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Die Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack von Andreas Exenberger Institut für Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte Universität Innsbruck WP 97/01
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Vorbemerkungen Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem vor allem von Alfred Müller-Armack entwickelten Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das die Wirtschaftspolitik der BRD in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute beherrschte und ihren Aufstieg zu einem der führenden Industrieländer erst ermöglichte, oder doch wenigstens erheblich begünstigte. Nach einigen gewissermaßen einleitenden Bemerkungen über Leben und Werk von Müller- Armack und das Wesen der Sozialpolitik folgt ein Abschnitt über den historischen Rahmen, in dem das Konzept entstanden ist. Daran anschließend wird das 1946-50 veröffentlichte Grundkonzept und seine Folgen (das deutsche Wirtschaftswunder) präsentiert, sowie seine Weiterentwicklung 1959/60 und deren Folgen (insbesondere bis zur ersten Krise, der der Rücktritt von Bundeskanzler Erhard 1966 folgte). Nach kurzen Bemerkungen zum Stand der Sozialen Marktwirtschaft und vor allem der Wirtschaftspolitik in der BRD heute runden einige eigene Anmerkungen (zur demokratischen Marktwirtschaft, meiner Sicht einer regulierten Marktwirtschaft und der Anwendbarkeit des Konzepts auf die Problematik der Entwicklungsländer) diese Arbeit ab. Am Schluß stehen Abbildungen zum quantitativen Verlauf des Wirtschaftswunders und eine Bibliographie. Leben und Werk von Alfred Müller-Armack Alfred Müller-Armack wurde am 28. Juni 1901 in Essen geboren. Er studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Gießen, Freiburg im Breisgau, München und Köln und habilitierte sich 1926. Er war Professor in Köln (seit 1934) und Münster (seit 1940, Lehrstuhl für Volkswirtschaft). 1950 wurde er Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln (Professor für Staatswissenschaften). Er entwickelte nach dem Krieg (unter Mitwirkung der Freiburger Schule um Walter Eucken) das Konzept und prägte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses Konzept übersetzte Müller-Armack mit maßgeblicher Unterstützung von Ludwig Erhard in die Praxis (die praktische Anwendbarkeit seiner Erkenntnisse war ihm zeitlebens ein großes Anliegen). 1952-57 war er in der Leitung des Wirtschaftsministeriums (gewissermaßen „Chefideologe“), 1958-63 Staatssekretär für europäische Angelegenheiten. Danach widmete er sich wieder vor allem seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Auch auf internationaler Ebene (vor allem europäischer) war Alfred Müller-Armack aktiv. So war er Präsident des konjunkturpolitischen Ausschusses der EWG, Vertreter der BRD im Ministerrat (zeitweise auch Präsident) und Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Investitionsbank. Auf diese Weise konnte er seine Hauptanliegen auf europäischer Ebene, das Europäische Währungsabkommen von 1958, die internationale Koordinierung der Konjunkturpolitik und die Festigung der eben erst gegründeten EWG wirksam vertreten. Neben seinen Schriften zur Sozialen Marktwirtschaft (wichtigste Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ 1946/48) war Alfred Müller-Armack auch noch auf anderen Gebieten tätig, wobei die Theorie der Wirtschaftsstile und die Europäische Integration die beiden bedeutendsten sind. Bereits 1928 erschien die „Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik“, damals eine noch recht neue Sparte der Wirtschaftspolitik, 1932 folgten die „Entwicklungs- gesetze des Kapitalismus“, das bereits als eine Vorarbeit zu einem der zentralen Werke „Genealogie der Wirtschaftsstile“ (1941) gesehen werden kann. „Diagnose unserer Gegen- wart“ (1949) und „Religion und Wirtschaft“ (1959) betonen die ziemlich bemerkenswerte religions- und kultursoziologische Seite seines Werkes. Als Spätwerk kann „Auf dem Weg nach Europa“ (1971) gelten, ein Ausdruck seines beständigen und vielfältigen Engagements Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 1
WP 97/01 © by Andreas Exenberger für die europäische (auch transatlantische) Einigung, zu der er z.B. auch schon 1960 einen „Plan zur Errichtung einer Europäischen Zollunion“ veröffentlichte. Am 16. März 1978 starb Alfred Müller-Armack in Köln. Sozialpolitik als Kompromiß zwischen liberaler und egalitärer Auffassung Das grundlegend Neue am Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist das Adjektiv „sozial“, wenn auch viele Gegner, vor allem kurz nach 1945, in dieser Wortkombination einen natürlichen Widerspruch orteten (ich möchte hier nicht schon wieder den denkwürdigen Ausspruch Friedrich August Hayeks zu diesem Thema zitieren). Dennoch bedeutet sie mehr als nur ein Schlagwort, das nur dazu dienen sollte, den Kapitalismus in der BRD wieder salonfähig zu machen. Da nun das Wort „sozial“ von so erheblicher Bedeutung in diesem Konzept ist, möchte ich mich an dieser Stelle der Gratwanderung einer wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik zwischen Nachtwächter- und Versorgungsstaat zuwenden. Es gibt keine Theorie des Sozialstaates, er ist gewissermaßen „passiert“, entstanden als ein kaum koordiniertes Geflecht, das auf vielerlei verschiedenen Wertsystemen basiert, und in dem daher einander widersprechende Ziele formuliert sind.1 In vorindustrieller Zeit waren die Menschen in Verbänden (Großfamilien oder die Kirche) integriert, die ihnen soziale Sicherheit gewährten, das Überleben in der Kindheit wie im Alter garantierten. Für diese Sicherung mußte der Preis geringerer persönlicher Freiheit gezahlt werden, war doch eine freie Berufswahl ebenso illusorisch wie die Gründung einer eigenen Familie (ohne das nötige Geld, das jedoch durch schlechte Aufstiegschancen praktisch unerreichbar war). In dieser Zeit war daher Sozialpolitik nicht vonnöten, die wurde sozusagen privat organisiert. Spätestens mit der industriellen Revolution änderte sich dies: die Menschen strömten in die Städte, zu den Produktionsanlagen, sie entwurzelten sich dadurch und lösten sich aus den Großfamilien. Sie gründeten Kleinfamilien, in denen sie allerdings vollkommen von ihrer eigenen Leistungsfähigkeit abhängig waren. Krankheit oder andere Arbeitsunfähigkeit führte zur Verelendung und zum Tod. So zahlte man für die Befreiung von sozialen Zwängen mit der Unsicherheit, nicht mehr in einem Risikoverband verankert zu sein. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit eine Vorsorge, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch, um die Unzufriedenheit der Massen und ihre revolutionäre Kraft zu bändigen und um einem Arbeitskräfteschwund vorzubeugen. Es ging um den Ausgleich der Risiken zwischen den Menschen und um die Vorstellung einer sozial gerechten Gleichheit. Dazu sagt etwa Dr. Christian Seidl: „Alle Gleichheitsvorstellungen bezüglich der ökonomischen Position von Wirtschaftssubjekten scheinen Kombinationen – oder besser: Kompromisse – von Liberalismus einerseits und Egalitarianismus andererseits zu sein.“2 Das liegt nicht zuletzt daran, daß sich das Sozialsystem seit über hundert Jahren unter verschiedenen politischen Systemen entwickelt hat, die alle ihre verschiedenen Spuren hinterließen. Liberale Sozialpolitik in ihrer reinen Form ist in höchstem Maße leistungsorientiert. Es geht um grundsätzliche Chancengleichheit, was das Individuum aus seinen gleichen Chancen schließlich macht, bleibt gänzlich ihm überlassen. Der einzige Punkt, an dem Sozialpolitik (ex post) ansetzen darf, ist die Sicherung des Überlebens jener Individuen, die dies trotz Ausnutzung ihrer Chancen nicht selbst bewerkstelligen können. Finanztransfers werden, dem 1 Busch: S 358ff. 2 Seidl: S 21. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 2
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Prinzip der Konsumentensouveränität folgend, Realtransfers unbedingt vorgezogen. Das Hauptproblem dieses Systems ist die irrige Meinung, Chancengleichheit herstellen zu können. Egalitäre Sozialpolitik ist an der Gleichheit der Ergebnisse, der Intensität der Befriedigung der Bedürfnisse und der Sekundäreinkommensverteilung interessiert. Sozialpolitik wird als nachträglicher Ausgleich der ungerechten, weil zufälligen Verteilung durch die Wirtschaft gesehen. Dies impliziert einerseits entweder homogene Bedürfnisse oder objektive Meß- methoden für Nutzen und andererseits die Diskriminierung höherer Einkommen. Der paterna- listische Staat weiß um die Bedürfnisse seiner Bürger, verteilt Realtransfers oder führt Preis- diskriminierung (verschiedene Preise für gleiche Güter) zum Ausgleich durch. Das offen- kundige Problem ist die Leistungsfeindlichkeit des Systems, in dem sich immer höhere Ansprüche an die Umverteilung und immer geringere Bereitschaft zur Mitarbeit begegnen. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nun ist ein der liberalen Sozialpolitik verhaftetes, wenn auch in ihren Anfängen sozialistische Tendenzen erkennbar sind. Trotzdem stellt es auf Chancengleichheit, auf Freiheit des Individuum in der Gestaltung seines Lebens (es betont oftmals die Bedeutung der unternehmerischen Selbständigkeit), auf das Subsidiaritätsprinzip, auf Eigeninitiative und Mitbestimmung und natürlich auf die Lenkungskraft des Marktes ab, der als Grundregelsystem nicht in Frage gestellt wird. Der Marktprozeß erzeugt allerdings unerwünschte Nebenwirkungen, die durch soziale Steuerung bekämpft werden müssen (so durch Wettbewerbskontrolle), außerdem bedarf er einer gesellschaftspolitischen Ergänzung. Dennoch wurde und wird die Marktwirtschaft so zu einem Grundwert der Gesellschaft. Sie muß jedoch durch marktkonforme Eingriffe, eine den Marktmechanismus selbst nicht störende Sozialpolitik ergänzt werden, die ein gleichzeitiges Erreichen sozialer Ziele und ein ungestörtes Funktionieren des – ökonomisch anderen Ordnungsformen überlegenen – Marktes gewährleistet. Eine solche marktkonforme Sozialpolitik muß mehreren Prinzipien gehorchen, die einander zum Teil widersprechen.3 Alfred Müller-Armack sieht die Markt- konformität gewährleistet, wenn „die Funktion einer variable gehandhabten Wirtschafts- rechnung“ durch die wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht gefährdet ist.4 Die Soziale Marktwirtschaft ist von Alfred Müller-Armack als ein „dritter Weg“ zwischen Liberalismus und der Deutschland damals gängelnden Lenkungswirtschaft konzipiert, sie ist ein eigener Wirtschaftsstil, der dadurch „versucht, den Sinn menschlichen Lebens, die Prinzi- pien seiner Gestaltung unter Einbeziehung des wirtschaftlichen Bereichs in einen geschlosse- nen Zusammenhang zu erfassen“.5 Gerade dadurch grenzt sie sich von Liberalismus ab, der die Erfüllung menschlichen Lebens oftmals ausschließlich in der wirtschaftlichen Tätigkeit sah. „Die beiden Alternativen, zwischen denen sich die Marktwirtschaft bisher bewegte, die rein liberale Marktwirtschaft und die Wirtschaftslenkung sind innerlich verbraucht, und es kann sich für uns nur darum handeln, eine neue dritte Form zu entwickeln, die sich nicht als eine vage Mischung, als ein Parteikompromiß, sondern als eine aus den vollen Einsichts- möglichkeiten unserer Gegenwart gewonnene Synthese darstellt.“6 Es gibt keine natürliche Harmonie der Interessen, wie der Liberalismus unterstellt, und man sollte in den Markt auch keine geheimnisvollen Kräfte hinein interpretieren. Daneben ist aber auch ein zu starker Staat oder zu starke Kontrollen des Marktes, wie sie vor allem der Ordoliberalismus propagiert, abzulehnen und Müller-Armack gehen daher die Vorstellungen 3 Vgl. Grosser et al.: S 142ff. Gemeint sind Versicherungs-, Äquivalenz-, Kausalitäts- und Subsidiaritätsprinzip. 4 Müller-Armack: S 115. 5 Blum: S 154f. 6 Müller-Armack: S 109. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 3
WP 97/01 © by Andreas Exenberger etwa eines Walter Eucken denn doch zu weit. Die Soziale Marktwirtschaft fungiert hingegen als irenischer (d.h. friedensstiftender) Ordnungsgedanke, der den Ausgleich im Dreieck aus persönlicher Freiheit, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicherung und Wachstum sucht. Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: die Umstände, in denen das Konzept geboren wurde Im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften ist unter „sozialer Marktwirtschaft“ ziemlich zu Beginn das Folgende zu lesen: „Die deutsche Bevölkerung war nach dem katastrophalen Ende des Zweiten Weltkrieges entschlossen, große Anstrengungen auf sich zu nehmen, um auf den Trümmern in Wirtschaft und Gesellschaft Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu erarbeiten. Not und Mangel, Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise sowie die Erfahrungen mit dem freien Schwarzen Markt prägten dabei im wirtschaftlichen Bereich die Vorstellungen breiter Bevölkerungskreise, daß ein schneller Wiederaufbau der Wirtschaft sowie eine gerechte Verteilung der notwendigen Opfer und der sich einstellenden Erträge nur von einer konsequenten staatlichen Lenkung der Wirtschaft zu erwarten war.“7 Diese Kurzanalyse trifft die Situation wohl recht genau. Deutschland lag 1945 wirtschaftlich vollkommen darnieder, das Produktionspotential war weitestgehend zerstört, die Zukunft des Staates vollends ungewiß und dem Wohlwollen der Siegermächte anheimgestellt. Man war der Meinung, daß in einer solchen Situation nur eine strenge Lenkungswirtschaft die Lösung, je geradezu die Rettung sein konnte. Auch die Erfahrungen mit der Marktwirtschaft in der Zwischenkriegszeit, die freilich in Deutschland durch Kartelle in vielen Wirtschaftsbereichen in ihrem Funktionieren gehindert war, der Hyperinflation der 1920er Jahre, der Weltwirt- schaftskrise und der großen Depression, die Erinnerung an den Manchester-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, all das schuf nicht gerade Vertrauen in die Marktwirtschaft. Andererseits war der Blick auf die Leistungsfähigkeit der Lenkungswirtschaft verklärt, so z.B. auf die nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsprogramme, deren scheinbarer Erfolg auch durch viele nichtwirtschaftliche Faktoren bedingt war. Auch in den anderen Ländern Europas und den USA war Marktwirtschaft damals ein umstrittenes Konzept, und die Sowjetunion konnte auf zwei Jahrzehnte geradezu sprunghafter Entwicklung durch Planwirtschaft (ungeachtet der dabei angewandten Methoden) verweisen. Der Boden war also alles andere als bereitet für eine marktwirtschaftliche „Revolution“ in Deutschland. Die Menschen waren an die Zuteilungswirtschaft und an zunehmenden Mangel an Gütern während des Krieges gewöhnt und daher nicht leicht für ein Konzept zu begeistern, das in der näheren Vergangenheit vor allem durch Krisen aufgefallen war. Man vertraute eher der Weitsicht der Wirtschaftspolitiker, die die Verteilung nach besten Wissen und Gewissen organisierten, als der sprichwörtlichen „unsichtbaren Hand“ des anonymen Marktes. Aus dieser Situation heraus entwickelt Alfred Müller-Armack das Grundkonzept der Sozialen Marktwirtschaft8, ausgehend von einer Kritik an der herrschenden Lenkungswirtschaft, die den Mangel bestenfalls verwalten, ihn aber nicht beheben kann. Auch sei der Marktwirtschaft in der Vergangenheit eigentlich vor allem ihre Überproduktion an Gütern vorzuwerfen, was angesichts damaligen Mangels ja wahrlich nichts Schlechtes gewesen wäre. Alfred Müller- Armack war der sicheren Überzeugung, daß es der Marktwirtschaft gelingen würde, den Wiederaufbau in Deutschland effizienter, rascher und nachhaltiger zu erreichen als der Lenkungswirtschaft. Diese Überzeugung konnten er und seine Mitstreiter (eine aktive Gruppe 7 Blum: S 154. 8 Müller-Armack: S 19ff und 78ff. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 4
WP 97/01 © by Andreas Exenberger um Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow) auch den politi- schen Entscheidungsträgern vermitteln, allen voran Ludwig Erhard, dem Direktor der Ver- waltung für Wirtschaft des vereinigten Wirtschaftsgebietes (also der späteren BRD) und dem so genannten „Vater“ des deutschen Wirtschaftswunders. Was an dieser Haltung imponiert, ist der feste Wille, den diese Gruppe an den Tag legte, eine bessere Zukunft aktiv mitzugestalten, und das kompromißlose Festhalten am einmal als richtig erkannten Weg – trotz vielfältiger und massiver Widerstände. Die die Marktwirtschaft fördernde Geisteshaltung war zu jener Zeit weder international, noch unter den Fachleuten und schon gar nicht in der Bevölkerung mehrheitsfähig. Es ist eine besondere Leistung von Alfred Müller-Armack, durch die Neukonzeption einer Marktwirtschaft unter starker Berück- sichtigung sozialer Zielvorstellungen und durch die Kreation des werbewirksamen (aber zweifellos nicht inhaltsleeren) Begriffes „Soziale Marktwirtschaft“ die Akzeptanz bei den politischen Kräften ebenso wie schließlich auch in der Bevölkerung gewonnen zu haben. Und mit der Unterstützung der Bevölkerung für die Marktwirtschaft ging die Unterstützung für die Demokratie Hand in Hand, eine Demokratie, die zuvor vor allem mit dem zunehmenden Chaos während der Weimarer Republik in Verbindung gebracht wurde, und die in späteren Jahren für wirtschaftlichen Aufschwung stehen sollte. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft war zwar grundsätzlich neu, deshalb aber noch lange nicht ohne ideologische Wurzeln.9 Als solche sind die Kapitalismusforschung zu nennen, die wesentlich zur Theorie der Wirtschaftsstile beigetragen hat; weiters die Schule des Ordo- Liberalismus, die der Idee eines der wirtschaftlichen Entwicklung übergeordneten Ordnungs- rahmens verpflichtet war, der Idee, daß ungeregelte Freiheit zur Gefahr für die Freiheit werden kann; außerdem die philosophische Anthropologie, die den Menschen als in eine historische Situation gesetzt betrachtet, die er allerdings verändern kann, und die auch sonst ständigem Wandel unterliegt; und als letztes kann die christliche Soziallehre genannt werden, vor allem mit ihrer Idee der Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen und seine Unterlassungen und deren Auswirkungen. So war ein Grundkonzept einer neuen Marktwirtschaft bereits während des Krieges gewach- sen und gereift, zum Ausdruck gelangte es allerdings erst nach der geistigen Befreiung durch das Ende der nationalsozialistischen Diktatur. Man war der unbedingten Ansicht, daß eine freie Gesellschaft ohne eine freie Wirtschaftsordnung ebensowenig existieren konnte wie umgekehrt. „In einer Synthese der marktwirtschaftlichen Kräfte und einer sozialen Ordnung liegt viel für das Schicksal unserer Zivilisation beschlossen. In der Wahl der Wirtschafts- systeme sind wir in einem bestimmten Sinne ja gar nicht frei. Die marktwirtschaftliche Ordnung hat durch ihre Produktivitätserfolge im letzten Jahrhundert das ungeheure Wachstum der Weltbevölkerung unter gleichzeitiger Steigerung des Lebensstandards aller einzelnen erst zugelassen. Es ist daher schlechterdings unmöglich, diese Ordnung, welche die Voraussetzung unserer gegenwärtigen Bevölkerungszahl ist, durch eine weniger produktive zu ersetzen. Die Verelendung von Millionen Menschen müßte die Folge sein.“10 Es ging Alfred Müller-Armack wohl auch darum, die Basis für eine politische Entwicklung wie in den 1930er Jahren ein für alle mal zu zerschlagen, eine Entproletarisierung dadurch zu erreichen, daß die breiten Massen zu Wohlstand gelangen. Dafür schien ihm grundsätzlich die Marktwirtschaft das unbestreitbar beste Mittel zu sein. 9 Vgl. Müller-Armack, Andreas, in: Grosser et al.: S 7ff. 10 Müller-Armack: S 198. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 5
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Das Konzept: die Soziale Marktwirtschaft in ihrer ursprünglichen Form Keine Ordnung ist an sich sittlich (oder unsittlich), einer marktwirtschaftlichen kann man vielleicht deshalb den Vorzug geben, weil in ihr das Ideal der Freiheit verwirklicht ist. So ist die Soziale Marktwirtschaft eine reine Ordnungsidee, ein Gesamtkonzept, das sich durch (sozial motivierte) Markteingriffe auszeichnet, deren Marktkonformität jedoch unbedingt gegeben sein muß, die insoweit gerechtfertigt sind, wie sie zum Funktionieren des Marktes beitragen. Diese Eingriffe werden aus Mängeln des Marktes begründet, so die Unfähigkeit, aus sich heraus soziale Sicherheit zu erreichen, die Gefahr, unvollkommene Märkte zu erzeugen (inverse Angebotelastizitäten, Monopole) und sie führt – was nicht gering zu schätzen ist – zu einer Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, seiner Heimat und seinen Werten. Die Hauptaufgaben des Konzepts sind damit die Bekämpfung von Monopolen oder anderen wettbewerbsverzerrenden Konzentrationen, die Sicherung von Beschäftigung (wobei eine gewisse Reserve durchaus sinnvoll sein kann) und die Stützung der marktwirt- schaftlichen Dynamik bei Nutzung auch und insbesondere von freien sozialen Initiativen. Alfred Müller-Armack hat das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft aus der Erkenntnis der Unfähigkeit der Lenkungswirtschaft entwickelt, deren einzige Alternative in einer freien Gesellschaft ein marktwirtschaftliches System sein kann. Lasse wir ihn, da die Mängel der Lenkungswirtschaft nicht Thema dieser Arbeit ist, dazu selbst zu Wort kommen: „Die Zeit der vordringenden Wirtschaftslenkung war durch ein ungebrochenes Zutrauen zu deren Methoden gekennzeichnet, demgegenüber erschien die marktwirtschaftliche Ordnung als zeitbedingtes Instrument einer entschwundenen Epoche. Ich habe […] gezeigt, welch gefährliche Illusionen man in bezug auf eine Wirtschaftsordnung hegte, die allen Beteiligten, den Arbeitern und Unternehmern, den Konsumenten und Produzenten, alles zu geben versprach, aber sehr vieles schuldig blieb und die […] sich selbst auf die Dauer über den Grad der Unwirtschaftlichkeit und technischen Rückschrittlichkeit, in die man geriet, täuschte. Die Blockierung des volkswirtschaftlichen Marktes, die Auflösung der Tauschgemeinschaft, das Umsichgreifen von Mangelerscheinungen wurden immer allgemeiner und bestimmten zuletzt völlig das Bild dieser Wirtschaftsordnung, die gegenwärtig [1946] in einer völligen Auf- lösung des Wirtschaftens praktisch ihr Ende erreicht hat. Dabei war, wie sich zeigte, das äußere Versagen keine bloße, schließlich vermeidbare Zufälligkeit, sondern die notwendige Folge einer Wirtschaftsordnung, die mit der Blockierung eines eigenen Rechnungssystems notwendig in einer allgemeinen Unwirtschaftlichkeit enden mußte.“11 Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ist auf ihrem Grund eine Synthese aus Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Ausdruck der Freiheit ist das grundsätzlich marktwirtschaftliche Konzept, Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit sind seine sozial motivierten Modifikationen. Sie ist von Anfang an als ein entwicklungsfähiges und auch entwicklungsbedürftiges Konzept durchdacht worden, das den jeweiligen Erfordernissen der Zeit angepaßt werden soll und muß. Daher gehen auch alle Vorwürfe von vornherein ins Leere, die der Sozialen Markt- wirtschaft vorwerfen, sie sei zu sehr an den Bedingungen der Nachkriegszeit orientiert. Dies waren vor allem die Sicherung der materiellen Versorgung der Bevölkerung und die Gewährleistung eines Aufstieges der Wirtschaft in Deutschland unter besonderer Berück- sichtigung von Beschäftigung und Preisstabilität. Dazu bedarf es eines starken, aber begrenz- ten und seiner marktwirtschaftlichen Verantwortung bewußten Staat, der soziale Aufgaben wahrnimmt ohne den Marktmechanismus zu stören. 11 Müller-Armack: S 79. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 6
WP 97/01 © by Andreas Exenberger In gewissem Sinne ist die Marktwirtschaft an sich schon sozial. Sie erlaubt weitestmögliche persönliche Freiheit (gerade im ökonomischen Bereich), Leistung wird honoriert, dadurch eine innere Dynamik gefördert und sie begünstigt ökonomisches Wachstum. Gerade Freiheit ist an sich schon ein Wert, der zu einer Verbesserung auch der sozialen Situation führt. Und insbesondere Wachstum ermöglicht ja erst Sozialpolitik und soziale Leistungen, denn es galt und gilt, daß nicht verteilt werden kann, was nicht erwirtschaftet worden ist. Doch neben diesen sozusagen automatischen sozialen Wirkungen einer Marktwirtschaft gibt es Bereiche, die keinesfalls abgedeckt werden können, da der Markt in dieser Hinsicht keine erwünschten Lösungen zu erzielen vermag, so vor allem der soziale, der kulturelle, der gesellschaftliche Bereich insgesamt. „So sehr es notwendig ist, die marktwirtschaftliche Ordnung als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen und zu sichern, so sehr ist es ebenfalls notwendig, sich des technischen und partiellen Charakters der Marktordnung bewußt zu werden. Sie ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen.“12 So ist etwa Familienförderung allein aus dem Markt heraus kaum denkbar, ebenso wie Ausbildung oder die Sicherung von Kranken, Arbeitslosen oder Erwerbsunfähigen, sie alle würden durch einen ungezügelten Markt marginalisiert. Auch gibt es Bereiche, in denen die Preisbildung nicht korrekt erfolgt, weiters sind problematische Marktlösungen denkbar, wie gerade im Zusammenhang mit Infrastruktur, öffentlichen Gütern oder dem Problemfall benachteiligter Regionen (so von Randzonen, die ansonsten deutlichen Bevölkerungsschwund hinnehmen müßten), gar nicht zu reden von Monopol- oder Oligopolmärkten. Der entschei- dende Vorteil, den einen Marktwirtschaft aber jedenfalls hat, ist ihr Rechenwesen, das die Knappheit eines Gutes in seinem Preis zum Ausdruck bringt, und dadurch eine effiziente Verwendung und Bewirtschaftung gewährleistet. Bereits in seinen ersten „Werbeschriften“ für die Soziale Marktwirtschaft hat Alfred Müller- Armack den Markt ergänzende Maßnahmen präsentiert, einen „Kreis sichernder, fördernder, steuernder, antreibender und bremsender wirtschaftspolitischer Maßnahmen [...], deren die Marktwirtschaft bedarf, um ihre volle Funktionstüchtigkeit zu gewinnen. Es wird Entschei- dendes für die Erhaltung unserer wirtschaftlichen Kultur davon abhängen, ob es gelingt, die marktwirtschaftliche Form ihrer hohen Leistungsfähigkeit wegen zu erhalten, aber sie doch gleichzeitig einer bewußt gestalteten Gesamtordnung einzufügen.“13 Diese Maßnahmen sind also sogar notwendig, um der Marktwirtschaft erst zu ermöglichen, sich voll zu entfalten. Marktbeeinflussung ist auch immer dann zu begrüßen und damit marktkonform in diesem Sinne, wenn sie zu Preissenkungen oder überdurchschnittlicher Expansion führt. Die Punkte in diesem ersten Maßnahmenpaket sind naturgemäß stark von den Erfordernissen der Zeit geprägt und sollen nun kurz besprochen werden.14 • Wettbewerbspolitik: Sie ist in der Sozialen Marktwirtschaft von zentraler Bedeutung. Es geht dabei um die Garantie des Funktionierens des Marktmechanismus durch den Schutz vor unlauterem Wettbewerb oder vor zu großen Unternehmenskonzentrationen. Dies war vor allem durch die Erfahrung mit den schädlichen Wirkungen der zahlreichen Kartelle in der Zeit der Weimarer Republik zu einem wichtigen Ziel geworden. Erst durch eine geordnete Wettbewerbspolitik kann der Markt sinnvoll arbeiten und können unerwünschte 12 Müller-Armack: S 106. 13 Müller-Armack: S 116. 14 vgl. Müller-Armack: S 116ff. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 7
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Lösungen verhindert werden, Wettbewerbspolitik soll daher in erster Linie dazu dienen, den Wettbewerb zu ermöglichen und nicht dazu, ihn zu verhindern. • Preispolitik: Grundvoraussetzung für eine Preisfreigabe, die für eine Marktwirtschaft unerläßlich ist, ist die Beseitigung der Ungleichgewichte in der Geld-Güter-Relation, eine Währungsreform (die den Kaufkraftüberhang beheben sollte). Ohne Währungsreform wäre eine Preisfreigabe unweigerlich von Inflation begleitet gewesen und ohne Preisfreigabe hätte ein marktwirtschaftliches System nicht funktionieren können, da es sein wichtigstes Signalinstrument nicht einsetzen hätte können. • Gestaltung der Wirtschaftsstruktur: Der normative Charakter der Sozialen Marktwirtschaft kommt in diesem Punkt besonders zum Ausdruck. Die Marktwirtschaft berücksichtigt kulturelle oder gesellschaftliche Normen nicht aus sich selbst heraus, sondern nur, wenn sie bewußt in die Ordnung eingebracht werden. Daher muß vor der Gestaltung der konkre- ten Ausprägung die Entscheidung über die zugrunde liegenden Normen gefällt werden. • Sozialpolitik: Eine Sozialpolitik muß sich mit dem Markt vertragen, alle Maßnahmen, die diese Bedingung nicht erfüllen, sind ausgeschlossen. Auch ist der gewissermaßen automa- tische soziale Charakter einer Marktwirtschaft (durch ihre produktiven Leistungen) zu berücksichtigen und die Parolen, die einer sozialen Ordnung nur durch Bekämpfen und Verdrängen des Marktes zum Durchbruch verhelfen zu können glauben, sind abzulehnen. • Ordnung der Bau- und Wohnungswirtschaft: Dieses Problem war nach dem Krieg ein besonders drängendes und gerade deshalb am stärksten von der Lenkungswirtschaft erfaßt. Viele Wohnungen waren zerstört, neue wurden kaum errichtet (wegen Mietfixierung fehlte der Anreiz, wenige freie Mieten für Neubauten waren unerschwinglich), der Zuzug in die Städte war beträchtlich, die öffentliche Hand jedoch nicht in der Lage, die Bauwirtschaft zu subventionieren. Daher konnte, ebenso wie beim Grundverkehr, nur die Marktwirtschaft zu einer sinnvollen Organisation der Verteilung führen. Ein sozialer Ausgleich war gerade in diesem Bereich marktkonform möglich, so durch Mietzuschüsse an Bedürftige. • Beeinflussung der Betriebsstruktur: Der Sozialen Marktwirtschaft wohnt die Begünstigung von Klein- und Mittelbetrieben inne. Dies kommt aus der Meinung, daß in einer freien Wirtschaftsordnung Selbständigkeit als Ausdruck der Freiheit ein hohes Gut darstellt und daher gefördert werden muß. Auch sind Großbetriebe (die durch Marktwirtschaft begün- stigt werden) mit anderen Zielen des Konzepts schwer vereinbar. Klein- und Mittelbetriebe erlauben eine dezentrale Ordnung (Subsidiarität), sie erlauben auch eine bessere Regional- politik (Förderung benachteiligter Regionen). Die Soziale Marktwirtschaft war von Anfang an als dezentrales Konzept angelegt, das Entscheidungen nicht in einer weit entfernten Zentrale, sondern vor Ort und bei genauer Kenntnis der Situation erfordert. • Außenhandelspolitik: Die Vergangenheit war geprägt von einer distanzierten Haltung zum Weltmarkt, Außenhandel wurde stark reguliert und unterlag umfassenden Kontrollen. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung muß die Chance im Außenhandel erkannt werden, ist Deregulierung notwendig. Dabei ist aber unbedingt zu berücksichtigen, daß eine autonome Konjunkturpolitik und Preisstabilität weiterhin möglich sein muß und daß damit die Abhängigkeit vom Ausland nicht zu groß wird. • Geld-, Kredit- und Konjunkturpolitik: Gerade in der Währungspolitik hat man schon in früheren Jahren die Notwendigkeit einer Einflußnahme erkannt, selbst in den Blütezeiten des Liberalismus überließ man die Geldmärkte nicht sich selbst. Neben der nötigen Währungsreform (im Sinne einer Reduktion des Geldumlaufes) muß eine antizyklische Konjunkturpolitik (bei Berücksichtigung der Erfordernisse des Haushalts) zur Dämpfung der Ausschläge der Konjunkturzyklen ein unverzichtbares Mittel staatlicher Politik sein. So hebt sich die Soziale Marktwirtschaft bewußt von der Vorstellung ab, der Markt könnte in jedem Fall eine gerechte oder soziale Lösung anbieten. Alfred Müller-Armack gibt dazu in einem Programm von 1948 folgende konkreten Vorschläge für die Politik, die das durch die Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 8
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Zeit bestimmte grundsätzliche Programm näher determinierten: Eine soziale Betriebsordnung soll geschaffen werden, die den Menschen in den Mittelpunkt des Wirtschaftens stellt (Mit- bestimmung der Arbeiter, ohne den Unternehmer einzuengen). Eine Wettbewerbsordnung soll geschaffen werden, um einen fairen Wettbewerb zu erlauben und die Bildung von Monopolen und Kartellen zu verhindern. Eine konjunkturpolitische Beschäftigungspolitik soll sowohl auf Stabilität als auch auf Arbeitsplatzbeschaffung Gewicht legen. Umverteilung zum Ausgleich ungesunder Einkommens- und Besitzunterschiede soll stattfinden, da diese zu stark mit dem alten erfolglosen System in Zusammenhang stehen. Es soll Siedlungspolitik und sozialen Wohnbau geben, die auch Raumordnung und Städtebauplanung mit einbeziehen. Klein- und Mittelbetriebe sollen gefördert werden, um eine dezentrale Struktur zu schaffen. Genossen- schaftliche Selbsthilfe soll ebenso in die Wirtschaftsordnung eingebaut werden, wie auch die Sozialversicherung ausgebaut. Außerdem soll es Mindestlöhne und freie Tarifvereinbarungen geben. Diese Maßnahmen wurden im Wesentlichen in den folgenden Jahren durch die Regierung Adenauer (mit Wirtschaftsminister Erhard) umgesetzt. „Die Soziale Marktwirtschaft ist keine Patentlösung im Sinne des Schwundgeldes und keine Einheitslösung wie die Vollbeschäftigungstheorie. Sie ist, wie ich es sehe, der unter den uns gegebenen Bedingungen einzig mögliche Weg, unter Wahrung der Marktfunktion sozialen Fortschritt zu erreichen. Sie ist mehr als ein ethischer Appell, denn es geht durchweg um die institutionelle Verankerung ihres Doppelprinzips in der Wirtschaftsordnung.“15 Die 1950er Jahre: das deutsche Wirtschaftswunder „Die Fünfziger Jahre gelten als die Zeit des ‚Wirtschaftswunders’. Den Bürgern der gerade erst gegründeten Bundesrepublik mußte es tatsächlich als ein Wunder erscheinen, daß die Reallöhne rasch und stetig stiegen, die Arbeitslosigkeit sank, die Preise relativ stabil blieben, und das nicht nur über wenige Jahre, sondern fast über ein ganzes Jahrzehnt.“16 Und dieser Aufschwung wurde außerdem mit dem demokratischen politischen System assoziiert, was entscheidend dazu beigetragen hat, daß die Demokratie in der BRD nie mehr ernsthaft zur Diskussion gestellt wurde. Im Gegensatz zur Weimarer Republik war es nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, der Mehrzahl der Bürger Wohlstand zu garantieren und außerdem einen großen Strom an Zuwanderern aus den ehemaligen Ostgebieten und aus der DDR aufzu- nehmen, ohne daß die Arbeitslosigkeit gestiegen wäre. In den Jahren 1948-50 erfolgte ein geradezu explosionsartiges Wachstum der Produktion.17 Dieses Wachstum ist vor allem auf die Aktivierung von brach liegendem Produktionspotential zurückzuführen, das durch die Dynamik der Marktwirtschaft ermöglicht wurde. Während des Krieges waren – ungeachtet der Zerstörungen – neue Produktionsstätten geschaffen worden und das Arbeitskräftepotential hat sich durch die massive Zuwanderung ebenfalls erhöht. Dies paarte sich mit einem hohen Bedarf an Gütern in der Bevölkerung, auf den der Markt nach seiner Entfesselung reagieren konnte. Natürlich wäre aber die Produktionsausweitung ohne Rohstoffzufuhr nicht möglich gewesen, und diese wurde durch den Marshall-Plan erst ermög- licht (er behob den Devisenmangel der BRD in dieser besonders sensiblen Phase). 15 Müller-Armack: S 242. 16 meint Dieter Grosser in: Grosser et al.: S 80. 17 Sie hat sich, grob gesprochen (es gibt natürlich mehrere einander widersprechende Schätzungen) verdreifacht. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 9
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Im Juni 1948 erfolgte die Währungsreform, der nächste Schritt des Aufbruchs.18 Am Tag vor Inkrafttreten verkündete Ludwig Erhard das Ende der Zwangswirtschaft und der Preisbindung (für die meisten Waren). Dies geschah, um ein möglichst rasches Ansteigen der Produktion zu ermöglichen und damit eine überhitzte Preissteigerung einzudämmen. Gleichzeitig sollte mit der Verringerung des Geldumlaufes die Kaufkraft gesichert werden. Trotzdem ergab sich eine beträchtliche Inflation im Jahre 1948 (bei gleichzeitigem Lohnstopp). Der politische Kurs wurde jedoch trotz Widerstände der SPD und auch von Teilen der CDU vom Wirtschaftsrat durchgehalten. Diese Standhaftigkeit wurde belohnt: 1949 ließ die Inflation nach, der Lohn- stopp wurde aufgehoben, nur die Arbeitslosigkeit blieb hoch. Die Regale waren nun gefüllt, nur am zum Kaufen nötigen Geld fehlte es noch. Die Koreakrise 1950/51 war die letzte große Bewährungskrise für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Die Rohstoffpreise schnellten hoch, ein Preisauftrieb war die Folge, ebenso ein großes Außenhandelsdefizit. Doch bevor die Bewirtschaftung wieder eingeführt werden mußte, wurden nun positive Folgen der Krise spürbar: die Ausfuhren stiegen, neue Märkte wurden erobert – mit ein Verdienst der Regierung, die sich bemühte, möglichst viele Handels- barrieren abzubauen (auch natürlich für Importe, was die Konkurrenz belebte). Mit dem Jahr 1952 begann der totale Erfolgslauf auf allen Linien. Wie die Abbildungen im Anhang zeigen, waren die erstrebten Erfolge im Dreieck aus Wachstum, Preisstabilität und Beschäftigung äußerst bemerkenswert. Dazu hat auch die Bundesregierung selbst durch eine erfolgreiche Fiskalpolitik beigetragen, die die Unternehmer zur Reinvestition von Gewinnen animierte und Leistungsanreize durch die Senkung von Einkommens- und Vermögenssteuer gewährte. Daneben gab es soziale Errungenschaften neben stetig steigenden Reallöhnen. Der wesentlichste Grund für diesen gleichmäßigen und im Vergleich mit anderen Industrieländern überdurchschnittlichen Aufstieg ist die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Produkte auf den Weltmärkten. Die BRD hatte in den 1950er Jahren (und später) einen beständigen und beträchtlichen Außenhandelsüberschuß (siehe Abbildungen im Anhang), wodurch jedoch der Aufwertungsdruck auf die D-Mark wuchs. Doch die Industrie war kaum an einer Aufwertung interessiert, da sie um ihr Exportgeschäft fürchten mußte. Das gravierendste Problem dieser Phase war eine Überhitzung der Konjunktur nach 1955. Sie wurde durch die Zinspolitik der Bundesbank (gegen erhebliche Widerstände) allerdings unter Kontrolle gebracht. Dieselbe Strategie war aber 1959/60 nicht mehr erfolgreich, da infolge der Unterbewertung der D-Mark bei hohen Zinsen Devisen zuflossen, die kontraproduktive Wirkungen entfalteten. So kam es 1961 zur ersten Aufwertung der D-Mark (um 5 %), um das Ungleichgewicht in der Handelsbilanz zu verringern und so wieder Spielraum zu gewinnen. Die Bilanz über die ersten zehn Jahre Sozialer Marktwirtschaft in der BRD fällt ungeachtet dessen beeindruckend aus: ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 7,7 %, Voll- beschäftigung, weitestgehende Preisstabilität, ein starker Außenhandel, eine harte Währung, volle internationale Konkurrenzfähigkeit, Wohlstand für die breiten Massen, dazu soziale Errungenschaften und die beinahe problemlose Integration von Millionen Flüchtlingen. Als vielleicht wichtigster Faktor ist schließlich die breite Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in der Bevölkerung zu nennen. Dies kommt einerseits durch die absolute Mehrheit der CDU/CSU in den Bundestagswahlen von 1957 und andererseits durch die Öffnung der SPD für marktwirtschaftliche Ideen (im Godesberger Programm von 1959) zum 18 Es gab Kopfbeträge von 40 D-Mark und später nochmals 20 D-Mark für alle, zusätzlich 60 D-Mark pro Beschäftigtem für Arbeitgeber (jeweils im Tausch 1:1 gegen Reichsmark) und ansonsten ein Tauschverhältnis von 1 D-Mark für 10 Reichsmark. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 10
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Ausdruck. Marktwirtschaft und Demokratie waren nicht nur konsensfähig, sie waren in nur zehn Jahren zu Grundwerten der Gesellschaft geworden. Die „zweite Phase“ der Sozialen Marktwirtschaft Ganz seiner eigenen Konzeption folgend stellte Alfred Müller-Armack selbst 1960 eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft vor, die er die „zweite Phase“ nannte. Die erste war mit dem überwältigenden Erfolg in den 1950er Jahren abgeschlossen, doch die Aufgaben einer als Stil einer freien Gesellschaft begriffenen Sozialen Marktwirtschaft haben sich damit nicht erschöpft. Sie war ein praktisches Konzept für den Wiederaufbau der BRD, und bedurf- te nun nach der Phase der Bewährung einer geistigen Fundierung. Die Soziale Marktwirtschaft entspringt zwar aus dem Neoliberalismus, ist aber dennoch ein umfassender Stilgedanke. „Mit der Feststellung, daß neben dem Marktgeschehen Gesellschaft und Staat als nicht wegzudenkende Realitäten stehen, geht die theoretische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft über die Auffassung des Neoliberalismus hinaus. Sie erkennt, daß neben dem Erfordernis, der Produktion freien Spielraum zu geben, die Notwendigkeit besteht, soziale Sicherungen in die staatliche Ordnung einzubeziehen.“19 Der Grundgedanke des Konzepts blieb die Marktkonformität der Eingriffe, Koordination der Politik erfolgte durch Grundsatzabteilungen in allen Ministerien. Müller-Armack selbst stellt die technische Leistungsfähigkeit des Konzepts noch hinter seine geistige zurück. Die Soziale Marktwirtschaft hat eine gefestigte (Wirtschafts-)Politik erzeugt, einen stabilen Staat an einer besonders sensiblen und wichtigen Stelle in Europa, außerdem sind ihr die Demokratisierung des Konsums (Verfügbarkeit auch von Luxusartikeln für fast alle), die Sicherheit der Arbeitsplätze, eine zunehmende Entproletarisierung durch einen höheren Lebensstandard und ein offener Kapitalmarkt an Leistungen zuzuschreiben. Nun stellen sich dem Konzept vor allem folgende Zukunftsaufgaben: die Konstruktion eines neuen gesellschaftspolitischen Rahmens, die internationale Ausweitung des Konzepts und die Verbesserung der Umwelt (im weitesten Sinne). „Nicht die materielle Güterversorgung als vielmehr die sinnvolle und lebensmäßige Gestaltung der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, die noch nicht ihren neuen Stil erhalten hat, dürfte dabei im Vordergrunde stehen. Nach der Erprobung eines Jahrzehntes sollten wir uns nicht mit unbestreitbaren Erfolgen zufrieden geben, sondern die Soziale Marktwirtschaft mit neuen Ansätzen in eine neue zweite Phase hinüberführen. Die Aufgabe, die vor uns stehen, sind nicht geringer als die, die erfolg- reich bewältigt werden konnten.“20 Der steigende Wohlstand führt neben seinen positiven Wirkungen auch zu einer wachsenden Unruhe und Unzufriedenheit, die durch zunehmende Industrialisierung und Verkehr, durch ein Nichtschritthalten der persönlichen Lebensumstände mit den materiellen, verursacht wurden. Überdies kann sich diese Unruhe durch ihre Organisation in Verbänden immer stärker artikulieren. Es liegt nun im Aufgabenbereich des öffentlichen Sektors, der bisher mit der Dynamik des Marktes kaum Schritt halten konnte, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Die notwendigen (finanziellen) Mittel dazu sollten inzwischen vorhanden sein. Zu den Auf- gaben dieser neuen Gesellschaftspolitik gehören insbesondere: 19 Müller-Armack: S 254. 20 Müller-Armack: S 265. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 11
WP 97/01 © by Andreas Exenberger • Investition in geistiges Kapital: Es müssen verstärkte Bemühungen für Wissenschaft, For- schung und Erziehung unternommen werden. Vor allem ist der Bedarf an Fachkräften und hochqualifizierten Arbeitern zu bedenken, die Kapazität der Universitäten auszubauen. • Schaffung von Selbständigkeit: Es muß konkrete Förderungsprogramme für Selbständig- keit in jeder Hinsicht geben. Betriebsgründungen für Klein- und Mittelbetrieben sollen ebenso erleichtert werden, wie die Verselbständigung von formal unselbständigen Ange- stellten. • Währungs- und Konjunkturstabilisierung: Eine koordinierte Stabilitätspolitik für Währung, Geldwert und Konjunktur ist unbedingt erforderlich. Dahinter steht die (aus der Erfahrung der Inflationszeit) verständliche Angst, die geschaffenen Vermögenswerte könnten durch die undurchschaubaren Marktkräfte ihren Wert gewissermaßen über Nacht verlieren. Dies ist ein wichtiger Faktor, der die bereits zitierte Unsicherheit auslöst. • Verbesserung der betrieblichen Umwelt: Dazu gehört vor allem eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Mensch soll im Mittelpunkt der Arbeitswelt stehen. So soll die Gesundheits- und die Unfallvorsorge ebenso verbessert werden, wie die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der Gestaltung dieser Umwelt. • Umgestaltung der sozialen Umwelt: Diese Umweltpolitik im weitesten Sinn umfaßt den Naturschutz (vor allem die Reinhaltung von Wasser und Luft), aber auch eine sinnvolle Raumordnung und Städteplanung. So soll eine angenehmere Lebensumwelt geschaffen werden, die die Fortschritte auf materiellem Gebiet auch im alltäglichen Leben sichtbar machen soll, und das Aussterben der Stadtkerne verhindert werden. • Strukturpolitik und Neugestaltung der Sozialpolitik: In diesem Bereich ist vor allem eine bewußte Strukturpolitik zu nennen, die weder das Alte mutwillig zerstört noch das Neue blockiert, also einen gleitenden Übergang erlaubt. Technischer Fortschritt muß an die Konsumenten weitergegeben werden, für stagnierende Sektoren muß es Mobilitätsprämien und Umschulungshilfen geben. Die Sozialpolitik muß der Entwicklung Rechnung tragen, daß immer mehr Menschen dazu in der Lage sind, ohne staatliche Hilfen auszukommen. • Internationale Zusammenarbeit: Neben der europäischen Integration, die Müller-Armack ein besonderes Anliegen ist, ist vor allem eine internationale Konjunkturpolitik zu nennen, um den Wohlstand und das Wachstum auf Dauer und flächendeckend zu sichern und schädliche Wirkungen von Rezessionen aus dem Ausland zu verhindern. Ganz im Sinne des Grundkonzepts ist ein zunehmendes Verständnis für die Lage der Entwicklungsländer zu erarbeiten, denen ein allgemeiner Wohlstand zugute kommen soll und nicht (wie durch kommunistische Ideen) die einseitige Betonung der Schwerindustrie. Die 1960er Jahre: das Ende der Erfinder und die konzeptionelle Ausuferung Die großen Erfolge der Anfangsphase konnten nicht in dieser Form fortgesetzt werden. Die Wachstumsraten gingen zurück, die Inflation nahm zu, nur die Vollbeschäftigung blieb erhalten. Einige Probleme dafür lassen sich abseits psychologischer Faktoren (wie schon im vorigen Abschnitt angesprochen) identifizieren. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 endete der Zustrom an Facharbeitern, die die Wirtschaft der BRD zunehmend brauchte. Die Bevöl- kerung war anspruchsvoller geworden, sowohl als Konsument (was die Qualität der Produkte angeht) als auch als Staatsbürger (was den Umfang der sozialen Sicherheit angeht). Durch den Mangel an Arbeitskräften ergab sich eine verbesserte Verhandlungsposition der Arbeit- nehmer auf dem Markt, was zu überproportional steigenden Löhnen und damit sinkenden Gewinnen führte. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 12
WP 97/01 © by Andreas Exenberger 1967 gab es sogar (erstmals nach dem Krieg) eine Rezession in der BRD, dies war einer der Gründe für einen großen Wandel in der politischen Linie der Bundesrepublik. Für mich endet mit dem Rücktritt von Ludwig Erhard, der bis 1963 Wirtschaftsminister (seit 1957 auch Vizekanzler) und 1963-66 Bundeskanzler war, die Periode der eigentlichen, ursprünglichen Sozialen Marktwirtschaft im Geiste ihrer Erfinder. Es kamen Politiker an die Macht, die dem grundsätzlichem Konzept nicht mehr völlig verpflichtet waren und oft auch der Illusion unterlagen, der Staat könnte im Wirtschaftsleben alles regeln (was nie Inhalt des eigentlichen Programms war, das sehr stark auf die Verantwortung des Einzelnen abstellte). 1964 schlug der Sachverständigenrat flexible Wechselkurse für die D-Mark vor (was das Bretton-Woods-System wohl schon damals zum Einsturz gebracht hätte), um Überschüssen in der Leistungsbilanz von vornherein vorzubeugen (zu solchen Überschüssen war es im Gefol- ge der Konjunktur nach der Aufwertung 1961 wieder gekommen). Dies wurde abgelehnt, jedoch wurden im Zuge der Wahl von 1965 Geschenke verteilt, die schließlich dazu beitrugen, daß die Konjunktur in der Folge einen Einbruch erlitt und der Staatshaushalt unter Druck geriet. In dieser Haushaltskrise zeigte sich ein prozyklisches Verhalten der Regierung, die Geschenke wieder zurücknahm und die Ausgaben einschränkte. Die Konjunktur erholte sich vorerst nicht, neue Schuldaufnahme wäre nötig gewesen. Dies veranlaßte die FDP dazu, die Koalition zu verlassen, Bundeskanzler Erhard mußte daraufhin (nach auch innerpartei- lichen Querelen und einer Niederlage bei Landtagswahlen) sein Scheitern eingestehen und seinen Rücktritt erklären, 1967 (nach nur zwei Jahren) auch als CDU-Vorsitzender. Nun wurde eine Große Koalition gebildet, die sich der Idee der Globalsteuerung zuwandte. 1967 bereits wurde das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verabschiedet, wobei das Ziel der Preisstabilität nicht wirklich erreicht werden konnte. Diese Entwicklung verstärkte sich mit der SPD/FDP-Regierung nach 1969, die als oberstes Ziel die Beschäftigung sah und daher eine Stabilisierungskrise vorprogrammiert, die dann, begünstigt durch die allgemeine Wirt- schaftskrise nach 1973 auch eintrat.21 An dieser Stelle bricht jedoch diese Arbeit ab, deren Thema es nicht ist, die aktuelle Krise der Sozialen Marktwirtschaft zu durchleuchten oder ihre Modifikation während der sozialdemo- kratischen Regierung zu behandeln. Es geht dieser Arbeit darum, das Grundkonzept und seine Erweiterungen durch ihre Erfinder selbst, also allen voran Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, zu betrachten. Und diese Betrachtung findet mit dem Ende der politischen Karriere Erhards und mit dem Versuch der Konzeption der zweiten Phase der Sozialen Marktwirt- schaft durch Müller-Armack ihr logisches Ende. Zum Stand der Dinge heute Deutschland schnürt 1996 ein Sparpaket, und es steht damit nicht allein. Die wichtigste Begründung für diese Sparmaßnahmen ist die unaufhörliche Finanzkrise der öffentlichen Hand. Dies ist ein Problem, das sich in der Zeit, als die Soziale Marktwirtschaft konzipiert wurde, noch nicht stellte. In der Diskussion um die Ursache dieser Finanzkrise spielt jedoch auch die Frage nach der Verantwortung der Sozialen Marktwirtschaft dafür eine Rolle, wenn auch vor allem deren übermäßige Interpretation in der Zeit der sozialdemokratischen Regie- rung. Jedenfalls sind die Stimmen laut, die den Sozialabbau verkünden und damit das Ende der Sozialen Marktwirtschaft in der BRD konstatieren. 21 meint Dieter Grosser in: Grosser et al.: S 89ff. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 13
WP 97/01 © by Andreas Exenberger Doch stimmt dieser Befund? Fest steht, daß einige soziale Errungenschaften in der jüngsten Vergangenheit wieder aufgegeben wurden, weil sie (sei es zu recht oder zu unrecht) als nicht mehr finanzierbar gelten. Fest steht aber auch, daß ein Abbau von nicht marktkonformen Staatseingriffen oder von den Marktmechanismus hemmenden Maßnahmen sogar ganz im Sinne der Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft sein würde, steht doch an erster Stelle des Konzepts die unumstößliche Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Regelmechanis- mus. Auch das Ende des Sozialstaates zu verkünden, ist wohl übertrieben, nichtsdestoweniger ist unverkennbar, daß die Politik sich eine neue Linie sucht, die soziale Errungenschaften wieder zurück nimmt. Während manche diese Politik mit großer Sorge betrachten, gibt es andere Stimmen, die in ihr eine logische Entwicklung sehen, die allzu verschwenderische Auswüchse der Umverteilung korrigiert. Jedenfalls lassen sich einige makroökonomische Auswirkungen von Sozialpolitik beobachten, die natürlich bei Übersteuerung der Ausgaben umso spürbarer sind. Dazu zählt die Erhöhung der Lohnstückkosten (durch z.B. Arbeitszeitverkürzungen), die allokativen Verzerrungen (durch z.B. Lohnnebenkosten), geringere Leistungsanreize durch überzogene Steuerbelastung, Probleme der Verteilung durch sich ändernde Rahmenbedingungen (wie Konjunkturschwäche oder eine Änderung der Altersstruktur), konjunkturelle Wirkungen auf den Staatshaushalt (automatische Stabilisatoren) und die inzwischen immer aktueller werdende Standortfrage. So sind die entscheidenden Probleme heutzutage die von Wachstum und Beschäftigung. Wie bereits früher erwähnt, kann in der Sozialpolitik nicht verteilt werden, was zuvor nicht erwirtschaftet worden ist, ein abnehmendes Wachstum muß daher notwendigerweise zu Einschränkungen auch im sozialen Bereich führen (da gerade die Ausgaben in diesem Bereich eine besondere Dynamik zeigen und zu besonderer Ausdehnungstendenz neigen). Außerdem hat auch die tiefe Beschäftigungskrise, in der wir uns gegenwärtig befinden, der Mangel an bezahlbarer Arbeit, das ausgeklügelte System von Beiträgen und Leistungen in Unordnung gebracht. Dieses System war auf einen wesentlich höheren Beschäftigtenstand hin konzipiert, der seit Jahren schon nicht mehr annähernd erreicht werden konnte. Die Politik nun wagt den entscheidenden Schritt der Umgestaltung des Systems nicht, wodurch die Finanzierungskrise zunehmend zementiert und weiter verschärft wird. Dazu schreibt Georg M. Busch: „Diese Vertrauenskrise ist in der staatlichen Sozialpolitik zum Teil durch die Finanzierungsprobleme entstanden. [...] Zum Teil ist sie aber auch durch die bürokratische Schwerfälligkeit der Sozialpolitik und ihrer Institutionen hervorgerufen worden, die auf neu auftretende Bedürfnisse und Präferenzen nicht rasch und flexibel genug reagiert haben.“22 Genau das ist aus der Sicht der Sozialen Marktwirtschaft das Problem. Ein nicht rasch und flexibel genug auf Änderungen Reagieren darf es in diesem Konzept naturgemäß nicht geben, ist doch der ständige und stetige Wandel und die Anpassungsfähig- ja geradezu -bedürftigkeit des Konzepts eine unbedingte Verpflichtung für seine Anwender. Somit trifft die Kritik an der unleugbar herrschenden Krise der deutschen Wirtschaft (zumin- dest im Vergleich zu den immensen früheren Erfolgen) nicht so sehr das Konzept der Sozia- len Marktwirtschaft, sondern vielmehr die Politiker, die auf die Anforderungen der Zeit nicht adäquat reagiert oder die Gefahr von Konjunktureinbrüchen unterschätzt haben. Es besteht derzeit die Gefahr, daß ein an sich gutes Konzept einer ökonomischen und politi- schen Kurzsichtigkeit zum Opfer fällt. Es ist nämlich schwer zu sehen, welche Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft angeboten wird. Der ungeregelte Freihandel kann wohl kaum eine vernünftige Lösung der Probleme sein, ebensowenig eine Fortsetzung der ziemlich konzept- 22 Busch: S 366. Soziale Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack Seite 14
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