mit                   tungsstörungen haben diese Annah-                     von posttraumatischen Belastungs-
     Alkoholproblemen getrennte Ein-                    men weitgehend bestätigt.                             störungen (Norman et al., 2019).
     richtungen geschaffen. Erst ab den                                                                       In den Wohneinrichtungen geht
     1970er-Jahren wurden viele Sucht-                  Beraterinnen und Behandlerinnen                       es darüber hinaus darum, zur Ent-
     Reha-Kliniken für beide Geschlechter               in diesen Einrichtungen nur für                       wicklung eines positiven Selbstbil-
     geöffnet (mehr dazu buss, 2016).                   Frauen gehen davon aus, dass eine                     des beispielsweise Verantwortung
                                                        vertrauensvolle Beziehung zu einer                    in der Gruppe zu übernehmen,
     Hier interessiert aber die Entwicklung             Bezugsperson (etwa einer Psycho-                      Aufgaben zu erledigen und darauf
     einer neuen Generation von ambulan-                logischen Psychotherapeutin oder                      zu achten, sich selbst nicht zu über-
     ten Anlauf- und stationären Behand-                einer in Suchttherapie fortgebildeten                 fordern.
     lungseinrichtungen nur für Frauen                  Sozialarbeiterin) zentral ist für eine
     (mit dem Schwerpunkt: Abhängig-                    erfolgreiche Zusammenarbeit (Hans-                    Zu den Besonderheiten dieser Ein-
     keit von Straßendrogen), die in den                jürgens, 2018). Die Klientinnen müs-                  richtungen gehört es, dass sie sich
     Achtziger-/Neunzigerjahren gegründet               sen sich von Anfang an angenom-                       von Anfang an mit den spezifischen
     wurde. Es handelt sich um eine relativ             men fühlen, sie müssen erleben, dass                  Problemen von Sucht und Schwan-
     kleine Zahl von Einrichtungen, die mit             die Beraterin beziehungsweise die                     gerschaft und des Zusammenlebens
     ihren Anliegen und Arbeiten aber ver-              Psychotherapeutin sie in ihrem An-                    von Frauen mit Suchtproblemen
     gleichsweise großen Einfluss auf die               liegen und mit ihren Problemen ver-                   mit kleinen Kindern befasst haben.
     Behandlung von allen Menschen mit                  steht und ihr bei deren Bewältigung                   Mittlerweile haben sich hier Rou-

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tinen eingespielt. Dazu zählen die                 Depressionen, Behandlung von                          Jahren katamnestische Daten (Ein-
Bereitschaft, süchtige Frauen, die                 Essstörungen) wirken und wie                          Jahres-Zeitraum) in stationären Sucht-
schwanger sind, durch die Schwan-                  effektiv diese Wirkungen sind, wird                   Reha-Kliniken erheben. Für den Ent-
gerschaft zu begleiten und sie dabei               in Deutschland eher selten unter-                     lassjahrgang 2017 liegen Daten von
zu unterstützen, ihren Konsum von                  sucht.                                                16 Fachkliniken mit den Schwerpunk-
Straßendrogen zu verändern oder                                                                          ten: Alkohol- und Medikamenten-
ganz aufzugeben. Vor und nach                      Aus den Anlauf- und Behandlungs-                      abhängigkeit für insgesamt 7.826
der Geburt arbeiten viele Einrichtun-              einrichtungen nur für Frauen mit                      Personen vor (von denen circa 6.000
gen eng mit den Einrichtungen der                  Suchtproblemen liegen nur einige                      in der Auswertung berücksichtigt
Jugendhilfe vor Ort zusammen, wo-                  unsystematische Untersuchungen                        werden konnten, Bachmaier et al.,
bei es stets darum geht, neben den                 über die Langzeitwirkungen dieser                     2020), für den Schwerpunkt Straßen-
Interessen der Kinder auch die der                 Angebote vor. Langgässner (2016)                      drogen von 3 Kliniken mit 734 Men-
Mütter zu berücksichtigen (vgl. dazu               hat 23 Frauen, die zwischen 2007                      schen (Kemmann et al., 2020). Die
Tödte & Bernard, 2016). Es handelt                 und 2011 in der Sozialtherapeuti-                     Daten geben auch Auskunft darüber,
sich um ein besonders schwieriges                  schen Wohngemeinschaft von Prima                      ob Menschen ein Jahr nach Been-
Arbeitsfeld, weil der Schutz der Kin-              Donna (München) gelebt haben,                         digung der Therapie noch abstinent
der und die Sicherung des Kindes-                  nachverfolgt. Untersucht man zuerst                   sind. Die Studie von Bachmeier et
wohls nicht immer kompatibel sind                  die Aussagen dieser Frauen zur Ab-                    al. weist für 6.000 Menschen mit der
mit den Interessen der Mütter mit                  stinenz von Straßendrogen, dann er-                   Diagnose Abhängigkeit von Alkohol
ihren Suchtproblemen. Das kann                     gibt sich, dass 90 % von ihnen sich                   oder psychoaktiven Medikamenten
zu Konflikten insbesondere mit der                 als „clean“ bezeichnen. 52 % sind                     aus, dass 38 % zusätzlich eine Dia-
Kinder- und Jugendhilfe führen.                    „clean“ seit sie die Wohngemeinschaft                 gnose wegen einer affektiven Störung
                                                   verlassen haben, 38 % haben das                       (Depression, F32, 33, 34,1) hatten,
Das Engagement der Mitarbeiterinnen                nach einigen Rückfällen geschafft.                    16 % wegen einer Angststörung
in den Fraueneinrichtungen hat dazu                Das sind enorm hohe Zahlen, wie                       (F40, 41) und 11 % wegen einer
beigetragen, dass sich in einer Reihe              sich im Vergleich mit anderen Daten-                  Persönlichkeitsstörung (F60, 61).
von Städten Qualitätszirkel formiert               sätzen zeigt. Auch hinsichtlich anderer               Diagnosen für Posttraumatische
haben, in denen Vertreterinnen der                 Variablen, wie etwa: in einer eigenen                 Belastungsstörungen sind selten.
Suchthilfe mit denen der Arbeitskreise             Wohnung leben, Eingliederung in                       Das Ergebnis erstaunt, insofern
„Interventionen gegen Gewalt gegen                 die Arbeitswelt zeigen sich sehr gute                 qualitative Studien immer wieder
Frauen“ sowie mit Vertreterinnen der               Ergebnisse. Zu beachten ist hier, dass                belegen, dass nicht nur sehr viele
Frauenhäuser zusammenarbeiten.                     in der Studie nicht angegeben wird,                   Frauen mit Substanzkonsumstö-
                                                   wie viele Frauen im selben Zeitraum                   rungen wegen ihrer Gewalterfah-
                                                   diese Behandlung angefangen und                       rungen unter Posttraumatischen
Behandlungserfolge                                 dann abgebrochen haben. Man hat                       Belastungsstörungen leiden, son-
                                                   es also mit einer „positiven“ Stich-                  dern auch etliche Männer mit
Ob und wie die Angebote nach Set-                  probe zu tun, eben den (wenigen)                      diesen Störungen.
ting (also ambulante Anlauf- und                   Frauen, die die Behandlung nicht
Behandlungseinrichtungen nur für                   abgebrochen haben und zudem                           Betrachtet man die Angaben zu den
Frauen mit Suchtproblemen im Ver-                  noch in Kontakt mit der Institution                   Abstinenzquoten, ergibt sich Folgen-
gleich zu stationären Behandlungen                 stehen.                                               des. Bei Menschen, die von Alkohol
in Sucht-Reha-Kliniken allgemein                                                                         oder psychoaktiven Medikamenten
und in denen nur für Frauen) und                   Auch für die stationären Sucht-Reha-                  abhängig waren, variiert die Absti-
nach eingesetzten Methoden (etwa                   Kliniken liegen einige Daten zu den                   nenzquote nach einem Jahr bei den
Behandlung von Traumafolgestörun-                  Behandlungsergebnissen vor. Der                       Frauen zwischen 75 % (Berechnung
gen, Behandlung von Ängsten und                    Fachverband Sucht lässt seit etlichen                 nach: Erreichte mit planmäßiger

                                                                              30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
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                                                        PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

     Beendigung) und 40 % (Berechnung                   Resümee                                               Was sich erheblich verändert hat,
     nach: intention to treat) und bei den                                                                    ist das Behandlungsangebot für
     Männern zwischen 75 % (Berech-                     Was hat sich seit der Niedersäch-                     Frauen mit Suchtproblemen: Es
     nung nach: Erreichte mit planmäßiger               sischen Suchtkonferenz 2008                           hat sich in den letzten zehn Jahren
     Beendigung) und 37 % (Berechnung                   „Geschlechtergerechte Ansätze in                      weiterentwickelt, ist differenzierter
     nach: intention to treat). Je nachdem,             der Suchtarbeit“ und heute getan?                     und insgesamt professioneller ge-
     wie die Abstinenzquoten errechnet                  Der Blick ist weiter geworden. Das                    worden. Das wirkt sich bislang aber
     werden, erhält man also „bessere“                  gilt für Abhängigkeiten allgemein                     eher bescheiden auf die Behand-
     oder „schlechtere“ Werte. Das gilt                 und für die Personengruppen. Wir                      lungserfolge aus. Immerhin gilt wie
     auch für Menschen, die von Straßen-                gehen nicht mehr davon aus, dass                      vor zehn Jahren, dass Frauen von
     drogen abhängig waren – bei ihnen                  Abhängigkeiten von psychoaktiven                      „guten Suchtbehandlungen mindes-
     variiert die Abstinenzquote zwischen               Substanzen und süchtige Verhal-                       tens im selben Ausmaß profitieren
     70 % und 17 % (keine Differenzie-                  tensweisen Jugendphänomene sind.                      wie Männer“ (Vogt, 2008).
     rung nach Geschlecht angegeben).                   Jedoch gibt es (noch immer) Unter-
     Je nach Betrachtungsweise kann man                 schiede zwischen den Geschlechtern,
     die Behandlungserfolge also als gut                was Süchte und süchtige Verhaltens-
     oder ziemlich mäßig einschätzen.                   weisen betrifft. Das lässt sich auch
                                                        ablesen an den Risikofaktoren, die
     Der Vergleich zeigt, dass die Behand-              die Geschlechter in unterschiedlicher
     lungen von Frauen, die in Wohnge-                  Weise betreffen und an den Zahlen
     meinschaften nur für Frauen wegen                  der Menschen, die im Laufe ihres
     ihrer Drogenprobleme behandelt                     Lebens eine Abhängigkeitsdiagnose
     werden, etwas besser abschneiden                   erhalten. Es zeigt sich auch an den
     als jene, die an stationären Sucht-                Themen, mit denen sich die Betrof-
     Reha-Behandlungen teilnehmen.                      fenen selbst, die Behandelnden so-
     Die Unterschiede sind, legt man die                ie die Forschenden befassen. In
     „guten“ Werte zugrunde, aber nicht                 Deutschland sind die Themen Sucht
     sehr groß und angesichts einer ins-                und Gewalttätigkeiten noch immer
     gesamt eher unsicheren Datengrund-                 gewissermaßen „Frauenthemen“, in
     lage auch nicht sehr aussagekräftig.               den englischsprachigen Ländern ist
     Tatsächlich zeigen einige wenige                   das anders: Dort sind diese Themen
     methodisch gut durchgeführte Stu-                  im Mainstream. Das verdeutlicht sich
     dien aus den USA, dass die Behand-                 ebenso an der Zahl der Beiträge, die
     lungen, die explizit auf Frauen mit                in Fachzeitschriften und Büchern zu
     Suchtproblemen zugeschnitten sind,                 diesen Themen veröffentlich worden
     keine besseren Ergebnisse erzielen                 sind, die in den letzten 20 Jahren
     als Behandlungen, an denen Frauen                  geradezu explodiert ist. Es gibt auch
     und Männer teilnehmen – voraus-                    erste randomisierte Studien, in denen
     gesetzt, das Geschlechterverhältnis                mit einschlägigen Programmen so-
     in den Gruppen ist ausgeglichen und                wohl die Alkoholabhängigkeit als
     frauenspezifische sowie männer-                    auch die Gewaltbereitschaft bear-
     spezifische Themen werden im                       beitet wird (Chermack et al., 2018;
     selben Umfang und mit derselben                    Schumm et al., 2009). Zeitverzögert
     Ernsthaftigkeit behandelt (zum                     ist mit einer ähnlichen Entwicklung
     Beispiel Epstein et al., 2018).                    in Deutschland zu rechnen.

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                PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit?

Literatur

Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Dreckmann, I. et al.        Hansjürgens, R. (2018): „IN KONTAKT KOMMEN“.                  Tödte, M. Benard, C. (Hrsg.) (2016): FRAUENSUCHT-
(2020): EFFEKTIVITÄT DER STATIONÄREN SUCHT-                 Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in              ARBEIT IN DEUTSCHLAND. Eine Bestandsaufnahme.
REHABILITATION – FVS-KATAMNESE DES ENTLASS-                 Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verlag.            Bielefeld: transcript.
JAHRGANGS 2017 VON FACHKLINIKEN FÜR
ALKOHOL- UND MEDIKAMENTENABHÄNGIGE.                         Kemmann, D., Muhl, C., Funke, W. et al. (2020):               Vogt, I. (2008): FRAUEN UND MÄNNER: TRINK-
SuchtAktuell, 27, 50–65.                                    EFFEKTIVITÄT DER STATIONÄREN ABSTINENZ-                       MUSTER UND TRINKFOLGEN. GEMEINSAMKEITEN
                                                            ORIENTIERTEN DROGENREHABILITATION.                            UND DIFFERENZEN. In: Niedersächsisches Ministerium
Bailey, K., Trevillion, K., Gilchrist, G. (2019):           FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2017                       für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit,
WHAT WORKS FOR WHOM AND WHY: A NARRATIVE                    von Fachkliniken für Drogenrehabilitation.                    Berichte zur Suchtkrankenhilfe, 18. Niedersächsische
SYSTEMATIC REVIEW OF INTERVENTIONS FOR                      SuchtAktuell, 27, 66–71.                                      Suchtkonferenz, 09, 2008, 6–19.
REDUCING POST-TRAUMATIC STRESS DISORDER
AND PROBLEMATIC SUBSTANCE USE AMONG                         Müller, U., Schröttle, M. (2006): GEWALT GEGEN                Vogt, I. (2018): SEXUELLE IDENTITÄT, DER KONSUM
WOMEN WITH EXPERIENCES OF INTERPERSONAL                     FRAUEN IN DEUTSCHLAND – AUSMASS, URSACHEN,                    VON ALKOHOL UND ANDEREN DROGEN, GESUND-
VIOLENCE. Journal of Substance Abuse Treatment,             FOLGEN. In: Heitmeyer, W. & Schröttle, M. (Hrsg.):            HEITLICHE PROBLEME UND BEHANDLUNGSANSÄTZE:
99, 88–103.                                                 Gewalt. Bonn: Bundeszentrale für politische                   EIN UNSYSTEMATISCHER FORSCHUNGSÜBERBLICK.
                                                            Bildung, 77–97.                                               Suchttherapie, 19, 168–175.
buss – Bundesverband für stationäre Suchtkranken-
hilfe e.V. (Hrsg.) (2016): DIE ADAPTIONSBEHANDLUNG          Najavits, L.M. (2009): POSTTRAUMATISCHE                       Vogt, I. (2021): GESCHLECHT, SUCHT, GEWALTTÄTIG-
– INHALTE UND ZIELE DER ZWEITEN PHASE DER                   BELASTUNGSSTÖRUNG UND SUBSTANZMISS-                           KEITEN. DIE SICHT VON SÜCHTIGEN AUF IHR LEBEN
LEISTUNGEN ZUR MEDIZINISCHEN REHABILITATION                 BRAUCH. DAS THERAPIEPROGRAMM „SICHERHEIT                      UND AUF FORMALE HILFEN. Weinheim: Beltz.
ABHÄNGIGKEITSKRANKER.                                       FINDEN“. Göttingen: Hogrefe.
                                                                                                                          Vogt, I., Hansjürgens, R. (2020): STUDIENBRIEF
Duke, A. A., Smith, K. M., Oberleitner, L. et al. (2018):   Norman, S.B., Trim, R., Haller, M. et al. (2019):             MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN: SUCHT.
ALCOHOL, DRUGS, AND VIOLENCE: A META-META-                  EFFICACY OF INTEGRATED EXPOSURE THERAPY                       Hamburger Fern-Hochschule, Hamburg.
ANALYSIS. Psychology of Violence, 8(2), 238–249.            VS INTEGRATED COPING SKILLS THERAPY FOR
                                                            COMORBID POSTTRAUMATIC STRESS DISORDER                        Zenker, C., Baumann, K. & Jahn, I. (2002):
Epstein E. E., McCrady, B. S., Hallgren, K. A. et al.       AND ALCOHOL USE DISORDER. A randomized                        GENESE UND TYPOLOGISIERUNG DER AB-
(2018): A RANDOMIZED TRIAL OF FEMALE-SPECIFIC               clinical trial. JAMA Psychiatry, 76(8), 791–799.              HÄNGIGKEITSERKRANKUNGEN BEI FRAUEN.
COGNITIVE BEHAVIOR THERAPY FOR ALCOHOL                                                                                    Baden-Baden: Nomos.
DEPENDENT WOMEN. Psychology of Addictive                    Schmidt, S.A. (2000): PRÄVALENZ SEXUELLEN KINDES-
Behaviors, 32(1), 1–15.                                     MISSBRAUCHS BEI OPIATABHÄNGIGEN. Berlin: VWB.

Frischknecht, U. (2017): WERDEN MENSCHEN MIT                Schäfer, I., Lotzin, A., Hiller, P. et al. (2019): A MULTI-
SUCHTERKRANKUNGEN IN DER AMBULANTEN                         SITE RANDOMIZED CONTROLLED TRIAL OF SEEKING
PSYCHOTHERAPIE STIGMATISIERT? Verhaltenstherapie            SAFETY VS. RELAPSE PREVENTION TRAINING FOR
und psychosoziale Praxis, 49, 325–333.                      WOMEN WITH CO-OCCURRING POSTTRAUMATIC
                                                            STRESS DISORDER AND SUBSTANCE USE DISORDERS.
                                                            European Journal of Psychotraumatology, 10(1), 1–15.

                                                                                              30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
16   V O RT R ÄG E

                                                        ANDREAS BÖGGERING

     Wie gelingt männersensible Suchtarbeit?

     Die Notwendigkeit gendergerech-                    Verhältnis von 7:1 beim pathologi-          Männer aktiv. „Reine Männer-
     ter Suchtarbeit ist unumstritten.                  schen Glücksspiel bis zu 10:1 in der        gruppen gibt es nur vereinzelt“
     Inzwischen sollte männersensible                   exzessiven Mediennutzung. In der            (DHS Jahrbuch Sucht, 2020).
     Suchtarbeit zum Standardrepertoire                 Betrachtung der stoffgebundenen           » Was den fachlichen Austausch
     jeder Beratungsstelle und Rehabilita-              Suchtstörungen ergeben sich Verhält-        betrifft, gibt es im ganzen Bundes-
     tionseinrichtung gehören. Seit vielen              nisse von 2:1 im Alkoholkonsum,             gebiet lediglich 3 Arbeitskreise
     Jahren beschäftigen sich Praxis und                3:1 im Konsum von Opiaten und               „Mann und Sucht“ (Münster, Berlin
     Forschung mit der geschlechterge-                  von 5:1 beim Cannabiskonsum.                und München). Im Vergleich dazu
     rechten Suchtarbeit. Bereits 2008                  Eine Umkehrung ergibt sich lediglich        gibt es alleine in Nordrhein-West-
     widmete sich die Niedersächsische                  für den Konsum von Sedativa/Hyp-            falen 14 Arbeitskreise „Frau und
     Suchtkonferenz dieser Thematik. Im                 notika (1:1,2) und für Essstörungen         Sucht“ (Vosshagen, 2019).
     Jahr 2020 steht das Thema wiederum                 (1:10) (DHS Jahrbuch Sucht, 2020).
     auf der Agenda. Und das vollkommen                 Bisweilen entsteht der Eindruck, das
     zu Recht! Das Thema ist nach wie vor               männerspezifische Beratungs- und          Männer und Rollenbilder:
     aktuell und hat nichts an Relevanz                 Behandlungsangebote zu einer              Wann ist ein Mann
     verloren. Ganz im Gegenteil! Es schei-             Selbstverständlichkeit geworden           ein Mann?
     nen regelmäßige Wellenbewegungen                   sind. In der Realität lässt sich jedoch
     zu erfolgen, im Zuge derer gender-                 eine Diskrepanz zwischen Theorie          Für eine erfolgreiche Suchttherapie
     gerechte Suchtarbeit fokussiert und                und Praxis feststellen:                   ist eine intensive Auseinandersetzung
     die Umsetzung in die Praxis gefordert                                                        mit den vorherrschenden Rollenbil-
     wird. Dieser Artikel möchte für das                » Laut der DRV Bund gibt es in der        dern notwendig. Wie sind Männer?
     Thema sensibilisieren und einen Ein-                 Suchtrehabilitation bei Abhängig-       Wann ist ein Mann ein Mann? In ei-
     druck vermitteln, wie sich männer-                   keitserkrankungen 185 ganztätig         nem Seminar mit Männern fragte ich
     sensible Suchtarbeit praxisorientiert                ambulante und stationäre Einrich-       die Teilnehmer, was ihnen spontan
     umsetzen lässt.                                      tungen. Dabei sind lediglich 11 für     zu Männern einfällt: „Dominant,
                                                          Frauen und 20 für Männer (Fachde-       verschlossen, muskulös, handwerk-
                                                          zernat 8022, I. Schulz, persönliche     liebend, aggressiv, karrieregeil, Kon-
     Zahlen, Daten                                        Korrespondenz vom 30.07.20).            kurrenten, reden nicht – sondern
     und Fakten                                         » In ganz Deutschland gibt es nur         handeln, alleine und besonders
                                                          19 registrierte männerspezifische       belastbar …“.
     Bei der Betrachtung der aktuellen                    Suchtberatungsangebote (Männer-
     Datenlage zeigt sich, dass Männer                    sache Sucht, 2020).                     Was wir über Männer „wissen“, sind
     nach wie vor wesentlich höhere An-                 » Es gibt 4110 Selbsthilfegruppen,        überwiegend Stereotype, die auf
     teile bei fast allen Hauptdiagnosen                  die zu 81 % geschlechtsgemischt         einige Männer zutreffen, auf andere
     aufweisen. Die Rangreihen im am-                     sind. In den Suchtselbsthilfeverbän-    nur teilweise oder gar nicht. Aufgrund
     bulanten Bereich reichen von einem                   den sind 30.000 Frauen und 40.000       der Allgegenwärtigkeit ist es trotz-

     30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E           17

                                    ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit?

dem wichtig einzuschätzen, welche            und rationalisiert. In Abhängigkeit                Themen
Stereotype mein Gegenüber verinner-          zur Lebens- und Therapiephase sind                 Seitens des Klienten werden zunächst
licht hat und nach welchen männer-           eine empathische oder konfronta-                   eher vordergründige Themen oder
spezifischen „Regeln“ sein Verhalten         tive Haltung des*der Therapeut*in                  Themen, die Stärke und Leistungs-
unbewusst und bewusst ausgerichtet           notwendig. Dabei ist natürlich die                 fähigkeit „beweisen“, angesprochen.
ist. Dabei sind viele „Regeln“ nicht         Individualität des Klienten (zum                   Konkrete Ziele und Symptome stehen
hinterfragt, rigide und hart, wodurch        Beispiel: Komorbidität, Krisen, Suizi-             zunächst im Vordergrund. Bisweilen
Leid produziert wird. In diesem Zu-          dalität et cetera) angemessen zu                   kann es auf der Beziehungsebene um
sammenhang ist es wichtig, dass              berücksichtigen.                                   „Machtklärung“ und das Abarbeiten
wir als Therapeut*innen unser eige-                                                             von Konkurrenzdenken gehen. Das
nes Männerbild kennen und unser              Motivation                                         Besprechen von Konflikten und vor
eigenes Normen- und Wertesystem              Männer sind bei einem Erstkontakt                  allem Gefühlen ist häufig erst später
hinterfragen, um eine therapeuti-            häufig extrinsisch motiviert und                   möglich, wenn eine tragfähige Bezie-
sche Grundhaltung zu entwickeln.             werden „geschickt“:                                hung entstanden ist und der Klient
                                             Die Ehefrau ist unzufrieden und droht              aufgrund der Rahmenbedingungen
Denn erst dadurch ist eine authen-           mit einer Trennung, der Chef erteilt               an Sicherheit gewonnen hat.
tische Begegnung und Kontaktge-              eine Auflage, da es alkoholbedingte
staltung mit unserem Gegenüber               Auffälligkeiten am Arbeitsplatz ge-
möglich.                                     geben hat, der Führerschein wurde                  Ziele männersensibler
                                             aufgrund einer Trunkenheitsfahrt ent-              Suchtarbeit
                                             zogen usw. Der Klient zeigt zunächst
Männer im therapeutischen                    wenig Problembewusstsein und eine                  In der männersensiblen Suchtarbeit
Kontext                                      Therapiebedürftigkeit wird bezweifelt.             lassen sich eine Reihe von grund-
                                             Daher ist es notwendig, die intrinsi-              sätzlich Zielen formulieren. Für eine
Im therapeutischen Kontext lassen            sche Motivation zu fördern, um eine                erfolgreiche Suchtarbeit sollten fol-
sich zumeist folgende Merkmale               Veränderung zu ermöglichen. Hierbei                gende Ziele in den Blick genommen
erkennen:                                    hat sich der Ansatz des Motivational               werden:
Zu Beginn des therapeutischen                Interviewing (Miller & Rollnick, 2005)
Prozesses sind Männer zumeist ab-            bewährt.                                           » Übernahme von Selbstverantwor
wartend, skeptisch, unsicher und                                                                  tung anstelle von Verantwortungs-
distanziert. Auf der Verhaltensebene         Setting                                              abgabe.
zeigen sich rational und kontrol-            Für die meisten Männer ist die Be-                 » Identifikation, Reflexion und Bear-
lierte Äußerungen. Das Setting und           ratungssituation ein „Auswärtsspiel“.                beitung von individuellen stereo-
sein Gegenüber werden beobach-               Das Setting, bestehend aus sich                      typischen Geschlechtsrollenfixie-
tet und gelegentlich „getestet“, um          gegenübersitzen und über sich reden,                 rungen (toxische Männlichkeit).
mehr Sicherheit zu gewinnen. Die             ist für viele neu und gewöhnungsbe-                » Neudefinition von männlicher
Erwartungen bezüglich professionel-          dürftig. Dabei werden Selbstaussagen                 Stärke und die Entwicklung eines
ler therapeutischer Hilfe sind eher          eingefordert, problematische Verhal-                 „positiven“ Selbstbildes, um das
negativ. Es besteht der Wunsch nach          tensweisen fokussiert und Gefühle                    eigene Selbstwertgefühl zu verbes-
schnellen Lösungen, nach Reparatur,          angesprochen. Deshalb sind Geduld                    sern. Dabei sollen die Männer ihre
nach der Beseitigung der „Fehler“.           und Zeit notwendig, damit eine                       bereits vorhandenen Ressourcen
Das Leben soll wieder funktionieren.         therapeutische Beziehung wachsen                     entdecken.
Wenn Gefühle wahrgenommen wer-               sowie eine günstige Lernatmosphäre                 » Entfaltung eines individuellen
den, werden sie zumeist abgewehrt            entstehen kann.                                      emanzipierten Männerbildes,

                                                                       30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
18   V O RT R ÄG E

                                                        ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit?

                                                                 5 Säulen der Identität

             Leiblichkeit               Arbeit                      Soziale                    Materielle              Werte
                                        Leistung                    Beziehungen                Sicherheit              Normen

             Körper                     Beruf                       Familie                    Geld                    Glaube
             Seele                      Sinnstiftende               Freunde                    Einkommen               Tradition
             Gesundheit                 Tätigkeit                   Kollegen                   Wohnung                 Sinnfragen
             …                          …                           Vereine                    Nahrung                 Moral
                                                                    …                          Konsum                  …
                                                                                               …

     Abbildung 1:   5 SÄULEN DER IDENTITÄT (In Anlehnung an Petzold, 1995, S. 155–157)

       Befreiung von äußeren Rollenzu-                  » Verarbeitung von Scham- und                     unterschiedlichen Säulen basiert:
       schreibungen und Zwängen. Ein                      Schuldgefühlen. Aufgrund der Dis-               Leiblichkeit (Körper, Seele, Gesund-
       wichtiger Aspekt hierbei sind der                  krepanz zwischen Wunschbild und                 heit), Arbeit und Leistung (Beruf,
       Abbau von Omnipotenzfantasien                      Realität entsteht eine kognitive Dis-           sinnstiftende Tätigkeit), Soziale Bezie-
       und die Entwicklung einer „männ-                   sonanz. Dadurch entstehen Schuld-               hungen (Familie, Freunde, Kollegen,
       lichen Versagenskultur“.                           und Schamgefühle, die einer inten-              Vereine), Materielle Sicherheit (Geld,
     » Sensibilisierung für die eigene                    siven Bearbeitung bedürfen.                     Einkommen, Wohnung, Nahrung,
       Person und die Lebensumwelt. Da-                 » Es gibt eine Reihe von männer-                  Konsum) sowie Werte und Normen
       für ist die Förderung von Antizipa-                spezifischen Themen, die fokussiert             (Glaube, Tradition, Sinnfragen, Moral).
       tion- und Introspektionsfähigkeit                  und reflektiert werden müssen                   Die Säulen können unterschiedlich
       sowie die Förderung von Empathie                   (siehe Handbuch „Männlichkeiten                 „stark“ ausgeprägt und dadurch
       notwendig.                                         und Sucht“).                                    besonders „tragend“ oder aber
     » Verbesserung der Gefühlswahrneh-                                                                   „schwach“ ausgebildet sein. Durch
       mung und Gefühlsdifferenzierung.                                                                   die ganzheitliche Sichtweise ist es
       Das Erkennen von eigenen Wün-                    Fünf Säulen der Identität                         möglich, die jeweiligen Ressourcen
       schen und Bedürfnissen. In der                                                                     und die krisenhaften Lebensbereiche
       männersensiblen Suchtarbeit geht                 Um einen Eindruck von der Lebens-                 zu identifizieren. Die Erarbeitung des
       es immer um Gefühle! („Echte                     situation des Klienten zu bekommen,               individuellen Säulenmodells erfolgt
       Männer fühlen.“)                                 hat sich in der praktischen Arbeit das            gemeinschaftlich mit dem Klienten.
     » Verbesserung der eigenen sozialen                „Fünf Säulen Modell der Identität“                Eine zumeist besonders herausfor-
       Kompetenzen und der Kommuni-                     nach H.G. Petzold bewährt. Das fol-               dernde Intervention für Männer be-
       kationsfähigkeit. („Echte Männer                 gende (in Anlehnung an Petzold,                   steht darin, dass der Klient sein Säu-
       reden.“)                                         1995) entwickelte Modell geht davon               lenmodell malt, um es anschließend
                                                        aus, dass unsere Identität auf fünf               der*dem Therapeut*in vorzustellen.

     30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E           19

                                     ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit?

Männer und Gefühle                            Beratung von Mann                                  Männerthemen
                                              zu Mann
Das zentrale Männlichkeitsproblem                                                                In der Männerarbeit haben sich über
ist der verwehrte Zugang zu den               In der Praxis hat sich die Beratung                die Jahre hinweg „Männerthemen“
eigenen Gefühlen und Bedürfnissen.            von „Mann zu Mann“ bewährt. Auf-                   herausgebildet, die im therapeu-
Die Gefühlswahrnehmung und Ge-                grund ähnlicher Sozialisationsbedin-               tischen Prozess aktiv bearbeitet
fühlsdifferenzierung sind häufig ge-          gungen und Lebenserfahrungen                       werden sollten. Die LWL Koordinati-
ring ausgeprägt. Eine zusätzliche             können Therapeut und Klient leichter               onsstelle Sucht hat dazu ein Manual
Hürde besteht darin, Gefühle in ei-           in Kontakt treten (SKM Bundesver-                  für eine Männergruppe veröffentlicht,
ner angemessenen Art und Weise                band e.V., 2020). Der Aspekt „Wir                  das elf Module mit Männerthemen
auszudrücken und zu verbalisieren.            Männer“ macht einiges einfacher,                   beinhaltet. Jedes Modul enthält eine
Häufig fehlt es an geeigneten Gefühls-        verringert häufig das Schamgefühl,                 Einführung zum Thema und zahlrei-
wörtern. In der Praxis hat sich hier der      fördert die Offenheit und erleichtert              che Übungen.
Einsatz von Arbeitsblättern bewährt,          den Aufbau einer therapeutischen
in denen Gefühle benannt und gege-            Beziehung. Der Therapeut begibt                    Mithilfe des Handbuches können
benenfalls beschrieben werden (Baer           sich nicht nur mit seinem Fachwis-                 folgende männerrelevante Themen
& Frick-Baer, 2008; Wilken, 2003).            sen, sondern auch als Mann in den                  bearbeitet werden:
                                              Beratungsprozess und dient mit
Durch den verwehrten Zugang zu den            seinem „Männerwissen“ als Rollen-                  » Männerrolle
eigenen Gefühlen ist es schwer, sich          modell. Dadurch muss der Thera-                    » Sucht und Männlichkeit
und andere zu verstehen und Hilfe             peut einige Grundvoraussetzungen                   » Die Beziehung zum eigenen Vater
in Anspruch zu nehmen. Für Männer             erfüllen: Männertherapeuten sollten                » Männerfreundschaften
sind besonders „weiche“ Gefühle               Männer schätzen und mögen, aber                    » Beziehung zu Frauen
wie Scham, Angst, Trauer und vor              auch männerkritisch sein. Neben                    » Männergesundheit
allem Hilflosigkeit problematisch, da         der Auseinandersetzung mit der                     » Arbeit und Freizeit
sie nicht dem stereotypischen und             eigenen männlichen Identität muss                  » Sucht und Sexualität
antiquierten Männerbild entsprechen.          der Therapeut eine eigene „män-                    » Gewalt
Die Akzeptanz und der Ausdruck von            nertherapeutischen Grundhaltung“                   » Eigene Vaterrolle
„kraftvollen“ Gefühlen, wie Stolz,            entwickeln, damit eine authentische                » Emotionalität, Spiritualität,
Freude oder Ärger, fällt Männern              Begegnung auf „Augenhöhe“ erfol-                     Glaubensfragen
zumeist leichter, da sie stereotypisch        gen kann. Diese Grundhaltung und
eher Männern zugeordnet sind. Zu              die damit verbundenen therapeuti-
den männlichen Gefühlsabwehrme-               schen Interventionen entwickeln                    Institutionelle Aspekte
chanismen zählen: Schweigen, Kon-             sich durch die Berufs- und Lebenser-
fliktvermeidung, Rationalität, Gewalt,        fahrung sowie durch fachspezifische                Eine männersensible Suchtarbeit
Handlungsorientierung und Selbstdar-          Weiterbildungen unterschiedlichster                erfordert eine genderbewusste
stellung (Süfke, 2010). Im Arbeitskon-        Art (Verhaltenstherapie, REVT, Psycho-             Haltung in der Institution. Sie muss
text der Suchtberatung begegnen uns           analyse, Integrative Therapie, Syste-              von der Leitung gewollt, gefördert
als Gefühlsabwehrmechanismen vor              mische Therapie et cetera).                        und finanziert werden. Männerspe-
allem die unterschiedlichsten Formen                                                             zifische Angebote sollten regelmäßig
der stoffgebundenen und stoffunge-                                                               fest im Arbeitsalltag implementiert
bunden Suchterkrankungen.                                                                        werden, damit sie nicht nach kurzer

                                                                        30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
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