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Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung DOKUMENTATION DER 30. NIEDERSÄCHSISCHEN SUCHTKONFERENZ 10| 2020 Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen Berichte zur Suchtkrankenhilfe
30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ Berichte zur Suchtkrankenhilfe 10.2020 Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Impressum Herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Hannah-Arendt-Platz 2 30159 Hannover in Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. Fenskeweg 2 30165 Hannover Redaktion: Thomas Altgeld Alexandra Schüssler Layoutkonzept und Gestaltung: hgb – Homann Güner Blum, Visuelle Kommunikation, Hannover Erschienen im April 2021 Druck: Unidruck, Hannover Titelbild: © AdobeStock / Photographee.eu
I N HA LT 5 VORWORT BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG, Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen 6 Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung VORTRÄGE PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: 8 Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit? 16 DR. CAROLA REIMANN Statement der Sozial- und Gesundheitsministerin 21 DORIS HEINZEN-VOß Cross-Work – Frauen in der Arbeit mit suchtmittel- 24 abhängigen Männern HANS-JOACHIM LENZ Mann oder Opfer? Die Verdeckung männlicher Verletzbarkeit 28 im Kontext von männlicher Gewaltbetroffenheit und Suchtabhängigkeit ANHANG 34 Themen bisheriger Suchtdokumentationen Verzeichnis der Referent*innen 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
6 V O R W O RT BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleg*innen, ganz herzlich begrüße ich Sie zur schungsergebnisse belegen, dass Sollten Sie Interesse haben, das heutigen Suchtkonferenz „Update. die Kategorie Geschlecht sowohl Thema erweiterter geschlechtlicher Genderbewusste Arbeit bei Sucht- für die Entwicklung von Suchterkran- Identitäten im Kontext von Sucht zu störungen“. kungen als auch für deren Behand- diskutieren und im Rahmen einer lung eine wichtige Rolle spielt. Die Konferenz zu behandeln, können wir Als wir die Konferenz im letzten Berücksichtigung geschlechtsspezi- gerne im Verlauf des nächsten Jahres Jahr geplant haben, war noch nicht fischer Unterschiede trägt dazu bei, einen Workshop dazu organisieren, abzusehen, dass wir virtuell tagen dass suchtspezifische Beratung und um einschätzen zu können, wie der werden. Vieles hat sich seither Behandlung zielgruppenspezifischer Bedarf in der Praxis ist. Bitte nutzen geändert und ich bin Herrn Altgeld, erfolgen kann und dadurch erfolg- Sie die Gelegenheit, uns im Laufe Frau Schüssler, dem Team der reicher wird. der Konferenz dazu ein Feedback LVG und den Referent*innen sehr zu geben. dankbar, dass wir die Suchtkon- Die niedersächsische Richtlinie ferenz in diesem Format durch- „über die Gewährung von Zuwen- Heute machen wir Ihnen das Ange- führen können. dungen an Fachstellen für Sucht bot, sich mit geschlechtergerechter und Suchtprävention“ sieht schon Suchtarbeit auseinander zu setzen, Herzlichen Dank dafür! seit vielen Jahren vor, dass die Sucht- mit aktuellen, wie ich finde sehr beratungsstellen geschlechtsspezi- interessanten Akzentuierungen. Ich muss aber auch gestehen, dass fische Arbeit berücksichtigen und ich mich im Geheimen schon jetzt umsetzen. Denn auch wenn die Essentials klar auf die nächste Konferenz freue, bei sind und genderbewusstes Arbeiten der wir uns hoffentlich wieder per- Die heutige Konferenz stellt aus- als selbstverständlich betrachtet wird, sönlich begegnen können, uns in den schließlich Beiträge zu frauensen- ist es doch notwendig, sich immer Pausen austauschen und vernetzen sibler und männersensibler Arbeit mal wieder zu vergewissern: können und in der Mittagspause vor. Das heißt nicht, dass die Diskus- unser Nudelbuffet genießen können. sion um ein erweitertes Spektrum Stimmen Theorie und Praxis der geschlechtlicher Identitäten an Suchthilfe überein? Genderbewusstes Arbeiten ist seit Niedersachsen vorbeigegangen ist. Arbeiten wir tatsächlich geschlechts- mehr als 30 Jahren ein Thema der Es heißt einfach nur, dass wir nicht sensibel, mit allen Konsequenzen? Suchthilfe und seit vielen Jahren ein alle wichtigen Themen in der wenigen Was hat sich in der Praxis verändert, fachlich akzeptierter Standard. Denn Zeit, die wir hier und heute zur Ver- worauf weisen neuere Forschungs- sowohl Erfahrungen als auch For- fügung haben, bearbeiten können. ergebnisse hin? 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VOR W O RT 7 BÄRBEL LÖRCHER-STRAßBURG Update. Genderbewusste Arbeit bei Suchtstörungen Gibt es neue Erkenntnisse, Phäno- Im Workshop I haben Sie die Mög- Wie Sie wissen, erreichen wir mit mene, die es notwendig machen, ichkeit, sich mit den Chancen von unseren suchtspezifischen Bera- den geschlechtssensiblen Blick zu Cross-Work auseinander zu setzen. tungs- und Behandlungsangeboten erweitern? Cross-Work bedeutet „Über-Kreuz- Menschen mit suchtbezogenen Pädagogik“ bezogen auf das Ge- Problemen erst nach durchschnitt- Ich freue mich auf die Eingangsvor- schlecht, d.h. Frauen arbeiten mit lich 10,2 Jahren. träge, die darauf eingehen, wie Jungen/Männern, Männer arbeiten männersensible und frauensensible mit Mädchen/Frauen. Die Chancen Eine lange, oft zu lange Zeit vergeht, Suchtarbeit gelingen kann. Ich freue und Möglichkeiten dieses bewusst in der sich Abhängigkeitsprobleme mich auch auf die Workshops, denn eingesetzten Arbeitsansatzes wer- manifestieren können, an dieser in den Workshops können wir einen den in dem Workshop erläutert. Im Stelle können wir noch besser Blick auf sich verändernde Realitäten Workshop II haben Sie die Möglich- werden … werfen. Denn es hat sich tatsächlich keit, sich mit den Auswirkungen eine ganze Menge geändert – nicht geschlechtsspezifischer Gewalt auf Der gendergerechte Blick ist für die nur pandemiebedingt. Jungen und Männer und der Bedeu- Behandlung wichtig, aber auch für tung dieser Gewalterfahrungen auf die Prävention und die Ansprache Beispielsweise haben wir es in den die Bedingungsfaktoren von Sucht- suchtspezifischer Themen. Möglicher- sogenannten helfenden Berufen, erkrankungen zu befassen. Ebenfalls weise gelingt es uns durch gender- einschließlich Medizin und Psycho- ein sehr spannender und notwen- gerechte Ansätze eher Menschen in logie mittlerweile mit einer konse- diger Blickwinkel. ihrer Lebensrealität zu erreichen und quenten Feminisierung zu tun: dadurch frühzeitiger Beratungs- und Ich möchte nicht unerwähnt lassen, Behandlungsangebote zu vermitteln. » Sozialarbeit war schon immer – dass wir noch einen weiteren Exper- mit einigen wenigen Ausnahmen ten für Männergesundheit heute hier Ich denke, dass wir die Möglichkeiten wie zum Beispiel Sucht/Drogenar- an Bord haben und zwar Thomas gezielter, geschlechtsspezifischer An- beit und Jugendarbeit – weiblich Altgeld. Thomas Altgeld begleitet die sprache für Prävention, Beratung und geprägt, Suchtkonferenzen seit vielen Jahren Behandlung noch besser nutzen inhaltlich und führt uns als versierter könnten und sollten. » in der Medizin haben wir es aktuell Moderator gut durch die Konferenzen mit einem Geschlechterverhältnis – dafür an dieser Stelle ausdrück- Nun möchte ich Ihnen eine an- bei den Studierenden von 70 % lichen Dank! regende Tagung wünschen und Frauen zu 30 % Männern zu tun, freue mich auf die Beiträge Ich würde mich sehr freuen, wenn unserer heutigen Referent*innen » in der Psychologie mit 80/85 : Sie an der ein oder anderen Stelle und übergebe die Moderation 20/15 % weiblichen : männlichen Ihre Expertise heute hier einbringen an Herrn Altgeld. Studienanfängern. würden, insbesondere den Blick auf die geschlechtsspezifische Kommu- Es ist wirklich wichtig zu schauen, nikation zu Gesundheitsthemen, was daraus für die jeweiligen Arbeits- den Blick darauf, wie wir Männer bereiche folgt. Dies gilt insbesondere und Frauen zielgruppenspezifischer für Arbeitsbereiche wie Sucht, in ansprechen und damit besser er- denen auf der Klient*innenseite reichen können. Dies bezieht sich circa /3 Männer sind. 2 sowohl auf präventive Ansätze, auf Frühintervention, aber auch auf Beratung und Behandlung. 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
8 V O RT R ÄG E PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? Vorbemerkung liche Konsummuster zu entwickeln, und verfeinern Kinder ihre Konzepte unterschiedlich verteilt. Das liegt zum über den angemessenen und un- Das Thema Wie gelingt frauensensible einen an den sozialen Normen und angemessenen Umgang mit einer Suchtarbeit? ist anspruchsvoll und Regeln, die unseren Alltag beherr- Reihe von psychoaktiven Substanzen. komplex. Aus pragmatischen Gründen schen, und zum anderen an den Risi- Kommen sie ins Jugendalter, haben konzentriere ich mich auf substanz- kofaktoren, die ungleich verteilt sind. sie bereits viel Wissen über Alkohol, bezogene Süchte, also auf Probleme Nikotin (Zigaretten beziehungswei- von Mädchen und Frauen mit dem se Nikotinprodukte), Cannabis und Konsum von Alkohol und von Stras- Hintergründe und andere psychoaktive Substanzen sendrogen (im Folgenden: Sam- Risikofaktoren gesammelt. Mit dem Einstieg in den melbezeichnung für illegale Subs- eigenen Konsum zwischen 12 und tanzen wie Heroin, Kokain, Meth- Ich beginne mit einigen Anmerkun- 15 Jahren formen sie ihre eigenen amphetamin usw.) sowie auf psy- gen zu den sozialen Normen und Konzepte über diese Substanzen aus choaktive Medikamente (vornehm- Regeln und den Geschlechtern. und wie sie selbst damit umgehen lich Beruhigungs- und Schmerzmit- Pauschal gilt: Weltweit haben Jungen/ wollen. Die Ergebnisse einer Vielzahl tel) und auf die professionelle und Männer im Vergleich zu Mädchen/ von empirischen Studien belegen für frauensensible Behandlung von Frauen ein höheres Risiko, von Alko- Deutschland die Differenzen zwischen Substanzkonsumproblemen. Ich hol, Nikotin, Cannabis (THC) und den Geschlechtern immer wieder (vgl. gehe hier nicht ein auf frauenspe- anderen Straßendrogen abhängig Tabelle 1), wobei sich im Zeitverlauf zifische Verhaltenssüchte und de- zu werden. Mädchen/Frauen haben leichte Schwankungen ergeben, auf ren Behandlung, auch nicht auf im Vergleich zu Jungen/Männern die ich hier nicht eingehen kann. geschlechtersensible Präventions- ein höheres Risiko, von psychoakti- ansätze. ven Medikamenten, die Ärzt*innen Bemerkenswert ist, dass die meisten verschreiben, abhängig zu werden. Jugendlichen Risikokompetenzen Ich gehe grundsätzlich von der Mit dem Alter (60 Jahre und älter) im Umgang mit psychoaktiven Subs- Annahme aus, dass jede Frau be- verändern sich die Konsummuster tanzen erwerben und als Erwachsene ziehungsweise jeder Mensch im beider Geschlechter etwas. beibehalten. Das bedeutet, dass Men- Lebenslauf Episoden mit gesund- schen im Alter zwischen 15 und circa heitsgefährdendem beziehungs- Die Unterschiede zwischen den 25 Jahren lernen, wie sie intentional, weise süchtigem Konsum von psy- Geschlechtern im Konsum von Alko- erfolgreich und verantwortungsvoll choaktiven Substanzen durchleben hol, Nikotin, Cannabis und anderen mit psychoaktiven Substanzen um- kann. Viele überwinden solche Episo- Straßendrogen haben sehr viel mit gehen können. Allerdings gibt es den, manche bleiben daran hängen. sozialen Normen zu tun. Wir „lernen“ suchtspezifische Risikofaktoren, die Psychoaktive Substanzen zu konsu- von der Kindheit an, welches Verhal- es für alle Geschlechter schwieriger mieren, die Sucht erzeugen können, ten für welche Personengruppe in machen, kompetent und verantwor- ist also normal! Allerdings sind die welchen Kontexten akzeptiert wird tungsvoll mit Alkohol und anderen Risiken, über längere beziehungs- und welches eher nicht. In der Beob- psychoaktiven Substanzen umzuge- weise lange Zeit gesundheitsschäd- achtung von Erwachsenen ergänzen hen. (vgl. Tabelle 2) 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 9 PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? Substanzen Frauen % Männer % Gesamt % Riskanter Konsum von Alkohol 13,4 17,0 15,2 Abhängigkeit von Alkohol 2,0 4,8 3,4 Rauchen Abhängigkeit 9,0 12,5 10,8 Missbrauch von Cannabis 0,2 0,8 0,5 Abhängigkeit von Cannabis 0,2 0,8 0,5 Abhängigkeit von Heroin 0,1 0,3 0,2 Abhängigkeit von Amphetaminen 0,3 1,2 0,7 und verwandten Stoffen » Ungünstige genetische Ausstattung (etwa durch Sucht eines Elternteils) » Konsum der Mutter von psychoaktiven Substanzen während der Schwangerschaft » Bindungsstörungen (und ungenügende Förderung oder Vernachlässigung in der Kindheit und Jugend) » Stress in der Familie wegen Armut und schlechten Umweltbedingungen » Opfer von psychischer, körperlicher, sexueller Gewalt in der Familie oder im sozialen Nahraum und Beobachtung von Gewalttätigkeiten in der Familie » Negatives Selbstbild und niedriges Selbstwertgefühl » Problematischer Kreis von Freund*innen (wenig Unterstützung durch Familienangehörige oder andere Personen) » Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung Tabelle 1: ANGABEN ZUM MISSBRAUCH UND ZUR ABHÄNGIGKEIT VON VERSCHIEDENEN PSYCHOAKTIVEN SUBSTANZEN NACH GESCHLECHT, IN PROZENT (vgl. Vogt, 2021) Tabelle 2: RISIKOFAKTOREN ALS DISPOSITION ZU SUBSTANZKONSUMSTÖRUNGEN (ebd.) 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
10 V O RT R ÄG E PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? Gewalttätigkeiten Frauen ohne Suchtprobleme Frauen mit Suchtproblemen Schwere körperliche Gewalt 37 % 50– 60 % Sexuelle Gewalt 13 % 30– 40 % Tabelle 3: FRAUEN OHNE UND MIT SUCHTPROBLEMEN: ANGABEN ZU ERLEBTER GEWALT (Befragte ab 16 bzw. 18 Jahren, Müller & Schröttle, 2006; Zenker et al., 2002). Auf viele Risikofaktoren haben Men- zerstörerisch für die Entwicklung der sondere qualitative Studien belegen, schen keinen oder nur einen sehr Persönlichkeit ist die Erfahrung von dass sich sexuelle Gewalterfahrungen begrenzten Einfluss, wie auf die gene- sexueller Gewalt in der Kindheit, in in der Regel negativ auf das Selbst- tische Ausstattung oder das Bindungs- der Jugend und im Erwachsenen- wertgefühl und das Selbstbild aus- verhalten der wichtigsten Bezugsper- leben. Diese Erfahrungen können wirken. Frauen, die lange in gewalt- sonen in den ersten Lebensjahren. tiefe Spuren im Gedächtnis hinter- tätigen und von Sucht bestimmten Sie haben auch keinen Einfluss da- lassen. Je nach Fall kommt es zu un- Beziehungen gelebt haben, beschrei- rauf, ob sie in der Kindheit/frühen terschiedlichen Stress-Reaktionen, ben ihre eigene Wertlosigkeit dras- Jugend Opfer von körperlicher, psychi- die die Entwicklung von Posttraumati- tisch: „das Gefühl, dass Du minder- scher oder sexueller Gewalt werden, schen Belastungsstörungen nach sich wertig bist, wenn Du Dich schlagen müssen aber mit den damit verbun- ziehen können, ebenso von Ängsten lässt, das ist mir klar. Dass Du ein denen Folgen im eigenen Leben oder Depressionen sowie von Per- wehrloses Menschenbündel bist, das fertigwerden. Wir wissen heute, dass sönlichkeitsstörungen (u.a. Borderline geprügelt wird, ist mir klar Du wirst viele erwachsene Männer und man- PS, dependente PS, multiple PS). Um wertlos gemacht. Du wirst zum Spiel- che Frauen unter der Einwirkung von diesen Erinnerungen zu entkommen, ball, du wirst zum Spielzeug. Du bist Alkohol und einigen anderen Drogen setzen die Opfer sehr oft selbst psy- eigentlich ein wertloser Gegenstand, dazu neigen, gewalttätig gegenüber choaktive Substanzen ein. Das Risiko, mehr bist Du gar net“ (vgl. Vogt, 2021, anderen Personen zu werden (z.B. dass sie selbst von diesen Substanzen S.160). Überdies behindern das Duke et al., 2018). Im häuslichen Um- abhängig werden, ist groß, wie die negative Selbstbild und das Gefühl feld sind die Opfer von körperlicher Daten in Tabelle 3 belegen. der eigenen Wertlosigkeit die Suche Gewalt überdurchschnittlich häufig nach Hilfen und deren Annahme. Kinder und Mütter beziehungsweise Im Vergleich zu Jungen werden Mäd- Frauen. Kinder und Jugendliche, die chen häufiger Opfer von sexuellen Frauen, die zur Entlastung von psy- Gewalttätigkeiten zwischen Vater und Übergriffen und sexueller Gewalt. chischem Stress psychoaktive Subs- Mutter oder Mutter und aktuellem Die Gefahr, Opfer von Gewalttätigkei- tanzen konsumieren und in ihren Partner beobachten, sind davon in ten zu werden, wächst im Jugendalter Freundeskreisen zudem dazu ermun- ähnlicher Weise betroffen wie Kinder und im Erwachsenenleben, wenn sie tert werden, erleben vergleichsweise und Jugendliche, die selbst Opfer von selbst unter dem Einfluss von Alkohol schnell Ausgrenzungen und Stigma- Gewalt geworden sind. Besonders und anderen Drogen stehen. Insbe- tisierungen. Besonders betroffen da- 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 11 PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? von sind neben Frauen auch sexuelle Diagnostik Persönlichkeitsstörungen (etwa ab- Minderheiten (Vogt, 2018). Das liegt hängige, dissoziale PS, Borderline-PS). auch daran, dass Frauen, die süchtig Am Anfang jeder Suchtbehandlung Im Rahmen der psychosozialen Dia- sind, oft im Verhalten und im Ausse- sollte ein ausführliches Beratungs- gnostik ist auch zu erheben, ob die hen von der Modellvorstellung einer gespräch stehen und vor Beginn Klientin mit Gewalttätigkeiten in der „normalen“, „durchschnittlichen“ Frau einer längeren Behandlung eine Kindheit, Jugend und im Erwachse- abweichen. Das spiegelt sich wider gute medizinische und psychosoziale nenalter konfrontiert war, ob sie Op- in vielen Berichten von Frauen mit Diagnostik stattfinden. Medizinische fer von körperlicher, psychischer und Suchtproblemen. „Die [Ärzte] denken, diagnostische Schemata stellt die sexueller Gewalt wurde und welche ach, das sind Junkies, das sind keine ICD-10 (International Code of Disea- Folgen dies für ihre Entwicklung und Menschen. Das hat mir schon der ses, ab 2022 die ICD-11) sowie das Lebensführung früher und heute hat. Kinderarzt so gesagt... Ja. Is‘ leider so. DSM-5 (Diagnostisches und Statisti- Wie neuere Studien zeigen, werden Wir werden oft in eine Schublade ge- sches Manual Psychischer Störungen) entsprechende Daten eher selten er- steckt und zugemacht, weil viele den- zur Verfügung. Für eine psychosoziale hoben (Bailey et al., 2019), obwohl ken oder viele haben keine Ahnung Diagnostik können im Rahmen des sie für die Hilfeplanung unverzicht- von uns. Die denken, ach, das sind Sozialberichts Module des ICF (Inter- bar sind. Junkies, das sind keine Menschen“ national Classification of Functioning, (vgl. Vogt, 2021, S. 331). Disability and Health) eingesetzt Zum Abschluss müssen alle diagnos- werden. tischen Befunde zusammengebracht Die Öffentlichkeit und in abge- und gewichtet werden, um in enger schwächter Form auch das Fachperso- Nach ICD-10 diagnostiziert man eine Zusammenarbeit mit den Betroffenen nal des Gesundheitswesens spiegeln Abhängigkeit von einer psychoaktiven einen guten Behandlungsplan erar- den Betroffenen ihre Abweichung Substanz anhand von sechs Kriterien beiten zu können. von der Norm zurück – sie machen (Wunsch/Zwang zum Konsum, Kon- sehr deutlich, dass sie Frauen, die trollverlust, körperliches Entzugssyn- „so aussehen“ oder sich „so verhal- drom, Entwicklung einer Toleranz, Behandlungen ten“, ablehnen. Auch die Erfahrung Vernachlässigung sozialer Verpflich- von Ausgrenzung und Stigmatisierung tungen, Konsum trotz schädlicher In Deutschland erlaubt ein gut aus- senken die Bereitschaft, sich Hilfe Wirkungen), von denen für die Dauer gebautes Hilfenetz für Menschen mit wegen der Sucht zu suchen. eines Jahres mindestens drei erfüllt Substanzkonsumproblemen die Wahl sein müssen. Wenn eine Person zwischen einer stationären Behand- Auf vielen Umwegen finden in mehrere psychoaktive Stoffe verwen- lung in unterschiedlichen Typen von Deutschland dann doch erstaunlich det, muss für jede Substanz geprüft Rehabilitations-Kliniken und einer viele Menschen einen Weg in das werden, ob eine Abhängigkeit vorliegt ambulanten Behandlung, etwa in Suchthilfenetz, aber oft erst nach oder nicht. Ebenso sollte in jedem einer anerkannten Beratungsstelle vielen Jahren der Abhängigkeit von Einzelfall festgestellt werden, ob die oder einer Instituts-Ambulanz. Da die Alkohol und anderen Drogen. Wich- Person unter weiteren psychischen ambulanten Angebote zahlenmäßig tige Anlaufstellen sind die Suchtbera- Störungen leidet wie Depressionen sehr beschränkt sind und weitere tungsstellen, die es in allen Städten (affektive Störungen einschließlich Vorschriften die Aufnahme in diese und schwerpunktmäßig auch in den Manien sowie bipolare Störungen), erschweren (Frischknecht, 2017), Landkreisen gibt. Dort entscheidet Angststörungen (etwa phobische und stehen diese nur einer vergleichs- sich meist, ob und wie es weiter- andere Angststörungen), für akute weise kleinen Gruppe von Personen gehen soll und welche Schritte für und posttraumatische Belastungs- offen. Das ist bedauerlich, weil einige eine Behandlung eingeleitet werden störungen (PTBS) sowie dissoziative Hinweise darauf bestehen, dass die sollen (Vogt & Hansjürgens, 2020). oder somatoforme Störungen und stark auf den Einzelfall zugeschnit- 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
12 V O RT R ÄG E PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? tenen Behandlungspläne der ambu- Suchtproblemen genommen haben. helfen will. Aufseiten der Beraterin- lanten Angebote oft gute Ergebnisse Die Gründerinnen dieser Einrich- nen und Behandlerinnen bedeutet erzielen. tungen standen (und stehen) der das, dass sie ihren Klientinnen em- Frauenbewegung sehr nahe. Moti- pathisch entgegenkommen, ihnen Die Mehrzahl der Menschen mit Dia- viert wurden sie durch die faktisch ihre Wertschätzung wiederholt gnosen für Substanzkonsumstörun- sehr schwierige Lage von heroinab- zeigen, sie deren Erklärungen für gen nimmt stationäre Behandlungs- hängigen Frauen in konventionellen die Entwicklung der Sucht und an- angebote wahr. Die meisten der Beratungs- und Behandlungsein- derer psychischer Störungen auf- Sucht-Rehabilitations-Kliniken (im richtungen, von denen sehr viele in nehmen und würdigen. Sie müssen Folgenden: Reha-Kliniken) nehmen der Kindheit und Jugend Opfer von diese aber nicht teilen. Je nach Ver- Männer, Frauen und andere Ge- Gewalt geworden waren, insbeson- lauf der Zusammenarbeit können schlechter im Verhältnis 3:1 auf. dere von sexuellen Übergriffen in die unterschiedlichen Sichtweisen Männer stellen also in diesen Ein- der Familie und im sozialen Nahraum hinsichtlich der Hintergründe und richtungen die größte Gruppe von (z.B. Schmidt, 2000). In den Bera- des Verlaufs der Substanzabhängigkeit Patienten. Einige wenige der Reha- tungsgesprächen mit diesen Frauen in der Behandlung thematisiert und Kliniken nehmen nur Männer oder ergaben sich Hinweise darauf, dass besprochen werden. Neben dem nur Frauen auf. Solche Einrichtungen die Entwicklung einer Sucht in ursäch- Beziehungsaufbau haben sich diver- nur für Frauen oder nur für Männer lichem Zusammenhang mit diesen se psychosoziale und psychothera- gibt es seit den Anfängen der statio- Gewalterfahrungen stand beziehungs- peutische Angebote bewährt. Im nären Hilfen für Menschen mit Alko- weise steht. Man nahm an, dass die ambulanten Bereich arbeitet man holproblemen (damals: Trunksucht), Frauen zum Beispiel Heroin eingesetzt mit einer Vielzahl von Interventio- also etwa seit 1870. Ursprünglich haben, um ihre Gewalterfahrungen nen, etwa traumatherapeutische wurden sie eingerichtet, weil man und die damit zusammenhängen- Gruppenangebote, angelehnt an annahm, dass trunksüchtige Frauen den psychischen (und physischen) das Programm „Sicherheit finden“ auch sexsüchtig seien. Um die Män- Schmerzen aus dem Bewusstsein (Najavits, 2009; Schäfer et al., 2019). ner vor der Gefahr, von Frauen sexuell auszuschalten. Die Forschungen zu Dazu kommen heute einzelthera- „überfallen“ zu werden, zu bewahren, akuten und posttraumatischen Belas- peutische Hilfen zur Behandlung wurden für Frauen und Männer mit tungsstörungen haben diese Annah- von posttraumatischen Belastungs- Alkoholproblemen getrennte Ein- men weitgehend bestätigt. störungen (Norman et al., 2019). richtungen geschaffen. Erst ab den In den Wohneinrichtungen geht 1970er-Jahren wurden viele Sucht- Beraterinnen und Behandlerinnen es darüber hinaus darum, zur Ent- Reha-Kliniken für beide Geschlechter in diesen Einrichtungen nur für wicklung eines positiven Selbstbil- geöffnet (mehr dazu buss, 2016). Frauen gehen davon aus, dass eine des beispielsweise Verantwortung vertrauensvolle Beziehung zu einer in der Gruppe zu übernehmen, Hier interessiert aber die Entwicklung Bezugsperson (etwa einer Psycho- Aufgaben zu erledigen und darauf einer neuen Generation von ambulan- logischen Psychotherapeutin oder zu achten, sich selbst nicht zu über- ten Anlauf- und stationären Behand- einer in Suchttherapie fortgebildeten fordern. lungseinrichtungen nur für Frauen Sozialarbeiterin) zentral ist für eine (mit dem Schwerpunkt: Abhängig- erfolgreiche Zusammenarbeit (Hans- Zu den Besonderheiten dieser Ein- keit von Straßendrogen), die in den jürgens, 2018). Die Klientinnen müs- richtungen gehört es, dass sie sich Achtziger-/Neunzigerjahren gegründet sen sich von Anfang an angenom- von Anfang an mit den spezifischen wurde. Es handelt sich um eine relativ men fühlen, sie müssen erleben, dass Problemen von Sucht und Schwan- kleine Zahl von Einrichtungen, die mit die Beraterin beziehungsweise die gerschaft und des Zusammenlebens ihren Anliegen und Arbeiten aber ver- Psychotherapeutin sie in ihrem An- von Frauen mit Suchtproblemen gleichsweise großen Einfluss auf die liegen und mit ihren Problemen ver- mit kleinen Kindern befasst haben. Behandlung von allen Menschen mit steht und ihr bei deren Bewältigung Mittlerweile haben sich hier Rou- 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 13 PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? tinen eingespielt. Dazu zählen die Depressionen, Behandlung von Jahren katamnestische Daten (Ein- Bereitschaft, süchtige Frauen, die Essstörungen) wirken und wie Jahres-Zeitraum) in stationären Sucht- schwanger sind, durch die Schwan- effektiv diese Wirkungen sind, wird Reha-Kliniken erheben. Für den Ent- gerschaft zu begleiten und sie dabei in Deutschland eher selten unter- lassjahrgang 2017 liegen Daten von zu unterstützen, ihren Konsum von sucht. 16 Fachkliniken mit den Schwerpunk- Straßendrogen zu verändern oder ten: Alkohol- und Medikamenten- ganz aufzugeben. Vor und nach Aus den Anlauf- und Behandlungs- abhängigkeit für insgesamt 7.826 der Geburt arbeiten viele Einrichtun- einrichtungen nur für Frauen mit Personen vor (von denen circa 6.000 gen eng mit den Einrichtungen der Suchtproblemen liegen nur einige in der Auswertung berücksichtigt Jugendhilfe vor Ort zusammen, wo- unsystematische Untersuchungen werden konnten, Bachmaier et al., bei es stets darum geht, neben den über die Langzeitwirkungen dieser 2020), für den Schwerpunkt Straßen- Interessen der Kinder auch die der Angebote vor. Langgässner (2016) drogen von 3 Kliniken mit 734 Men- Mütter zu berücksichtigen (vgl. dazu hat 23 Frauen, die zwischen 2007 schen (Kemmann et al., 2020). Die Tödte & Bernard, 2016). Es handelt und 2011 in der Sozialtherapeuti- Daten geben auch Auskunft darüber, sich um ein besonders schwieriges schen Wohngemeinschaft von Prima ob Menschen ein Jahr nach Been- Arbeitsfeld, weil der Schutz der Kin- Donna (München) gelebt haben, digung der Therapie noch abstinent der und die Sicherung des Kindes- nachverfolgt. Untersucht man zuerst sind. Die Studie von Bachmeier et wohls nicht immer kompatibel sind die Aussagen dieser Frauen zur Ab- al. weist für 6.000 Menschen mit der mit den Interessen der Mütter mit stinenz von Straßendrogen, dann er- Diagnose Abhängigkeit von Alkohol ihren Suchtproblemen. Das kann gibt sich, dass 90 % von ihnen sich oder psychoaktiven Medikamenten zu Konflikten insbesondere mit der als „clean“ bezeichnen. 52 % sind aus, dass 38 % zusätzlich eine Dia- Kinder- und Jugendhilfe führen. „clean“ seit sie die Wohngemeinschaft gnose wegen einer affektiven Störung verlassen haben, 38 % haben das (Depression, F32, 33, 34,1) hatten, Das Engagement der Mitarbeiterinnen nach einigen Rückfällen geschafft. 16 % wegen einer Angststörung in den Fraueneinrichtungen hat dazu Das sind enorm hohe Zahlen, wie (F40, 41) und 11 % wegen einer beigetragen, dass sich in einer Reihe sich im Vergleich mit anderen Daten- Persönlichkeitsstörung (F60, 61). von Städten Qualitätszirkel formiert sätzen zeigt. Auch hinsichtlich anderer Diagnosen für Posttraumatische haben, in denen Vertreterinnen der Variablen, wie etwa: in einer eigenen Belastungsstörungen sind selten. Suchthilfe mit denen der Arbeitskreise Wohnung leben, Eingliederung in Das Ergebnis erstaunt, insofern „Interventionen gegen Gewalt gegen die Arbeitswelt zeigen sich sehr gute qualitative Studien immer wieder Frauen“ sowie mit Vertreterinnen der Ergebnisse. Zu beachten ist hier, dass belegen, dass nicht nur sehr viele Frauenhäuser zusammenarbeiten. in der Studie nicht angegeben wird, Frauen mit Substanzkonsumstö- wie viele Frauen im selben Zeitraum rungen wegen ihrer Gewalterfah- diese Behandlung angefangen und rungen unter Posttraumatischen Behandlungserfolge dann abgebrochen haben. Man hat Belastungsstörungen leiden, son- es also mit einer „positiven“ Stich- dern auch etliche Männer mit Ob und wie die Angebote nach Set- probe zu tun, eben den (wenigen) diesen Störungen. ting (also ambulante Anlauf- und Frauen, die die Behandlung nicht Behandlungseinrichtungen nur für abgebrochen haben und zudem Betrachtet man die Angaben zu den Frauen mit Suchtproblemen im Ver- noch in Kontakt mit der Institution Abstinenzquoten, ergibt sich Folgen- gleich zu stationären Behandlungen stehen. des. Bei Menschen, die von Alkohol in Sucht-Reha-Kliniken allgemein oder psychoaktiven Medikamenten und in denen nur für Frauen) und Auch für die stationären Sucht-Reha- abhängig waren, variiert die Absti- nach eingesetzten Methoden (etwa Kliniken liegen einige Daten zu den nenzquote nach einem Jahr bei den Behandlung von Traumafolgestörun- Behandlungsergebnissen vor. Der Frauen zwischen 75 % (Berechnung gen, Behandlung von Ängsten und Fachverband Sucht lässt seit etlichen nach: Erreichte mit planmäßiger 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
14 V O RT R ÄG E PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? Beendigung) und 40 % (Berechnung Resümee Was sich erheblich verändert hat, nach: intention to treat) und bei den ist das Behandlungsangebot für Männern zwischen 75 % (Berech- Was hat sich seit der Niedersäch- Frauen mit Suchtproblemen: Es nung nach: Erreichte mit planmäßiger sischen Suchtkonferenz 2008 hat sich in den letzten zehn Jahren Beendigung) und 37 % (Berechnung „Geschlechtergerechte Ansätze in weiterentwickelt, ist differenzierter nach: intention to treat). Je nachdem, der Suchtarbeit“ und heute getan? und insgesamt professioneller ge- wie die Abstinenzquoten errechnet Der Blick ist weiter geworden. Das worden. Das wirkt sich bislang aber werden, erhält man also „bessere“ gilt für Abhängigkeiten allgemein eher bescheiden auf die Behand- oder „schlechtere“ Werte. Das gilt und für die Personengruppen. Wir lungserfolge aus. Immerhin gilt wie auch für Menschen, die von Straßen- gehen nicht mehr davon aus, dass vor zehn Jahren, dass Frauen von drogen abhängig waren – bei ihnen Abhängigkeiten von psychoaktiven „guten Suchtbehandlungen mindes- variiert die Abstinenzquote zwischen Substanzen und süchtige Verhal- tens im selben Ausmaß profitieren 70 % und 17 % (keine Differenzie- tensweisen Jugendphänomene sind. wie Männer“ (Vogt, 2008). rung nach Geschlecht angegeben). Jedoch gibt es (noch immer) Unter- Je nach Betrachtungsweise kann man schiede zwischen den Geschlechtern, die Behandlungserfolge also als gut was Süchte und süchtige Verhaltens- oder ziemlich mäßig einschätzen. weisen betrifft. Das lässt sich auch ablesen an den Risikofaktoren, die Der Vergleich zeigt, dass die Behand- die Geschlechter in unterschiedlicher lungen von Frauen, die in Wohnge- Weise betreffen und an den Zahlen meinschaften nur für Frauen wegen der Menschen, die im Laufe ihres ihrer Drogenprobleme behandelt Lebens eine Abhängigkeitsdiagnose werden, etwas besser abschneiden erhalten. Es zeigt sich auch an den als jene, die an stationären Sucht- Themen, mit denen sich die Betrof- Reha-Behandlungen teilnehmen. fenen selbst, die Behandelnden so- Die Unterschiede sind, legt man die ie die Forschenden befassen. In „guten“ Werte zugrunde, aber nicht Deutschland sind die Themen Sucht sehr groß und angesichts einer ins- und Gewalttätigkeiten noch immer gesamt eher unsicheren Datengrund- gewissermaßen „Frauenthemen“, in lage auch nicht sehr aussagekräftig. den englischsprachigen Ländern ist Tatsächlich zeigen einige wenige das anders: Dort sind diese Themen methodisch gut durchgeführte Stu- im Mainstream. Das verdeutlicht sich dien aus den USA, dass die Behand- ebenso an der Zahl der Beiträge, die lungen, die explizit auf Frauen mit in Fachzeitschriften und Büchern zu Suchtproblemen zugeschnitten sind, diesen Themen veröffentlich worden keine besseren Ergebnisse erzielen sind, die in den letzten 20 Jahren als Behandlungen, an denen Frauen geradezu explodiert ist. Es gibt auch und Männer teilnehmen – voraus- erste randomisierte Studien, in denen gesetzt, das Geschlechterverhältnis mit einschlägigen Programmen so- in den Gruppen ist ausgeglichen und wohl die Alkoholabhängigkeit als frauenspezifische sowie männer- auch die Gewaltbereitschaft bear- spezifische Themen werden im beitet wird (Chermack et al., 2018; selben Umfang und mit derselben Schumm et al., 2009). Zeitverzögert Ernsthaftigkeit behandelt (zum ist mit einer ähnlichen Entwicklung Beispiel Epstein et al., 2018). in Deutschland zu rechnen. 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 15 PROF. DR. IRMGARD VOGT Suchtrisiken und Suchthilfen: Wie gelingt frauensensible Suchtarbeit? Literatur Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Dreckmann, I. et al. Hansjürgens, R. (2018): „IN KONTAKT KOMMEN“. Tödte, M. Benard, C. (Hrsg.) (2016): FRAUENSUCHT- (2020): EFFEKTIVITÄT DER STATIONÄREN SUCHT- Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in ARBEIT IN DEUTSCHLAND. Eine Bestandsaufnahme. REHABILITATION – FVS-KATAMNESE DES ENTLASS- Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verlag. Bielefeld: transcript. JAHRGANGS 2017 VON FACHKLINIKEN FÜR ALKOHOL- UND MEDIKAMENTENABHÄNGIGE. Kemmann, D., Muhl, C., Funke, W. et al. (2020): Vogt, I. (2008): FRAUEN UND MÄNNER: TRINK- SuchtAktuell, 27, 50–65. EFFEKTIVITÄT DER STATIONÄREN ABSTINENZ- MUSTER UND TRINKFOLGEN. GEMEINSAMKEITEN ORIENTIERTEN DROGENREHABILITATION. UND DIFFERENZEN. In: Niedersächsisches Ministerium Bailey, K., Trevillion, K., Gilchrist, G. (2019): FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2017 für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, WHAT WORKS FOR WHOM AND WHY: A NARRATIVE von Fachkliniken für Drogenrehabilitation. Berichte zur Suchtkrankenhilfe, 18. Niedersächsische SYSTEMATIC REVIEW OF INTERVENTIONS FOR SuchtAktuell, 27, 66–71. Suchtkonferenz, 09, 2008, 6–19. REDUCING POST-TRAUMATIC STRESS DISORDER AND PROBLEMATIC SUBSTANCE USE AMONG Müller, U., Schröttle, M. (2006): GEWALT GEGEN Vogt, I. (2018): SEXUELLE IDENTITÄT, DER KONSUM WOMEN WITH EXPERIENCES OF INTERPERSONAL FRAUEN IN DEUTSCHLAND – AUSMASS, URSACHEN, VON ALKOHOL UND ANDEREN DROGEN, GESUND- VIOLENCE. Journal of Substance Abuse Treatment, FOLGEN. In: Heitmeyer, W. & Schröttle, M. (Hrsg.): HEITLICHE PROBLEME UND BEHANDLUNGSANSÄTZE: 99, 88–103. Gewalt. Bonn: Bundeszentrale für politische EIN UNSYSTEMATISCHER FORSCHUNGSÜBERBLICK. Bildung, 77–97. Suchttherapie, 19, 168–175. buss – Bundesverband für stationäre Suchtkranken- hilfe e.V. (Hrsg.) (2016): DIE ADAPTIONSBEHANDLUNG Najavits, L.M. (2009): POSTTRAUMATISCHE Vogt, I. (2021): GESCHLECHT, SUCHT, GEWALTTÄTIG- – INHALTE UND ZIELE DER ZWEITEN PHASE DER BELASTUNGSSTÖRUNG UND SUBSTANZMISS- KEITEN. DIE SICHT VON SÜCHTIGEN AUF IHR LEBEN LEISTUNGEN ZUR MEDIZINISCHEN REHABILITATION BRAUCH. DAS THERAPIEPROGRAMM „SICHERHEIT UND AUF FORMALE HILFEN. Weinheim: Beltz. ABHÄNGIGKEITSKRANKER. FINDEN“. Göttingen: Hogrefe. Vogt, I., Hansjürgens, R. (2020): STUDIENBRIEF Duke, A. A., Smith, K. M., Oberleitner, L. et al. (2018): Norman, S.B., Trim, R., Haller, M. et al. (2019): MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN: SUCHT. ALCOHOL, DRUGS, AND VIOLENCE: A META-META- EFFICACY OF INTEGRATED EXPOSURE THERAPY Hamburger Fern-Hochschule, Hamburg. ANALYSIS. Psychology of Violence, 8(2), 238–249. VS INTEGRATED COPING SKILLS THERAPY FOR COMORBID POSTTRAUMATIC STRESS DISORDER Zenker, C., Baumann, K. & Jahn, I. (2002): Epstein E. E., McCrady, B. S., Hallgren, K. A. et al. AND ALCOHOL USE DISORDER. A randomized GENESE UND TYPOLOGISIERUNG DER AB- (2018): A RANDOMIZED TRIAL OF FEMALE-SPECIFIC clinical trial. JAMA Psychiatry, 76(8), 791–799. HÄNGIGKEITSERKRANKUNGEN BEI FRAUEN. COGNITIVE BEHAVIOR THERAPY FOR ALCOHOL Baden-Baden: Nomos. DEPENDENT WOMEN. Psychology of Addictive Schmidt, S.A. (2000): PRÄVALENZ SEXUELLEN KINDES- Behaviors, 32(1), 1–15. MISSBRAUCHS BEI OPIATABHÄNGIGEN. Berlin: VWB. Frischknecht, U. (2017): WERDEN MENSCHEN MIT Schäfer, I., Lotzin, A., Hiller, P. et al. (2019): A MULTI- SUCHTERKRANKUNGEN IN DER AMBULANTEN SITE RANDOMIZED CONTROLLED TRIAL OF SEEKING PSYCHOTHERAPIE STIGMATISIERT? Verhaltenstherapie SAFETY VS. RELAPSE PREVENTION TRAINING FOR und psychosoziale Praxis, 49, 325–333. WOMEN WITH CO-OCCURRING POSTTRAUMATIC STRESS DISORDER AND SUBSTANCE USE DISORDERS. European Journal of Psychotraumatology, 10(1), 1–15. 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
16 V O RT R ÄG E ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit? Die Notwendigkeit gendergerech- Verhältnis von 7:1 beim pathologi- Männer aktiv. „Reine Männer- ter Suchtarbeit ist unumstritten. schen Glücksspiel bis zu 10:1 in der gruppen gibt es nur vereinzelt“ Inzwischen sollte männersensible exzessiven Mediennutzung. In der (DHS Jahrbuch Sucht, 2020). Suchtarbeit zum Standardrepertoire Betrachtung der stoffgebundenen » Was den fachlichen Austausch jeder Beratungsstelle und Rehabilita- Suchtstörungen ergeben sich Verhält- betrifft, gibt es im ganzen Bundes- tionseinrichtung gehören. Seit vielen nisse von 2:1 im Alkoholkonsum, gebiet lediglich 3 Arbeitskreise Jahren beschäftigen sich Praxis und 3:1 im Konsum von Opiaten und „Mann und Sucht“ (Münster, Berlin Forschung mit der geschlechterge- von 5:1 beim Cannabiskonsum. und München). Im Vergleich dazu rechten Suchtarbeit. Bereits 2008 Eine Umkehrung ergibt sich lediglich gibt es alleine in Nordrhein-West- widmete sich die Niedersächsische für den Konsum von Sedativa/Hyp- falen 14 Arbeitskreise „Frau und Suchtkonferenz dieser Thematik. Im notika (1:1,2) und für Essstörungen Sucht“ (Vosshagen, 2019). Jahr 2020 steht das Thema wiederum (1:10) (DHS Jahrbuch Sucht, 2020). auf der Agenda. Und das vollkommen Bisweilen entsteht der Eindruck, das zu Recht! Das Thema ist nach wie vor männerspezifische Beratungs- und Männer und Rollenbilder: aktuell und hat nichts an Relevanz Behandlungsangebote zu einer Wann ist ein Mann verloren. Ganz im Gegenteil! Es schei- Selbstverständlichkeit geworden ein Mann? nen regelmäßige Wellenbewegungen sind. In der Realität lässt sich jedoch zu erfolgen, im Zuge derer gender- eine Diskrepanz zwischen Theorie Für eine erfolgreiche Suchttherapie gerechte Suchtarbeit fokussiert und und Praxis feststellen: ist eine intensive Auseinandersetzung die Umsetzung in die Praxis gefordert mit den vorherrschenden Rollenbil- wird. Dieser Artikel möchte für das » Laut der DRV Bund gibt es in der dern notwendig. Wie sind Männer? Thema sensibilisieren und einen Ein- Suchtrehabilitation bei Abhängig- Wann ist ein Mann ein Mann? In ei- druck vermitteln, wie sich männer- keitserkrankungen 185 ganztätig nem Seminar mit Männern fragte ich sensible Suchtarbeit praxisorientiert ambulante und stationäre Einrich- die Teilnehmer, was ihnen spontan umsetzen lässt. tungen. Dabei sind lediglich 11 für zu Männern einfällt: „Dominant, Frauen und 20 für Männer (Fachde- verschlossen, muskulös, handwerk- zernat 8022, I. Schulz, persönliche liebend, aggressiv, karrieregeil, Kon- Zahlen, Daten Korrespondenz vom 30.07.20). kurrenten, reden nicht – sondern und Fakten » In ganz Deutschland gibt es nur handeln, alleine und besonders 19 registrierte männerspezifische belastbar …“. Bei der Betrachtung der aktuellen Suchtberatungsangebote (Männer- Datenlage zeigt sich, dass Männer sache Sucht, 2020). Was wir über Männer „wissen“, sind nach wie vor wesentlich höhere An- » Es gibt 4110 Selbsthilfegruppen, überwiegend Stereotype, die auf teile bei fast allen Hauptdiagnosen die zu 81 % geschlechtsgemischt einige Männer zutreffen, auf andere aufweisen. Die Rangreihen im am- sind. In den Suchtselbsthilfeverbän- nur teilweise oder gar nicht. Aufgrund bulanten Bereich reichen von einem den sind 30.000 Frauen und 40.000 der Allgegenwärtigkeit ist es trotz- 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 17 ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit? dem wichtig einzuschätzen, welche und rationalisiert. In Abhängigkeit Themen Stereotype mein Gegenüber verinner- zur Lebens- und Therapiephase sind Seitens des Klienten werden zunächst licht hat und nach welchen männer- eine empathische oder konfronta- eher vordergründige Themen oder spezifischen „Regeln“ sein Verhalten tive Haltung des*der Therapeut*in Themen, die Stärke und Leistungs- unbewusst und bewusst ausgerichtet notwendig. Dabei ist natürlich die fähigkeit „beweisen“, angesprochen. ist. Dabei sind viele „Regeln“ nicht Individualität des Klienten (zum Konkrete Ziele und Symptome stehen hinterfragt, rigide und hart, wodurch Beispiel: Komorbidität, Krisen, Suizi- zunächst im Vordergrund. Bisweilen Leid produziert wird. In diesem Zu- dalität et cetera) angemessen zu kann es auf der Beziehungsebene um sammenhang ist es wichtig, dass berücksichtigen. „Machtklärung“ und das Abarbeiten wir als Therapeut*innen unser eige- von Konkurrenzdenken gehen. Das nes Männerbild kennen und unser Motivation Besprechen von Konflikten und vor eigenes Normen- und Wertesystem Männer sind bei einem Erstkontakt allem Gefühlen ist häufig erst später hinterfragen, um eine therapeuti- häufig extrinsisch motiviert und möglich, wenn eine tragfähige Bezie- sche Grundhaltung zu entwickeln. werden „geschickt“: hung entstanden ist und der Klient Die Ehefrau ist unzufrieden und droht aufgrund der Rahmenbedingungen Denn erst dadurch ist eine authen- mit einer Trennung, der Chef erteilt an Sicherheit gewonnen hat. tische Begegnung und Kontaktge- eine Auflage, da es alkoholbedingte staltung mit unserem Gegenüber Auffälligkeiten am Arbeitsplatz ge- möglich. geben hat, der Führerschein wurde Ziele männersensibler aufgrund einer Trunkenheitsfahrt ent- Suchtarbeit zogen usw. Der Klient zeigt zunächst Männer im therapeutischen wenig Problembewusstsein und eine In der männersensiblen Suchtarbeit Kontext Therapiebedürftigkeit wird bezweifelt. lassen sich eine Reihe von grund- Daher ist es notwendig, die intrinsi- sätzlich Zielen formulieren. Für eine Im therapeutischen Kontext lassen sche Motivation zu fördern, um eine erfolgreiche Suchtarbeit sollten fol- sich zumeist folgende Merkmale Veränderung zu ermöglichen. Hierbei gende Ziele in den Blick genommen erkennen: hat sich der Ansatz des Motivational werden: Zu Beginn des therapeutischen Interviewing (Miller & Rollnick, 2005) Prozesses sind Männer zumeist ab- bewährt. » Übernahme von Selbstverantwor wartend, skeptisch, unsicher und tung anstelle von Verantwortungs- distanziert. Auf der Verhaltensebene Setting abgabe. zeigen sich rational und kontrol- Für die meisten Männer ist die Be- » Identifikation, Reflexion und Bear- lierte Äußerungen. Das Setting und ratungssituation ein „Auswärtsspiel“. beitung von individuellen stereo- sein Gegenüber werden beobach- Das Setting, bestehend aus sich typischen Geschlechtsrollenfixie- tet und gelegentlich „getestet“, um gegenübersitzen und über sich reden, rungen (toxische Männlichkeit). mehr Sicherheit zu gewinnen. Die ist für viele neu und gewöhnungsbe- » Neudefinition von männlicher Erwartungen bezüglich professionel- dürftig. Dabei werden Selbstaussagen Stärke und die Entwicklung eines ler therapeutischer Hilfe sind eher eingefordert, problematische Verhal- „positiven“ Selbstbildes, um das negativ. Es besteht der Wunsch nach tensweisen fokussiert und Gefühle eigene Selbstwertgefühl zu verbes- schnellen Lösungen, nach Reparatur, angesprochen. Deshalb sind Geduld sern. Dabei sollen die Männer ihre nach der Beseitigung der „Fehler“. und Zeit notwendig, damit eine bereits vorhandenen Ressourcen Das Leben soll wieder funktionieren. therapeutische Beziehung wachsen entdecken. Wenn Gefühle wahrgenommen wer- sowie eine günstige Lernatmosphäre » Entfaltung eines individuellen den, werden sie zumeist abgewehrt entstehen kann. emanzipierten Männerbildes, 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
18 V O RT R ÄG E ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit? 5 Säulen der Identität Leiblichkeit Arbeit Soziale Materielle Werte Leistung Beziehungen Sicherheit Normen Körper Beruf Familie Geld Glaube Seele Sinnstiftende Freunde Einkommen Tradition Gesundheit Tätigkeit Kollegen Wohnung Sinnfragen … … Vereine Nahrung Moral … Konsum … … Abbildung 1: 5 SÄULEN DER IDENTITÄT (In Anlehnung an Petzold, 1995, S. 155–157) Befreiung von äußeren Rollenzu- » Verarbeitung von Scham- und unterschiedlichen Säulen basiert: schreibungen und Zwängen. Ein Schuldgefühlen. Aufgrund der Dis- Leiblichkeit (Körper, Seele, Gesund- wichtiger Aspekt hierbei sind der krepanz zwischen Wunschbild und heit), Arbeit und Leistung (Beruf, Abbau von Omnipotenzfantasien Realität entsteht eine kognitive Dis- sinnstiftende Tätigkeit), Soziale Bezie- und die Entwicklung einer „männ- sonanz. Dadurch entstehen Schuld- hungen (Familie, Freunde, Kollegen, lichen Versagenskultur“. und Schamgefühle, die einer inten- Vereine), Materielle Sicherheit (Geld, » Sensibilisierung für die eigene siven Bearbeitung bedürfen. Einkommen, Wohnung, Nahrung, Person und die Lebensumwelt. Da- » Es gibt eine Reihe von männer- Konsum) sowie Werte und Normen für ist die Förderung von Antizipa- spezifischen Themen, die fokussiert (Glaube, Tradition, Sinnfragen, Moral). tion- und Introspektionsfähigkeit und reflektiert werden müssen Die Säulen können unterschiedlich sowie die Förderung von Empathie (siehe Handbuch „Männlichkeiten „stark“ ausgeprägt und dadurch notwendig. und Sucht“). besonders „tragend“ oder aber » Verbesserung der Gefühlswahrneh- „schwach“ ausgebildet sein. Durch mung und Gefühlsdifferenzierung. die ganzheitliche Sichtweise ist es Das Erkennen von eigenen Wün- Fünf Säulen der Identität möglich, die jeweiligen Ressourcen schen und Bedürfnissen. In der und die krisenhaften Lebensbereiche männersensiblen Suchtarbeit geht Um einen Eindruck von der Lebens- zu identifizieren. Die Erarbeitung des es immer um Gefühle! („Echte situation des Klienten zu bekommen, individuellen Säulenmodells erfolgt Männer fühlen.“) hat sich in der praktischen Arbeit das gemeinschaftlich mit dem Klienten. » Verbesserung der eigenen sozialen „Fünf Säulen Modell der Identität“ Eine zumeist besonders herausfor- Kompetenzen und der Kommuni- nach H.G. Petzold bewährt. Das fol- dernde Intervention für Männer be- kationsfähigkeit. („Echte Männer gende (in Anlehnung an Petzold, steht darin, dass der Klient sein Säu- reden.“) 1995) entwickelte Modell geht davon lenmodell malt, um es anschließend aus, dass unsere Identität auf fünf der*dem Therapeut*in vorzustellen. 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
VORTR ÄG E 19 ANDREAS BÖGGERING Wie gelingt männersensible Suchtarbeit? Männer und Gefühle Beratung von Mann Männerthemen zu Mann Das zentrale Männlichkeitsproblem In der Männerarbeit haben sich über ist der verwehrte Zugang zu den In der Praxis hat sich die Beratung die Jahre hinweg „Männerthemen“ eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. von „Mann zu Mann“ bewährt. Auf- herausgebildet, die im therapeu- Die Gefühlswahrnehmung und Ge- grund ähnlicher Sozialisationsbedin- tischen Prozess aktiv bearbeitet fühlsdifferenzierung sind häufig ge- gungen und Lebenserfahrungen werden sollten. Die LWL Koordinati- ring ausgeprägt. Eine zusätzliche können Therapeut und Klient leichter onsstelle Sucht hat dazu ein Manual Hürde besteht darin, Gefühle in ei- in Kontakt treten (SKM Bundesver- für eine Männergruppe veröffentlicht, ner angemessenen Art und Weise band e.V., 2020). Der Aspekt „Wir das elf Module mit Männerthemen auszudrücken und zu verbalisieren. Männer“ macht einiges einfacher, beinhaltet. Jedes Modul enthält eine Häufig fehlt es an geeigneten Gefühls- verringert häufig das Schamgefühl, Einführung zum Thema und zahlrei- wörtern. In der Praxis hat sich hier der fördert die Offenheit und erleichtert che Übungen. Einsatz von Arbeitsblättern bewährt, den Aufbau einer therapeutischen in denen Gefühle benannt und gege- Beziehung. Der Therapeut begibt Mithilfe des Handbuches können benenfalls beschrieben werden (Baer sich nicht nur mit seinem Fachwis- folgende männerrelevante Themen & Frick-Baer, 2008; Wilken, 2003). sen, sondern auch als Mann in den bearbeitet werden: Beratungsprozess und dient mit Durch den verwehrten Zugang zu den seinem „Männerwissen“ als Rollen- » Männerrolle eigenen Gefühlen ist es schwer, sich modell. Dadurch muss der Thera- » Sucht und Männlichkeit und andere zu verstehen und Hilfe peut einige Grundvoraussetzungen » Die Beziehung zum eigenen Vater in Anspruch zu nehmen. Für Männer erfüllen: Männertherapeuten sollten » Männerfreundschaften sind besonders „weiche“ Gefühle Männer schätzen und mögen, aber » Beziehung zu Frauen wie Scham, Angst, Trauer und vor auch männerkritisch sein. Neben » Männergesundheit allem Hilflosigkeit problematisch, da der Auseinandersetzung mit der » Arbeit und Freizeit sie nicht dem stereotypischen und eigenen männlichen Identität muss » Sucht und Sexualität antiquierten Männerbild entsprechen. der Therapeut eine eigene „män- » Gewalt Die Akzeptanz und der Ausdruck von nertherapeutischen Grundhaltung“ » Eigene Vaterrolle „kraftvollen“ Gefühlen, wie Stolz, entwickeln, damit eine authentische » Emotionalität, Spiritualität, Freude oder Ärger, fällt Männern Begegnung auf „Augenhöhe“ erfol- Glaubensfragen zumeist leichter, da sie stereotypisch gen kann. Diese Grundhaltung und eher Männern zugeordnet sind. Zu die damit verbundenen therapeuti- den männlichen Gefühlsabwehrme- schen Interventionen entwickeln Institutionelle Aspekte chanismen zählen: Schweigen, Kon- sich durch die Berufs- und Lebenser- fliktvermeidung, Rationalität, Gewalt, fahrung sowie durch fachspezifische Eine männersensible Suchtarbeit Handlungsorientierung und Selbstdar- Weiterbildungen unterschiedlichster erfordert eine genderbewusste stellung (Süfke, 2010). Im Arbeitskon- Art (Verhaltenstherapie, REVT, Psycho- Haltung in der Institution. Sie muss text der Suchtberatung begegnen uns analyse, Integrative Therapie, Syste- von der Leitung gewollt, gefördert als Gefühlsabwehrmechanismen vor mische Therapie et cetera). und finanziert werden. Männerspe- allem die unterschiedlichsten Formen zifische Angebote sollten regelmäßig der stoffgebundenen und stoffunge- fest im Arbeitsalltag implementiert bunden Suchterkrankungen. werden, damit sie nicht nach kurzer 30. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2020
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