Arbeitsausbeutung beenden - Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland - Deutsches Institut für ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Analyse Arbeitsausbeutung beenden Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland Nora Freitag
Das Institut Die Autorin Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die Nora Freitag ist wissenschaftliche Mitarbeiterin unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien Sie arbeitet zu den Themen Arbeitsausbeutung, der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu Rechte Älterer und Rechte in der Migration. den Aufgaben des Instituts gehören Politikbera- Nora Freitag studierte Sozialwissenschaften an tung, Menschenrechtsbildung, Information und Do- der Humboldt-Universität zu Berlin. kumentation, anwendungsorientierte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusam- Die vorliegende Analyse gibt die Auffassung des menarbeit mit internationalen Organisationen. Es Deutschen Instituts für Menschenrechte wieder. wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Das Ins- titut ist zudem mit dem Monitoring der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN- Kinderrechtskonvention betraut worden und hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen einge- richtet.
Analyse Arbeitsausbeutung beenden Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland Nora Freitag
Vorwort Deutsches Institut für Menschen Das häusliche Versorgungsmodell geht häufig zu rechte Lasten der Frauen aus Osteuropa. Obwohl Fach- kreise und Medien immer wieder auf ausbeuteri- Seit Jahren wird in Deutschland über finanzielle sche Bedingungen hingewiesen haben, hat dies und personelle Lücken in der Versorgung betreu- bisher nicht zu einer Regulierung dieser Beschäf ungsbedürftiger älterer Menschen diskutiert. Mit tigungsverhältnisse geführt. Es ist Aufgabe der Blick auf die zunehmend alternde Gesellschaft Politik, die Menschenrechte der Betroffenen, wie bei gleichzeitig ansteigendem Fachkräftemangel Schutz vor Ausbeutung, faire und menschenwür rückten bislang in erster Linie die stationäre und dige Arbeitsverhältnisse, sowie effektiven Zugang ambulante Pflege in den Fokus der Politik. Häu- zum Rechtsschutz in Deutschland zu gewährleis- fig unberücksichtigt blieben aber die Lebens- und ten; migrantische Frauen, die in Privathaushalten Arbeitsbedingungen in der häuslichen Betreuung in der Betreuung älterer Menschen arbeiten, stel- – obwohl die meisten älteren Menschen so lange len hierbei eine besonders vulnerable Gruppe dar. wie möglich im eigenen Haushalt leben möchten. Dies hat dazu geführt, dass sich verschiedene Be- Die vorliegende Publikation verdeutlicht anhand schäftigungsmodelle für eine so genannte Live- von typischen Fallbeispielen aus der Beratungs- in-Betreuung etabliert haben, die in den meisten praxis die vielschichtigen Probleme, die sich aus Fällen von osteuropäischen Frauen geleistet wird. den Beschäftigungsverhältnissen für die betroffe- Insbesondere in den vergangenen Wochen nach nen Arbeitskräfte ergeben und formuliert Hand- dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie und den lungsempfehlungen für die Politik. Eine Regulie- damit im Zusammenhang stehenden Grenzschlie- rung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse ßungen ist die Relevanz dieser Arbeit deutlich ge- der Live-ins ist dringend notwendig. worden; viele Haushalte fürchteten, nicht mehr ausreichend versorgt werden zu können. Auch sei- Professorin Dr. Beate Rudolf tens der Live-In-Betreuungskräfte ist es in diesem Zusammenhang zu erheblichen Verunsicherungen Direktorin des Deutschen Instituts gekommen. für Menschenrechte
Vorwort Minor – Projektkontor für Bildung und Medien von EU-Zugewanderten. Seit Juli 2019 un- Forschung terstützt MB 4.0 polnischsprachige Live-ins bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Dabei schafft das In deutschen Privathaushalten sind mehrere Hun- Projekt erstmals einen guten Zugang zu der sehr derttausend häusliche Betreuungskräfte (sog. schwer erreichbaren Zielgruppe von 24-Stunden- Live-ins) beschäftigt, die temporär zum Arbeiten Betreuungskräften in Deutschland, indem unab- nach Deutschland kommen. Konventionelle Infor- hängige und juristisch geprüfte Beratung dort er- mations- und Beratungsangebote erreichen diese folgt, wo sie kommunizieren – in den sozialen nur sehr schwer. Als Zielgruppe auf dem Arbeits- Medien. markt werden sie kaum wahrgenommen, obwohl sie in großem Umfang von schwerster Arbeitsaus- Gleichzeitig hat sich das MB 4.0 das Ziel gesetzt, beutung betroffen sind. Mangelnde Sprachkennt- auf die Missstände und die existierende Ausbeu nisse, ausufernde Arbeitszeiten (oft länger als tung der Live-ins aufmerksam zu machen, um 12 Stunden am Tag), häufig wechselnde Einsatz notwendige Änderungen anzuregen. Im Rahmen orte sowie aus dem unsicheren Beschäftigungs- dessen wurde das Deutsche Institut für Menschen status resultierende Angst vor Behörden und Ver- rechte im Dezember 2019 mit der Erstellung einer mittlungsagenturen sind der Grund dafür, dass sie Expertise in Form von aufgearbeiteten Modellfäl- in Deutschland in sozialer Isolation leben. Die Ver- len zur Situation polnischer Betreuungskräfte in bindung mit der Familie und den Freunden im Aus- Privathaushalten in Deutschland beauftragt. Mit land, der Austausch mit anderen Betreuungskräf- der Broschüre soll die gegenwärtige Lage und die ten und die Teilhabe am Leben außerhalb des schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitsortes finden hauptsächlich über die sozia- Live-ins veranschaulicht sowie Handlungsempfeh len Medien, vorwiegend auf Facebook, statt. lungen ausgesprochen werden. Ziel ist es, das Thema stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu Das Modelprojekt „MB 4.0 – Gute Arbeit in rücken, damit legale und faire Arbeitsbedingungen Deutschland“ von Minor – Projektkontor für Bil- vorangebracht werden und sich die Situation der dung und Forschung, das von der EU-Gleichbe- Live-ins deutlich verbessert. handlungsstelle der Beauftragten der Bundesre- gierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Dr. Christian Pfeffer-Hoffmann gefördert wird, konzeptioniert und entwickelt seit Dezember 2017 in zehn Sprachen aufsuchende In- Geschäftsführer Minor – Projektkontor für Bildung formations- und Beratungsarbeit in den sozialen und Forschung
Danksagung Die vorliegende Analyse wurde im Auftrag von Ein herzlicher Dank gilt auch den teilnehmenden Minor (Projektkontor für Bildung und Forschung) Expert_innen der Telefoninterviews, durch welche im Rahmen des von der Gleichbehandlungsstelle weitere Beratungsfälle dokumentiert werden konn- EU-Arbeitnehmer1 geförderten Projektes „MB 4.0 ten: – Gute Arbeit in Deutschland. Beratung für neuzu- gewanderte Arbeitssuchende und Arbeitnehmende Ulrike Kempchen – Bundesinteressenvertretung aus Polen, Rumänien und Bulgarien in den digita- für alte und pflegebetroffene Menschen e. V. len und sozialen Medien“ durchgeführt. Im Rahmen (BIVA-Pflegeschutzbund) des Projektes wurde eine auftaktgebende und eine abschließende Gruppendiskussion mit Expert_ Catalina Guia – Beratungsprojekt Arbeit und innen aus der Beratung, der Betreuung und der Leben DGB Nordrhein-Westfalen rechtlichen Vertretung durchgeführt und Bera- tungsfälle dokumentiert. Dr. Katarzyna Zentner – Arbeit und Leben Niedersachsen Wir bedanken uns sehr herzlich für diese fachliche Unterstützung bei: Joanna Hubert – Fachstelle Migration und Gute Arbeit Brandenburg Monika Fijarczyk – Arbeit und Leben Berlin (Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Semra Taydaş – Deutsche Angestellten-Akademie Arbeit BEMA) GmbH Agnieszka Skwarek, Karolina Potocka und Ursula Gisder – CariFair Rossina Ferchichi – Minor Dr. Adam Rogalewski – Gesamtpolnischer Agnieszka Misiuk und Justyna Oblacewicz – Gewerkschaftsverband OPZZ Faire Mobilität Claudia Menebröcker – CariFair Doris Köhncke – Fraueninformationszentrum FIZ im Verein für internationale Jugendarbeit vij e. V. Manuela Kamp – Fachanwältin für Arbeitsrecht 1 Die Gleichbehandlungsstelle EU-Arbeitnehmer wurde 2016 gegründet und hat gemäß der Richtlinie 2014/54/EU den Auftrag, EU-Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, die ihnen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland zu- stehen, zu unterstützen. Die Gleichbehandlungsstelle wurde als Referat im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration institutionell verankert (siehe www.eu-gleichbehandlungsstelle.de).
Inhalt 1 Einleitung 12 2 Live-ins in Deutschland 14 2.1 Arbeits- und Lebensbedingungen 14 2.2 Rechtliche Grundlagen und Beschäftigungsmodelle 16 2.2.1 Entsendung aus dem EU-Ausland 16 2.2.2 Selbstständige Tätigkeit 17 2.2.3 Anstellung als Arbeitnehmer_in 18 3 Problemfelder und Fallbeispiele 19 3.1 Ausbeuterische Vertragsinhalte 19 3.2 Irreguläre Beschäftigung 21 3.3 Zugang zu medizinischer Versorgung 23 3.4 Mini- und Midijob 25 3.5 Überlastung und Gewalt 26 3.6 Scheinselbstständigkeit 27 4 Fazit und Empfehlungen 29 4.1 Rechtliche Klärung der Beschäftigungsverhältnisse 29 4.2 Erleichterte Zugänge zu einer regulären abhängigen Beschäftigung 29 4.3 Schaffung eines klaren Tätigkeitsprofils 30
4.4 Einführung rechtlich verbindlicher Qualitätsstandards für Vermittlungsagenturen 31 4.4.1 Kriterien für Qualitätsstandards 31 4.4.2 Rechtliche Verbindlichkeit und Kontrolle 32 4.5 Beschwerdemöglichkeiten für Live-ins 33 4.6 Durch unabhängige, mehrsprachige Beratungsangebote besser informieren 33 5 Empfehlungen in Kürze 34 6 Literatur 35
Zusammenfassung Die Politik ist dafür verantwortlich, allen Arbeits- zu grundlegenden Rechten, wie das Fallbeispiel kräften effektiven Schutz vor ausbeuterischen zum Zugang zu medizinischer Versorgung verdeut- Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen zu ge- licht. Live-ins sind darüber hinaus mit besonde- währleisten. Der Bereich der häuslichen Betreuung ren Schwierigkeiten, die sich aus der Tatsache er- älterer Menschen ist in den vergangenen Jahren geben, in einem Privathaushalt zu arbeiten und zu weitestgehend vernachlässigt worden. Dadurch wohnen, konfrontiert. Sie erleben starke Überlas- haben sich verschiedene Beschäftigungsmodelle tung und körperliche sowie sexualisierte Gewalt. etabliert, die sich teilweise in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Dies bietet Raum für Ausbeu- Die Broschüre verdeutlicht Handlungsbedarf bei tung und betrifft häufig osteuropäische Frauen, der Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungs- die ganz überwiegend die Betreuung älterer Men- verhältnisse von Live-ins. Vorrangiges Ziel sollte schen im Privathaushalt als Live-in-Betreuungs es sein, den Live-ins durch Zugänge zu einer di- kräfte übernehmen. rekten Anstellung im Privathaushalt Schutz durch vollumfängliches Arbeits- und Sozialrecht zu ge- Die vorliegende Publikation leistet einen Bei- währleisten. Die Zuordnung zu einer Berufsgrup- trag zu einem besseren Verständnis für die Ar- pe und damit im Zusammenhang stehende Qualifi beits- und Lebensbedingungen der Live-ins und zierungs- und Weiterbildungsprogramme tragen verdeutlicht anhand von sechs Fallbeispielen aus neben leicht zugänglichen Beratungs- und Be- der Beratungspraxis typische Problemkonstella- schwerdemöglichkeiten auch zu einer Stärkung tionen, die sich aus den Beschäftigungsverhältnis- der Position der Betroffenen bei. Solange priva- sen der Live-ins ergeben. Es kommt einerseits zu te Agenturen wie bisher in höherem Maße an der Verletzungen von Arbeitsrecht aufgrund der Aus- Vermittlung von Live-ins nach Deutschland betei- gestaltung der Beschäftigung etwa durch ausbeu- ligt sind, ist eine verbindliche Regulierung dieser terische Vertragsinhalte, irreguläre Beschäftigung Vermittlungspraxis dringend notwendig. Die vor- oder auch (schein-)selbstständiger Tätigkeit. Ande- liegende Publikation diskutiert diese Handlungsan- rerseits ergeben sich aus der häufig kurzzeitigen sätze und zeigt Aspekte auf, bei denen noch recht- Beschäftigung in Deutschland für migrantische licher Klärungsbedarf besteht. Live-ins auch weitere Hindernisse beim Zugang
12 EINLEITUNG 1 Einleitung Im Jahr 2017 waren in Deutschland 3,4 Millionen Aufgrund des hohen Bedarfs an Pflege- und Be- Menschen pflegebedürftig. 76 Prozent von ihnen treuungsleistungen in einer zunehmend alternden wurden im häuslichen Bereich versorgt.2 Schät- Gesellschaft wird das Beschäftigungsmodell der zungen gehen davon aus, dass zwischen 300.000 Live-ins stark nachgefragt. Das liegt daran, dass bis 600.000 migrantische Arbeitskräfte in der Ver- die in Deutschland zur Verfügung stehenden mate- sorgung betreuungsbedürftiger älterer Menschen riellen und personellen Ressourcen für eine häusli- im häuslichen Bereich tätig sind.3 Es handelt sich che Betreuung älterer Menschen insgesamt nicht dabei häufig um Frauen4 aus ost- und mitteleuro- ausreichen und im konkreten Fall für viele Fami- päischen EU-Mitgliedsstaaten5, die überwiegend lien häufig im Rahmen regulärer Beschäftigungs- über private Agenturen nach Deutschland vermit- verhältnisse auch nicht finanzierbar sind. In der telt werden. Genaue Zahlen liegen hierzu jedoch einschlägigen Literatur zum Thema werden eine nicht vor, auch weil in Privathaushalten ein großer ganze Reihe weiterer Faktoren für die Entstehung Anteil an irregulärer Beschäftigung6 vermutet wird. dieses Modells genannt, darunter die Präferenz äl- terer Menschen, so lange wie möglich im eigenen Migrantinnen, die im Privathaushalt beschäftigt sind Haushalt leben zu können,7 eine abnehmende Be- und dort auch wohnen, werden häufig als Live-in reitschaft von weiblichen Angehörigen, die Pflege bezeichnet. Der Begriff stammt aus dem Englischen zu übernehmen,8 und die Verfügbarkeit von Mig- und verweist auf die Übereinstimmung von Arbeits- rant_innen aus verschiedenen Herkunftsländern und Wohnort. Gängig sind auch die Bezeichnungen durch verbesserte Arbeitsmöglichkeiten, etwa 24Stunden-Betreuungskraft oder einfach Pflege- durch den Beitritt des entsprechenden Landes zur kraft. Beide Begriffe sind jedoch irreführend, da auf- Europäischen Union.9 Insbesondere Live-ins aus grund arbeitsrechtlicher Normen in Deutschland osteuropäischen Herkunftsländern sind gefragt, nicht 24 Stunden gearbeitet werden darf und der weil aufgrund des zwischen diesen Ländern und Begriff Pflegekraft ausschließlich ausgebildete Deutschland bestehenden Lohngefälles angenom- Fachkräfte bezeichnet. Live-ins dürfen „nur“ grund- men wird, dass sie vergleichsweise wenig Lohn pflegerische und hauswirtschaftliche Tätigkeiten er- fordern.10 Gleichzeitig sind ausgebildete Pflege- ledigen. Diese begrifflichen Schwierigkeiten deuten fachkräfte laut Statistik der Bundesagentur nicht bereits an, dass die Frauen in der Praxis zum Teil bedarfsdeckend verfügbar. Die Zahl der gemelde- mit einem deutlich breiteren Aufgabenspektrum ten Stellenausschreibungen in der Altenpflege ist konfrontiert sind. Häufig wird von ihnen eine per- in den vergangenen zehn Jahren um das 2,5-fache manente Bereitschaft zur Arbeit erwartet. Fach gestiegen.11 Programme wie das Projekt „Triple kreise und Medien weisen immer wieder auf aus- Win“ sollen diesem Fachkräftemangel durch An- beuterische Bedingungen in diesem Bereich hin. werbung migrantischer Pflegefachkräfte aus den 2 Statistisches Bundesamt (2018). 3 Steiner u.a. (2019), S. 5. 4 In der vorliegenden Publikation wird daher zur vereinfachten Darstellung ausschließlich die weibliche Form verwendet. 5 Vgl. u.a. Böning (2014), S.11; Emunds (2016), S. 201; Steiner u.a. (2019), S. 2. 6 Irregulär beschäftigt, wer Arbeiten ausführen lässt, ohne die sozialversicherungs- oder steuerrechtlichen Melde- oder Beitragspflichten zu erfüllen. Irregulär arbeitet, wer die damit einhergehenden steuerlichen Pflichten nicht erfüllt (vgl. § 1 Abs. 2 SchwarzArbG). 7 Emunds (2016), S. 200. 8 Böning (2015), S. 309. 9 Lutz (2008), S. 33. 10 Emunds (2016), S. 212. 11 Bundesagentur für Arbeit (2019), S. 12.
E I N L E I T U N G 13 Drittstaaten12 Serbien, Bosnien-Herzegowina, Aktuell bietet die anstehende Umsetzung der neu- Philippinen, Tunesien und seit 2019 auch Vietnam gefassten EU-Richtlinie zur Entsendung von Arbeit entgegenwirken. Hierbei wird versucht, für Ent- nehmer_innen im Rahmen der Erbringung von spannung in der stationären Pflege zu sorgen; die Dienstleistungen15 eine Möglichkeit, die men- Situation betreuungsbedürftiger älterer Menschen schenrechtlichen Verpflichtungen weiter umzuset- und Live-ins in Privathaushalten bleibt dabei je- zen. Gewerkschaftliche Vertretungen haben den doch unbeachtet. Die Beschäftigungsverhältnisse Entwurf der Bundesregierung bereits im Vorfeld der Live-ins, die ein wichtiger Bestandteil des Pfle- kritisiert.16 Der Großteil der Regelungen wirkt sich gemarktes in Deutschland geworden sind, befin- nicht auf die Arbeitsverhältnisse der Live-ins aus. den sich häufig in einer rechtlichen Grauzone, die Dies liegt beispielsweise daran, dass Live-ins zu ausbeuterischen Arbeitsbedingungen beiträgt. meist nur für einen kurzen Zeitraum in Deutsch- Dies ist auch der Politik bekannt, wird aber wei- land im privaten Bereich tätig werden17, sodass testgehend toleriert. Daher kann von bewusster die Neuregelungen, die für längerfristig (über zwölf „Laissez-faire-Politik“ gesprochen werden.13 Monate) in Deutschland Beschäftigte gelten, auf sie nicht anwendbar sind. Live-ins sind auch nicht Diesem Defizit stehen nicht nur deutsches Ar- eindeutig einer Branche zugeordnet, wodurch sie beits- und Arbeitsschutzrecht, sondern auch von dem neu geregelten Anspruch auf tarifvertrag- grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen liche Lohnvereinbarungen ausgeschlossen sind. Deutschlands gegenüber, wie der Schutz vor Aus- Die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse von ent- beutung, die Gewährleistung von fairen und men- sandten Live-ins ist durch den aktuellen Gesetzes- schenwürdigen Arbeitsverhältnissen sowie der An- entwurf der Bundesregierung nicht berücksichtigt. spruch auf effektiven Rechtsschutz. Auch das Übereinkommen 189 der Internationalen Arbeits- Vor diesem politischen Hintergrund verdeut- organisation ILO14 über menschenwürdige Arbeit licht die vorliegende Publikation anhand von typi- bekräftigt den Schutz vor Verletzungen der Men- schen Fallbeispielen aus der Beratungspraxis die schenrechte explizit für Hausangestellte und gibt vielschichtigen Probleme, die sich aus den Be- unter anderem für die Arbeits- und Beschäftigungs- schäftigungsverhältnissen für die betroffenen Ar- bedingungen den Mindestlohnschutz (Art. 11) und beitskräfte ergeben und formuliert Handlungs wöchentliche Mindestruhezeiten von 24 aufein empfehlungen für die Politik. anderfolgenden Stunden vor (Art. 10, 2). Das Übereinkommen wurde 2013 von Deutschland ratifiziert. 12 Drittstaat im Sinne des deutschen Aufenthaltsrechts sind diejenigen Staaten, die nicht zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gehören – zu Letzterem zählen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sowie Island, Liechtenstein und Norwegen. 13 Lutz / Pallenga-Möllenbeck (2015), S. 185. 14 International Labour Organization (2011a); vgl. auch die dazugehörige Empfehlung 201 der International Labour Organization (2011b). 15 Richtlinie (EU) 2018/957 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, vgl. hierzu Europäische Union (2018) und Europäische Gemeinschaft (1996). 16 Deutscher Gewerkschaftsbund (2020). 17 Böning / Steffen (2014), S. 12.
14 LIVE- INS IN DEUTSCHL AND 2 Live-ins in Deutschland Wenig ist über die Anzahl der in Deutschland be- re Jahre Berufserfahrung zu haben.18 Die Angaben schäftigten Live-ins bekannt. Dennoch gibt es fun- von ca. 2.000 Ratsuchenden eines Online-Bera- dierte Erkenntnisse aus Forschung und Fachlitera- tungsprojektes zeichnen ein ähnliches Bild unter tur, die einen tieferen Einblick in die Arbeits- und den polnischen Live-ins: Knapp 94 Prozent sind Lebensbedingungen von migrantischen Live-ins in weiblich, die Mehrheit ist zwischen 45 und 65 Jahre der häuslichen Betreuung ermöglichen. Neben die- alt.19 sen belastenden Bedingungen sind die Betroffe- nen darüber hinaus häufig auch mit rechtlich prob- Einschlägige Forschung und Fachliteratur weisen lematischen Beschäftigungsmodellen konfrontiert. darauf hin, dass die Arbeit als Live-in in einem Pri- Ein Überblick zu den rechtlichen Grundlagen und vathaushalt in Deutschland für viele osteuropäi- der Ausgestaltung der Beschäftigung in häuslicher sche Frauen belastend ist. Sie sind häufig von Ar- Betreuung durch migrantische Arbeitskräfte ist da- beitsausbeutung20 betroffen, und zwar unabhängig her notwendig, um die folgenden Fallbeschreibun- von der Form ihres Beschäftigungsverhältnisses. gen in ihrer Vielschichtigkeit erfassen zu können. Das zeigt sich besonders deutlich an ihrem gerin- gen Verdienst21 und der systematischen Über- schreitung der Höchstarbeitszeiten. Von Live-ins 2.1 Arbeits- und Lebensbedingungen wird häufig eine permanente Bereitschaft zur Ar- beit erwartet22. Durch das Arrangement, in einem Über die Live-ins in Privathaushalten sind nur we- Haushalt sowohl zu arbeiten als auch zu wohnen, nig quantitative Daten verfügbar. Dies liegt daran, ist die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit dass viele der Arbeitsverhältnisse wie eingangs er- zusätzlich erschwert. Teilweise wird darüber hin- läutert nicht erfasst werden und daher die Grund- aus auch erwartet, dass die Live-in als Familiener- gesamtheit der in Deutschland arbeitenden Live- satz fungiert und als solcher mit der betreuungs- ins unbekannt ist. Zudem ist dieser Bereich von bedürftigen Person zusammenlebt.23 Aus der einer hohen Fluktuation geprägt, da die Live-ins Fachliteratur geht auch hervor, dass die Aufgaben häufig nur für ein paar Monate in Deutschland ar- teilweise über die vertraglich vereinbarten Tätig- beiten. Einer Befragung aus dem Jahr 2018 unter keiten hinaus gehen und Live-ins unter anderem 255 polnischen Beschäftigten in der Betreuung in auch mit zusätzlichen Putzarbeiten oder der Kin- Haushalten zufolge sind 93 Prozent dieser Arbeits- derbetreuung innerhalb der Familie beauftragt kräfte weiblich und im Durchschnitt 52 Jahre alt. werden.24 Die hohe Arbeitsbelastung führt zu sozi- Die Mehrheit der Befragten gab an, bereits mehre- aler Isolation, die durch eine teilweise abgeschie- 18 Petermann / Jolly / Schrader (2020), S. 105. Vergleichbare Ergebnisse gehen auch aus einer Online-Befragung von 904 polnischen Betreuungspersonen aus dem Jahr 2017 hervor, vgl. hierzu Petermann / Ebbing / Paul (2017), S. 13. 19 Minor (2020a). 20 Der Begriff Arbeitsausbeutung wird in Anlehnung an die Normen genutzt, denen schwere Formen der Ausbeutung zugrunde liegen. Nach § 10 Abs. 1 oder § 11 Abs. 1, Nr. 3 SchwarzArbG, § 15a AÜG handelt es sich dabei um eine Situation, in der die Arbeitsbedingun- gen in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen rechtmäßig beschäftigter Arbeitskräfte stehen. 21 Böning und Steffen haben aus den Angeboten verschiedenster Vermittlungsagenturen einen durchschnittlichen Bruttolohn für Live-ins von 1.400 Euro errechnet (2014, S. 13); vgl. auch Hielscher / Kirchen-Peters / Nock (2017), S. 97; Emunds (2016), S. 216 und die Fall- beispiele dieser Publikation. 22 Vgl. u. a. Emunds (2016), S. 208; Hielscher, Kirchen-Peters und Nock ermitteln eine tägliche Arbeitszeit von durchschnittlich 10 Stun- den pro Tag für Betreuungs- und Pflegetätigkeiten (2017, S. 61). 23 Karakayli (2010), S. 116. 24 Böning / Steffen (2014), S. 13.
LIVE- INS IN DEUTSCHL AND 15 dene Lage des Haushalts im ländlichen Raum so- Im Rahmen der Coronavirus-Pandemie sind die wie mangelnde Deutschkenntnisse und damit Lebens- und Arbeitsbedingungen der Live-ins noch einhergehende Sprachbarrieren noch verstärkt stärkeren Belastungen ausgesetzt als zuvor. Vor wird.25 Es gibt Berichte, wonach Live-ins sogar in übergehende Einreisebeschränkungen und Vor- Lagerräumen und unbeheizbaren Räumlichkeiten schriften zur Quarantäne haben die Mobilität mig- untergebracht wurden.26 rantischer Live-ins stark eingeschränkt. Dies kann unter anderem dazu führen, dass die Live-ins aus- In der Fachliteratur wird im Rahmen einer generel- beuterische Beschäftigungssituationen nicht ver- len Kritik an Live-in-Arrangements davon ausge- lassen, da entweder kein_e Nachfolger_in für die gangen, dass es zwischen Live-in und Familie eine Versorgung der betreuungsbedürftigen Person grundsätzliche Machtasymmetrie gibt, weil Live- verfügbar ist oder aber auch die Möglichkeiten zur ins stark vom Wohlwollen der Familie abhängig Wiedereinreise nach Deutschland unsicher sind. sind und letztere die Live-ins als Instrument zur Durch die mangelnde Anbindung an pflegefachli- Befriedigung eigener Bedürfnisse wahrnimmt.27 che Expertise, wie beispielsweise einen lokalen Diese Arbeits- und Lebensverhältnisse begünsti- Pflegedienst, ist der Zugang zu Informationen, gen auch missbräuchliches und gewalttätiges Ver- Schutzausrüstung und Tests für Live-ins deutlich halten durch die betreuungsbedürftige ältere Per- schwieriger als für Pflegekräfte ambulanter Pflege- son und deren Angehörige. Körperliche und dienste. Zudem ist anzunehmen, dass die Arbeits- sexualisierte Gewalt werden in der Pflege jedoch belastung infolge der Pandemie gestiegen ist und noch immer weitgehend tabuisiert.28 Im Rahmen gleichzeitig die soziale Isolation zugenommen hat, einer empirischen Erhebung aus dem Jahr 2006 weil Besuche durch Angehörige und Freund_innen berichteten 36 Prozent der Pflegekräfte von physi- aufgrund der Ansteckungsgefahr ausbleiben. Aus schen Übergriffen durch die pflegebedürftige Per- der online-Beratung polnischer Betreuungskräfte son.29 Zwar gibt es nach aktuellem Kenntnisstand wird berichtet, dass es im Zusammenhang mit der keine Daten zu (sexualisierter) Gewalt gegen Live- Coronavirus-Pandemie zu erheblichen Verunsiche- ins, angesichts der Ergebnisse für Pflegekräfte ist rungen und erhöhtem Beratungsbedarf seitens der jedoch davon auszugehen, dass auch sie häufig Live-ins gekommen ist. Insbesondere die Einreise- Übergriffen ausgesetzt sind. Die Arbeit als Live-in beschränkungen und Quarantänemaßnahmen an geht für die osteuropäischen Frauen nicht nur mit der deutsch-polnischen Grenze waren Schwer- einem prekären arbeitsrechtlichen Status und ei- punkt des Beratungsbedarfs, da viele Live-ins ner von Abhängigkeit geprägten Wohnsituation fürchteten, dass ihnen die Einreise nach Deutsch- einher, sondern ist auch in Bezug auf das eigene land zur Arbeit verwehrt wird.31 Privatleben mit Belastungen verbunden. So stellt die Trennung von der eigenen Familie für viele Frauen eine große Belastung dar.30 25 Information aus der Gruppendiskussion mit Expert_innen. 26 Rogalewski / Florek (2020), S. 21. 27 Emunds (2016), S. 210. 28 Der Paritätische Sachsen (2018). 29 Görgen u. a. (2012), S. 30. 30 Lutz (2018), S. 64 zitiert nach Städtler-Mach (2020), S. 176. 31 Minor (2020b).
16 LIVE- INS IN DEUTSCHL AND 2.2 Rechtliche Grundlagen und Generell gilt für alle drei Beschäftigungsmodelle, Beschäftigungsmodelle dass Live-ins, die keine fachliche Ausbildung in der Pflege haben oder deren Ausbildung in Deutsch- Ein wichtiger Schritt zu mehr Anerkennung und land nicht anerkannt ist, grundsätzlich nur grund- Regulierung der Beschäftigung in Privathaushal- pflegerische Tätigkeiten und die Tätigkeiten einer ten stellt das 2011 in Genf verabschiedete inter- Haushaltshilfe wie Putzen, Waschen und Einkaufen nationale ILO-Übereinkommen 189 über „Men- übernehmen können. Pflegetätigkeiten, die eine schenwürdige Arbeit für Hausangestellte“ dar.32 medizinische Behandlung darstellen, wie etwa Das Übereinkommen regelt Maßnahmen für ei- Injektionen, Blutdruckkontrolle und Wundversor- nen wirksamen Schutz der Menschenrechte al- gung, dürfen nur von examinierten Pflegekräften ler Hausangestellten und für die Gleichbehand- durchgeführt und müssen dokumentiert werden lung von Beschäftigten in Haushalten mit solchen (§ 37 SGB V).35 in anderen Arbeitsverhältnissen. Explizit wird un- ter anderem Mindestlohnschutz (Art. 11) und wö- 2.2.1 Entsendung aus dem EU-Ausland chentliche Mindestruhezeiten von 24 aufeinander In Fachkreisen wird davon ausgegangen, dass folgenden Stunden (Art. 10, 2) festgelegt. Das die Mehrheit der Live-ins, die in Privathaushal- Übereinkommen wurde 2013 von Deutschland ra- ten in Deutschland tätig sind, aus dem EU-Aus- tifiziert und gilt somit verbindlich. Bei der Ratifizie- land durch ein dort ansässiges Unternehmen ent- rung hat Deutschland allerdings von der Möglich- sendet werden.36 Auf europäischer Ebene wurden keit, Ausnahmeregelungen für bestimmte Gruppen im Zusammenhang mit der Möglichkeit, Arbeits- von Arbeitnehmer_innen zu treffen, Gebrauch ge- kräfte in andere EU-Mitgliedsstaaten zu entsen- macht. Die Ausnahmeregelung bezieht sich auf die den, Richtlinien für einen Mindestschutz dieser Gruppe der „Arbeitnehmer, die in häuslicher Ge- Beschäftigten verabschiedet (Richtlinie 96/71/ meinschaft mit den ihnen anvertrauten Personen EG und Richtlinie 2018/957).37 Grundsätzlich gilt zusammenleben und sie eigenverantwortlich er- das Recht des Entsendestaates, die Entsende- ziehen, pflegen oder betreuen“ (ArbZG §18, Abs.1, richtlinie und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz Nr. 3). In Fachkreisen gab es daher eine Diskussion (AEntG) räumen der entsandten Person aber be- dazu, ob die Ausnahmeklausel des Arbeitszeitgeset- stimmte Rechte in ihrem Einsatzland ein, etwa zes auch für Live-in-Pflegekräfte gilt. Der Wissen- Höchstarbeitszeiten, bezahlten Mindestjahresur- schaftliche Dienst des Bundestages klärte 2016 in ei- laub, Mindestlohn, Sicherheit, Gesundheitsschutz nem Sachstandbericht, dass dies nicht der Fall ist.33 und Hygiene am Arbeitsplatz, Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäf- Bei der Auswertung der Fachliteratur sowie der tigungsbedingungen von Schwangeren und Wöch- Gespräche mit den Expert_innen haben sich nerinnen, Kindern und Jugendlichen, Gleichbe- grundsätzlich drei Beschäftigungsmodelle als be- handlung von Männern und Frauen und andere kannt und relevant herausgestellt:34 Live-ins wer- Nichtdiskriminierungsbestimmungen sowie die den durch ein Unternehmen (Vermittlungsagentur) Klagemöglichkeit in Deutschland, beispielsweise aus dem EU-Ausland nach Deutschland entsendet, zur Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns. sie sind als Selbstständige im Privathaushalt tätig Bei Entsendungen innerhalb der EU müssen ent- oder sie werden direkt im Privathaushalt als Ar- sendende Unternehmen möglichst im Voraus bei beitnehmerinnen angestellt. dem zuständigen Sozialversicherungsträger eine 32 Vgl. oben Fn. 14. 33 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2016). 34 Die Gruppendiskussionen und die Telefoninterviews mit den Expert_innen haben verdeutlicht, dass es innerhalb der drei genannten Beschäftigungsmodelle ein breites Spektrum an Vertragsgestaltungen gibt, die sich unter anderem aus unterschiedlichen Bedingungen in den Herkunftsländern der Live-ins ergeben. Die Darstellung der Beschäftigungsmodelle erhebt daher keinen Anspruch auf Vollstän- digkeit. 35 Schreyer (2020), S. 50. 36 Information aus der Gruppendiskussion mit Expert_innen; EU-Gleichbehandlungsstelle (o.J.); Steiner u. a. (2019), S. 5. 37 Vgl. oben Fn. 15.
LIVE- INS IN DEUTSCHL AND 17 sogenannte A1-Bescheinigung für die zu entsenden- ren in Polen durchgesetzt hat und die in Fachkrei- den Beschäftigten beantragen.38 Der Europäische sen immer wieder kritisiert wurde. Die entsenden- Gerichtshof klärte in einem Urteil aus dem Jahr den Agenturen schließen dazu einen sogenannten 2000, dass die Bescheinigungen auch rückwirkend Dienstleistungsvertrag mit den Live-ins ab.42 In gültig sind.39 Das Bundesministerium für Arbeit und der Regel stehen die polnischen Vermittlungs- Soziales hat die Behörden in Deutschland dazu an- agenturen mit einer weiteren Vermittlungsagen- gehalten, dieser Auffassung zu folgen.40 tur in Deutschland in einem Vertragsverhältnis, die wiederum den Kontakt zu den auftraggeben- Bei einer Entsendedauer von weniger als 24 Mo- den Familien in Deutschland herstellt. Aus der naten gilt nach der EU-Verordnung über die Ko Verbraucher_innenperspektive kann dieses Mo- ordinierung der Systeme zur sozialen Sicherheit dell so aussehen, dass ein Privathaushalt einer (VO 883/2004), dass das Sozialversicherungs- deutschen Vermittlungsagentur einen Vermitt- recht des Herkunftslands anzuwenden ist. Inbe- lungsauftrag erteilt. Diese macht zunächst Perso- griffen ist hierbei auch die Zuständigkeit für die nalvorschläge und nach Auswahl der Live-in wird gesundheitliche Versorgung. Entsandte Beschäf- zwischen der Familie und der polnischen Agentur tigte können sich aber auch im Aufnahmeland dann ein Dienstleistungsvertrag abgeschlossen.43 medizinisch behandeln lassen; sie benötigen dazu eine Europäische Krankenversicherungskarte und 2.2.2 Selbstständige Tätigkeit die A1-Bescheinigung, um den Versicherungs- Beim Beschäftigungsmodell der Tätigkeit als schutz im Herkunftsland nachweisen zu können.41 Selbstständige im Privathaushalt besteht ein ho- Um eine legale Entsendung vornehmen zu können, hes Risiko der Scheinselbstständigkeit.44 Schein- muss das ausländische Unternehmen auch Be- selbstständigkeit liegt vor, wenn Live-ins im Ver- schäftigung im Herkunftsland anbieten. Arbeits- trag zwar als selbstständige Auftragnehmer_innen anweisungen können nur von dem entsendenden betitelt werden, ihre Tätigkeit im Privathaushalt Unternehmen erteilt werden, nicht von der betreu nach objektiven Kriterien aber einer abhängigen ungsbedürftigen Person selbst oder ihren Ange- Beschäftigung gleicht, sodass sie tatsächlich Ar- hörigen, da diese nur Auftrag- und nicht Arbeitge- beitnehmer_innen sind und deshalb Sozialversi- ber_innen sind. cherungsbeiträge durch die Arbeitgeber_innen (Privathaushalt) abgeführt werden müssten. In- Je nach Herkunftsland und Unternehmen wird die dizien für eine abhängige Beschäftigung sind ge- Entsendung unterschiedlich ausgestaltet, wobei geben, wenn die Personen im Privathaushalt den nicht selten der Versuch unternommen wird, Aus- Live-ins Arbeitsanweisungen erteilen oder auch gaben etwa für Leistungen der Sozialversicherung wenn die Live-ins fest in den Tagesablauf im Haus- möglichst gering zu halten. Die Fallbeispiele der halt eingebunden sind (§7 Abs.1 SGB IV). Weite- vorliegenden Publikation verdeutlichen insbeson- re Kriterien für die Beurteilung, ob eine selbst- dere die Praxis der Entsendung von polnischen ständige Tätigkeit in Abgrenzung zur abhängigen Live-ins durch polnische Vermittlungsagenturen. Beschäftigung vorliegt, betreffen unter anderem, Es handelt sich hierbei um eine besondere Form dass ein Unternehmensrisiko selbst getragen wird, der Entsendung, die sich in den vergangenen Jah- das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte 38 Generalzolldirektion (o.J. b). 39 EuGH, Urteil vom 30.03.2000, Az. C-178/97, Barry Banks vs. Théâtre Royal de la Monnaie. 40 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019), S. 2–3. 41 Europäische Union (2019). 42 Expert_innen zufolge handelt es sich bei den im Polnischen als Umowa Zlecenie bezeichneten Arbeitsverhältnissen um eine abhängige Beschäftigung, bei welcher die Geltung der arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften ausgeschlossen wird. Die polnische Bezeichnung wird als Dienstleistungsvertrag, aber auch als Dienstvertrag oder Auftragsvertrag übersetzt. Nach deutschem Recht handelt es sich hierbei um Verträge, die sowohl Elemente eines Auftrags- als auch Dienstleistungsvertrag beinhalten. Eine gerichtliche Klärung dazu, wie diese Verträge in Deutschland bewertet werden, hat es bisher nicht gegeben. In der vorliegenden Publikation wird zur Übersicht- lichkeit ausschließlich von sogenannten Dienstleistungsverträgen gesprochen. 43 Beispiel: Pflegehelden Berlin (2020). 44 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz / Verbraucherzentrale NRW (2019); Verbraucherzentrale Berlin (2019).
18 LIVE- INS IN DEUTSCHL AND und dass Arbeitszeit, -ort und -dauer selbst gestal- die Anmeldung der Live-ins bei der Sozialversiche- tet wird45. rung, die Abführung von Steuern sowie die gesam- te Lohnabrechnung zuständig. Ein Arbeitsvertrag Betreuungsbedürftige ältere Menschen und ihre mit einer_m Arbeitgeber_in mit Sitz in Deutsch- Angehörigen können den Vertrag mit der Live-in land ist der beste Schutz vor Arbeitsausbeutung direkt abschließen. In der Praxis handelt es sich für die Live-ins, da hier vollumfänglich deutsches in der Regel aber um Vertragsverhältnisse, die von Arbeits- und Sozialrecht gilt; anwendbar sind so- privaten Agenturen vermittelt werden.46 Möglich mit unter anderem die Regelungen betreffend ist auch, dass sich die migrantische Live-in selbst Höchstarbeitszeiten, Mindestlohn, Lohnanspruch, als Selbstständige entsendet. Das setzt unter an- Insolvenzgeld, Sozialversicherung, Ansprüche ge- derem voraus, dass sie ein angemeldetes Gewer- gen die Unfallversicherung, Anspruch auf Urlaub be im Herkunftsland betreibt und dort eine ähnli- und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie che Tätigkeit ausübt.47 Kündigungsschutz. Den Expert_innen aus den Be- ratungsstellen zufolge kommt dieses Beschäfti- 2.2.3 Anstellung als Arbeitnehmer_in gungsmodell in der Praxis jedoch nur selten vor.48 Live-ins können auch direkt im Privathaushalt an- gestellt werden; Arbeitgeber_innen sind in diesem Fall die betreuungsbedürftige Person selbst oder ihre Angehörigen. Sie sind dann unter anderem für 45 Deutsche Rentenversicherung (2020). 46 Brors / Böning (2015), S. 846; Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz / Verbraucherzentrale NRW (2019). 47 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz / Verbraucherzentrale NRW (2019); Europäische Kommission (2013), S. 15–16. 48 Information aus der Gruppendiskussion mit Expert_innen.
P R O B L E M F E L D E R U N D FA L L B E I S P I E L E 19 3 Problemfelder und Fallbeispiele Die vorgestellten Fallbeispiele verdeutlichen typi- werden. In der Fachöffentlichkeit gibt es etliche sche Problemstellungen verschiedener Beschäf- Kontroversen um die Frage, welche Regelungen in tigungsmodelle und deren Auswirkungen auf die diesen sogenannten Dienstleistungsverträgen in Lebens- und Arbeitssituation von migrantischen Polen rechtmäßig vereinbart werden dürfen49 und Live-ins. Dazu werden im Folgenden zunächst die wie diese in Deutschland zu bewerten sind.50 Die Problemfelder erfasst und im Anschluss die dazu- Vertragsinhalte sind den häufig auch an der Ver- gehörigen Fallbeispiele dargestellt. Bei den Beispie- mittlung der Live-ins beteiligten deutschen Agen- len handelt es sich um Fälle aus der Beratungspra- turen bekannt. Expert_innen kritisieren daher xis. Die Fälle wurden soweit anonymisiert, dass die auch, dass die deutschen Agenturen trotz dieser Person nicht erkannt werden kann. Die Frauen er- Kenntnisse keine Verantwortung für die Durchfüh- fahren bei ihrer Arbeit in Privathaushalten häufig rung des Beschäftigungsverhältnisses der Live-ins vielschichtige und teilweise interdependente Pro in Deutschland übernehmen.51 blemlagen. Dementsprechend ist in den Fallbeispie- len der zentrale Aspekt herausgestellt, ohne dabei Ein wichtiger Aspekt ist, dass für Live-ins wie das Zusammenwirken verschiedener Problematiken Frau F. und Frau X. häufig nur geringe und teilweise außer Acht zu lassen. Die Fallbeispiele werden über- auch gar keine Sozialversicherungsbeiträge entrich- wiegend aus der Perspektive der Live-ins geschil- tet werden. Diese Beiträge an die Sozialversicherun- dert, einzig das Beispiel zu Scheinselbstständig- gen52 werden in Polen durch die Vermittlungsagen- keit ist aus der Perspektive der Angehörigen einer tur von dem festgelegten monatlichen Verdienst betreuungsbedürftigen älteren Person dargestellt. geleistet, nicht aber von der Tagespauschale.53 Es Diese Perspektive ist wichtig, weil auch die betreu- kommt auch dazu, dass Sozialversicherungsbeiträ- ungsbedürftigen älteren Menschen und ihre Ange- ge einmalig für den gesamten Einsatz der Live-in hörigen mit der eigenen Situation häufig überfordert gezahlt werden, wobei die Entlohnung für den ers- und nicht ausreichend über die Auswirkungen der ten Monat durch die Agentur offiziell als Vorschuss Live-in-Beschäftigungsmodelle informiert sind. gekennzeichnet wird. Für einen Vorschuss müssen keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden.54 Der Fall von Frau F. verdeutlicht, dass die Aufspal- 3.1 Ausbeuterische Vertragsinhalte tung in Verdienst und Tagespauschale dazu dient, den Mindestlohn in Deutschland einzuhalten, der Bei der Entsendung von Live-ins durch private Ver- auch für entsandte Beschäftigte gilt. Diese gängige mittlungsagenturen werden die Bedingungen für Form der Vertragskonstruktion wird in Fachkreisen das Beschäftigungsverhältnis auf verschiedene Art daher auch als ein Versuch der polnischen Vermitt- und Weise in Verträgen festgelegt. Die im Folgen- lungsagenturen interpretiert, die Verpflichtung zur den dargestellten Beispiele von Frau F. und Frau X. Zahlung von Sozialversicherungsleistungen in Polen verdeutlichen die Ausgestaltung von sogenannten möglichst gering zu halten. Dies wirkt sich insbe- Dienstleistungsverträgen, die zwischen den Frau- sondere negativ auf die zukünftigen Rentenansprü- en und den polnischen Agenturen geschlossen che aus, die Live-ins wie Frau F. in Polen zustehen. 49 Information aus dem Telefoninterview mit OPZZ. 50 Zur Bewertung dieser Verträge vgl. oben Fn. 42. 51 Rogalewski / Florek (2020), S. 21. 52 Zu den Sozialversicherungsbeiträgen in Polen vgl. das EURES-Netz der Europäischen Kommission EURES (2011). 53 Information aus dem Telefoninterview mit OPZZ. 54 Informationen aus dem Telefoninterview mit Minor.
20 P R O B L E M F E L D E R U N D FA L L B E I S P I E L E In vielen Verträgen mit den Vermittlungsagenturen geber_in ein Recht auf fristlose Kündigung ein. sind Vertragsstrafen vorgesehen. Wenn es zu Strei- Es wird jedoch nicht darauf hingewiesen, dass tigkeiten mit der betreuungsbedürftigen Person und auch Frau F. ein solches Recht zusteht, wenn ihren Angehörigen kommt, entsteht für die entsand- ein wichtiger Grund vorliegt. Trotz dieser für sie ten Live-ins eine besonders prekäre Situation: Sie nachteiligen Vertragsinhalte reiste Frau F. nach sind dann nicht allein Schwierigkeiten wie psychi- Deutschland und nahm die Beschäftigung in scher Überlastung, drohender Wohnungslosigkeit dem Privathaushalt auf. oder auch verschiedenen Formen von Gewalt aus- gesetzt, sondern müssen bei einer sofortigen Kündi- gung ihrerseits hohe Vertragsstrafen fürchten. Die Expert_innen der Beratungsstellen berichten, dass Frau X. aus Polen solche Vertragsstrafen den Zweck verfolgen, die Live-ins unter Druck zu setzen und somit sicherzu- Wie bei Frau F. enthielt auch der Vertrag von stellen, dass sie sich nicht beschweren oder den Ar- Frau X. mit einer polnischen Vermittlungsagen- beitsort vorzeitig verlassen.55 tur eine Vertragsstrafe. Sie sollte für den Fall entstehen, wenn Frau X. den Haushalt ohne Einhaltung der Kündigungsfrist verlässt. Frau F. aus Polen Bereits bei der Anreise von Frau X. kam es zu Frau F. ist ca. 50 Jahre alt, kommt aus Polen Schwierigkeiten. Da der Bus sich verspätete, und hat eine Ausbildung in der Pflege. Die An- stand Frau X erst gegen 23 Uhr bei Familie Y. erkennung ihres Berufsabschlusses hat Frau F. in Süddeutschland vor der Tür. Die betreuungs- vor ihrer Abreise nach Deutschland nicht prü- bedürftige ältere Frau Y. schlief zu diesem Zeit- fen lassen; ob sie in Deutschland offiziell als punkt bereits. Frau X. nahm daher Kontakt mit Pflegefachkraft in der stationären oder ambu- der Tochter der älteren Frau auf, die etwa ein- lanten Pflege tätig sein kann, ist daher unklar. hundert Kilometer entfernt wohnt. Diese wies Frau F. hatte mit einer polnischen Vermittlungs- Frau X. jedoch darauf hin, dass sie aufgrund agentur aus Warschau einen sogenannten ihrer Verspätung nun bis morgen warten müs- Dienstleistungsvertrag für eine sechswöchige se. Frau X. blieb keine andere Möglichkeit, als Tätigkeit als Haushaltshilfe unterzeichnet und die Nacht auf den Gartenmöbeln zu verbringen, informierte sich kurz vor ihrer Abreise nach die auf der Terrasse des Hauses standen. In Deutschland bei einer Beratungsstelle für häus- den ersten Tagen nach Aufnahme der Beschäf- liche Betreuungskräfte aus Polen über die Be- tigung kam es immer wieder zu Unstimmigkei- dingungen aus dem Vertrag. Darin wurde ein ten zwischen den Angehörigen der betreuungs- Verdienst von 374,08 Euro monatlich zuzüglich bedürftigen Frau Y. und der Live-in Frau X. Der Verpflegung und Unterkunft vereinbart. Zusätz- Sohn hatte sich von der Arbeit freigenommen, lich zu diesem Verdienst wurde eine Tagespau- um die Einarbeitung von Frau X. im Haushalt zu schale in Höhe von 49 Euro pro Tag festgelegt. unterstützen. In einem Gespräch mit der Bera- Angaben zum zeitlichen Umfang der Arbeit tungsstelle schilderte Frau X. später, der Sohn oder zu Bereitschaftszeiten fehlten. Der Ver- sei der Meinung gewesen, Frau X. würde alles trag enthielt jedoch eine Regelung, wonach falsch machen. Sie sei jedoch gar nicht richtig eine Vertragsstrafe in Höhe von 4.000 Euro zum Arbeiten gekommen, weil der Sohn sie blo- dann fällig werden sollte, wenn Frau F. nicht zur ckiert habe. Arbeit erscheint, die Arbeit unterbricht oder die betreuungsbedürftige Person absichtlich oder Nach kurzer Zeit rief der Sohn der betreuungs- grob fahrlässig einem Gesundheitsrisiko oder bedürftigen Frau Y. infolge eines größeren dem Tod ausgesetzt hat. Der Vertrag räumte Streits die Polizei, um Frau X. der Wohnung darüber hinaus ausschließlich der_m Auftrag- verweisen zu lassen. Frau X. wandte sich dar- 55 Information aus der Gruppendiskussion mit Expert_innen.
P R O B L E M F E L D E R U N D FA L L B E I S P I E L E 21 aufhin telefonisch an die Beratungsstelle und tigten Migrant_innen, die ältere pflegebedürftige bat um Hilfe. Sie berichtete, dass ihr noch Menschen in deutschen Privathaushalten be- 400 Euro Lohn für die bereits geleistete Arbeit treuen, wird an anderer Stelle vorsichtig mit ca. zustünden. Der Sohn wollte diesen Lohn an die 300.000 bis 400.000 angegeben.59 Vermittlungsagentur bezahlen. Aufgrund der im Vertrag mit der Vermittlungsagentur vereinbar- Besonders problematisch ist, dass die Live-ins häu- ten Vertragsstrafen befürchtete Frau X. jedoch, fig nicht ausreichend über ihre Rechte als Arbeit- den ausstehenden Lohn nicht zu erhalten, sollte nehmer_innen in Deutschland informiert sind. er an die Agentur gehen. Sie bestand deshalb Emunds und andere beschreiben, dass insbeson- darauf, dass ihr die Summe in bar übergeben dere irregulär beschäftige Live-ins ihren Arbeitge- werden müsse. Das Erscheinen der Polizei löste ber_innen oft schutzlos ausgeliefert seien.60 bei Frau X. zunächst Angst aus. Die telefonische Arbeits- und sozialrechtliche Beratungsstellen Beratung konnte für Frau X. übersetzen und ins- kommen laut eigenem Bekunden häufig erst nach gesamt zu einer Deeskalation der Situation bei- Beginn oder am Ende des Arbeitsverhältnisses mit tragen. Durch die Vermittlung der Beratungs den Betroffenen in Kontakt, also zu einem Zeit- stelle konnte mit dem Sohn von Frau Y. eine punkt, an dem es – wie bei Frau M. – bereits zu Einigung erzielt werden, sodass Frau X. nicht so- Arbeitsausbeutung gekommen ist. Das folgende fort die Wohnung verlassen musste und der feh- Beispiel von Frau M. verdeutlicht, dass irregulär lende Lohn direkt an sie ausgezahlt wurde. beschäftigte EU-Bürger_innen aufgrund ihrer unsi- Frau X. reiste anschließend zurück nach Polen. cheren Arbeits- und Wohnverhältnisse besonders von Ausbeutung betroffen sind.61 Irreguläre Be- schäftigungsverhältnisse führen dazu, dass keiner- 3.2 Irreguläre Beschäftigung lei Sozialversicherungsbeiträge – und somit auch keine Beiträge zur Krankenversicherung – erbracht Irreguläre Beschäftigung56 lässt sich schwer erfas- werden. sen und daher auch nicht verlässlich quantifizie- ren, eben weil sie nicht dokumentiert wird. Auch Der Fall von Frau M. zeigt, wie schwierig es ist, im wenn keine genauen Daten vorliegen, ist jeden- Anschluss an eine plötzliche Kündigung des irre falls unstrittig, dass Formen irregulärer Beschäfti- gulären Beschäftigungsverhältnisses durch den gung in Privathaushalten häufig vorkommen: Eine Arbeitgeber Zugang zu notwendigen Sozialleistun- Schätzung aus dem Jahr 2010 auf Grundlage der gen zu erhalten, um den Lebensunterhalt zu si- unterschiedlichen Daten der Bundesagentur für chern. EU-Bürger_innen, die weniger als fünf Jahre Arbeit/Minijobzentrale und der Volkswirtschaftli- in Deutschland leben, müssen bei der Beantra- chen Gesamtrechnung kam zu dem Schluss, dass gung von Sozialleistungen nachweisen, dass sie der Anteil irregulär Beschäftigter an allen Beschäf- sich nicht ausschließlich zur Arbeitssuche in tigten in Privathaushalten bei rund 70 Prozent Deutschland aufhalten. Dies ist für Frauen in irre- liege.57 Neben Alleinstehenden bilden Ältere in gulären Beschäftigungsverhältnissen schwierig, da Paarhaushalten die größte Gruppe auf der Nach die geleistete Arbeit kaum oder gar nicht schrift- frage-Seite, weshalb davon ausgegangen werden lich dokumentiert wurde, es häufig keine schriftli- kann, dass es mehrheitlich um eine Unterstützung chen Verträge gibt und meist auch keine Zeug_in- bei grundpflegerischen sowie haushälterischen nen zur Verfügung stehen. Live-ins wie Frau M. Tätigkeiten geht.58 Die Zahl der irregulär beschäf- 56 Vgl. oben Fn. 6. 57 Gottschall / Schwarzkopf (2010), S. 23. 58 Gottschall / Schwarzkopf (2010), S. 25 und 26–27. 59 Satola / Schywalsk (2016), S. 128. 60 Emunds u. a. (2016), S. 212. 61 Im Rahmen dieser Publikation kann nicht auf die Situation der irregulär in Privathaushalten in Deutschland Beschäftigten aus soge- nannten Drittstaaten eingegangen werden. Aufgrund ihres häufig ungeklärten Aufenthaltsstatus in Deutschland ist diese Live-in- Gruppe zusätzlichen Unsicherheiten und einem erhöhten Risiko der Ausbeutung ausgesetzt.
22 P R O B L E M F E L D E R U N D FA L L B E I S P I E L E verlieren durch eine fristlose Kündigung nicht nur sieben Tage in der Woche für einen monatli- ihre Lohnarbeit, sondern auch die Unterkunft. chen Verdienst von 400 Euro zuzüglich Verpfle- gung und Unterbringung. Nach dieser ersten Der irreguläre Status und die Isolation bei dieser Zeit zog sie auf Drängen ihrer Tochter aus der Form der Beschäftigung erhöhen auch das Risiko Wohnung der betreuungsbedürftigen Frau zu für die Betroffenen, Opfer von Diskriminierung und ihr und arbeitete daraufhin fünf Tage pro Wo- körperlicher oder sexualisierter Gewalt zu werden, che für den gleichen Lohn. Einen schriftlichen insbesondere wenn – anders als im Fall von Frau Arbeitsvertrag hatte Frau M. von der Familie M. – keine Angehörigen in räumlicher Nähe woh- nie erhalten. Sie war in Deutschland für den nen (siehe Fallbeispiel Überlastung und Gewalt). Zeitraum der Beschäftigung nicht gemeldet und nicht krankenversichert. Frau M. aus Rumänien Nach der mündlichen Aufkündigung des Ar- beitsverhältnisses durch die Familie im Februar Frau M. ist rumänische Staatsbürgerin und An- 2018 suchte Frau M. eine Beratungsstelle gehörige der Communities der Sinti_zze und auf, weil sie übergangsweise Arbeitslosen- Rom_nja. Sie ist 50 Jahre alt und hat zwei er- geld II beantragen wollte. Da Frau M. nur we- wachsene Kinder, die mit ihren eigenen Fami- nig Deutschkenntnisse und Schwierigkeiten lien in Deutschland leben. Frau M. zog im Au- beim Lesen und Schreiben hat, war sie auf gust 2017 nach Deutschland in die Nähe ihrer Hilfe beim Ausfüllen des Antrags und bei der Tochter. Dort kam sie in Kontakt mit einer Fa- Zusammenstellung der notwendigen Unter- milie, in der eine ältere Frau Unterstützung im lagen angewiesen. Zunächst hatte Frau M. Haushalt und bei der Betreuung benötigte. Kurz große Schwierigkeiten, dem Jobcenter gegen- darauf zog sie bei der Familie ein und über- über nachzuweisen, dass ein Arbeitsverhältnis nahm Haushaltstätigkeiten wie Putzen und Ein- mit der Familie tatsächlich bestanden hatte. kaufen, aber auch Aufgaben der Grundpflege Mit Unterstützung der Beratungsstelle konnte wie Duschen und Anziehen sowie die Vergabe Frau M. ihre ehemaligen Arbeitgeber dazu brin- von Medikamenten. Darüber hinaus kümmerte gen, eine Arbeitgeberbestätigung auszustellen. sie sich regelmäßig darum, dass die betreu- Mithilfe ihrer Kontoauszüge konnte sie zudem ungsbedürftige Frau gut unterhalten wurde. den Eingang des monatlichen Gehalts bele- Alle weiteren pflegerischen Tätigkeiten wurden gen. Daraufhin bewilligte das Jobcenter Sozial- von den Familienangehörigen und einem ambu- leistungen für einen begrenzten Zeitraum von lanten Pflegedienst übernommen. Die Arbeits- sechs Monaten. Die Beratungsstelle unterstütz- zeiten von Frau M. betrugen zwischen 10 und te Frau M. anschließend bei der Suche nach 12 Stunden am Tag. Drei Monate lang wohnte einer neuen Arbeitsstelle. sie bei der Familie und arbeitete in dieser Zeit
Sie können auch lesen