ZUKUNFTSGEWERKSCHAFT IN BEWEGUNG - PERSPEKTIVE 2030 - IG BCE
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INHALT I N H A LT EINLADUNG ZUR DISKUSSION 6 DIE EXTERNEN EXPERT*INNEN 10 EIN JAHRZEHNT DER UMBRÜCHE 14 – WAS UNS PRÄGEN WIRD EXKURS: DIE IG BCE-SZENARIEN 2030 44 SZENARIO 1 „UNTER DRUCK“ 46 SZENARIO 2 „SMARTES WACHSTUM“ 50 SZENARIO 3 „NEULAND“ 54 SZENARIO 4 „TOHUWABOHU“ 58 DIE CORONA-HERAUSFORDERUNG 62 DIE IG BCE AUF DEM WEG IN EIN 66 NEUES JAHRZEHNT STRATEGISCHE SCHWERPUNKTE 72 1. POLITIK, NETZWERKE & VERÄNDERUNGSFÄHIGKEIT 74 2. TRANSFORMATION VON ARBEIT & WIRTSCHAFT 82 3. ORGANISATIONSLEBEN, BETRIEB & MITBESTIMMUNG 88 4. TARIFPOLITIK & BRANCHEN 94 5. MITGLIEDERSERVICE & ORGANSIATIONSENTWICKLUNG 100 DIE ZUKUNFTSGEWERKSCHAFT 106 5
EINLADUNG EINLADUNG ZUR DISKUSSION ZUR LIEBE KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN! DISKUSSION Wer die Zukunft für die Beschäftigten positiv gestalten will, der braucht einen Überschuss an Ideen. Es reicht nicht, die alten Routinen optimieren zu wollen. Dafür sind die Veränderungen zu gewaltig, die unser Leben und die Art und Weise, wie wir arbeiten, durch- laufen. DER GRUNDIMPULS GEWERKSCHAFTLICHER ARBEIT BLEIBT ES, DIE ZUKUNFT ZUSAMMEN BESSER ZU MACHEN. GEMEINSAM IN SOLIDARITÄT! UND DARUM GEHT ES BEI UNSEREM ZUKUNFTSPROZESS Fo t o : © H el ge Kr ü cke be r g PERSPEKTIVE 2030. Der Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft wird fundamentaler und die Geschwindigkeit und Komplexi- tät nehmen stetig zu. Aus dieser Dynamik gilt es, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und ein Mehr an Zukunftschancen für die abhängig Beschäftigten zu machen. In der zurückliegenden Dekade haben wir mit unserem Prozess „Zukunftsgewerkschaft 2020“ wesentliche Weichen für diese Zukunftsfähigkeit und für eine zukunftsgestaltende Aufstellung der IG BCE gestellt. Der Blick in unsere Branchen verdeutlicht den Bedarf an gewerkschaftlicher Gestaltung in den vor uns liegen- den Jahren. 7
EINLADUNG ZUR DISKUSSION Die Energiewirtschaft, die Chemieindustrie, Autozulie- Was sind extreme Eckpunkte der Entwicklungen? ferer oder die Pharma- und Gesundheitswirtschaft sind Beispiele, die erkennen lassen, wie schnell sich Wie erneuern wir unsere Durchsetzungs- und Gestal- innerhalb weniger Jahre die Perspektiven von Industrie tungskraft angesichts gravierender Umwälzungspro- und Beschäftigung verändern können. Wir wollen uns zesse? Wir haben die vergangenen Monate genutzt, daher immer wieder neu und umfassend mit der Frage intern mit Mitgliedern und Funktionär*innen und mit befassen, wie eine schlagkräftige IG BCE in den vielen externen Expert*innen aus sehr unterschiedli- kommenden Jahrzehnten aussehen muss, um eine chen Bereichen zu sprechen. Vor allen Dingen haben gute Zukunft für Beschäftigung und Innovation zu wir intensiv zugehört, recherchiert und reflektiert. gestalten. Vor allem ist wichtig, dass wir jetzt engagiert Nun liegen sie euch vor: die Denkanstöße für eine und schnell anpacken, damit es gelingt, die Organisa- erfolgreiche Zukunftsorientierung der IG BCE. tion wirksam auf diese Zukunftsgestaltung vorzube- reiten. Dabei wollen wir nicht allein agieren. Unsere Sie sind eine Baustelle und Einladung zum Nachdenken, Erfahrung zeigt: In unserer IG BCE stecken Innovations- zum Austausch, zur Diskussion und sie sollen der und Organisationskraft, die auch für Partner Inspiration Organisation bei den Entscheidungen helfen, die wir sein können, mit denen wir stärker kooperieren und zu treffen haben. von denen wir ebenso lernen wollen. Das beginnt in unserer DGB-Familie und hört bei neuen politischen Bewegungen und Institutionen nicht auf. EUER Um uns in komplexen und nicht immer eindeutigen Zukunftsentwicklungen zu bewegen, haben wir mit dem Szenarienprozess (Siehe Seite 44) das Fernlicht eingeschaltet. Was werden die wesentlichen Entwick- lungen in nächsten 10 Jahren sein? Welche Optionen ergeben sich dabei? 8 9
DIE EXTERNEN D I E E XT E R N E N E X P E RT * I N N E N EXPERT*IN- NEN Wir haben viele gute und schlaue Köpfe bei uns in der IG BCE, die am Entstehungsprozess dieser Denkanstöße beteiligt waren. Aber wenn man wirklich das Fernlicht anschalten will, sollte man über den eigenen Teller- rand hinausschauen und sich auch Anstöße und Expertise außerhalb der eigenen Reihen suchen. Deswegen haben wir über das letzte Jahr verteilt Gespräche mit Expert*innen aus verschiedenen Bereichen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen geführt, mit ihnen diskutiert und Hinweise aufgenom- men. Im Verlauf des Dokuments findet ihr einzelne prägnante Kurzaussagen dieser Expert*innen, die in diesen Gesprächen entstanden sind. 11
D I E E XT E R N E N E X P E RT * I N N E N Die promovierte Physikerin arbeitete bis zu ihrer Ernennung Der Politikwissenschaftler ist Experte für das politische System Foto: David Ausserhofer (WZB) 2014 als Staatssekretärin im Verteidigungsministerium bei der der Bundesrepublik Deutschlands. Seine berufliche Laufbahn Unternehmensberatung McKinsey, wo sie die Aktivitäten der begann er als Referent und später Abteilungsleiter bei der IG Unternehmensberatung im öffentlichen Sektor verantwortete. Metall. Von 2009 bis 2014 war er Staatssekretär im Ministerium Seit 2018 ist sie Mitglied und Vorsitzende des Digitalrats sowie für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Branden- Foto: dpa Fellow der Hertie School of Governance. burg. Außerdem ist Schroeder Mitglied der Grundwertekom- DR. KATRIN SUDER PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER mission der SPD. Vorsitzende des Digitalrats der Politikwissenschaftler, Bundesregierung Universität Kassel Söderqvist ist promovierender Volkswirtschaftler, der als Gewerkschaftssekretär bei der schwedischen Gewerkschaft Onaran ist Unternehmerin, Autorin und Expertin für Digitali- Unionen arbeitet. Es hat dort das Konzept „predictive sierung. Mit ihrem Unternehmen Global Digital Women Foto: Ylva Bergman Foto: Urban Zintel unionism“ (voraussagende Gewerkschaftsarbeit) federfüh- engagiert sie sich für die Vernetzung und Sichtbarkeit von rend entwickelt, das Methoden der Datenanalyse verwendet, Frauen in der Digitalbranche und berät Unternehmen in um die Arbeit der Gewerkschaft zielgerichteter zu steuern. Diversitätsfragen und Kommunikation. FREDRIK SÖDERQVIST TIJEN ONARAN Gewerkschaftssekretär bei Unionen CEO Global Digital Women (Schweden) Crouch wurde vor allem durch sein Werk zur „Postdemokratie“ Die Soziologin forscht unter anderem zum Thema Berufs- international bekannt. Er lehrte Soziologie an der University of bildung, mit besonderen Schwerpunkten auf Chancen für Bath, der London School of Economics sowie der University of geringqualifizierte Jugendliche, Digitalisierung sowie Erwerbs- Oxford und ist momentan Emeritus Professor an der University tätigkeit von Frauen. Seit 2018 ist sie Sachverständige in der of Warwick als auch Mitglied des Max-Planck-Instituts für Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Gesellschaftsforschung. Arbeitswelt“ des Bundestages. PROF. COLIN CROUCH PROF. DR. BETTINA KOHLRAUSCH Soziologe und Politikwissenschaftler, Soziologin, Universität Paderborn University of Warwick Die promovierte schwedische Politikwissenschaftlerin ist seit 2017 Geschäftsführerin der Stiftung Arbeit und Umwelt der Foto: © Stiftung Arbeit und IG BCE. Zuvor arbeitete sie als Forscherin und Projektleiterin Umwelt der IG BCE im gewerkschaftsnahen Think Tank „Arbetarrörelsens Tankes- medja“ und war hauptamtliche Vorsitzende des nationalen Studentenvereins der schwedischen Sozialdemokraten. DR. KAJSA BORGNÄS Geschäftsführerin Stiftung Arbeit und Umwelt 12 13
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Ausgangspunkt unserer gewerkschaftlichen Zukunftsorien- DIE INDUSTRIE IST IM UMBRUCH tierung ist die Frage: In allen Branchen der IG BCE werden für das kommende „WIE WIRD SICH DIE WELT UM UNS HERUM IN DEN KOM- Jahrzehnt tiefgreifende Veränderungen erwartet. So über- MENDEN ZEHN BIS FÜNFZEHN JAHREN VERÄNDERN? einstimmend diese Einschätzungen sind, so unterschiedlich WORAUF MÜSSEN WIR VORBEREITET SEIN? UND WIE fällt die Gewichtung und Bewertung der treibenden Kräfte KÖNNEN WIR SIE ZUM POSITIVEN UND IM INTERESSE für diese Veränderungen aus. Während die einen maßgeb- UNSERER MITGLIEDER GESTALTEN?“ lich auf das sich verändernde Wettbewerbsumfeld – ins- besondere durch wachsende Konkurrenz – sowie auf das Zwei grundlegende Fragebereiche sind in den Diskussions- Potenzial technischer Innovationen und neuer Geschäfts- beiträgen und Analysen immer wieder aufgetaucht: modelle verweisen, sehen andere in der ökologischen Trans- formation – und damit einhergehend steigenden Umwelt- regulierungen – den größeren Veränderungs- druck für ihre Branchen. Wahrscheinlich ist, dass es zu ei- Was wird den Umbruch in der Industrie am stärksten prägen? Wird er stärker getrieben nem Mix aus beidem kommt. vom technologischen Wandel, zunehmendem Wettbewerbsdruck und sich veränderten Märkten oder maßgeblich durch die ökologische Transformation? Und in welchem Ver- Die ökologische Transformation wird eine umfassende (und hältnis stehen beide Faktoren zueinander? auch risikoreiche) Neuformatierung unserer Wirtschafts- und Lebensweise mit sich bringen – so viel ist bereits ge- Wird die Zukunft der (Erwerbsarbeits-)Gesellschaft zunehmend von Zersplitterung und wiss. Wir müssen uns darauf einstellen, Industrie unter Spaltung geprägt sein oder wieder von mehr Zusammenhalt? Werden Unternehmen, die anderen Rahmenbedingungen zu denken und zu gestalten. Politik und die Gesellschaft bei der Suche nach Lösungen für die großen Zukunftsaufgaben Daneben ist die Aussicht auf „umwälzende Technologie- auf kollektive, solidarische und soziale Antworten setzen oder werden individualistische sprünge“ im Zuge der Digitalisierung, auf neue Wettbe- Ansätze dominieren? werber oder auf sich wandelnde Wertschöpfungsketten und Märkte nicht weniger herausfordernd. Wachstum & Wettbewerbsfähigkeit GLOBALER WETTBEWERB ALS TREIBER Vertraute Welt Eine wichtige Lehre und Mahnung der Menschheitsge- schichte ist, dass Umbrüche wie der Aufstieg und Abstieg SZENARIO 1 SZENARIO 2 von Großmächten häufig mit wirtschaftlichen oder politi- Umbruch „UNTER DRUCK“ „SMARTES WACHSTUM“ schen Konflikten verbunden waren. Heute werden die Kon- Fragmentierung (Erwerbsarbeits-) Gesellschaft Zusammenhalt fliktlinien z. B. zwischen den USA und China in industrie- SZENARIO 4 SZENARIO 3 politischen und technologischen Auseinandersetzungen Industrie im „TOHUWABOHU“ „NEULAND“ immer deutlicher sichtbar. Ob es um Zölle für deutsche Autos auf dem US-Markt geht oder um die technologische Kooperation in der Telekommunikation: Die alten und neu- en Supermächte wenden sich ab von einer gemeinsamen, kooperativen Gestaltung der globalen Themen. Sie wollen Systemwechsel Ökologische Grenzen die Welt neu aufteilen in politische, ökonomische und auch technologische Einflusssphären. 16 17
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Zum einen hat die Weltmacht USA in den vergangenen vier STANDORTE DER CHINA 226 500 LEISTUNGS- Jahren unter der Führung von Präsident Donald Trump STÄRKSTEN USA 114 durchgehend auf Konfrontation geschaltet: Gegen die Ver- SUPERCOMPUTER WELTWEIT IM JAPAN 29 einten Nationen, gegen die NATO, gegen die Europäische JUNI 2020 Union und vor allem gegen China. In der Pandemie auch FRANKREICH 19 gegen die Weltgesundheitsorganisation, gegen interna- DEUTSCHLAND 16 tionale Handelsvereinbarungen und gegen die Pariser Kli- NIEDERLANDE 15 mavereinbarung. Diese ‚America first‘-Ideologie wirkt auf IRLAND 14 eine destruktive Weise zusammen mit einer neuen, sehr KANADA 12 robusten Machtpolitik Chinas und Russlands. China erwei- VER. KÖNIGREICH 10 tert mit großen strategischen Projekten, wie der neuen ITALIEN 7 Seidenstraße, seinen Einfluss. Denn das Ziel der chinesi- BRASILIEN 4 schen Führung ist es, die wirtschaftliche Kraft jetzt auch in politische und militärische Macht zu übersetzen. SINGAPUR 4 SÜDKOREA 3 China will bis zur Mitte des Jahrhunderts zu einer globalen NORWEGEN 3 Supermacht im Bereich der industriellen Fertigung und der SAUDI-ARABIEN 3 innovativen Forschung und Entwicklung (F&E) aufsteigen. AUSTRALIEN 2 Industriepolitische Programme wie „Made in China 2025“ VER. ARABISCHE EMIRATE 2 (MIC25) und „Internet+“ zielen darauf ab, die Innovations- SCHWEDEN 2 und Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft zu FINNLAND 2 verbessern. Der Anteil Chinas an der globalen Wertschöp- fung in der industriellen Produktion stieg über die vergan- SCHWEIZ 2 genen 20 Jahre kontinuierlich an. Lag er 2005 noch bei 9,4 TAIWAN 2 Prozent, so betrug er 2018 bereits 28,2 Prozent. Damit ist RUSSLAND 2 China neben Deutschland und den USA zu einem der wich- INDIEN 2 tigsten Produktionszentren weltweit geworden. Innerhalb POLEN 1 Asiens hat China mittlerweile Japan als das regionale Pro- HONG KONG 1 duktionszentrum abgelöst. Der Anteil der EU an der glo- ÖSTERREICH 1 balen Industrieproduktion ging in diesem Zeitraum um SPANIEN 1 7,1 Prozentpunkte auf 17,2 Prozent zurück. QUELLE Top500 Weltweit TSCHECHIEN 1 Statista 2020 Auch bei den globalen Exporten nimmt China heute eine Spitzenposition ein: Sein Anteil beträgt knapp 13 Prozent. Mit enormen staatlichen Unterstützungsleistungen für Unternehmen und einer strategischen Industriepolitik strebt China inzwischen die Weltführerschaft in einigen wichtigen Zukunftstechnologien an – nicht zuletzt im Bereich erneuer- barer Energien und alternativer Antriebstechnologien. 18 19
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Der industrielle Wettbewerb und die „Systemkonkurrenz“ er doch Ausdruck für den drängenden Reformbedarf des in der Globalisierung haben sich in jüngster Zeit noch ein- globalen Kapitalismus. mal zugespitzt. Beispiele dafür sind der Handelskrieg und der Konflikt um technologische Führerschaft in Schlüssel- Dies alles bleibt auch für Deutschland und Europa nicht technologien mit den USA. Aber auch offensivere indust- ohne Folgen. Wir sollten unsere Kraft zur Gestaltung der rielle Aktivitäten in Europa zum Erwerb von Spitzentechno- Zukunft der Demokratie, des Wohlstandes, der Industrie, logien und -unternehmen unterstreichen die Ambitionen z. B. der chinesischen Regierung. Es kann davon ausgegan- » gen werden, dass diese Systemkonkurrenz fortschreiten sowie dass die Rivalität zwischen China und den USA fort- bestehen wird. Nicht zuletzt aufgrund dieser Entwicklun- gen sieht sich Peking in seinem Streben nach technologi- Deutschland braucht eine langfristige Strategie scher Unabhängigkeit vom Ausland bestärkt. Aus diesem für die Industrie der Zukunft und die Konkurrenz Grund und aus Sorge vor zu großer Abhängigkeit (in Schlüs- mit China. Sonst fährt es gegen die Wand. sel- und Zukunftsindustrien) wird auch in Europa das Ver- DR. KATRIN SUDER « Vorsitzende des Digitalrats hältnis zu China zurzeit einer gründlichen Neubewertung der Bundesregierung unterzogen. Erste Schritte einer Diversifizierung der Liefer- und Wertschöpfungsketten und einer technologischen der Wertschöpfung, der sozialen Verhältnisse für unser Entflechtung der Wirtschaftsräume (Decoupling) sind be- Land und für Europa erkennbar einbringen. Europa braucht reits in einigen Bereichen zu beobachten. dabei eine klare Strategie in einem gefestigten Wertege- rüst, um nicht unter seinen Möglichkeiten zu bleiben und Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen muss Europa um die Chancen einer eigenständigen Entwicklung nutzen eine eigene Standortbestimmung in der Globalisierung zu können. vornehmen. Die Idee eines souveränen Europas muss dafür auch wirtschaftlich, technologisch und sozialpolitisch aus- Unsere Industrie sowie unsere industrienahen und indus- buchstabiert werden. trieinduzierten Dienstleistungen sind bislang die wesent- liche Grundlage des Wohlstandes in Deutschland. Der hohe Daneben bleibt die ungeregelte Rolle der globalen Finanz- Spezialisierungsgrad der deutschen Industrie hat dazu bei- märkte und ihr direkter Einfluss auf unternehmerische und getragen, dass sich die Verlagerung von Zuliefer- und Wert- politische Entscheidungen seit zwei Jahrzehnten ein inten- schöpfungsketten in andere Regionen im Vergleich zu sives Diskussionsthema. Der globale Finanzkapitalismus ist anderen Industrieländern in Grenzen hielt. Deutschlands ein zentraler Taktgeber des Umbaus von Unternehmen und Anteil an der globalen Industrieproduktion ging seit 2005 Branchen. Die ihm zugrundeliegenden Logik und Praktiken von 7,4 Prozent auf 5,7 Prozent zurück. Seit 2015 hat sich hatten an vielen Stellen negative wirtschaftliche, ökologi- dieser Wert stabilisieren können. Doch das deutsche Wirt- sche und soziale Konsequenzen gehabt. Nichtsdestotrotz schafts- und Wohlstandsmodell wird angesichts der abseh- gab es wenig Ansätze, dieser Entwicklung Regeln zu geben baren globalen Umwälzungen einem großen Veränderungs- und Grenzen zu setzen. Die zunehmende Ökonomisierung druck ausgesetzt sein. Der Exportweltmeister Deutschland aller Lebensbereiche und die Zügellosigkeit in Teilen der findet sich in neuen globalen Produktions- und Handelsre- Wirtschaft finden jedoch zunehmend eine Antwort in poli- gimen wieder. Die Chemie- und Pharmaindustrie, der Werk- tischen Initiativen und Protesten. Ungeachtet der Tatsache, zeugmaschinenbau, die Energiewirtschaft, die Grundstoff- ob dieser Protest immer einem sachlichen Kontext folgt, ist industrie, die energieintensiven Branchen aus der Glas-, 20 21
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Keramik- oder Papierindustrie, die Zulieferer und die Auto- VERSCHIEBUNGEN mobilhersteller stehen im Fokus der neuen Globalisierung DER HANDELS- und der Transformation in den kommenden Jahren. STRUKTUR MASCHINEN & -7,81 ZWISCHEN CHINA MECHANISCHE Deutschland und Europa müssen für diese veränderte und 0,77 UND DEUTSCHLAND sich weiter verändernde Welt ein industrie- und innova- METALLE -1,76 tionspolitisches Konzept entwickeln, in dem sich Industrie- 0,81 VERÄNDERUNGEN politik und die Innovationsstrategien der Unternehmen NACH KATEGORIE KUNSTSTOFFE -0,32 2020 ZU 2019 IN 0,84 mit einer umsichtigen europäischen und internationalen PROZENTPUNKTEN Kooperation verbinden – für eine sozial gerechte und öko- CHEMIE -0,15 logisch sensitive Globalisierung. Wir wollen zukunftssi- 0,66 chernde Investitionen in neue Wertschöpfung und neue KONSUMGÜTER -0,11 Beschäftigungsperspektiven an unseren Standorten. -3,06 TRANSPORTSYSTEME 0,40 -5,04 Und wir, die Gewerkschaften und die Betriebsrät*innen, müssen in diesem Prozess in den nächsten Jahren stark und LANDWIRTSCHAFTLICHE ERZEUGNISSE -0,28 entschieden qualifizierte Antreiber*innen für eine positive Ausgestaltung der Veränderung sein – denn hier geht es ELEKTRISCHE MASCHINEN 2,75 & GERÄTE 3,59 um die Zukunft unserer (!) Guten Arbeit in Deutschland und Europa. PHARMA & 3,15 MEDIZIN -0,07 ANTEIL CHINAS AN -8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 IN PROZENT DER GLOBALEN WERTSCHÖPFUNG 30 DEUTSCHE IMPORTE AUS CHINA DEUTSCHE EXPORTE AUS CHINA QUELLE IN DER INDUSTRIEL- Comtrade LEN PRODUKTION 25 EXPORTQUOTEN IN PROZENT JE SEKTOR AN DER DEUTSCHEN 50 20 PRODUKTION 45 15 40 10 35 5 30 0 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 QUELLE CHEMISCHE KRAFTWAGEN & CHINA EU DEUTSCHLAND USA GUMMIWAREN KUNSTSTOFFWAREN QUELLE Top500 Weltweit ERZEUGNISSE KRAFTWAGENTEILE Weltbank Statista 2020 22 23
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Industrie-Supercomputer erobern die moderne Grundla- DIGITALISIERUNG ALS TREIBER genforschung und das Höchstleistungsrechnen ist dabei, Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie wir die Art des Forschens zu revolutionieren. Big Data und KI- leben, im umfassenden Sinne. Sie verändert die Produktion gestützte Systeme ermöglichen schnellere und effektivere von Gütern und Dienstleistungen, die Hand- und die Kopf- Verfahren bei gleichzeitig verringertem Personaleinsatz. Es arbeit. Sie verändert unsere Kommunikation unter- und werden zukünftig mehr gewerkschaftlicher Schutz und unsere Arbeit miteinander. Interessenvertretung dort notwendig sein, wo Beschäftig- tengruppen von der Transformation und von durch die Im Zuge der Digitalisierung sowie der Automatisierung, ins- Digitalisierung ausgelöster Rationalisierung betroffen sind. besondere durch den Einsatz von KI, verändern sich Personal- bedarfe, Berufsbilder und Qualifikationsanforderungen. Der industrielle Strukturwandel wird das Antlitz unserer Prognosen gehen davon aus, dass die durch die Digitalisie- Wirtschaft in den kommenden Jahren deutlich verändern. rung beschleunigte Transformation der Branchen alleine Der globale Wettbewerb und der Transformationsschub in Deutschland in den kommenden Jahren mehr als die durch die Digitalisierung aller Lebens- und Wirtschaftsbe- Hälfte der Arbeitsplätze erfassen wird. reiche sorgen für einen tiefgreifenden Umbau der Wirt- schafts- und Branchenstrukturen. Insbesondere die BigTechs Immer mehr standardisierbare Aufgaben werden auto- sorgen dafür, dass die Karten in vielen Wirtschaftsberei- matisiert – nicht nur in der Fertigung. In einigen Bereichen chen neu gemischt werden: Apple wird zum führenden erlaubt es der Einsatz von KI, selbst anspruchsvollere Tätig- Gesundheitsdienstleister. Google ist auf dem Weg zum keiten durch Algorithmen und Bots zu ersetzen. Es ist zu größten Autohersteller und Mobilitätsdienstleister der erwarten, dass diese Entwicklung gewerkschaftlich nur Welt, betreibt bot-basierte Shared-Service-Center für Indus- partiell organisierte Gruppen besonders hart trifft. Ins- trieunternehmen sowie viele andere Business-to-Business- besondere die betrieblichen Funktionen HR, Einkauf und Dienstleistungen. Amazon und Alibaba haben sich über das Logistik, Finanzen und Controlling sowie Vertrieb und Geschäft mit Handelsplattformen zwischen die Industrie- Marketing rücken zunehmend in den Fokus von Automa- unternehmen und ihre Endkunden geschoben. Facebook tisierungsprojekten. und Tencent stehen nicht mehr nur für die globalen Kom- munikationsnetzwerke, sondern zählen inzwischen auch zu PROGNOSE ZUM 31.236,92 den größten Anbietern von Finanzdienstleistungen, welt- UMSATZ MIT UNTERNEHMENS- 30.000 weitem Zahlungsverkehr, Social Scoring und innovativen ANWENDUNGEN Qualifizierungskonzepten. IM BEREICH 25.000 23.886,76 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Viele Unternehmen werden reduziert auf eine Rolle als WELTWEIT VON 2016 BIS 2025 20.000 Content- und Hardwareprovider, während die lukrativen 17.284,19 (IN MILLIONEN Schnittstellen der Plattformökonomie andere besetzt ha- US-DOLLAR) 15.000 ben. Über STAR – die chinesische Technologiebörse – wird 11.840,54 das Wachstum einer neuen Generation von Tech-Firmen in 10.000 7.714,17 Asien finanziert. Dieser digitale Kapitalismus – ob in seiner 5.000 4.806,30 marktradikalen (USA) oder autoritären (China) Ausprägung 1.622,4 2.867,54 – fordert unser Modell einer kooperativ gestalteten Markt- 841,13 QUELLE 0 377,89 wirtschaft heraus. Tractica © Statista 2019 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 24 25
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Allen Angriffen zum Trotz hat sich das deutsche Modell wir essen werden. Das birgt unzweifelhaft Risiken, aber industrieller Qualitätsproduktion in Verbindung mit der eben auch Chancen, die europäische Industrie zu moderni- sozialen Ausbalancierung der Kräfteverhältnisse in den sieren und mit nachhaltiger Standortentwicklung Verlage- Arbeitsbeziehungen als ein erfolgreiches und nachhaltiges rungsüberlegungen zu beantworten. Diese Perspektive Wirtschaftsmodell erwiesen. Dafür haben wir als Gewerk- kommt aber nicht von alleine. Sie muss erdacht und erarbei- schaften in den zurückliegenden Jahren erfolgreich ge- tet werden. Wir müssen dabei Motor einer auf sozial ge- kämpft. Dies werden wir auch in den kommenden Jahren rechte Zukunftschancen ausgerichtete Umsetzungspers- tun. Der Nachhaltigkeitsgedanke in seiner umfassenden pektive sein. Definition wird dabei Grundlage für den von uns als not- wendig erachtenden Umbau unserer Volkswirtschaft bilden. Die Energiewirtschaft z. B. steht am Anfang der meisten industriellen Wertschöpfungsketten. In der Energiewirt- schaft haben die fossilen Brennstoffe in Deutschland kon- krete Auslaufdaten: 2022 (Atomgesetz), 2038 (Kohlever- stromungsbeendigungsgesetz) und 2050 (Treibhausgas- ÖKOLOGISCHE MODERNISIERUNG ALS TREIBER neutralität / Klimaschutzgesetz). Das zukünftige Energie- Unser Produktionsmodell wird sich verändern müssen. Vor system beruht auf erneuerbaren Energien, Wasserstoff, dem Hintergrund immer deutlicher werdender Kosten des Speichersystemen und Sektorenkopplung. Klimawandels hat sich dazu seit der Pariser Klimakonferenz 2015 ein gesellschaftlicher Konsens und eine Option für Industrielle Emissionen und Prozessemissionen werden eine technologische Investitionsoffensive gebildet. in den kommenden Jahrzehnten massiv zurückgeführt werden müssen, um die Klimaziele zu erreichen. Neben Fossile Roh- und Brennstoffe sind seit Jahrhunderten zen- der konventionellen Energiewirtschaft sind insbesondere trale Pfeiler unseres Wohlstandsmodells. Ohne den Abbau die energieintensiven (Grundstoff-)Industrien, bspw. Che- und die Verbrennung von Kohle hätte es die Elektrifizierung mie-, Stahl- und Zementindustrien, von der Klimapolitik und Industrialisierung nicht gegeben. Ohne die Ölförderung stark betroffen. Die umwelt- und klimapolitischen Anfor- und -veredelung hätte es weder die heutige Mobilität, die derungen an die Industrie werden große wirtschaftliche Automobilindustrie, die (industrielle) Logistik noch die Che- und beschäftigungspolitische Effekte haben. Von den rund mieindustrie gegeben. Innerhalb einer Generation müssen 5,5 Millionen Beschäftigten der deutschen Industrie sind diese Energiequellen nun durch erneuerbare Energien (EE) über 800.000 oder 14 Prozent in den als energieintensiv und neue Prozesse ersetzt werden, um den Klimawandel zu bezeichnenden Branchen tätig. deutlich zu verlangsamen. Hinzu kommt die enge Verflechtung dieser Industrien mit Die Staaten haben sich mit dem Pariser Klimaschutzab- Industriebranchen, die selbst unter erheblichen Transfor- kommen ambitionierte Ziele gesetzt. Diese werden durch mationsdruck stehen. Die betrifft u. a. die enge Verbindung europäische Klimaschutzziele erweitert. Und das nicht erst von chemischer Industrie, gummi-, glas- und kunststoffver- in einer fernen Zukunft. Wer heute eine Ausbildung be- arbeitender Industrie mit dem Automobilsektor im Inland ginnt, ein Studium aufnimmt oder den ersten Arbeitsver- sowie im Ausland. Rund 10 Prozent der gesamten Beschäf- trag unterschreibt, wird in einer Wirtschaft in Rente gehen, tigung der Chemiebranche, rund ein Drittel der Beschäfti- die anders aussehen wird als die, die wir heute kennen. Das gung in der gummiverarbeitenden Industrie und etwa 20 gilt nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch für die Wei- Prozent der Beschäftigten in der kunststoffverarbeitenden se, wie wir leben, wie wir wohnen, uns fortbewegen, was Industrie arbeiten ausschließlich für die Automobilindustrie. 26 27
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Diese Arbeitsplätze entstehen durch die Fertigung von Dies hat in den Produktionsstrukturen und -prozessen, in Vorleistungen, die direkt oder indirekt in die Automobil- der Infrastruktur sowie in den Wirtschafts- und Handels- produktion in Deutschland oder international eingehen. beziehungen eine tiefgreifende Transformation zur Folge. Diese industrielle Wertschöpfung und diese Arbeitsplätze Dazu benötigen wir Innovationen in allen Wirtschaftsbe- wollen wir in Deutschland und Europa durch eine Trans- reichen und eine massive Mobilisierung von risikobereitem formation dieser Industrien erhalten. und geduldigem Kapital. Das erfordert eine starke und ver- lässliche Koordinierung zwischen verschiedenen Interessen Die Entwicklung hin zum langfristig nachhaltigen Produ- durch den Staat und durch die Sozialpartnerschaft. Das zieren beschleunigt sich in allen Wirtschaftsbereichen. Die deutsche und europäische Erfolgsmodell für Wachstum, energieintensiven Industriebranchen, wie zum Beispiel die Wohlstand und Arbeitsplatzsicherung braucht ein indust- Papier-, Glas- oder Zementproduktion, aber auch Teile der riepolitisches Umdenken, um unsere Gesellschaft zukunfts- Chemie- oder Stahlindustrie, geraten unter enormem An- sicher zu machen und gleichzeitig im globalen Maßstab an passungsdruck. Nur wer mutig in nachhaltige Technologien der technologischen Spitze zu bleiben. Die Innovationsfähig- investiert, bleibt am Markt. keit und die Investitionstätigkeit der Unternehmen müssen im Zentrum der gewerkschaftlichen Industriestrategie ste- » hen. Beides bildet die zentrale Voraussetzung dafür, dass Industriepolitik ‚Made in Europe‘ kann nicht von Industriearbeit in Deutschland eine Zukunft hat. oben vorgegeben werden. Die Umstellung auf nachhaltige, wettbewerbsfähige Technologien und Wir haben als IG BCE im industriellen Strukturwandel und in der Energiewende schon viel bewältigt und gestaltet. Produkte erfordert neue Aushandlungsprozesse Aber der Veränderungsprozess, der jetzt auf uns zukommt, und Foren, um Zielkonflikte offenzulegen und die wird erneut fundamental, anspruchsvoll und er wird sehr Perspektiven und das Know-how aller Akteure mit teuer. Angesichts der hohen Kosten wird der wirtschaftliche einzubeziehen. Umbau nicht ohne Konflikte stattfinden. Damit Kosten und Erträge dieses Prozesses gerecht verteilt werden: dafür DR. KAJSA BORGNÄS braucht es die gewerkschaftliche Kraft. « Geschäftsführerin Stiftung Arbeit und Umwelt Dies sehen wir bereits heute am Beispiel der aus dem Ru- Neben der Umstellung der Industrie auf treibhausgasneu- der gelaufenen Fördermaschinerie für die erneuerbaren trale Verfahren und Produkte sind die Themen Rohstoffver- Energien. Die großen Einkommen profitieren, die kleinen sorgung, Kreislaufwirtschaft und geschlossene Stoffkreis- Einkommen werden zur Kasse gebeten. Solche Verzerrun- läufe zentrale Herausforderungen für die kommenden gen belasten das soziale Klima in einer Gesellschaft, in der Dekaden. Der Ressourcenverbrauch muss eingeschränkt bereits heute eine kleine Schicht von Menschen einen im- und die Wiederverwertung ausgebaut werden – in allen mer größeren Teil der Einkommen und Vermögen auf sich Branchen. In nahezu allen diesen Bereichen sind neue, konzentriert. Eine fundamentale Transformation kann nachhaltige Technologien theoretisch und praktisch be- nicht gut gelingen, wenn sich der Wohlstand einer Gesell- reits vorhanden. Allerdings sind deren Entwicklungszyklen schaft in immer weniger Händen konzentriert und krasse bis hin zur Marktreife teilweise noch lang. Die damit ver- Ungerechtigkeit wächst. Die finanziellen Ressourcen wer- bundenen Investitionskosten sind sehr hoch; betriebswirt- den gebraucht, um die Gesellschaft zusammenzuhalten schaftlich lohnt sich die Umstellung auf neue Technologien und den Umbau der Wirtschaft voranzutreiben. Wir brau- oft noch nicht, selbst wenn sie volkswirtschaftlich vorteil- chen daher eine aktiv gestaltende Wirtschafts-, Industrie- haft wäre. 28 29
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D und Technologiepolitik, die Leitplanken für Märkte setzt WELTWEITE und soziale Balance sicherstellt. Und: Wir müssen Märkte TREIBHAUSGAS- IN PROZENT schaffen, in denen sich Innovationen und Technologien ent- EMISSIONEN NACH SEKTOREN wickeln, die wir für die Transformation benötigen. IN PROZENT 61% 7% 5% 9% 1% 2% 14% Der globale Wettbewerb führt in der jetzigen Form regel- mäßig zur Unterbietung von Standards für Arbeits- und Umweltschutz. Es war immer gewerkschaftliche Aufgabe, die Konkurrenz bei Lohn- und Sozialstandards so weit wie möglich zu reduzieren. Wirklich befriedigend ist das bisher nur im nationalen Maßstab gelungen. Aber diese Erfolge sind zunehmend gefährdet. Neue Arbeitsplatzrisiken ent- stehen durch unterschiedliche Standards in den Umwelt- und Klimaregimen. Wir müssen uns daher in Zukunft auch dafür einsetzen, diese „Umweltkonkurrenz“ auszuschalten. Eine Schlüsselfrage ist die nach den Wechselwirkungen zwischen Transformation und Arbeitswelt. Denn zum einen besteht die Sorge, dass es zu einem massiven Verlust an Arbeitsplätzen kommen könnte. Auch wird sich absehbar die Art und Weise, wie wir arbeiten, welche Qualifikationen verstärkt benötigt werden – und vor allem, was künftig produziert wird – grundlegend verändern. Die Industrie- Gewerkschaften stehen im Mittelpunkt dieser Auseinan- dersetzung um die Zukunft der Industriearbeit. Ihnen kommt eine Doppelrolle zu. Wir müssen für eine stabile Absicherung und Zukunftsperspektiven der Beschäftigten streiten. Dazu gehört auch der Einsatz dafür, die Kosten der Transformation nicht einseitig bei den Arbeitnehmer*innen abzuladen, sondern gesellschaftlich gerecht zu verteilen. Wir müssen Motor einer gerechten Transformation sein. Dazu wollen wir Kraft für eine Modernitätsstrategie ent- wickeln, die qualitativ konditionierte, technische Innovatio- nen fördert – gerade dann, wenn diese jenseits kurzfristiger Vermarktbarkeit notwendig sind. Wir wollen die Stimme für QUELLE ein erneuertes „Made in Germany“ sein, das mit einem nach- International Energy haltigen Produktionsmodell seinen Beitrag für die Lösung Agency (2017); Energy Technology ANDERE ZEMENT CHEMIE METALL & PAPIER & ALUMINIUM RESTLICHE der großen Menschheitsaufgaben leistet. Ein neues Wachs- Perspectives 2017 SEKTOREN STAHL PAPPE INDUSTRIE tumsmodell, das dem Ziel „immer besser“ folgt, statt Lebens- (online verfügbar; Berechnungen der qualität nur mit „immer mehr“ zu übersetzen, ist unser Ziel. DIW Berlin 2018) 30 31
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D DIE (ERWERBS)GESELLSCHAFT IST IN BEWEGUNG Aber: Nicht alle „alten“ Werte verschwinden – im Gegenteil. Die Zukunft der (Erwerbsarbeits-) Gesellschaft in Deutsch- Die Gesellschaft schätzt und verkörpert traditionelle und land ist mit großen Unsicherheiten verbunden: Wird die moderne Werte gleichermaßen. Zu dieser Wiederbelebung soziale Ungleichheit, werden die Spaltungen in der Gesell- von Werten zählen beispielsweise die gesellschaftliche Auf- schaft und die Polarisierung der Parteienlandschaft an den wertung von Ehe, Familie und Kindern, die soziale Anerken- Rändern zunehmen? Werden sich viele Menschen noch nung ehrenamtlicher und freiwilliger Tätigkeiten, die grund- weiter ins Private zurückziehen? Werden wir eine immer legende Neubewertung von Arbeit und Leistung sowie die weitergehende Spreizung bezüglich der Arbeitseinkom- vorrangige Förderung von Bildung und Kultur. men, der Beschäftigungssicherheit und des Zugangs zu Qualifizierung erleben? Wird sich der Trend zur Verbetrieb- Gerade in unruhigen Zeiten tendieren Menschen eher zu lichung fortsetzen und die Tarifbindung weiter abnehmen? beständigen Werten. Galt früher die primäre Orientierung Wird sich durch Digitalisierung und Industrie 4.0 der Anteil häufig der Erwerbsarbeit, so stehen heute Arbeit und Frei- prekär arbeitender Menschen noch vergrößern? zeit beziehungsweise Familie nicht mehr im Gegensatz zueinander, sondern werden zunehmend als verbundene Kurz: Werden die Lebenswirklichkeiten, Arbeitsbedingungen Bereiche wahrgenommen und rangieren in der Wertigkeit und Weltanschauungen in den Belegschaften immer stärker für das persönliche Wohlergehen bei vielen gleichauf. auseinanderdriften? Es geht vielen Beschäftigten um eine neue Work-Life- Oder wird das Pendel in eine andere Richtung schwingen? Balance und eine nachhaltigere Lebensweise, es geht um Wird die nächste Generation der Berufstätigen mehr Wert Lebensqualität. Dieser Wertewandel bringt natürlich gra- auf Planbarkeit, Sicherheit und Gemeinschaft legen? Werden vierende Veränderungen in den Kernbereichen der Indust- wir in den wichtigen Zukunftsfragen zu einem gesellschaft- riegesellschaft mit sich. Das Produktionsmodell unserer lichen Konsens finden? Werden Institutionen, die auf Inter- Industriegesellschaft ist flexibler und ausdifferenzierter essenausgleich und Teilhabe ausgerichtet sind, wieder an geworden. Kollektive Erfahrungen der (Fach)Arbeiter- Bedeutung gewinnen? Werden kollektive Aushandlungs- schaft sind zunehmend individuelleren Lebensentwürfen prozesse in der Zukunft in der Arbeitswelt wieder eine gewichen. Die arbeitspolitischen und sozialen Rahmen- größere Rolle spielen? Wird es gelingen, gute Arbeitsbe- bedingungen, unter denen Beschäftigte heute ihrer Arbeit dingungen und Mitbestimmungsrechte für alle Beschäf- nachgehen, sind vielfältiger geworden. Dazu gehört auch, tigungsformen voranzubringen? Werden die Lasten des dass die Spaltung in Gewinner und Verlierer des Wandels Strukturwandels fair verteilt und der soziale Zusammen- in der Arbeitswelt wieder zugenommen hat. halt gestärkt? Auch die Erfahrungen und Teilhabechancen in der Arbeits- UNSICHERHEITEN MIT EINEM NEUEN welt haben sich verändert. Mehr denn je fordern die Be- ZUKUNFTSENTWURF BEANTWORTEN! schäftigten heute selbst mehr Gestaltungsspielraum und In den letzten Jahren hat sich ein deutlicher Wertewandel Autonomie an ihrem Arbeitsplatz sowie demokratische vollzogen. Selbstverwirklichung und Kommunikation ste- Teilhabe in Unternehmen. Das ist aber nur die eine Seite. hen für junge Menschen stärker im Vordergrund als früher. Technologische Umbrüche entwerten Wissen und erlernte Mit diesem Wertewandel ist auch eine weitere Individua- Fähigkeiten. Sinkende Tarifbindung und der Verlust sozial- lisierung und Pluralisierung von sozialen Milieus und Le- staatlicher Absicherung bestärken Unsicherheitsempfin- bensstilen verbunden. den. In Teilen der Arbeitswelt wächst so bei Beschäftigten 32 33
DIE ARBEITSWELT VERÄNDERT SICH E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D der Eindruck, ihre Lebensleistung und -erfahrung würden abgewertet, wenn andere Werte gelebt und neue Fähig- Die Arbeitswelt wandelt sich nicht nur durch die beschrie- keiten gefragt sind, als die, die sie gelernt haben. Durch benen ökonomischen Prozesse, auch die gesellschaftlichen die Durchsetzung kollektiver Rechte und Ansprüche den Veränderungen schlagen sich im Betrieb nieder. Beschäftigten bessere individuelle Gestaltungsoptionen für ihr Leben zu ermöglichen, bleibt die zentrale Aufgabe Die demografische Entwicklung fordert uns seit Jahren. der Gewerkschaften in der modernen Arbeitswelt. Die Geburtenrate liegt in Deutschland trotz eines leichten Anstiegs weiterhin unter dem Durchschnitt der Europäi- Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sind nicht schen Union. In den kommenden Jahren werden die ge- spurlos an unserem politischen System vorbeigegangen. burtenstarken Jahrgänge sukzessive in Rente gehen. Unse- Das Parteiensystem befindet sich in einem tiefgreifenden re Bevölkerung wird zukünftig deutlich älter sein. Die Wandel. Die traditionelle Bedeutung der großen Volkspar- Entwicklung von Deutschlands Einwohnerzahl und dem teien – Union und SPD – nimmt ab. Das gewachsene öko- Erwerbspersonenpotenzial wird in den kommenden Jahr- logische Bewusstsein in der Bevölkerung schlägt sich sowohl zehnten umso mehr davon abhängen, wie erfolgreich wir in Wahlerfolgen der Grünen, als auch in einer wachsenden Zuwanderung nach Deutschland gestalten. Bedeutung der Umweltverbände im politischen Diskurs nieder. Die neue Vielfalt im Parteiensystem wird Regieren Die demografische Entwicklung wird den bereits existieren- und Kompromissfindungen in den kommenden Jahren kom- den Fachkräftemangel weiter verschärfen. In bestimmten plexer und schwieriger machen. Regionen und Branchen können schon heute offene Stellen nicht mehr besetzt werden. Dies betrifft vor allem den MINT- Wir beobachten zudem eine wachsende Tendenz zur Radi- und Gesundheitsbereich. Für viele Unternehmen ist der kalisierung in Teilen der Bevölkerung. Rechtspopulistische Fachkräftemangel bereits ein Entwicklungshemmnis. Den- Ressentiments sind in der Gesellschaft weiter vorgedrun- noch lässt unsere Volkswirtschaft noch immer zu viele gen. Mit der AfD hat sich eine rechtspopulistische Partei in Talente brachliegen und zu viele Potenziale ungenutzt. den Parlamenten etabliert, die diese Bühne zu nutzen ver- Würde dieser Wandel durch eine ambitionierte Bildungs- sucht, um den gesellschaftlichen Diskurs zu vergiften. Es und Qualifizierungspolitik begleitet, böte sich erstmals ist erklärtes Ziel der neuen rechten Bewegungen, die Ge- seit den 50er und 60er Jahren wieder die Chance auf Voll- sellschaft entlang ihrer menschenverachtenden Vorstel- beschäftigung. Der absehbare Fachkräftemangel könnte lungen zu spalten. Dies gilt erklärtermaßen auch für die die Position der Beschäftigten und ihre Verhandlungs- Betriebe und die betriebliche Mitbestimmung. Die Gewerk- macht stärken. Dies eröffnet die Chance, in der tariflichen schaftsbewegung war immer auch eine Demokratiebewe- Gestaltung attraktiver Arbeitsbedingungen zu weiteren gung. Wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Teilhabe nennenswerten Fortschritten zu kommen. in Betrieb und Gesellschaft sind die Gewerkschaften immer zum Ziel von Angriffen durch diejenigen geworden, die eine Dies betrifft nicht zuletzt die Gestaltung attraktiver Arbeits- undemokratische, unfreie und ungerechte Gesellschaft an- zeitmodelle, die den Beschäftigten ein gesundes Erwerbs- gestrebt haben. Die Feinde der Demokratie sind darum auch leben und eine Balance zwischen beruflichen und familiären immer die Feinde freier Gewerkschaften. Darum werden wir Belastungen ermöglichen. Die Ansprüche der Beschäftigten allen antidemokratischen Bestrebungen und Organisationen an eine moderne und flexible Arbeitszeitgestaltung haben entgegentreten. zugenommen. Gerade in der jungen Generation können wir schon heute sehen, dass sich die Ansprüche an Arbeit und Leben weiter radikal verändern werden. 34 35
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Neben dem Entgelt bestimmt sich die Attraktivität eines gesetzgeberisches und auch tarifliches Umfeld, das diese Arbeitsplatzes immer öfter auch danach, wie sich die Ge- Prozesse nicht bzw. noch nicht vollständig nachvollzogen staltungsmöglichkeiten von Belastung und Entlastung dar- hat. Im Arbeitsleben allgemein und vielfach auch im Tarif- stellen. Je nach Lebensphase und Lebenssituation haben recht sind nach wie vor Vollarbeitsverhältnis das Leitbild die Beschäftigten sehr unterschiedliche Wünsche an die - und Teilzeitarbeit dagegen als Ausnahme ausgestaltet Lage und Dauer ihrer Arbeitszeit. Ebenso sind die Ansprüche bzw. ungenügend geregelt. daran gewachsen, an welchem Ort man die Arbeitsleitung erbringen kann. Dieser Vielfalt der Ansprüche müssen wir Gleichberechtigte Erwerbstätigkeit führt deutlich häufiger Rechnung tragen. als früher zu einer Kollision beruflicher Anforderungen mit sozialen Verpflichtungen wie Pflege und Erziehung. Auch Gute Arbeitsbedingungen für neue Beschäftigungsformen, deshalb wird der Wunsch nach einer möglichst arbeitneh- die durch die Digitalisierung der Arbeitsmärkte entstehen mergesteuerten Flexibilität bei der konkreten Verteilung (z. B. Clickworker, Crowd- und Cloudworker), müssen durch der Arbeitszeit weiter an Bedeutung gewinnen, unabhän- moderne Regelungen, Verordnungen und Tarifverträge ge- gig von der konkreten Lebensphase. Teilweise deckt sich staltbar werden. Es mangelt heute häufig an der fehlenden dieser Wunsch mit dem Arbeitgeberinteresse an flexiblen Arbeitgeberfunktion. Das muss geändert werden. Die Arbeitseinsatz, teilweise werden aber die Flexibilitätsan- Plattformbetreiber müssen gesetzlich verpflichtet werden, forderungen beider Seiten in striktem Widerspruch stehen. auf die Einhaltung von Mindeststandards zu achten. Da- rüber hinaus müssen wir mit den Auftraggebern tarifliche » Vereinbarungen treffen, um gute Arbeitsbedingungen für solche werkvertragsähnlichen Beschäftigten zu gestalten. Es bracht eine starke Empowerment-Mentalität. Die Zahl erwerbstätiger Frauen in den alten Bundesländern Die IG BCE muss die Frage beantworten, wie sie hat sich zwischen 1973 und 2013 von rund sechs auf zwölf Zukunftsthemen wie die Digitalisierung mitgestalten Millionen verdoppelt. Frauen sind damit die am schnellsten wachsende Gruppe unter den Beschäftigten. Mit diesem will, statt sie als Bedrohung zu sehen. Tempo hat die gewerkschaftliche Organisation von Frauen TIJEN ONARAN « CEO Global Digital Women nicht mitgehalten. Mit Blick auf den Anteil der Beschäftig- ten in unseren Branchen und in unserer Mitgliedschaft sind Frauen bisher unterrepräsentiert. Ebenso ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, die Optionen, die das Zugleich mit den Arbeitszeitfragen stellt sich die Frage Betriebsverfassungsgesetz zur Förderung von Frauen be- nach gleichwertiger Vergütung und gleichberechtigten reithält, im notwendigen Maße durch- und umzusetzen. Aufstiegschancen. Noch immer ist in weiten Teilen der Wirtschaft eine deutliche Entgeltlücke zwischen den Ge- Die über Jahrzehnte entwickelte Rollenteilung zwischen schlechtern festzustellen und der Anteil weiblicher Füh- Frau und Mann in Beruf und Familie ist mittlerweile durch rungskräfte bleibt deutlich hinter dem Anteil von Frauen eine ganze Reihe unterschiedlicher Lebensentwürfe ab- in Erwerbstätigkeit zurück. Beides muss verstärkt in den gelöst. In vielen Partnerschaften sind die Erwerbsarbeit, die Fokus gewerkschaftlicher Gestaltung rücken. Der bisheri- Erziehung der Kinder und die Pflege gleichmäßiger verteilt. ge Gegensatz von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung ist Daneben nimmt der Anteil Alleinerziehender stetig zu. zugunsten einer einheitlichen Behandlung aller Beschäf- Diese gesellschaftlichen Veränderungen treffen auf ein tigungsverhältnisse abzulösen. 36 37
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Aber auch die Zusammensetzung der Belegschaften hat sich tigten arbeiten, nach eigenen Angaben an den jeweiligen in den letzten Jahren verschoben. In der Chemischen Indus- Branchentarifverträgen orientierten. trie ist der Anteil der Beschäftigten mit Hochschulabschluss von 11,7% (2000) auf 16,9% (2016) gestiegen. Demgegenüber Im Organisationsbereich der IG BCE beobachten wir ähn- sind nur 1,4% unserer betriebstätigen Mitglieder den Berufs- liche Entwicklungen, allerdings ist die Tarifbindung bei uns gruppen AT, leitende Angestellte oder Ingenieure zuzuord- noch deutlich höher als in anderen Bereichen der Wirt- nen. Die Struktur der IG BCE-Mitgliedschaft und die Struktur schaft. Diese Ausstrahlungswirkung der Branchentarifver- der Belegschaften in unserer Branchen fallen auseinander. träge leistet noch einen großen Beitrag zur einheitlichen Gestaltung. Sie kann aber bei einem weiteren Absinken der direkten Tarifbindung überproportional an Wirkung als Referenzfunktion verlieren. Diese ausschließliche Orientie- rung an Tarifstandards bedeutet allerdings, dass der Arbeit- geber einseitig darüber entscheidet, welche tariflichen DIE KRÄFTEVERHÄLTNISSE VERSCHIEBEN SICH Regelungen angewendet werden. Der Versuch großer Tei- In den Branchen der IG BCE hat sich mit ganz wenigen Aus- le der Arbeitgeberverbände, eine Debatte über Tarifmodu- nahmen gezeigt, dass auch oder gerade in Krisenzeiten die le als betriebliche Auswahlangebote zu führen, verschärft Tarifpartner in der Lage sind, sowohl auf wirtschaftliche das Problem der weiteren Fragmentierung der Tarifbindung. und betriebliche Ausnahmesituationen zu reagieren, wie auch im Gegenzug soziale Notwendigkeiten wie z. B. die In den letzten Jahren sind immer häufiger eigentlich den Aufstockung beim Kurzarbeitergeld schnell und einver- Tarifpartnern übertragene Aufgaben durch den Staat oder nehmlich zu regeln, um Standorte und Beschäftigung zu in der Folge gesetzlicher Regelungen durch die Sozialkassen sichern. ergänzt oder übernommen worden. Setzt sich dieser Trend fort, werden in einer sich demografisch ändernden Gesell- Allerdings sind immer weniger Branchen in Deutschland schaft der Staat sowie die sozialen Sicherungssysteme an in der Lage, flächendeckend Regelungen für die Beschäf- ihre Grenzen kommen. Die ist nicht zuletzt die Folge von tigten zu vereinbaren. Die Tarifbindung nahm in Deutsch- handlungsunfähigen oder handlungsunwilligen Arbeitge- land in den letzten 25 Jahren stetig ab. Im Jahr 2018 arbei- berverbänden. Immer häufiger wird dabei die Verlagerung teten hochgerechnet rund 49 Prozent der westdeutschen der Kosten von den Unternehmen auf die Allgemeinheit und etwa 35 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in deutlich. Dies erfordert ein Umdenken auch vor dem Hinter- einem Betrieb, der einem Branchentarifvertrag unterlag. grund sich ändernder Wertschöpfungsketten und der Ent- Firmentarifverträge galten für 8 Prozent der westdeutschen wicklung neuer Geschäftsmodelle. und 11 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten. Mit Blick auf die Betriebe liegt die Tarifbindung im Westen unter 30 Übernahmen, ein international geprägtes Management Prozent und im Osten sogar unter 20 Prozent. und der wachsende Einfluss von Investoren, die mit dem deutschen Modell der Mitbestimmung wenig anfangen Für rund 44 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der können, tragen dazu bei, dass die betriebliche Mitbestim- ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gab mung und die Unternehmensmitbestimmung in der Praxis es keinen Tarifvertrag. Rund die Hälfte dieser Beschäftigten immer mehr unter Druck geraten. Vor allem die Mitbestim- in westdeutschen Betrieben und etwa 44 Prozent in ost- mung im Aufsichtsrat wird durch die Internationalisierung deutschen Betrieben wurden jedoch indirekt von Tarifver- ausgehöhlt – durch Fusionen oder die Verlagerung des trägen erfasst, da sich die Betriebe, in denen diese Beschäf- Unternehmenssitzes ins Ausland. Das wiederum schwächt 38 39
E I N JA H R H U N D E RT D E R U M B R Ü C H E – WA S U N S P R ÄG E N W I R D Betriebs- und Konzernbetriebsräte, da eine verzahnte Mit- bestimmungspolitik schwieriger wird. GEWERKSCHAFTEN IN VERÄNDERUNG Die Gewerkschaften haben dieses Land geprägt. Sie haben In vielen Unternehmen verschwimmt die Grenze zwischen enorme Herausforderungen bewältigt und unser Land zum internen und externen Beschäftigten und es entstehen zu- Besseren gestaltet. Wir sehen aber auch, wie sich die Welt nehmende modulare Produktionsprozesse. Es wird häufiger um uns herum verändert. Dies muss die Gewerkschaften in flexiblen Konfigurationen und Netzwerken gearbeitet. und ihre Rolle verändern. Das gilt auch für unsere IG BCE. Der „feste Arbeitsplatz“ ist nicht verschwunden, aber seine Bedeutung wird zunehmend relativiert. Die Corona-Krise Wir erleben immer schnellere gesellschaftliche, technolo- hat das Potenzial, diese Entwicklung noch zu vertiefen. Die- gische und ökonomische Umbrüche. Und zur Wahrheit ge- se Entwicklung stellt die Gewerkschaften und auch die hört auch: Die Gewerkschaften haben über die zurücklie- Akteure der betrieblichen Mitbestimmung vor große Her- genden Jahrzehnte an Prägekraft für die Entwicklung in ausforderungen. Es wird immer unübersichtlicher, wer für unserem Land eingebüßt. Als sich der DGB nach dem Krieg die Interessenvertretung bestimmter Beschäftigter noch in Westdeutschland neu gegründet hat, hatte er über 5 zuständig ist. Und damit auch immer schwieriger, Beschäf- Millionen Mitglieder. Mit der Deutschen Einheit stieg die tigte für eine wirksame Vertretung ihrer Interessen zu Zahl der Mitglieder auf über 11 Millionen. Heute haben die organisieren. im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften rund 5,9 Millionen Mitglieder. Die beschriebenen Veränderungen, die sich negativ auf die Reichweite von Tarif, Mitbestimmung und die gewerk- » schaftliche Vertretung auswirken, berühren den Kern des deutschen Arbeits- und Sozialmodells, wie es sich nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland herausgebildet hat. Die IG BCE sollte digitale Analysemethoden nutzen, Eine Politik, die darauf setzen würde, mit diesem Modell um die gewerkschaftliche Arbeit zu verbessern und bewusst oder aus Fahrlässigkeit zu brechen, hätte für die die Bedürfnisse der Mitglieder gezielter erfüllen zu Beschäftigten, den Standort Deutschland und für den ge- können. sellschaftlichen Zusammenhalt unabsehbare Folgen. Es muss darum ein gemeinsames Ziel der Sozialpartner wie FREDRIK SÖDERQVIST « Gewerkschaftssekretär bei Unionen der Politik sein, das deutsche Modell zukunftsfest zu ma- (Schweden) chen. Dies gilt umso mehr mit Blick auf die ostdeutschen Bundesländer, in denen 30 Jahre nach der Deutschen Einheit Auch die IG BCE hat mit Mitgliederverlusten zu kämpfen. in vielen Bereichen noch immer schlechtere Standards gel- Vor der Fusion lag die Mitgliederzahl der drei Vorgänger- ten. Es muss unser zentrales gewerkschaftliches Leitbild gewerkschaften der IG BCE bei insgesamt knapp einer Mil- bleiben, dass wir aus eigener Kraft die Arbeits- und Lebens- lion. Davon entfielen auf die IG CPK rd. 700.000, auf die IG verhältnisse gemeinsam mit den Arbeitgebern gestalten. BE rd. 300.000 und die GL rd. 20.000. Die IG BCE hat heute Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um dieses Leit- also rund 480.000 Mitglieder weniger als ihre drei Vorläufer- bild werden wir aber noch intensiver führen müssen. Organisationen im Jahr vor der Fusion. Diese Entwicklung ist auf einen tiefgreifenden Strukturwandel in den Branchen der IG BCE zurückzuführen, nicht zuletzt auf das Ende der Steinkohleförderung in Deutschland. 40 41
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