Die Spätgeburt eines Politikfeldes. Verbraucherschutzpolitik in Deutschland - Nomos eLibrary

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Frank Janning

Die Spätgeburt eines Politikfeldes. Verbraucherschutzpolitik
                      in Deutschland

                                           I. Einleitung

Die Beschäftigung mit Verbraucherschutz als Politikfeld beginnt unweigerlich mit
einer Irritation. Dieses Politikfeld ist bisher kaum von politik- bzw. sozialwissen-
schaftlichen Studien erschlossen worden. Und die einzigen bislang vorliegenden
wissenschaftlichen Studien über politische Einflussprozesse in der Verbraucher-
schutzpolitik und über die politische Stellung der Verbraucherverbände datieren aus
den frühen achtziger Jahren1. Dies ist umso erstaunlicher, als die aktuellen Entwick-
lungen in der Verbraucherschutzpolitik dem Politikfeld ganz neue Aufmerksamkeit
und auch einen gestiegenen inneradministrativen Stellenwert zugewiesen haben.
Die damit zusammenhängenden Debatten über die angemessenen politischen Reak-
tionsweisen auf die BSE-Krise wurden bis dato jedoch höchstens ansatzweise und
dabei primär aus der Perspektive der Risikosoziologie wissenschaftlich aufgearbei-
tet2. Ebenso fehlt eine Analyse der Bedeutung der Einrichtung eines speziellen Bun-
desministeriums für Verbraucherschutz, das Bundesministerium für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL). Gerade durch die Einrichtung
von entsprechenden Ministerien und anderen Exekutivorganen ist eine deutlichere
Konturierung des Politikfeldes zu erwarten, schließlich geschieht dadurch eine ge-
wisse Zentralisierung und Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit und politi-
schen Ressourcen3. Dies lässt sich auch aus Studien über die Wissenschafts- und
Forschungspolitik und über die Umweltpolitik lernen: Angesichts bedeutsamer
Krisen und Katastrophen muss die Politik mit politischen Maßnahmen reagieren,

 1 B. Biervert / K. Monse / R. Rock, Organisierte Verbraucherpolitik, Frankfurt/New
   York 1984; H. Schatz, Verbraucherinteressen im politischen Entscheidungsprozess,
   Frankfurt/New York 1984; M. Schatz-Bergfeld, Verbraucherinteressen im politischen
   Prozess: das AGB-Gesetz, Frankfurt 1984.
 2 K. Dressel, The Cultural Politics of Science and Decision-Making. An Anglo-German
   Comparison of Risk Political Cultures. The BSE Case, Dissertation, Ludwig-Maximili-
   ans-Universität München 2000; V. Tacke, »Das Risiko der Unsicherheitsabsorption. Ein
   Vergleich konstruktivistischer Beobachtungsweisen des BSE-Risikos« in: Zeitschrift für
   Soziologie, 28. Jg., 2000, S. 83-102; V. Tacke, »BSE as an Organizational Construction: a
   Case Study on the Globalization of Risk« in: British Journal of Sociology, Vol. 52, 2001,
   S. 293-312.
 3 A. Stucke, Institutionalisierung der Forschungspolitik. Entstehung, Entwicklung und
   Steuerungsprobleme des Bundesforschungsministeriums, Frankfurt/New York 1993.

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die den betroffenen Gegenstandsbereich als politischen Aufgabenbereich etablieren
und gewisse Steuerungsleistungen versprechen. Wie haben sich nun die BSE-Krise
und die Schaffung des BMVEL auf das Politikfeld für Verbraucherschutz ausge-
wirkt? Hat sich dadurch eine vergleichbare Neuordnung des Politikfeldes einge-
stellt, wie es sich durch die Einrichtung des Bundesministeriums für Umweltschutz
als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl für die Umweltpolitik er-
gab? Wurden durch die aktuellen politischen Debatten und durch die Neuorientie-
rung der Verbraucherpolitik angesichts der Herausforderungen durch BSE und
durch gesundheitsschädigende Stoffe in Lebensmitteln überhaupt die Akteurkon-
stellationen und politischen Steuerungskapazitäten innerhalb dieses Politikfeldes
verändert? Und wie gelingt es schließlich der Verbraucherschutzpolitik, sich gegen-
über der Agrarpolitik – dem Politikfeld, das mit der Verbraucherschutzpolitik nicht
nur wichtige Gegenstandsbereiche teilt, sondern auch aufgrund des herrschenden
Politikverständnisses wichtiger politischer Akteure mit der Verbraucherpolitik
konkurriert — mit etablierten Kräfteverhältnissen und eingeschliffenen Beziehun-
gen zwischen Staat und Interessengruppen als eigenständiger Regelungsbereich zu
behaupten? Inwieweit spielen dabei EU-Gesetze und Richtlinien schon eine poli-
tikfeldkonstituierende Rolle? Diese Fragen sollen im Folgenden explorativ und mit
einem besonderen Fokus auf die historische Entwicklung des Politikfeldes bearbei-
tet werden.

      II. Verbraucherbegriff, Verbraucherinteresse, Verbraucherschutzpolitik

Die Analyse von Politikfeldern fängt mit der Charakterisierung des Gegenstands
von politischen Entscheidungen oder Maßnahmen (policies), der von diesen Ent-
scheidungen betroffenen Interessen von Akteuren und Organisationen und der
Struktur des von politischer Steuerung adressierten Handlungsfeldes an4. Für eine
erste Annäherung an die Verbraucherschutzpolitik ist es deshalb wichtig, genauer
zu definieren, was Gegenstand der politischen Regulierung und Interessenmobili-
sierung ist, welche Interessen für oder gegen Verbraucherschutz mobilisiert werden
und welche politischen Steuerungskonzepte vorgeschlagen und praktiziert werden.
In den nächsten Abschnitten werden deshalb einige grundsätzliche Bestimmungen
zum Verbraucherbegriff, zur Zielorientierung des Verbraucherschutzes und zur
Ausrichtung der Verbraucherschutzpolitik aufgenommen und verarbeitet.

 4 F. Janning, Das politische Organisationsfeld. Politische Macht und soziale Homologie in
   komplexen Demokratien, Opladen 1998; R. Mayntz / F. Scharpf, »Der Ansatz des
   akteurzentrierten Institutionalismus« in: R. Mayntz / F. Scharpf (Hg.), Gesellschaftliche
   Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/New York 1995, S. 39-72; F. Scharpf,
   Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opla-
   den 2000; V. Schneider / F. Janning, Akteure, Netzwerke und öffentliche Politik. Eine
   Einführung in die Politikfeldanalyse, Opladen 2003 (i. V.); K. Schubert, Politikfeldana-
   lyse. Eine Einführung, Opladen 1991.

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                     Verbraucherbegriff und Verbraucherinteresse

Ausgangspunkt für den Verbraucherschutz ist eine bestimmte Definition des Ver-
brauchers im Kontext seiner Beziehungen zum Warenangebot und zum Produzen-
teninteresse innerhalb von Marktsituationen5. Aus der Perspektive einer liberalen
Begründung von Marktwirtschaft ist die Herrschaft des Konsumenten essentiell, er/
sie allein entscheidet über die Marktfähigkeit von Gütern und Leistungen, dafür ist
jedoch die Einhaltung der Spielregeln (faire Konkurrenz und Information über
Preise, keine Preisabsprachen unter den Produzenten oder Verteilern etc.) bzw. de-
ren Überwachung nötig6. Zur Stützung der marktwirtschaftlichen Prozesse über-
nimmt deshalb der Staat die letzte Verantwortung für die Marktstellung des Ver-
brauchers. Politische Maßnahmen zielen auf eine Stärkung der Marktposition der
Verbraucher und auf die Wahrung des Verbraucherinteresses. Dies geschieht in der
liberalen Tradition aber nicht zur ausdrücklichen Verteidigung besonders legiti-
mierter Verbraucherrechte, sondern zur Absicherung des freien Spiels der Markt-
kräfte. Diese Sichtweise der Stellung des Verbrauchers in der Marktwirtschaft lässt
sich in zwei Hinsichten kritisieren. Erstens ist der Verbraucher durch ein Interesse
an Gütern nicht unbedingt vorab festgelegt. Die Produktion bzw. der Warenkreis-
lauf schafft erst den Verbraucher, der angemessen (viel) konsumiert. Jedoch geht
auch der Verbraucher in seiner Lebensgestaltung nicht im Konsum von Produkten
auf, er/sie kann den Konsum in Richtung auf frei gesetzte Ziele, die im Dienste ide-
eller Werte stehen, verwenden und die Befriedigung physisch-materieller Bedürfnis-
se nur als Grundlage für aktive, kreative und nicht primär rezeptive Aktivitäten an-
sehen. Insofern ist der Konsum nicht der letzte Zweck der Produktion, sondern als
höherer Zweck der Produktion erscheint das, was durch den Konsum erstrebt
wird7. Die damit angesprochenen Rechte des Verbrauchers beziehen sich somit
nicht primär auf eine Chancengleichheit in Marktsituationen, sondern auf den
Schutz bzw. die Verletzung einer selbst gewählten Lebensgestaltung und die materi-
ellen Voraussetzungen eines guten Lebens.

 5 E. Egner, »Grundsätze der Verbraucherschutzpolitik« in: B. Biervert / W. Fischer-Win-
   kelmann / R. Rock (Hg.), Verbraucherpolitik in der Marktwirtschaft, Reinbek 1978, S.
   11-52 (zuerst 1956); K. Kollmann, Neuorientierte Verbraucherpolitik, Wien 1993, S. 11
   ff.; E. Kuhlmann, Verbraucherpolitik. Grundzüge ihrer Theorie und Praxis, München
   1990, S. 6 ff.; I.-U. Leonhäuser, Bedarf, Bedürfnis, Normen und Standards. Ansätze
   einer bedarfsorientierten Verbraucherpolitik, Berlin 1988, S. 12 ff.; B. Meier, Verbrau-
   cherpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Bern/New York 1984, S. 4
   ff.; B. Stauss, Verbraucherinteressen. Gegenstand, Legitimation und Organisation,
   Stuttgart 1980, S. 6 ff.
 6 Die Begründung des marktwirtschaftlichen Tauschwertgesetzes, das den Konsumenten
   (hier: den »Nachfrager«) zum Hauptverantwortlichen für die Preisbildung macht, und
   erste Überlegungen über die negativen Auswirkungen von Monopolen in der Preisbil-
   dung finden sich bekanntlich in A. Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen
   des Volkswohlstandes, Bd. 1, 3. Aufl. Jena 1923, S. 69 ff.
 7 E. Egner, aaO. (FN 5).

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   Daran anknüpfend wirkt zweitens die von der liberalen Marktideologie ange-
nommene Harmonie in den Beziehungen zwischen Verbrauchern und Produzenten
wirklichkeitsfremd. Der Fokus auf die wesensmäßig unterschiedlichen Interessen
von Konsumenten und Produzenten wirkt demgegenüber weitaus realistischer: Das
Konsumenteninteresse zielt demnach auf eine rationale Verwendung der Produktiv-
kräfte im Sinne der echten, nicht durch bestimmte Verkaufsinteressen gelenkten
Konsumentenwünsche ab. Das Produzenteninteresse verfolgt die Befriedigung,
aber auch die gezielte Beeinflussung des Konsumenteninteresses unter Vorausset-
zungen der Vermeidung von Risiken/Friktionen des Wirtschaftsprozesses (z. B.
durch unsichere Absatzlage) und der Erzielung einer möglichst hohen Gewinn-
spanne beim Güterabsatz. Vor diesem Hintergrund erscheinen politische Maßnah-
men des Verbraucherschutzes auch nicht primär legitimiert durch potenziell imper-
fekte Marktverhältnisse, sondern durch das genuine Interesse des Verbrauchers,
seine Bedürfnisbefriedigung und seine Lebensaktivitäten möglichst frei und auto-
nom zu steuern. Dies verändert natürlich auch die Position des Staates als Schutz-
macht des Verbrauchers. In der marktliberalen Sichtweise trägt der Staat nur dazu
bei, den Verbraucher über die Marktsituation zu informieren. Insofern dominiert
hier ein informatorischer Verbraucherschutz die Staatsaktivitäten. Der Einsatz des
Staates für die Rechte der Verbraucher aus marktkritischer Sicht nötigt den Staat,
Gesetzesmaßnahmen und Richtlinien für den Umgang mit den Verbraucherinteres-
sen aufzustellen, es handelt sich hierbei also um einen regulativen Verbraucher-
schutz. Eine Radikalisierung dieser Position im Sinne eines exekutiven Verbrau-
cherschutzes versieht den Staat auch mit zusätzlichen Interventionskompetenzen,
die Kompetenzen für Verbraucherschutz werden in einer Exekutivinstanz (z. B.
Bundes- oder Länderministerien für Verbraucherschutz, Bundesbehörden etc.) ge-
sammelt, Produkte und Leistungen werden in öffentlichen Forschungseinrichtun-
gen getestet und Auflagen von regionalen Behörden kontrolliert.

                    Konzeptionen einer Verbraucherschutzpolitik8

Die mit den unterschiedlichen Verbraucherbegriffen einhergehenden Begründungs-
weisen für politische Regulation wurden in programmatischen Konzepten für eine
Verbraucherschutzpolitik, die eine besondere Konjunktur in den siebziger Jahren
hatten, aufgenommen und für die Entwicklung konkreter Programmvorschläge ge-
nutzt. Schon in den vorstehenden Überlegungen zum Verbraucherbegriff wurde auf
die liberale Konzeption der Marktwirtschaft zurückgegriffen, analog dazu beruht

 8 Wir schließen für die Vorstellung der einzelnen Verbraucherschutzkonzeptionen an die
   Typologie von Stauss , aaO. (FN 5), an, ergänzen und kommentieren aber diese Darstel-
   lung der gängigen Konzepte; für analoge Typologien K. Kollmann, aaO. (FN 5), S. 11
   ff.; I.-U. Leonhäuser, aaO. (FN 5), S. 28 ff.; S. Mitropoulos, Verbraucherpolitik in der
   Marktwirtschaft. Konzeptionen und internationale Erfahrungen, Berlin 1997, S. 18 ff.

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eine erste verbraucherpolitische Konzeption auf dem liberalen Wettbewerbsmodell9.
Ausgerichtet am Prinzip der Konsumentensouveränität werden ein vollkommener
Markt, eine perfekte Informationslage über Marktangebot und Preise und die Nut-
zenorientierung des homo oeconomicus vorausgesetzt. Propagiert wird ein markt-
konformer Verbraucherschutz, der auf Verbraucheraufklärung und –information,
Verbraucherbildung und Hilfe zur Selbsthilfe setzt. Als diametrale Gegenposition
dazu wird von Stauss10 in Anlehnung an die Arbeitsgruppe um Gerhard Scherhorn11
eine Konzeption der Verbraucherpolitik beschrieben, die die Herstellung von Kon-
sumfreiheit und Machtausgleich anmahnt. Aus marktkritischer Perspektive wird ein
Machtungleichgewicht zwischen Produzenten und Konsumenten konstatiert und
der Machtausgleich durch Förderung kollektiver Verbraucher-Gegenmacht gefor-
dert, was neben der Stärkung der Verbraucherposition durch Verbrauchererziehung
und –aufklärung und der Kontrolle der Produzentenmacht die Fremdorganisation
der Verbraucherinteressen durch den Staat erforderlich macht. Eine dritte Position
wird von der verhaltenswissenschaftlich begründeten Verbraucherpolitik markiert12.
Sie geht von dem empirisch erfassbaren Kaufverhalten und von empirischen Sach-
verhalten der Konditionierung und Manipulation (z. B. durch Marketing, Werbung)
auf den Angebotsmärkten aus und stellt die Forderung nach verbraucherpolitischer
Gegenkonditionierung auf. Ein bedürfnisgerechtes Kaufverhalten soll u. a. durch
die staatliche Unterstützung eines routinierten und vereinfachten Kaufverhaltens
(durch verlässliche Informationen über Angebot, Produktqualität und Preise),
durch die Rationalisierung von Kaufentscheidungen (durch staatlich geförderte
Verbraucherberatung) und durch Schutz vor Manipulation durch Marketingtechni-
ken erreicht werden. Eine weitere Variante der bislang vorgestellten marktkritischen
Konzepte stellt der vierte Ansatz dar, der Verbraucherpolitik aus der Sicht eines
marktkompensatorischen Verbraucherschutzes formuliert13. Auch hier äußert sich
eine Kritik am Informationsmodell der Verbraucherpolitik, da bislang höchstens
eine passive Handhabung des Verbraucherschutzes als Abwehrrecht stattfindet. Da-
gegen sollen von einer kompensatorischen Verbraucherschutzpolitik die »gesell-
schaftlichen Bedingungen« der Produktion und Verteilung von Gütern beeinflusst
werden. Genauer wird eine Einschränkung der privatautonomen Entscheidungs-
macht der Hersteller durch Kontrollen, Normen und Verfahren vorgeschlagen; dar-
über hinaus wird die Forderung nach einer den Produktionsprozess kontrollieren-
den Verbraucherschutzbehörde erhoben14. Die fünfte Konzeption stellt ebenso

 9 P. Meyer-Dohm, Sozialökonomische Aspekte der Konsumfreiheit, Freiburg 1965; R.
   Stinner, Konsumenten als Organisationsteilnehmer. Ein Beitrag zur organisationstheore-
   tischen Interpretation der Beziehungen zwischen der Unternehmung und dem Konsu-
   menten, Frankfurt 1976.
10 B. Stauss, aaO. (FN 5), S. 34 ff.
11 G. Scherhorn et al., Verbraucherinteresse und Verbraucherpolitik, Göttingen 1975.
12 W. Kroeber-Riel, Konsumentenverhalten, 5. Aufl. München 1992, S. 690 ff.; E. Kuhl-
   mann, aaO. (FN 5), S. 42 ff.
13 K. Simitis, Verbraucherschutz. Schlagwort oder Rechtsprinzip, Baden-Baden 1976.
14 Ebd., S. 269 ff.

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radikale marktkritische Forderungen, will aber nicht einfach die staatliche Verant-
wortung und Einflussnahme vergrößern, stattdessen wird eine Verbraucherpolitik
in partizipatorischer Absicht propagiert15. Die Kritik an der Fremdorganisation in
der Verbraucherschutzpolitik richtet sich gegen eine staatliche Trägerschaft von
Verbrauchereinrichtungen und –verbänden als einziges Organisationsmodell und
stellt die Forderung nach einer frühzeitigen und direkten Einflussnahme von Ver-
brauchern und Verbrauchervertretern auf Produkt- und Angebotsentscheidungen
im privaten wie öffentlichen Sektor auf. Verbraucherpolitische Maßnahmen laufen
auf die Stärkung der selbstorganisierten Produktion und Verteilung, die Installie-
rung von Konsumräten und Planungszellen in Unternehmen und Verwaltung und
die Beteiligung an Entscheidungen zur Investitionslenkung hinaus16. In der sechsten
von Stauss17 diskutierten Position spiegelt sich der Zeitgeist der späten siebziger
Jahre mit einem Aufkeimen der Umweltbewegung und dem Bewusstsein für Um-
weltprobleme. Dementsprechend wird auf eine vermehrt geforderte ökologische
Orientierung in der Verbraucherpolitik hingewiesen. Eine solche Verbraucherpoli-
tik konstatiert eine Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts durch die unregu-
lierte Massenproduktion und den ungehemmten Massenkonsum und formuliert als
Zielorientierung politischer Maßnahmen die generelle Einschränkung des Konsums
bzw. das Zurückfahren des Konsumniveaus auf einen früheren Zustand.
   Die bislang – hauptsächlich basierend auf der Darstellung von Stauss – wiederge-
gebenen verbraucherpolitischen Konzepte decken die politischen Debatten zum
Verbraucherschutz in der Bundesrepublik bis in die frühen achtziger Jahre ab. Die
nach dem Regierungswechsel 1982 einsetzenden Versuche der liberal-konservativen
Regierung, Deregulierungsprogramme in einzelnen Politikfeldern zu konzipieren
und umzusetzen, erfasste auch die Verbraucherschutzpolitik18. Die in diesem Zu-
sammenhang konzipierte interventionsskeptische Verbraucherpolitik orientiert sich
wieder stark am liberalen Marktkonzept, erkennt aber an, dass sich wettbewerbsge-
fährdende Machtzusammenballungen und asymmetrische Informationsverteilun-
gen einstellen können19. Darüber hinaus gewinnt aus aktueller Sicht eine Position an
Bedeutung, die eine ökologische Orientierung in der Verbraucherpolitik nicht als
Konsumverzicht, sondern als Kritik an den Gesundheits- und Umweltfolgen der
industriellen Massenfertigung von Konsumgütern artikuliert und dementsprechend
einen vor- und nachsorgenden Verbraucherschutz propagiert20.

15 B. Biervert / W. Fischer-Winkelmann / R. Rock, Grundlagen der Verbraucherpolitik.
   Eine gesamt- und einzelwirtschaftliche Analyse, Reinbek 1977, S. 55 ff. und 217 ff.
16 Diese Position erweist sich aus aktueller Sicht natürlich als besonders anschlussfähig für
   die demokratietheoretischen Debatten über die Potenziale und das Wiedererwachen der
   Bürger- oder Zivilgesellschaft; die Konsumentenpartizipation wird in diesen Konzepten
   bislang allerdings nur in einzelnen Beiträgen thematisiert; F. Nullmeier, »Demokrati-
   scher Wohlfahrtsstaat und das neue Marktwissen«, Beitrag zum Kongress »Gut zu Wis-
   sen« der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, im Mai 2001, 16 S.
17 B. Stauss, aaO. (FN 5), S. 49 ff.
18 S. Mitropoulos, aaO. (FN 8), S. 72 ff.
19 F. W. Mähling, Werbung, Wettbewerb und Verbraucherpolitik, München 1983.
20 R. Künast, Klasse statt Masse. Die Erde schätzen, den Verbraucher schützen, München 2002.

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       III. Phasen der Verbraucherschutzpolitik in Deutschland (1871-1989)

Die vorgestellten Verbraucherschutzkonzepte und Leitorientierungen für eine Ver-
braucherpolitik in Deutschland sind offensichtlich eng mit der historischen Ent-
wicklung des Verbraucherschutzgedankens in Deutschland verbunden. In einer ers-
ten Phase (1871-1918) wird an den Schutz des Verbrauchers nur appelliert, um ein-
zelne Wirtschaftskräfte zu diskreditieren und den ökonomischen Wettbewerb
politisch zu regulieren. Erst in den verfassungspolitischen Debatten der Weimarer
Republik wird der Verbraucherschutz als genuin politisches Recht anerkannt und
entsprechend umgesetzt. Die Nazi-Zeit überführt die verbraucherrelevanten Politik-
felder in eine korporatistische Organisationsform, so dass individuelle Schutzrechte
vollkommen zurücktreten. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg dominiert wieder der
rein marktkonforme Verbraucherschutz, der von einer substanziellen Regulierung
zumeist absieht. In den siebziger Jahren finden marktskeptische, interventionistische
Positionen ein größeres Gehör und erfahren eine gewisse Umsetzung. Die Formulie-
rung der Verbraucherschutzpolitik als regulative Politik wird aber in der Phase einer
relativen Deregulierungseuphorie in den achtziger Jahren gebremst und erst ange-
sichts der aktuellen Probleme mit gesundheitsschädlichen und gentechnisch verän-
derten Lebensmitteln wieder aufgenommen. Für die Thematisierung und Durchset-
zung der unterschiedlichen Verbraucherschutzkonstellationen erweisen sich politi-
sche Interessenkonstellationen als besonders gravierend; dabei spielen vor allem
marktliberale bzw. interventionistische Konzeptionen von politischen Parteien und
ihr Einfluss im parlamentarischen Kräfteverhältnis eine große Rolle.

             Erste Phase: Verbraucherschutz im deutschen Kaiserreich

Für die frühe Verbraucherpolitik im deutschen Kaiserreich lassen sich vier Schwer-
punkte erkennen, reguliert werden sollen Haustür- und ähnliche Geschäfte, Kredit-
geschäfte, die angemessene Standardisierung von Kundeninformationen und das
Wettbewerbsrecht; der letztgenannte Regulierungsbereich betrifft aber nur den
Markenschutz und den Schutz vor unlauterem Wettbewerb und beinhaltet keine
Verbraucherschutzmaßnahmen im engeren Sinne21. Bei der Regulierung der
Haustürgeschäfte zeigt sich deutlich die Instrumentalisierung des Verbraucher-
schutzgedankens zur Verteidigung der Interessen der »stehenden« Geschäftszweige.
Verhindert werden sollte die Übernahme des Einzelhandelsgeschäfts durch fahren-
de Händler und sog. Hausierer. Schon bei der Diskussion über eine Gewerbeord-
nung von 1869 – diese wurde 1873 auf das ganze Reich ausgedehnt – im Reichstag
des Norddeutschen Bundes finden sich explizite Begründungen für eine Einschrän-
kung des Gewerbebetriebs beim Umherziehen. Den sog. Hausierern sollte bei ihren
Türgeschäften verboten werden, Verzehrungsgegenstände anzubieten, weil gesund-

21 R. Geyer, Der Gedanke des Verbraucherschutzes im Reichsrecht des Kaiserreichs und
   der Weimarer Republik, Frankfurt/Berlin/Bern/New York 2001.

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heitliche Schäden der Verbraucher befürchtet wurden. Ebenfalls grundlegend ist die
Einschränkung, Wertpapiere, Schmuck und Gold oder andere vermeintliche Wert-
gegenstände den Käufern an der Tür anzubieten. Hier wurde auf die eingeschränkte
Urteilsfähigkeit des Kunden und auf seine situationsbedingte Beeinflussbarkeit
(»Eitelkeit und Unerfahrenheit der Kauflustigen«) hingewiesen. In den Jahren 1883
und 1896 werden im deutschen Reichstag Novellen zur Regulierung der
Haustürgeschäfte diskutiert und verabschiedet, in der die von umherziehenden
Händlern anzubietenden Waren weiter eingeschränkt wurden. Diese Novellen wer-
den mit der »Gefahr einer Übervorteilung des Käufers wegen der Schwierigkeit der
Beurteilung der Werte dieser Waren«22 begründet. In den Reichstagsdebatten wird
aber von einzelnen Abgeordneten erneut der Vermutung Ausdruck gegeben, dass
diese Novelle nicht vor dem Hintergrund des Konsumentenschutzes, sondern zum
Zwecke des Schutzes des stehenden Gewerbes erfolgt.
   Die staatliche Regulierung der Kreditgeschäfte bringt im Vergleich dazu schon
stärker ein besonderes Verbraucherinteresse zum Ausdruck: Die 1879 initiierte No-
velle der schon 1869 verabschiedeten Gewerbeordnung befasst sich ausdrücklich
mit dem Gewerbe der Pfandleiher und Rückkaufshändler. Bis dato galt das Prinzip
der freien Vereinbarung von Zinsen für Darlehen und andere Kredite. Pfandleihern
wurden aber bereits vor 1879 Zinsbeschränkungen auferlegt, diese wandten sich
deshalb dem Rückkaufshandel zu, der sich als Gewerbezweig nicht von der Pfand-
leihe unterschied, aber keinen Regelungen unterworfen war. Die Zinssätze entwi-
ckelten sich deshalb schnell auf Summen von 60 bis 100 Prozent des geliehenen Gel-
des oder der aufgeworfenen Schuld pro Jahr. Im Regierungsentwurf von 1879
wurde versucht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken: Pfandleiher mussten nun
ihr Gewerbe anmelden und wurden bei vorliegender Beschuldigung des Wuchers
abgewiesen. Die Bundesländer wurden dementsprechend vom Reich angewiesen,
überhaupt den Bedarf an Pfandleihe und Kredit regional zu prüfen und festzulegen.
Darüber hinaus wurde den Ländern erlaubt, Rechte und Pflichten für den Ge-
schäftsbetrieb der Pfandleihe zu erlassen und ebenso die Höhe der Zinsen und Ne-
bengebühren festzulegen. Eine deutliche verbraucherschützende Orientierung
kommt in dem im Wuchergesetz von 1893 enthaltenen Art. 4 zur Pflicht zur Rech-
nungslegung zum Ausdruck. Hier wurde derjenige, der Geld- oder Kreditgeschäfte
betrieb, dazu aufgefordert, jährlich gegenüber dem Kreditnehmer eine Rechnung
(über die Restschuld) vorzulegen. Bei Verletzen dieser Rechnungslegepflicht konnte
eine Geldstrafe oder sogar Haft verhängt werden.
   In der regulativen Gesetzgebung zur Kundeninformation lässt sich sicherlich eine
Orientierung am Gedanken eines spezifischen Verbraucherschutzes noch deutlicher
nachweisen. Die alte Gewerbeordnung von 1869 enthielt bereits für das Backgewer-
be die Auflage, Preise und Gewichte dem Kunden angemessen und wahrheitsgemäß
anzuzeigen, die Bäcker mussten sogar sicherstellen, dass Kunden bei eventuellem
Zweifel die Ware selbst nachwiegen konnten. Preisänderungen mussten von der lo-
kalen Polizeibehörde per Stempel genehmigt werden. Ähnliche Bestimmungen gal-

22 Begründung des Regierungsentwurfs von 1896 zit. n. R. Geyer, aaO. (FN 21), S. 22.

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Janning · Die Spätgeburt eines Politikfeldes                            409

ten auch für Gastwirte, sie konnten polizeilich gezwungen werden, Angaben über
Preise im Schankraum anzubringen, allerdings waren die Vorschriften bei Preisän-
derungen nicht so streng. Für beide Gewerbe wurden diese Regelungen mit der
Schutzbedürftigkeit des Kunden (Schutz von Willkür und Gelegenheit) legitimiert.
Nachdem sich Klagen über die Verfälschung von Nahrung und Genussmitteln
häuften, kam es im Jahre 1875 zu einer Aussprache im Reichstag im Rahmen der
Beratung der Brausteuer. Die Regelungen im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 zur
Lebensmittelverfälschung wurden als nicht ausreichend erachtet, ein neues Gesetz
zur Regulierung des Verkehrs mit Nahrungs- und Genussmitteln sollte Abhilfe
schaffen. Im Februar 1879 wurde dem Reichstag ein Regierungsentwurf vorgelegt,
dieser nimmt vor allem den Schutz vor Gesundheitsschädigungen auf und stellt die
willkürliche Herstellung und den Absatz von gesundheitsschädigenden Nahrungs-
und Genussmitteln unter Strafe. Mit Exekutivgewalt wird hierfür eine Gesundheits-
polizei ausgestattet. Der Gesundheitsschutz selbst definiert dabei aber kein spezifi-
sches Verbraucherinteresses, sondern ein allgemeines Interesse des Volkswohls. Das
Nahrungsmittelgesetz formuliert aber auch in § 10 und § 11 Auflagen für die Kenn-
zeichnung und Klassifikation von Lebensmitteln, dadurch soll die falsche Kenn-
zeichnung und Auspreisung von Lebensmitteln verhindert werden. Verhindert wer-
den soll, »dass der Konsument für sein Geld nicht Lebensmittel erhalte, welche ... in
Folge einer mit ihnen vorgenommenen Veränderung den ihrem Preise entsprechen-
den Nährwert nicht haben und ihren Zweck aus diesem Grunde nicht vollauf er-
füllen können«23. Dem Verkäufer wird hiermit die Pflicht auferlegt, alles zu tun, um
den Kunden über die wirkliche Beschaffenheit der Ware aufzuklären. Die gesund-
heitspolizeilichen Maßnahmen und Eingriffsrechte wurden im Lebensmittelgesetz
jedoch genau klassifiziert, um möglichst jede Gewerbs- und Verkehrsbeschränkung
zu vermeiden, in dem man die unter das Gesetz fallenden Gegenstände und Verge-
hen genau festlegte.
   Die für die einzelnen Regulierungsbereiche nachweisbare stärkere Orientierung an
Verbraucherschutzaspekten muss als Folge der Veränderungen im parlamentarischen
Kräftegleichgewicht und der Abkehr des Reichskanzlers Bismarck von seiner Unter-
stützung des Liberalismus gewertet und als Reaktion auf die Wirtschaftskrise im Kai-
serreich (die sog. Gründerkrise von 1873-1879) angesehen werden24. Lag bis 1878 die
Mehrheit im Reichstag bei den Liberalen Parteien (Nationalliberale Partei, Liberale
Reichspartei, Fortschrittspartei), so wirken sich die geänderten Mehrheitsverhältnisse
und die damit eigentlich einhergehende »konservative Wende« auch auf die Verbrau-
cherschutzpolitik aus. Reichskanzler Bismarck begann nun unter Einbeziehung der
national-konservativen Mehrheit eine interventionistische Sozial-, Finanz- und Zoll-
politik durchzusetzen, in die auch verbraucherpolitische Maßnahmen integriert wur-

23 Begründung des Regierungsentwurfs von 1879 zit. n. R. Geyer, aaO. (FN 21), S. 87.
24 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürger-
   geist, München 1990, S. 283 ff.; T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Zweiter
   Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 387 ff.; H.-P. Ullmann, Das
   Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt 1995, S. 68 ff.

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den. Zwar sollte die marktwirtschaftliche Ordnung durch staatliche Regulierungen
nicht grundsätzlich angetastet und der freie Marktwettbewerb nicht behindert wer-
den, allerdings finden sich in dieser Zeit ganz zaghaft die ersten Bemühungen, ein ge-
nuines Verbraucherinteresse abzugrenzen und als schutzbedürftig zu definieren. Es
deutet sich in dieser Zeit die Position eines paternalistischen Verbraucherschutzes an,
der auf soziale Verwerfungen und Verelendungserscheinungen mit Schutzmaßnah-
men reagiert, aber für die Verbraucher kein eigenständiges Organisationsprinzip bzw.
Repräsentationsrecht vorsieht.

  Zweite Phase: Sozialdemokratische Verbraucherschutzpolitik in der Weimarer
                                  Republik

Die Adressierung des Verbraucherschutzes im Sinne eines politischen Schutz- und
Organisationsrechtes findet sich erstmals in den Debatten um die Einrichtung eines
Wirtschaftsrates am Anbeginn der Weimarer Republik umgesetzt, freilich wird die-
ses wirtschaftliche Mitbestimmungsgremium aufgrund der politischen Krisenent-
wicklung und der Veränderung der parlamentarischen Mehrheiten hin zu einer Do-
minanz der liberal-konservativen Parteien niemals eingerichtet25. Die Weimarer
Reichsverfassung sah in Art. 165 Abs. 3 die Bildung eines Reichswirtschaftsrates
vor, der als Gremium für die Selbstverwaltung der Wirtschaft an der parlamentari-
schen Gesetzgebung in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen beteiligt sein soll-
te. Dem Reichswirtschaftsrat sollten entsprechende Gesetzesentwürfe der Regie-
rung zur Begutachtung zugehen und der Rat war selbst auch befähigt, Gesetzesvor-
schläge vorzubringen, ein formales Entscheidungsrecht sollte diesem Gremium aber
nicht zukommen. Entsprechend rätedemokratischer Vorstellungen sollte der
Reichswirtschaftsrat entsprechende Räte auf der Betriebs- und Bezirksebene reprä-
sentieren. Interessant ist besonders die geplante Zusammensetzung des Rates, neben
einer Vertretung der Arbeiter und Unternehmer sollten auch Vertretungen »sonst
beteiligter Volkskreise« aufgenommen werden. Diese dritte Gruppe der vertretenen
Interessen sollte ausdrücklich Verbraucherorganisationen enthalten. In den Be-
schlüssen zur Einrichtung eines vorläufigen Wirtschaftsrates von 1920 wurden dann
die Zusammensetzung des Rates und der Anteil der Verbraucherinteressen konkre-
tisiert. Und zwar sollte der Rat aus 326 Mitgliedern bestehen, die in zehn Gruppen
nach Wirtschaftssektoren, Berufsgruppen und weiteren Statusgruppen aufgegliedert
waren. Insgesamt sollten dem Wirtschaftsrat »30 Vertreter der Verbraucherschaft«
angehören und die einzelnen Repräsentanten sollten vom Städtetag, vom Verband
der größeren und kleineren Landgemeinden und von den Verbänden der Konsum-
vereine und dem Genossenschaftsverband sowie vom Verband der Hausangestellten
benannt werden26. Natürlich waren die Verbraucherrepräsentanten mit dieser An-
zahl den Vertretern des produzierenden Gewerbes und der Arbeitnehmerschaft

25 R. Geyer, aaO. (FN 21), S. 116 ff.
26 Ebd., S. 127.

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weit unterlegen, aber es wurde immerhin erwartet, dass auch die Vertreter anderer
Berufs- und Statusgruppen Verbraucherinteressen artikulieren würden, so dass sich
ein größeres Gleichgewicht zwischen Produzenten- und Verwerterinteressen ein-
stellen würde. Diese Annahme deutet schon darauf hin, dass auch im Reichswirt-
schaftsrat die Verbraucherinteressen nur eingeschränkt vertreten sein sollten und
keinen direkten Einfluss auf die Meinungsbildung zugesichert bekamen, aber im-
merhin wird in der Konzipierung des Wirtschaftsrates anerkannt, dass die Verbrau-
cher bzw. ihre Repräsentanten selbsttätig zu ihrer Interessenartikulation gelangen
können und dieser autonomen Interessenbestimmung auch institutionell Rechnung
getragen werden muss. Welche politischen Kräfte machten sich aber zum Sprach-
rohr der Verbraucherinteressen und was motivierte sie? Am Beispiel der Teuerungs-
proteste vor und während des ersten Weltkriegs analysiert Nonn27 die Aufnahme
der Verbraucherinteressen im deutschen Parteiensystem. Dabei fällt vor allem die
SPD mit ihrer unterstützenden, ja mobilisierenden Rolle auf. Die SPD nutzt die
Entrüstung über Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln wie Brot und
Fleisch, um ihre Stellung im Parteiensystem des späten Kaiserreichs zu verbessern
und breite Bevölkerungsschichten an sich zu binden. Diese Strategie wird in der
Weimarer Zeit fortgesetzt und manifestiert sich in der Unterstützung der ersten von
der SPD geführten Regierung für die Einrichtung des Reichswirtschaftsrates28.
Nichtsdestotrotz bemühen sich auch immer stärker Parteien der politischen Mitte
und der Rechten, Preiskontrollen als wichtiges Anliegen einer gemäßigt verbrau-
cherfreundlichen Politik aufzunehmen. Das Scheitern des Wirtschaftsrates in der
Weimarer Zeit beweist allerdings, dass die bürgerlichen Parteien vor einer direkten
Interessenvertretung und Beteiligung der Verbraucher zurückschreckten, weil da-
durch eine Bedrohung der von ihnen repräsentierten Produzenteninteressen er-
wachsen konnte.

Dritte Phase: Gleichschaltung der Verbraucherschutzgesetzgebung in der Nazi-Zeit

Die Aushöhlung bürgerlicher Rechte und die Instrumentalisierung von Schutzbe-
stimmungen zur Verfolgung politischer Gegner und unliebsamer Bevölkerungs-
gruppen machten auch vor der Verbraucherschutzgesetzgebung nicht halt. So fin-
den sich in der neuen Gewerbeordnung von 1933 strenge Vorschriften zum Vertrieb
von politischen Schriften und Drucksachen an der Haustür sowie Berufsverbote ge-
gen Nicht-Arier für die Ausübung spezifischer Berufe (Ärzte, Steuerberater, Devi-
senhändler) und für die Tätigkeit als Beamter im öffentlichen Dienst; darüber hin-
aus konnte Gewerbetreibenden, die ihre Geschäfte den Aktivitäten von
oppositionellen politischen Gruppen zur Verfügung stellen (z. B. Gastwirte) oder
aber nicht den rassenideologisch legitimierten Volkszugehörigkeitskriterien ent-

27 C. Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland,
   Düsseldorf 1996.
28 R. Geyer, aaO. (FN 21), S. 128 f.

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sprachen, ihre Konzession entzogen bzw. ihr Besitz quasi willkürlich aberkannt
werden29. Politischen Zielen waren auch die korporatistischen Organisationsbemü-
hungen in der Ernährungswirtschaft und die Steuerungsleistungen in der Preis- und
Wettbewerbspolitik untergeordnet. Zur Verringerung der Abhängigkeit von Le-
bensmitteleinfuhren und zur Stärkung einer autarken landwirtschaftlichen Nah-
rungsmittelproduktion wurden im ernährungswirtschaftlichen Bereich alle ökono-
mischen Kräfte und Untergliederungen einer staatlichen Verbandsorganisation, dem
Reichsnährstand, einverleibt30. Der bereits 1933 etablierte Reichsnährstand sollte
politische Direktiven und Planungsvorgaben an die Einzelproduzenten und ihre
Zusammenschlüsse weiterleiten und die Nahrungsmittelproduktion und -versor-
gung regulieren. Hierfür wurden die bestehenden landwirtschaftlichen Spitzenorga-
nisationen einzelner Sektoren (Getreidewirtschaft, Viehwirtschaft, Kartoffelwirt-
schaft, Milchwirtschaft etc.), die Vertretungen der in der Landwirtschaft tätigen
Berufsgruppen, die landwirtschaftlichen Genossenschaften und der Landhandel in-
nerhalb der Spitzenorganisation gleichgeschaltet und dem Führerprinzip unterwor-
fen. Durch den Reichsnährstand wurde auf die Untergliederungen und die Einzel-
produzenten Druck ausgeübt, die Preise niedrig zu halten und sich einem qualitäts-
und preisbewussten Wettbewerb auszusetzen. Die korporatistischen Organisations-
bemühungen wurden demgemäß durch eine entsprechende Kartellverordnung und
eine staatliche Preislenkung bzw. –festsetzung flankiert. Bei diesen Kontrollbestim-
mungen wurde durchaus auf das Gemeinwohl rekurriert, schließlich sollten Ge-
fährdungen des Volkswohls ausgeschlossen werden: »Die Gesamtwirtschaft oder
das Gemeinwohl ist insbesondere dann als gefährdet anzusehen, wenn in volkswirt-
schaftlich nicht gerechtfertigter Weise die Erzeugung oder der Absatz
eingeschränkt, die Preise gesteigert oder hochgehalten, oder, im Falle wertbeständi-
ger Preisstellung, Zuschläge für Wagnisse (Risiken) eingerechnet werden, oder
wenn die wirtschaftliche Freiheit durch Sperren im Einkauf und Verkauf oder Fest-
setzung unterschiedlicher Preise unbillig beeinträchtigt wird.«31 Ganz bewusst wird
hier der opake Begriff des Gemeinwohls ins Spiel gebracht und der Rekurs auf ein
spezielles Schutzrecht des individuellen Verbrauchers vermieden, diente doch die
häufige Verwendung von Gemeinwohlformeln dem nationalsozialistischen Recht
als Vorwand – im Sinne von »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« –, Privat- und Ei-
gentumsrechte einzuschränken oder auszuhöhlen32. Nichtsdestotrotz finden sich
auch nach der Gleichschaltung und Etablierung des NS-Staates einzelne Richtlinien
und Verordnungen, die indirekt verbraucherschützende Wirkung haben, so das
Maß- und Gewichtgesetz von 1935, das die Normierung von Flaschengrößen zur
besseren Vergleichbarkeit von Füllmengen und Preisen vorschreibt, und die Verord-

29 R. Echterhölter, Das öffentliche Recht im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1970, S.
   37 ff.
30 O. Nathan, The Nazi Economic System. Germany’s Mobilization for War, New York
   1971, S. 89 ff. (reprint, zuerst 1944); R. Puppo, Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung
   im Dritten Reich, 2. Aufl. Konstanz 1989, S. 38 ff..
31 § 4 Kartellverordnung von 1933 zit. n R. Puppo, aaO. (FN 30), S. 74/75.
32 M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974.

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nung über Preisauszeichnung aus dem Jahre 1940, das dem Verbraucher Klarheit
über die Preise der angebotenen Waren verschaffen sollte33. Auch hier wird zur Le-
gitimation der staatlichen Regulierungen nicht auf ein individuelles oder kollektives
Verbraucherinformationsrecht, sondern, wie bei der Einschränkung von Eigen-
tumsrechten üblich, auf das Wohl der Volksgemeinschaft bzw. auf die Sicherstellung
der Volksordnung hingewiesen34. Und die Richtlinien für Mengengrößen und Eti-
kettierung müssen im Zusammenhang mit einer kriegsvorbereitenden und
kriegsunterstützenden Politik der Warenlenkung und -kontrolle sowie der Ver-
brauchssteuerung gesehen werden35. Die Ergänzungsverordnungen von 1939, 1941
und 1942 zur allgemeinen Warenverkehrsordnung ermöglichten es dem NS-Staat,
mittels speziell eingerichteter Reichsüberwachungsstellen die Produktion in spezifi-
schen Wirtschaftssektoren und selbst in einzelnen Unternehmen minutiös zu über-
wachen und nach kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten auszurichten, den Wa-
renverkehr nach gewissen Prioritäten zu lenken und die Ernährungswirtschaft auf
eine angespannte Versorgungslage vorzubereiten und die Rohstoffversorgung für
die Bevölkerung wie für die kriegswichtigen Unternehmen zu sichern.

  Vierte Phase: Marktkonforme Verbraucherschutzpolitik in der Nachkriegszeit

Die Verbraucherschutzpolitik in der Nachkriegszeit ist durch zwei auf den ersten
Blick gegenläufige Entwicklungen gekennzeichnet; einerseits findet – nach ersten
Diskussionen über eine stärkere staatliche Lenkung und unter Zurückdrängung ge-
werkschaftlicher Sozialisierungspläne36 — eine starke Bezugnahme auf liberale
Wirtschaftsmodelle statt, der politische Schutz der Verbraucher wird dabei auf eine
aktive Preis- und Wettbewerbspolitik reduziert. Zum anderen fallen in die frühen
fünfziger Jahre wichtige, staatlich angeleitete Organisationsbemühungen zur politi-
schen Aggregation und Repräsentation der Verbraucherinteressen, diese münden in
die Einrichtung eines Dachverbandes, der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherver-
bände (AgV), im Jahre 1953.
   Im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik, die mit dem Schlagwort
und Handlungsprogramm der »sozialen Marktwirtschaft« belegt und von der
langjährigen Regierungspartei CDU und ihren Führungspersönlichkeiten propa-
giert wird, werden die Interessen der Konsumenten vor allem im Hinblick auf
Preissteigerungen und deren politische Folgen relevant. Verbraucherpolitische

33 K. Simitis, aaO. (FN 13), S. 59 ff. und 61 f.; M. Stolleis, aaO. (FN 32), S. 170 ff. und 180 ff.
34 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im
   Nationalsozialismus, 5. Aufl. Heidelberg 1997.
35 O. Nathan, aaO. (FN 30), S. 140 ff.; R. Puppo, aaO. (FN 30), S. 228 ff.; M. Woolston,
   The Structure of the Nazi Economy, New York 1968 (reprint, zuerst 1941), S. 187.
36 W. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980,
   Frankfurt a. M. 1983, S. 46 ff.; E. Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945-1952. Zur
   Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besat-
   zungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1970.

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Maßnahmen werden allerdings weniger durch ideologische Leitorientierungen mo-
tiviert, sondern vielmehr als Herausforderungen für die Sicherung der politischen
Macht antizipiert. Für die CDU-geführte Regierung Adenauer/Erhard war es von
wahlkampfentscheidender Bedeutung, Preissteigerungen von Grundnahrungsmit-
teln und gemein gebräuchlichen Luxusgütern zu vermeiden, wurde doch von Seiten
der Demoskopie ermittelt, dass eine Preissteigerung vor allem der SPD Zulauf brin-
gen würde37. In den Wahlkämpfen von 1953 und 1957 fallen deshalb Regierungs-
maßnahmen wie die Senkung der Tabaksteuer und das Stillhalte-Abkommen mit
der produzierenden Industrie sowie Preisauflagen für die Landwirtschaft, um die
Zufriedenheit der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Versorgung und Entwick-
lung zu gewährleisten. In der anwendungsorientierten politischen Konzeption der
»sozialen Marktwirtschaft« von Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister den
Neuaufbau der bundesdeutschen Volkswirtschaft stark prägte, wirkt der Verbrau-
cher als wichtiger Faktor für die Preisregulation innerhalb der Marktwirtschaft; wie
bei Adam Smith entscheidet letztlich der Verbraucher über die Angemessenheit von
Preisen für die angebotenen Waren38. Der Aufbau der Marktwirtschaft im Nach-
kriegsdeutschland setzt nur voraus, dass die Souveränität des Verbrauchers in der
Bewertung von Preisen wieder hergestellt werden muss. Politische Maßnahmen be-
treffen somit zuerst die Verbraucherinformation mittels der Verbreitung von Preis-
tafeln für Konsumgüter und mittels einer generellen Verbraucheraufklärung. Darü-
ber hinaus soll aber auch die Industrie und der Handel dazu angehalten werden,
möglichst schnell eine preiswerte Verbraucherversorgung zu übernehmen, um den
Massenkonsum anzukurbeln. Angestrebt wird die freie Konsumwahl, die ausge-
hend von der Sicherung der grundlegenden Konsumbedürfnisse durch eine ausrei-
chende Verteilung und Produktion von Gütern der Grundversorgung auch die Aus-
bildung von Luxuskonsum und die Nachfrage nach neuen Produktreihen
vorsieht39. In diesem Zusammenhang soll der Staat die Konsumfinanzierung ansto-
ßen und dementsprechend auch individuelle Konsumkredite für die Geldwirtschaft
abstützen und darüber hinaus die Spartätigkeit und Vermögensbildung in der Be-
völkerung unterstützen. Für die entwickelte Wirtschaftsordnung der sozialen
Marktwirtschaft gilt es, das Aufkommen von Preisabsprachen und Kartellen zu ver-
hindern, in diese Richtung weist auch die Formulierung und Durchsetzung eines
»Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)« von 195740.
   Nur oberflächlich betrachtet steht die staatlich unterstützte Gründung der Ar-
beitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) im Jahre 1953 einer marktlibera-
len Verbraucherpolitik entgegen. Der neue Zentralverband organisiert die bereits

37 H. Ritter, Verrat an der sozialen Marktwirtschaft? Wirtschaftspolitik zwischen Anspruch
   und Wirklichkeit, Reinbek 1972, S. 36 ff.; G. Schmidtchen, Die befragte Nation: über
   den Einfluss der Meinungsforschung auf die Politik, Freiburg 1959.
38 L. Erhard, Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der sozialen Marktwirtschaft,
   Düsseldorf/Wien/Frankfurt a. M. 1962, S. 79.
39 Ebd., S. 222.
40 C. Heusgen, Ludwig Erhards Lehre von der sozialen Marktwirtschaft. Ursprünge,
   Kerngehalte, Wandlungen, Bern/Suttgart 1981, S. 253 f.

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bestehenden lokalen Verbrauchervereinigungen und Verbraucherberatungseinrich-
tungen (Verbraucherzentralen) und nimmt als wichtige Mitglieder u. a. die Kon-
sumgenossenschaften und den deutschen Hausfrauen-Bund, den deutschen Frauen-
ring, den Zentralverband der katholischen Frauen- und Müttergemeinschaften und
den Bund der Vertriebenen auf41. Bis zum Jahre 1963 stieg die Zahl die Mitglieder
im Dachverband auf 19 Verbandsvertreter bzw. Verbände42; 1975 umfasst die AgV
schließlich 24 Mitgliedsverbände und 11 Verbraucherzentralen43. Im Jahre 1970 sind
beispielsweise auch die Arbeiterwohlfahrt, das Diakonische Werk, das Deutsche
Beamtenkartell, der Deutsche Familienverband und der Zentralverband der Kriegs-
geschädigten in der AgV als Mitglieder organisiert44. Als »Verband der Verbände«
repräsentiert die AgV aber nicht die Interessen von Konsumenten und Käu-
fergruppen direkt, vielmehr werden seine Initiativen durch eine Funktionärskaste
bestehend aus den Führungskräften der Einzelverbände geprägt45. Es handelt sich
bei der Verbandsbildung somit um eine »Fremdorganisation« der Verbraucherinter-
essen, die – wie in den kritischen Analysen der AgV hervorgehoben wird – strate-
gisch der Manipulation durch Sonderinteressen der Verbände ausgesetzt ist und ma-
teriell von Unterstützungszahlungen der Staatsbürokratie abhängig bleibt46. Die
Fremdorganisation wird aber von anderer Seite als notwendiges Organisationsmo-
dell legitimiert, weil sich die Verbraucherinteressen zumindest dann, wenn sie nicht
selbst partikulare Interessen aufnehmen und artikulieren, aufgrund des von Mancur
Olson47 beschriebenen »free rider«-Problems selbst nicht als Basisbewegung orga-
nisieren können48. Darüber hinaus muss auch auf die heterogene Struktur der reprä-
sentierten Verbände und damit einfließenden Interessen hingewiesen werden;
schließlich sind im Dachverband regionale, konfessionelle und ideologische Sonder-
interessen der Einzelverbände zusammengefasst. Die Aktivitäten der AgV be-
schränkten sich in einer ersten Phase auf die Begleitung und Unterstützung von ver-
gleichenden Warentests durch staatliche Forschungsinstitute zur Kundeninformati-
on über die Produktqualität. Darüber hinaus wurde die AgV gezielt von der

41 E. Becker, »Verbraucherzusammenschlüsse« in: J. Bock / K. G. Specht (Hg.), Verbrau-
   cherpolitik, Köln/Opladen 1958, S. 70-87.
42 C. v. Braunschweig, Der Konsument und seine Vertretung. Eine Studie über Verbrau-
   cherverbände, Heidelberg 1965, S. 144.
43 B. Biervert / W. Fischer-Winkelmann / R. Rock, aaO. (FN 15), S. 28 f.
44 J. M. Jaschik, »Verbraucherorganisationen« in: Politische Akademie Eichholz der Kon-
   rad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Verbände und Herrschaft. Pluralismus in der Gesellschaft,
   Bonn 1970, S. 225-256.
45 C. v. Braunschweig, aaO. (FN 42), S. 144 ff.
46 B. Biervert / W. Fischer-Winkelmann / R. Rock, aaO. (FN 15), S. 64 ff.
47 M. Olson, The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, 2.
   Aufl. Cambridge/London 1971.
48 H.-G. Brune, »Stärkung der kollektiven Verbraucherposition« in: Scherhorn et al., aaO.
   (FN 11), S. 113; H.-G. Brune, Organisation von Verbraucherinteressen, Frankfurt 1980,
   S.124 ff.; C. Offe, »›Ausdifferenzierung‹ oder ›Integration‹ – Bemerkungen über strate-
   gische Alternativen der Verbraucherpolitik« in: G. Fleischmann (Hg.), Der kritische
   Verbraucher. Information, Organisation, Durchsetzung seiner Interessen, Frankfurt/
   New York 1981, S. 259-275.

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Bürokratie einzelner Ministerien zu Informationszwecken instrumentalisiert; die
AgV fungiert hier als Instanz einer »Aufklärung von oben«, die den Verbraucher in
Informationsbroschüren über die Produktpalette, Qualität und Preisentwicklung in
einzelnen Branchen der Ernährungswirtschaft und des Agrarsektors und über die
Leitlinien der Politik informiert, dafür aber nicht auf eigenständige Informations-
quellen zurückgreifen kann. In dieser frühen Phase beschränkte sich die politische
Einflussnahme der AgV somit darauf, gute Kontakte zu den Ministerien und zu den
Wirtschaftsverbänden zu unterhalten und in den verbraucherpolitischen Ausschüs-
sen des Ministeriums für Wirtschaft und Ernährung mitzuwirken49.

  Fünfte Phase: Die Wiederentdeckung des Verbraucherschutzes in den siebziger
                                   Jahren

Die politischen Reformbemühungen der sozialliberalen Koalition beinhalteten auch
eine verstärkte Aktivität auf dem Gebiet der Verbraucherschutzpolitik. Die beiden
von der Bundesregierung 1971 und 1975 vorgelegten Berichte zur Verbraucherpoli-
tik geben beredten Ausdruck von den anvisierten bzw. beschlossenen Gesetzesiniti-
ativen im Verbraucherschutz. Insbesondere der zweite Bericht konnte bereits auf
wichtige Verbesserungen durch Regulierungen hinweisen50. Dies betrifft u. a. die
Kartellgesetznovelle vom August 1973, in der die Vorschriften für die Zusammen-
schlüsse zwischen Großunternehmen verschärft werden; die Änderung des Abzah-
lungsgesetzes vom Mai 1974, die den Verbrauchern ein einwöchiges Widerrufsrecht
bei solchen Geschäften einräumt; den Regierungsentwurf vom Mai 1975 zur Ver-
besserung der Stellung des Verbrauchers in den AGB-Richtlinien und zum Verbot
von verbraucherschädigenden Zusatzklauseln; das Gesetz zur Gesamtreform des
Lebensmittelrechts vom August 1974, in dem besonders der Schutz vor Gesund-
heitsschäden durch Zusatzstoffe zu Lebensmitteln und durch Rückstände von
Pflanzenschutzmitteln verbessert werden soll; die fleischbeschaurechtlichen Vor-
schriften vom April 1974, die einen bestimmten Prozentsatz der geschlachteten Tie-
re zur Prüfung auf Hormonrückstände o. ä. vorsehen; schließlich das Futtermittel-
gesetz vom Juli 1975, nach dem zur Fütterung vorgesehene tierische Erzeugnisse
den lebensmittelrechtlichen Anforderungen gerecht werden müssen und schädliche
Zusatzstoffe verboten sind bzw. Höchstwerte für Schadstoffbelastungen nicht über-
schreiten dürfen.
   In dem Verbraucherbericht von 1975 wurden auch explizit die Ziele einer »sozial-
liberalen« Verbraucherpolitik formuliert51. Diese Zielformulierung betrifft sowohl
marktkonforme wie auch genuin verbraucherschützende Maßnahmen, neben wett-

49 E. Becker, aaO. (FN 41), S. 79 ff.; C. v. Braunschweig, aaO. (FN 42), S. 150 ff.
50 Zweiter Bericht der Bundesregierung zur Verbraucherpolitik. Konzeption für die Ver-
   braucherinformation und -beratung, Bundesministerium für Wirtschaft: Bonn-Duis-
   dorf 1975, S. 12 ff.
51 Ebd.

                            https://doi.org/10.5771/0044-3360-2004-4-401
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