Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie?

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie?
Online-Lehre Bioökonomie: Lehrveranstaltungen 2019-2021 | Beer

Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie?
Abstract

Auf Basis von Erkenntnissen zum Fallbeispiel "Biokunststoffe", das wir auf Grundlage des Ansat-
zes eigendynamischer politischer Prozesse (AEP) in einem Bioökonomie-Seminar analysiert ha-
ben, stellt sich für uns die Frage, ob Biokunststoffe einen Beitrag zu einer nachhaltigen Bioöko-
nomie leisten können. Um dies zu beantworten, untersuchen wir, inwieweit sie dazu in der Lage
sind, die zunehmenden globalen und komplexen Nebenwirkungen von konventionellen Kunst-
stoffen über ihren Lebenszyklus einzudämmen und ob sie auf Grundlage der aktuellen gesetzli-
chen Rahmenbedingungen dazu befähigt sind, Ökonomie und Ökologie in diesem Punkt in Ein-
klang zu bringen. Diese Fragen analysieren wir mit Fokussierung auf die Policy der Einwegkunst-
stoffrichtlinie (EU-Richtlinie 2019/904) und der deutschen Bundesgesetzgebung. Als Bezugs-
punkte dienen uns relevante Aspekte der Kunststoffe mit Fokussierung auf Ökologie, Ökonomie
und Ethik. Dabei werden komplexe Probleme deutlich, die wir ausführlicher benennen und für die
wir Lösungsansätze aufzeigen. Im Ergebnis kann die Frage nach der Möglichkeit von Biokunst-
stoffen, Bestandteil einer nachhaltigen Bioökonomie zu werden, aktuell nicht ausreichend sicher
beantwortet und somit legitim in Frage gestellt werden.

Schlagworte: Bioökonomie, Biokunststoffe, AEP, EU-Plastikstrategie,
Einwegkunststoffrichtlinie

Based on findings concerning the case of bioplastics, which we analyzed on the foundation of the
political process inherent dynamics approach (PIDA) in seminar on bioeconomy, we ask ourselves
the question, if bioplastics can provide a contribution to a sustainable bioeconomy. To answer
this question we examine to what extend they are capable of confining the increasing global and
complex side-effects of conventional plastics through their lifetime and if they can reconcile econ-
omy and ecology grounded on current legal foundations. These questions are analyzed focusing
on the Single-use plastics directive (EU-directive 2019/904) and German national legislation as
policies. We use relevant aspects of plastics as reference points zooming in on ecology, economy
and ethics. In this process complex problems become apparent, which we specify in more detail
and then identify approaches towards a solution. As a result the question if it is possible for bio-
plastics to become a component of a sustainable bioeconomy can not be answered at this point
with sufficient certainty and legitimately questioned.

Keywords: bioeconomy, bioplastics, PIDA, EU plastic strategy, Single-use plastics directive

 Debbie Wenzel
 ist Biologin, Umweltmanagerin und infernum-Studierende an der FernUniversität in Hagen.
 Kontakt: debbie.schindler@uni-duesseldorf.de
 Dr. Tilo Meißner
 ist Humanmediziner, Umweltmanager und infernum-Studierender an der FernUniversität in Hagen.
 Kontakt: dr.meissner@posteo.de

 https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010                                                    143
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie?
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Einleitung
Im Rahmen des von Januar bis März 2021
stattgefundenen Onlineseminars "Bioöko-
nomie" des Interdisziplinären Fernstudiums
Umweltwissenschaften der FernUniversität
Hagen (kurz: infernum), beschäftigten wir
uns, nach einer Einführung in das Arbeits-
feld der Bioökonomie, in einer Gruppenar-
beit mit dem Fall "Biokunststoffe". Dies be-       Abb. 1: Erklärungsfaktoren politischer Prozesse.
                                                            (Quelle: Böcher & Töller, 2012.)
inhaltete die Analyse der politischen Pro-
zesse (Politics), welche zur "Richtli-            Nach einer einleitenden Übersichtsanalyse
nie (EU) 2019/904 des Europäischen Parla-         aller fünf AEP-Erklärungsfaktoren (siehe
ments und des Rates vom 5. Juni 2019 über         Abb. 1 und Exkurs "AEP"), folgte im Seminar
die Verringerung der Auswirkungen be-             eine vertiefende Analyse des Faktors "Ak-
stimmter Kunststoffprodukte auf die Um-           teure und ihre Handlungen". Uns wurde
welt", der sogenannten Einwegkunststoff-          deutlich, dass ein breites Spektrum an Ak-
richtlinie, geführt haben.                        teur*Innen diesem Fallbeispiel zuzuordnen
                                                  ist und ihr Handeln größtenteils zweckratio-
Als Analyserahmen diente uns hierbei der          nal ausgelegt ist. Demnach unterliegt v. a.
Ansatz eigendynamischer politischer Pro-          das Handeln der politischen und wirtschaft-
zesse (AEP) (Böcher & Töller, 2012), der ur-      lichen Akteur*Innen einem rationalen Nut-
sprünglich für heuristische umweltpoliti-         zenkalkül, wobei insbesondere der Erwerb
sche Analysen entwickelt wurde. Dieser ver-       und Erhalt von Macht ein zentrales Steue-
wendet ein Verständnis von politischen Pro-       rungselement ist. Es war uns jedoch nicht
zessen als eigendynamisch. Hiernach sind          möglich, diesen Faktor vollständig isoliert zu
diese weder rein auf Problemlösung noch           betrachten. Vielmehr zeigte sich, dass im
                                                  Besonderen "Institutionen" und "politische
rein auf Interessenaggregation ausgerich-
                                                  Instrumente" großen Einfluss auf die "Ak-
tet, sondern unterliegen auch Ideologien,
                                                  teure und ihre Handlungen" ausüben und
Eigendynamiken und insbesondere Zufäl-            die     fallspezifischen    "Problemstruktu-
len. Er fokussiert dabei fünf definierte Erklä-   ren" durch ihre Komplexität und unklare
rungsfaktoren, die für den Verlauf und das        Definition (Dissens Problemdefinition) in
Ergebnis von politischen Prozessen als po-        vielen Bereichen zu gleichermaßen unkla-
tenziell wesentlich angenommen werden.            ren Lösungen (Dissens Lösungsoptionen)
Diese sind "Akteure und ihre Handlungen",         führen. "Situative Aspekte" wiederum kön-
"Institutionen", "Problemstrukturen", "Al-        nen bei der Ausarbeitung der Richtlinie als
ternativen" (bzgl. politischer Instrumente)       Impulse, wie das durch Medien entfachte
und "situative Aspekte".                          Interesse an Mikroplastik und die Probleme
                                                  der historisch zuvor thematisierten Biok-
                                                  raftstoffpolitik, verstanden werden.

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Durch die thematische Beschäftigung in              Exkurs "AEP":
dem Seminar, stellten sich uns im Anschluss
weiterführende Fragen: In welchen Berei-            "Akteure", als zentraler Faktor des AEP,
chen sind Biokunststoffe den konventionel-          können entweder auf Basis von Zweckra-
len Kunststoffen tatsächlich überlegen?             tionalität, orientiert an kurzfristigen Inte-
Können sie unter diesen Umständen als Teil          ressen, oder auch wertrational, mit Bezug zu
einer nachhaltigen Bioökonomiestrategie             Werten, Normen und Wahrnehmungen,
angesehen werden? Und erfüllt die Richtli-          handeln. "Institutionen" werden als Regel-
nie (EU) 2019/904 grundsätzlich ihren               und Anreizakkumulationen verstanden, die
                                                    von Akteur*Innen durch Strategien und
Zweck, oder ist sie zusammen mit den ge-
                                                    Handlungen nutzenmaximierend genutzt
setzlichen Rahmenbedingungen in Deutsch-            werden. Hierbei können auch Normen und
land vielleicht einer solchen Bioökonomie           Werte sowie soziale Akzeptanz eine wichtige
abträglich?                                         Rolle spielen. "Problemstrukturen" stellen die
                                                    Probleme des entsprechenden Politikfeldes
Deshalb greifen wir im Folgenden diese Un-          oder      Regelungsbereiches      dar     und
klarheiten auf. Hierzu führen wir zunächst in       untersuchen, wie sich diese auf den
Kapitel eins in die Begrifflichkeiten und den       politischen Prozess auswirken. "Alternativen"
                                                    beschreiben unterschiedlichste politische
Kontext von konventionellen Kunststoffen            Instrumente, z. B. entlang des Eingriffs-
und Biokunststoffen ein, bevor im zweiten           ausmaßes von Freiwilligkeit bis Zwang,
Kapitel deren Problemstrukturen von uns             beispielsweise durch Ge- und Verbote,
ausführlicher dargestellt werden. Hierbei           finanzielle     Anreize    und      freiwillige
fokussieren wir uns insbesondere auf ökolo-         Vereinbarungen. Es wird dabei betont, dass
                                                    diese Instrumente nicht neutral sind, sondern
gische Aspekte der Produktion, der Entsor-
                                                    ihre Verwendung durch politische und
gung, der Komplexität, der Meeresvermül-            ideologische Eigenschaften, sowie durch die
lung und des Plastikzerfalls. Im Anschluss          sie verwendenden Institutionen, beeinflusst
betrachten wir gesundheitliche, ethische            werden. "Situative Aspekte" sind nicht
und ökonomische Aspekte. Vertiefend dazu            planbare Ereignisse, die keinen direkten
                                                    inhaltlichen Bezug zu dem Problem haben,
führen wir in Kapitel drei in die EU-Richtlinie
                                                    die Rahmenbedingungen von politischen
2019/904 ein und stellen einen Bezug zur            Prozessen jedoch indirekt beeinflussen (z. B.
nationalen Rechtslage her. Im Anschluss er-         der Atomausstieg Deutschlands aufgrund der
läutern wir in Kapitel vier Kritikpunkte der        Reaktorkatastrophe in Fukushima) (Beer et
europäischen und deutschen Kunststoffpo-            al., 2018).
litik und den sich daraus für unser Verständ-
nis ergebenden Lösungsansätzen in Kapitel
fünf. Wir beenden den Beitrag mit einem
zusammenfassenden Fazit in Kapitel sechs.

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                       Abb. 2: Globale Verwertung von Plastik bis 2015 in Prozent.
                           (Eigene Darstellung; Daten aus Geyer et al., 2017.)

1. Konventionelle Kunst-                                 Typische Kunststoffe (mit Beispiel) sind Po-
                                                         lyethylenterephthalat (PET) (Getränkefla-
stoffe und Biokunststoffe                                schen), Polypropylen (Verpackungen), Po-
                                                         lyvinylchlorid (PVC) (Rohre) und Polystyrol
In diesem Abschnitt wird zunächst kurz vor-
                                                         (Kunststoffbesteck).
gestellt, was Kunststoffe sind und ein Ein-
blick in die globale Produktion gegeben, be-             1.2      Produktion
vor dann auf den Begriff der Biokunststoffe              Die globale Produktionsmenge wird für
und der unter diesen Begriff subsumierten                2019 auf 368 Megatonnen (Mt) geschätzt,
Materialien genauer eingegangen wird.                    wovon Europa allein etwa 57,9 Mt produ-
Dies bildet eine essenzielle inhaltliche und             ziert (Tiseo, 2021a). Eine erste Schätzung
terminologische Grundlage für die im weite-              der anthropogenen Gesamtproduktion
ren Artikel folgende Analyse.                            ergab 8.300 Mt, wobei bis 2015 eine Pro-
                                                         duktionsmenge von 6.300 Mt Plastikmüll
1.1     Begriffsdefinition
                                                         angenommen wurde (Geyer et al., 2017).
Kunststoffe, umgangssprachlich oft als Plas-
                                                         Dabei seien 9 % davon recycelt, 12 % ver-
tik bezeichnet, sind polymere Materialien,
                                                         brannt und 79 % in Deponien oder der Um-
die meist durch Hitze oder Druck geformt
                                                         welt akkumuliert worden. Als wichtigste
bzw. gegossen werden können und deren
                                                         produzierenden Industriebereiche wurde
Plastizität im Zusammenspiel mit anderen in
                                                         dabei die Verpackungsindustrie (2015: 146
der Regel vorliegenden Eigenschaften wie
                                                         Mt), gefolgt von der Bau- und Textilindust-
geringer Dichte, geringer elektrischer Leitfä-
                                                         rie (2015: 65 und 59 Mt respektive) identifi-
higkeit, Durchsichtigkeit und Robustheit die
                                                         ziert. Hauptausgangsstoff für die Kunst-
Herstellung einer großen Produktvielfalt er-
                                                         stoffproduktion war 2019 mit einem Anteil
laubt (Rodriguez, 2021).
                                                         von etwa 85 % Erdöl (Tiseo, 2021b). Dane-
                                                         ben werden auch aktuell noch vor allem Gas
                                                         und Kohle als Ressourcen genutzt.

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 Der Kunststoffindustrie wird allgemein eine
 sehr große Bedeutung für die globale Öko-
 nomie beigemessen. Beispielsweise be-
 schrieb das Weltwirtschaftsforum Kunst-
 stoffe aufgrund der Kombination aus "kon-
 kurrenzlosen Eigenschaften und niedrigen
 Kosten" als das "Arbeitspferd-Material der
 modernen Ökonomie" (World Economic Fo-
 rum, 2016; eigene Übersetzung).

 1.3     Biokunststoffe
 Neben den konventionellen Kunststoffen
 gibt es einen kleinen Anteil an sehr hetero-       Abb. 3: Einordnung von Kunststoffen anhand ihrer
 genen Kunststoffen, die unter dem unpräzi-          Eigenschaften. (Eigene Darstellung nach Endres
                                                                und Siebert-Raths, 2009.)
 sen definierten Begriff "Biokunststoffe" zu-
 sammengefasst werden (UBA, 2018a).
 Diese umfassen biobasierte und biologisch         Es werden zwei klassische Abbauwege un-
 abbaubare Kunststoffe, sowie Kunststoffe,         terschieden (UBA, 2018a): zum einen mikro-
 die beide Eigenschaften vereinen (siehe           biell die aerobe Kompostierung (unter Sau-
 Abb. 3).                                          erstoffzufuhr) zu Kohlenstoffdioxid (CO2),
                                                   Wasser, mineralischen Salzen und Biomasse
 Biobasierte Kunststoffe verwenden ein Ma-         und zum anderen die anaerobe Gärung
 terial biologischen Ursprungs, wobei vor al-      (ohne Sauerstoffzufuhr) zu Kohlenstoffdi-
 lem kohlenstoffhydratreiche Agrarpflanzen         oxid, Methan (CH4), mineralischen Salzen
 (wie Mais oder Zuckerrohr) verwendet wer-         und Biomasse. Eine Besonderheit stellen
 den, sowie teilweise Ligno-Zellulose (wie         oxo-fragmentierbare Kunststoffe dar, de-
 verholzende Pflanzen) und organische Ab-          nen Additive zur schnelleren Zersetzung
 fallprodukte (European Bioplastics, 2021).        beigefügt werden, was zu einer schnellen
 Die Erstgenannten werden auch als bioba-          Zersetzung in kleine Fragmente, nicht je-
 sierte Kunststoffe der ersten Generation be-      doch deren Abbau, führt (UBA, 2018a). Da-
 zeichnet. Biologisch abbaubare Kunststoffe        her gelten diese nicht als biologisch abbau-
 hingegen werden nicht über ihren Aus-             bar.
 gangsstoff definiert, sondern über ihren Ab-
 bauweg. Daher können auch aus fossilen            Die übliche Subsumierung dieser äußert di-
 Rohstoffen produzierte Kunststoffe biolo-         versen Stoffgruppen unter dem gemeinsa-
 gisch abbaubar sein und werden dann eben-         men Überbegriff Biokunststoffe ist sicher
 falls als Biokunststoff bezeichnet.               kritisch zu betrachten, da sich die einzelnen
                                                   Stoffe in ihren Eigenschaften auch innerhalb
Die als "biologisch abbaubare Kunststoffe"         ihrer Subgruppen noch einmal stark unter-
bezeichneten Materialien werden, je nach           scheiden. Hinzu kommen diesbezüglich un-
Stoff, in bestimmten, unterschiedlichen Um-        terschiedliche Begriffsdefinitionen relevan-
gebungen bei bestimmten Bedingungen in ei-         ter Akteur*Innen, die Frage des Umganges
ner definierten Zeit abgebaut, also z. B. Po-      mit und der Einordnung von aus verschiede-
lyhydroxyalkanoate im Boden bei 20-28 °C in        nen Kunststoffen bestehenden Produkten
ca. 7-12 Monaten (UBA, 2018a), wobei es            oder auch von Kunststoffmischungen, die
auch hier keine global einheitliche Definition     als "Blends" (engl.: to blend = vermischen)
gibt.

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bezeichnet werden. Einer eigenen Bewer-          Material selbst, nicht neu. So steht in
tung bedarf ebenfalls der Ersatz von fossilen    Deutschland seit Beginn der zweiten Hälfte
Rohstoffen als Ausgangsstoff durch biogene       des 20. Jahrhunderts der Begriff "Plastik"
Ressourcen bei chemisch gleichen Endpro-         zunehmend für "billig", die Verwendung
dukten (z. B. bei Bio-PET), was als "Drop-in-    von Plastik wurde als Ausdruck des kulturel-
Lösung" bezeichnet wird, da sich damit be-       len Verfalls gesehen und bereits die Um-
stehende Einsatzbereiche, Strukturen und         weltbewegungen in den 1970er Jahren the-
petrochemische        Verarbeitungsprozesse      matisierten die Müllproblematik durch
nutzen lassen (Sachverständigenrat Bioöko-       Kunststoffe (Schweiger, 2021). Allerdings
nomie Bayern, 2017). Dennoch erfolgt der         scheint als situativer Aspekt die mediale
gesellschaftliche Diskurs und die politische     Aufmerksamkeit zuletzt noch einmal zuge-
Verhandlung über diese heterogenen Mate-         nommen zu haben, wozu auch breit rezi-
rialien aktuell unter dem Label "Biokunst-       pierte Filmreportagen wie "Plastic Planet"
stoffe" als Sammelbegriff.                       (Boote, 2009) und Forschungserkenntnisse
                                                 (Geyer et al., 2017) beigetragen haben dürf-
2. Problemstrukturen der                         ten.

Kunststoffpolitik                                2.1     Ökologische Aspekte
                                                 2.1.1 Produktion
In diesem Kapitel werden nach einer Einfüh-      Bei der Produktion von Kunststoffen wer-
rung in die Debatte ökologische, ethische        den vor allem fossile Ressourcen als Aus-
und ökonomische Aspekte der Prob-                gangmaterialien verwendet. Das Weltwirt-
lemstrukturen der Kunststoffpolitik aufge-       schaftsforum ging für 2014 allein von einem
zeigt, wobei auf ökologische Folgen für Um-      Anteil von 6 % am weltweiten Ölverbrauch
welt und Mensch fokussiert wird. Zum ei-         aus, der sich nach dessen Szenario bei un-
nen dient dies dem Verständnis der Hinter-       veränderter Entwicklung bis 2050 auf 20 %
gründe für die in nachfolgenden Kapiteln         erhöhen würde, was dann 15 % des globa-
anschließenden Untersuchungen, zum an-           len CO2-Budgets ausmachen würde (World
deren aber auch einem Einblick in die Breite     Economic Forum, 2016). Die globalen CO2-
und Komplexität der Problemstrukturen.           Emissionen der Kunststoffindustrie wurden
                                                 für das Jahr 2012 in demselben Bericht auf
Global werden zunehmend unerwünschte             390 Mt geschätzt. Nicht eindeutig nachvoll-
Nebenwirkungen der Erzeugung, Nutzung            ziehbar ist hierbei leider, ob es sich um CO2-
und Entsorgung von Kunststoffen sichtbar,        Äquivalente handelt, also andere Treib-
wobei die Zunahme der Sichtbarkeit unse-         hausgase, wie vor allem Methan, mit einge-
rer Einschätzung nach z. T. wohl an der ho-      rechnet wurden. An anderer Stelle wurde
hen und weiter steigenden Produktions-           dies im Bericht explizit benannt, hier aber
menge aufgrund deren Materialeigenschaf-         nicht. Vor dem Hintergrund des Klimawan-
ten und einer wachsenden Weltwirtschaft          dels würde dies jedoch einen großen Unter-
liegt. Daneben könnten aus unserer Sicht u.      schied machen.
a. die zunehmende Akkumulation von Ab-
                                                 Das Umweltprogramm der Vereinten Natio-
fällen in der Umwelt und Fortschritte in der
                                                 nen (UNEP) weist in einem mit der Allianz
Informations- und Kommunikationstechno-
                                                 für Klima und saubere Luft zur Reduktion
logie mit leichterer Datenerfassung und Be-      kurzlebiger Klimagase (CCAC) veröffentlich-
richterstattung eine Rolle spielen. Berichte     ten Bericht aktuell darauf hin, dass die Errei-
über die Probleme der Kunststoffproduk-          chung der Begrenzung der Erderwärmung
tion sind jedoch, genau wie Kritik am

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

auf 1,5 °C bis 2100 ohne eine Reduktion von             den etwas bessere Daten vorlagen, von ei-
Methan bis 2030 um mindestens 40-45 %                   nem relevanten Reduktionspotenzial durch
nicht mehr zu annehmbaren Kosten erreich-               Austausch von konventionellem Plastik
bar ist (UNEP und CCAC, 2021). CH4 gehört               durch Bioplastik aus (Spierling, 2018).
laut diesem Bericht zu den kurzlebigen Kli-
magasen mit einem Verbleib in der Atmo-                 In der Kunststoffindustrie erscheinen Nach-
sphäre von etwa 10 Jahren, ist dabei aber               haltigkeitsthemen wie dieses bisher nur
um ein vielfaches klimawirksamer als CO2                sehr begrenzt anzukommen, was sich bei-
und seine atmosphärische Konzentration                  spielhaft in einem Report von Planet Tra-
steigt aktuell stärker als jemals zuvor seit            cker, einem nicht profitorientierten think
den 1980er Jahren. Die Autor*Innen gehen                tank, der sich auf die Untersuchung von Ri-
ferner davon aus, dass 20 % der weltweiten              siken von Marktversagen aufgrund ökologi-
CH4-Emissionen aus Müll hervorgehen und
                                                        scher Grenzen spezialisiert hat, zeigt (Tho-
die Müllreduktion für Europa die wichtigste
                                                        umi et al., 2021). Darin wird berichtet, dass
Option zur Mitigation der Methanemissio-
nen darstellt.                                          von 83 der größten Unternehmen, die Plas-
                                                        tikverpackungen und -container herstellen
Auch hier lohnt ein differenzierter Blick auf           und zusammen einen globalen Marktanteil
einzelne Materialien: Polyethylen (PE), der             von 93 % haben, 53 keine Policies für nach-
global am meisten verwendete Kunststoff,                haltige Verpackungen benannten und die
scheint von allen häufig verwendeten                    meisten sich keine Gedanken über Risiken
Kunststoffen unter Sonnenstrahlung auch                 durch (neue) Gesetzesvorgaben in ihrem
am meisten CH4 und Ethylen freizusetzen,                Unternehmensbereich machen. Insgesamt
das ebenfalls ein Treibhausgas ist (Royer et            ist aktuell der Anteil an bio-basierten Plastik
al., 2017). Eine Metaanalyse zur Lebenszyk-             an der globalen Produktion als sehr gering
lusanalysen von Bioplastik fand insgesamt               einzuschätzen.
wenig und schlecht vergleichbare Daten,
ging aber für den hier angesprochenen Un-
terbereich der Treibhausgasemissionen, für

            Abb. 4: Prozentuale Anteile der weltweiten Kunststoffproduktion des Jahres 2018.
                           (Eigene Darstellung; Daten aus nova-Institut, 2019.)

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

2.1.2 Entsorgung                                     Für Deutschland geht das Statistische Bundes-
Die Entsorgung von Abfällen der Kunststoffin-        amt (Destatis) für das Jahr 2020 von mehr als 1
                                                     Mt exportierten Kunststoffmüll aus und betont
dustrie bietet darüber hinaus Ansatzpunkte für
                                                     dabei die Reduktion um 33 % innerhalb der
Kritik. Wie eingangs bereits erwähnt, sind die
                                                     letzten zehn Jahre (Destatis, 2021). Gleichzeitig
Recyclingraten niedrig, die Entsorgung erfolgt
                                                     hatte Deutschland im Jahr 2018 einen Anteil
vorzugsweise bereits nach der Erstnutzung auf        von 24,6 % an der gesamten Kunststoffnach-
Mülldeponien und zum Teil durch Verbrennung          frage in Europa, was mehr als die der beiden
(Geyer et al., 2017). Hinzu kommt, dass das Re-      Folgenationen Italien (13,9 %) und Frankreich
cycling die Entsorgung lediglich um einen oder       (9,4 %) gemeinsam war (Plastics Europe, 2019).
wenige Nutzungszyklen aufschiebt (Geyer et
al., 2017). Auf EU-Ebene wurden laut Statisti-       Hauptexportland für Plastikabfälle aus Europa
schem Amt der Europäischen Union (Eurostat)          war Malaysia mit 17 %, dass die Volksrepublik
im Jahr 2018 41,5 % der Verpackungen aus             China als Hauptzielland 2018 abgelöst hatte,
Plastik recycelt (Eurostat, 2021), was im inter-     nachdem "24 verschiedene Recyclingmateria-
nationalen Vergleich einen hohen Wert dar-           lien nicht mehr in die Volksrepublik China ex-
stellt. Allerdings machten Verpackungen 2019         portiert werden [durften] – darunter unsortier-
                                                     ter Plastikabfall" (Destatis, 2021). Noch 2012
mit 39,9 % weniger als die Hälfte der Kunst-
                                                     gingen 53 % des Plastikmülls dorthin und wei-
stoffnachfrage in Europa aus (Plastics Europe,
                                                     tere 13 % nach Hongkong (Destatis, 2021). Für
2019).                                               die später analysierte Richtlinie erscheint der
Die EU-Kommission sieht das Potenzial für Re-        Wechsel der chinesischen Importstrategie ein
cycling von Kunststoffabfällen weitestgehend         beachtenswerter situativer Aspekt im Sinne
                                                     des AEP, da die EU damit den Hauptabnehmer-
ungenutzt und beschreibt die Wiederverwen-
                                                     staat ihrer Kunststoffabfälle verloren hat.
dungs- und Recyclingraten von Altkunststoffen
als sehr gering, insbesondere im Vergleich zu
                                                     2.1.3 Komplexität
Papier, Glas oder Metall (Europäische Kommis-
                                                     Ein weiterer zentraler Aspekt der Prob-
sion, 2018). Sie geht an derselben Stelle davon
                                                     lemstrukturen der Kunststoffpolitik kann hier
aus, dass in Europa pro Jahr etwa 25,8 Mt            anhand eines Beispiels bzgl. der globalen An-
Kunststoffabfälle entstehen, von denen weni-         teile an Kunststoffabfällen verdeutlicht wer-
ger als 30 % gesammelt und davon wiederum            den, und zwar, dass aufgrund der Komplexität
ein erheblicher Teil in Drittstaaten verbracht       ein Gesamtverständnis der Kunststoffmüll-
werde, in denen möglicherweise niedrigere            Problematik für die Einordnung der oben ge-
Umweltstandards gelten würden.                       nannten Daten notwendig erscheint. Als Bei-
                                                     spiel sei hier ein Aspekt des bereits erwähnten
Ferner werden von ihr in demselben Dokument          Reports des World Economic Forum (2016,
die hohen Deponierungsraten (31 %, zuletzt           Grafik 9) benannt. Ein dargestellter Punkt ist
sinkend) und Verbrennungsraten (39 % zuletzt         darin die Vermüllung der Meere durch Plasti-
steigend) kritisiert. Das Weltwirtschaftsforum       kabfälle, wobei der Anteil von Asien daran auf
schätzt, dass 95 % des Wertes von Plastikver-        82 % gegenüber 2 % durch die USA und Europa
packungen nach dem ersten Nutzungszyklus             zusammen beziffert wird.
verloren geht und der Wirtschaft damit jährlich
80-120 Mrd US $ verloren gehen (World Econo-         Einerseits kann hierbei hinterfragt werden, ob
mic Forum, 2016). Der erwähnte Export zum            und wie vollständig der oben beschriebene,
Teil großer Mengen von Plastikmüll, der dann         nach Asien exportierte Müll zurecht dorthin zu-
oft über Drittstaaten in der Umwelt landet,          geschrieben wird oder dies nicht dem Land der
wird regelmäßig von Umweltschutzorganisati-          Verbraucher*Innen zugeschrieben werden
onen aufgegriffen und kritisiert (Greenpeace,        muss. Andererseits geht in der Darstellung die
2021).                                               Relation zur Bevölkerungsgröße unter, wobei
                                                     laut den Vereinten Nationen (UN) in Asien im

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Jahr 2020 über 4,6 Mrd. Menschen lebten und          Fischereiindustrie (Morales-Caselles et al.,
damit über viermal so viele wie in Europa mit        2021).
knapp 750 Mio. und den USA mit über 330 Mio.
zusammen (UN, 2019). Durch diese potenzielle         2.1.5 Plastikzerfall
Ungenauigkeit und reale Auslassung wird die          Dazu zerfällt Plastik, insbesondere oxo-abbau-
Information nicht falsch, aber doch einseitig        bare Kunststoffe, oft in sehr lange beständige
und fehlleitend, zumal in ihr auch hohe Produk-      Kleinteile, die ab einer Größe von unter 5 mm
tionskapazitäten Asiens für Kunststoffe ange-        meist als Mikroplastik und ab einer Größe im
geben werden (45 % der Weltproduktion),              Nanometerbereich als Nanoplastik bezeichnet
ohne die Märkte und Regionen zu benennen,            werden. Nanoplastik hat teilweise etwas an-
für die diese produziert werden.                     dere Eigenschaften als Mikroplastik. Da im po-
                                                     litischen Diskurs vor allem Mikroplastik thema-
2.1.4 Meeresvermüllung                               tisiert wird, werden wir dies etwas genauer be-
Als Problematik ist auch die Meeresvermüllung        schreiben. Mikroplastik kann als primäres Mik-
zu benennen, da sie ein wichtiger Aufhänger          roplastik direkt bei der Produktion (8 %) oder
der EU-Richtline war. Vorteile der Kunststoffe       Nutzung (66 %) entstehen, sowie als sekundä-
wie Strapazierbarkeit und Haltbarkeit werden         res Mikroplastik durch Abbau von Makroplastik
an diesem Punkt gleichzeitig zu ihren Nachtei-       (26 %) (Bertling et al., 2018).
len, da sie nur über lange Zeiträume abbaubar
sind und sich im Meer ansammeln. Unter ande-         Als die drei Hauptquellen wurden in dieser Stu-
rem in den fünf großen ozeanischen Wirbeln           die in der genannten Reihenfolge Abriebe von
der Weltmeere sammeln sich stellenweise              Reifen, Freisetzungen bei der Abfallentsorgung
große Mengen von Plastikmüll. Dieser hat laut        und Abrieb von Bitumen im Asphalt identifi-
dem fünften globalen Biodiversitätsausblick          ziert. Die Verteilung von Mikroplastik erfolgt z.
des Sekretariats der UN-Biodiversitätskonven-        T. anthropogen und durch Flüsse und Meere.
tion (CBD) schwere Folgen für marine Ökosys-         Daneben geschieht dies auch über die Erdat-
teme und weitestgehend unklare Implikatio-           mosphäre, wobei Distanzen von bis zu 95 km
nen für andere Ökosysteme (Sekretariat der           nachgewiesen wurden und davon ausgegan-
UN-Biodiversitätskonvention, 2020).                  gen wird, dass Mikroplastik auch abgelegene
                                                     und kaum bewohnte Gebiete erreicht (Allen et
Ziel acht der 2010 verabschiedeten Aichi-Ziele       al, 2019).
der CBD-Vertragsstaaten für die Dekade der
Biodiversität von 2011 bis 2020 war die Reduk-       Für Naturschutzgebiete im Westen der USA
tion der Umweltverschmutzung auf ein für die         wurde geschätzt, dass durch Wind (75 %) und
Funktionsweise von Ökosystemen und die Bio-          Niederschläge (25 %) im Durchschnitt 132 Plas-
diversität nicht schädliches Ausmaß bis 2020.        tikpartikel pro Quadratmeter und Tag abgela-
Dieses Ziel wurde verfehlt, insbesondere, was        gert werden, was einer gesamten Jahresmenge
die Verminderung von Kunststoffabfällen an-          von über 1.000 t entspricht (Brahney et al.,
geht (Sekretariat der UN-Biodiversitätskonven-       2020). Auf marine Ökosysteme wirkt Mikro-
tion, 2020), wobei in diesem Bericht darauf ver-     plastik z. B. über die Schädigung von Zooplank-
wiesen wird, dass aktuelle Schätzungen davon         ton, was aktuell ein Stressor ist und bei Persis-
ausgehen, dass 10 Mt neuer Kunststoffmüll pro        tenz und Konzentrationsanstieg die Basis der
Jahr im Ozean landen. Dabei stelle verlorene Fi-     marinen Nahrungsmittelpyramide gefährden
schereiausrüstung eine besonders große Ge-           könnte (Lim, 2021). Es wird davon ausgegan-
fahr für die Biodiversität dar und habe bereits      gen, dass sich analog zu geochemischen Kreis-
knapp die Hälfte (46 %) der auf der roten Liste      läufen, wie dem Kohlenstoffkreislauf, ein Plas-
für bedrohte Arten der Weltnaturschutzorgani-        tikkreislauf entwickelt, wobei das atmosphäri-
sation (IUCN) stehenden Arten geschädigt.            sche Plastik vor allem als Erbschaft von sich
Hauptquelle von globalem marinem Müll sind           kontinuierlich weiter aufbauenden Plastikab-
Behälter für Essen zum Mitnehmen und Ge-             fällen aus früherer Produktion angesehen wird
tränke, gefolgt von Nebenwirkungen der               (Brahney et al., 2021).

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

2.1.6 Gesundheitliche Aspekte                        mikrobielle Pathogene wurden als wenig beun-
Da Plastikabfälle weit verbreitet sind und Mik-      ruhigend eingeschätzt und auch für Gefährdun-
roplastik mittlerweile nahezu ubiquitär in der       gen durch Nanopartikel gebe es aktuell keine
menschlichen Umwelt vorkommt, stellen sich           Hinweise. Betont wurde allerdings mehrfach
Fragen nach gesundheitlichen Folgen für              die limitierte Datenlage.
Mensch, Tier und Umwelt. Diese Fragen sind
nicht neu und aufgrund der bekannten Folgen          Insgesamt sieht die WHO kein Gesundheitsri-
gab es von wissenschaftlicher Seite bereits Auf-     siko durch Mikroplastik im Trinkwasser und
rufe, zumindest die giftigsten und schädlichs-       empfiehlt vor diesem Hintergrund auch kein
ten Kunststoffe zu verbieten und für die Ande-       Routine-Monitoring. Empfohlen wird allerdings
ren ein geschlossenes Kreislaufsystem aufzu-         eine weitere Verbesserung der Wasseraufbe-
bauen (Rochman et al., 2013).                        reitung und Partikelentfernung zur Vermei-
                                                     dung von mikrobiellen Besiedlungen, was als
Es gibt Hinweise auf In-vitro-Toxizität von          Nebeneffekt zu einer Reduktion von Mikroplas-
Kunststoffen. So fanden etwa Zimmermann et           tik in Trinkwasser führen würde. Dazu werden
al. (2019) in einem Vergleich von 27 nach Vor-       eine Reihe von zu füllenden Forschungslücken
testungen ausgewählten Stoffen heraus, dass          benannt, welche die Exposition von Mikroplas-
Extrakte von PVC und Polyurethan (PUR) die           tik entlang der gesamten Lieferkette für Was-
höchste Toxizität aufwiesen und Polyactide           ser, die Toxizität der Inhaltsstoffe und die Ge-
(PLA), eine Biokunststoffgruppe, auch hohe           samtexposition des Menschen auch über an-
Werte zeigten. Sie benennen Herausforderun-          dere Wege betreffen.
gen für die Risikoeinschätzung unbekannter
Mischungen und betonen aber, dass es bereits         Die Ergebnisse dieser Studie zeigen einerseits,
Kunststoffe mit weniger toxischen Wirkungen          dass es erfreulicherweise bisher keine Hin-
auf dem Markt gibt. Gleichwohl ist zu beach-         weise auf Gesundheitsschäden durch Mikro-
ten, dass In-vitro-Toxizität nicht dasselbe ist      plastik in Trinkwasser gibt, andererseits aber
wie In-vivo-Toxizität.                               auch eine sehr limitierte Datenlage. Es bleibt
                                                     daher die wissenschaftliche Mahnung, dass die
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat            Abwesenheit von Evidenz nicht Evidenz für die
sich 2019 in einem Bericht zu den Folgen von         Abwesenheit ist. Im konkreten Fall wird das
Mikroplastik in Trinkwasser zum ersten Mal mit       durch das gewählte Untersuchungsmedium
potenziellen Gesundheitsfolgen für den Men-          verstärkt, was die WHO selbst als Limitierung
schen durch Mikroplastik in der Umwelt be-           angibt. Aus medizinischer Sicht ist sehr gut
schäftigt (WHO, 2019), aus dem zentrale Ergeb-       nachvollziehbar, warum die WHO Trinkwasser
nisse hier kurz vorgestellt werden. Bzgl. der        analysiert hat. Allerdings ergab eine Studie aus
Trinkwasserbelastung wird auf eine Metastu-          demselben Jahr für die USA, dass zum einen die
die hingewiesen, die zu dem Ergebnis kam,            durchschnittlich durch Wasserkonsum aufge-
dass bisherige Studien momentan aufgrund             nommenen Kunststoffpartikel stark, je nach
der fehlenden Standardisierung von Proben-           Art des Wassers, divergieren und für Leitungs-
entnahme und -analyse, sowie methodischer            wasser auf 4.000 sowie Trinkwasser aus Fla-
Limitierungen schwer vergleichbar und Durch-         schen 90.000 Partikel geschätzt wurde (Cox et
schnittswerte von 0,001 bis 1000 Partikeln pro       al., 2019). Zum anderen erhöhte sich die durch-
Liter gefunden worden seien. Zur Einschätzung        schnittliche Partikelaufnahme von 39.000-
des Gesundheitsrisikos untersuchte die WHO           52.000 auf 74.000-113.000, wenn eine inhala-
Informationen zu Gesundheitsrisiken von und          tive Aufnahme berücksichtigt wird, wobei wir
Expositionen mit Kunststoffen für Menschen.          uns auf korrigierte Zahlen der Autor*Innen
Als Gesundheitsrisiken wurden die physischen         selbst beziehen (Cox et al., 2020).
Partikel selbst, darin enthaltende Chemikalien
(sog. Additive) und Mikroorganismen, die             Es erscheint vor diesem Hintergrund wahr-
Kunststoffpartikel besiedeln und einen Biofilm       scheinlich, dass die WHO die Exposition in ih-
bilden könnten, identifiziert. Chemikalien und       rem o. g. Report durch Auslassung anderer

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Aufnahmewege unterschätzt, wobei sie aber            2.2     Ethische Aspekte
konservative, also hohe, Expositionswerte für
die Wasserexposition verwendet hat. Dazu             Aufgrund der Problemlage stellen sich span-
kommt, dass es aktuell weitere Hinweise für          nende und wichtige ethische Fragen im Prob-
die Toxizität von Mikroplastik gibt. So fanden       lemfeld der Kunststoffnebenwirkungen. Bei-
sich im Tierversuch mit Mäusen nach Exposi-          spielsweise darüber, wie weit das Vorsorge-
tion mit Mikroplastik Nachweise für Verände-         prinzip reicht, wie mit externalisierten Kosten
rungen der Blutzusammensetzung, u. a. mit ei-        umgegangen wird, die die Umwelt und poten-
nem gleichzeitigen Anstieg der Immunglobu-           ziell den Menschen schädigen, woher die Bio-
line A und neutrophiler Granulozyten, einer Art      masse kommen soll, wenn vermehrt bioba-
von Abwehrzellen, sowie Veränderungen von            sierte Kunststoffe produziert werden (Flächen-
Reproduktion und Entwicklung der Embryonen           konflikt zur Nahrungsmittelherstellung und Bi-
mit weniger und kleineren Nachkommen (Park           okraftstoffen), oder wie Gesellschaften inter-
et al., 2020). Dazu wurden Plastikpartikel im        generationale Verantwortung sicherstellen
Menschen in verschiedenen Organen nachge-            und gewichten.
wiesen, wie u. a. der Plazenta von Frauen mit
physiologischer Schwangerschaft (Ragusa et           Unser heutiges Handeln als Menschen in einer
al., 2021).                                          aus Staaten bestehenden Weltgemeinschaft
                                                     hat potenziell massive Auswirkungen auf nach-
Auch die Blut-Hirn-Schranke von Säugetieren          folgende Generationen - sollte sich etwa Nano-
scheint für Mikroplastik durchgängig zu sein         plastik im menschlichen Körper akkumulieren
und dieses dahinter zu toxischen Reaktionen zu       und schwere Nebenwirkungen ab einer be-
führen (Prüst et al., 2020). In einer Studie zur     stimmten Schwelle hervorrufen, würden wir
Verwendung von Polyethylen-basierten Plas-           vor einem völlig neuartigen Gesundheitsprob-
tikflaschen für die Zubereitung von Säuglings-       lem stehen, bei dem wir, im Gegensatz z. B. zu
nahrung, wofür diese häufig verwendet wer-           der Bekämpfung einer Pandemie, keine Vorer-
den, wurde regionsabhängig eine Aufnahme             fahrungen haben sowie auch sehr wenig Wis-
von 14.600 bis 4.550.000 Kunststoffpartikeln         sen und Methoden. Gleichzeitig handelt es sich
pro Säugling am Tag nachgewiesen (Li, 2020).         dabei zwar um ein nachvollziehbares, aber
Im Falle von Nanopartikeln ergibt sich die Be-       auch schwer quantifizierbares Risiko, da die Ex-
sonderheit, dass aufgrund der Größe Nachweis         position nur eingeschränkt bekannt und die
und Monitoring sowie Einschätzung der Folgen         Gefährdung weitestgehend unbekannt und
kaum möglich sind (Lim, 2021).                       schwer evaluierbar ist. Dies macht die Folgen-
                                                     abschätzung schwieriger als z. B. bei den Folgen
Befunde wie diese sind auch zusammenge-              der Klima- oder Biodiversitätskrise.
nommen keineswegs Beweis für klinisch rele-
vante Schädigungen beim Menschen durch               Auch wenn wir die genannten und weitere
Mikro- und Nanoplastik, berechtigen aber auch        ethische Fragen für gesellschaftlich sehr wich-
angesichts großer Wissenslücken zur Einleitung       tig halten, ist dies nicht der Ort für eine Vertie-
von Vorsorgemaßnahmen, sowie weiterer Er-            fung dieses Diskurses, weshalb wir es hier beim
forschung und Monitoring. Des Weiteren wer-          Aufwerfen der Frage belassen wollen und für
den die Hinweise auf Toxizität auch politisch        einen guten Überblick über wichtige Teilas-
                                                     pekte auf einen Bericht des Umweltbundesam-
zunehmend ernst genommen, z. B. hat Kanada
                                                     tes verweisen (UBA, 2019), der in Deutschland
einige Kunststoffe als toxisch klassifiziert
                                                     drei vorherrschende Diskursstränge ("affirma-
(Walker, 2021).                                      tiv", "pragmatisch" und "kritisch") zur Bioöko-
                                                     nomie identifiziert und eine ethische Analyse u.
                                                     a. zu Suffizienz, Gerechtigkeit und Macht an-
                                                     schließt.

 https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010                                                        153
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

2.3     Ökonomische Aspekte                          3. Vorstellung der Richtlinie
Die weltweite Biokunststoffproduktion wird für       (EU) 2019/904
2020 auf 2,11 Mt geschätzt (European Bioplas-        Im Folgenden wird nun zunächst die "Richtli-
tics, 2021), was im jahresübergreifenden Ver-
                                                     nie (EU) 2019/904 des Europäischen Parla-
hältnis zur globalen Kunststoffproduktion von
                                                     ments und des Rates vom 5. Juni 2019 über die
2019 mit 368 Mt (Tiseo, 2021a) einem Anteil
                                                     Verringerung der Auswirkungen bestimmter
von knapp 0,006 % ergeben würde. Ein wichti-
                                                     Kunststoffprodukte auf die Umwelt", kurz Ein-
ger Grund für dieses Ungleichgewicht scheinen
                                                     wegkunststoffrichtlinie, als Policy der Europäi-
aus ökonomischer Sicht, neben einem deutli-
                                                     schen Union in Auszügen dargestellt, gefolgt
chen historischen Rückstand der Biokunststoff-
                                                     von einer Beschreibung der Umsetzung in nati-
industrie im Aufbau effizienter, großskaliger        onales Recht in Deutschland.
Produktion, die hohen Kosten im Vergleich zu
klassischen Kunststoffen zu sein (Waldrop,
2021). Beim Ersatz konventioneller Kunststoffe       3.1 Begründung für die Erstellung
durch Polyhydroxyalkanoate wird beispiels-           der Einwegkunststoffrichtlinie
weise davon ausgegangen, dass dies zu einer
Verdrei- bis Vervierfachung der Kosten führen        Die Richtlinie (EU) 2019/904 über die Verringe-
würde (Laird, 2019).                                 rung der Auswirkungen bestimmter Kunststoff-
                                                     produkte auf die Umwelt entspricht der Euro-
Aufgrund der Vielfalt der Biokunststoffe lohnt       päischen Strategie für Kunststoffe (Europäi-
sich hier im Einzelfall sicher eine detailgenau-     sche Kommission, 2018) zur Erreichung des Zie-
ere Analyse, allerdings erkennt auch die Bio-        les 12 "nachhaltige Konsum- und Produktions-
kunststoffindustrie selbst die erhöhten Kosten       muster" der in der Agenda 2030 definierten
als allgemeines Problem an (European Bioplas-        SDGs (sustainable development goals). Sie soll
tics, 2016). Als Grund benennt sie niedrige Öl-      den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft die-
preise, hohe Kosten für Forschung und Ent-           ser Güter durch verschiedene Maßnahmen för-
wicklung und verweist auf zuletzt sinkende           dern. Erforderlich wurde dies einerseits durch
Kosten. Ein weiterer, aus unserer Sicht wesent-      einen steigenden Konsum von Einwegkunst-
licher, Grund ist die Externalisierung von Folge-    stoffartikeln, wobei es sich per Definition um
kosten der klassischen Kunststoffproduktion.         nicht-wiederverwendbare und nicht kostenef-
Hierbei ist zu beachten, dass auch die Analyse       fizient recycelbare Produkte handelt. Sowie an-
der Nachhaltigkeit von Biokunststoffen kom-          dererseits durch den vermehrten Gebrauch
plex ist und bzgl. deren Lebensdauer sehr un-        von marinen Fanggeräten, welche konventio-
terschiedliche Bereiche, von der Biomassepro-        nelle und mitunter oxo-abbaubare Kunststoffe
duktion bis zur Abfallwirtschaft, inkludiert wer-    (welche beim Zerfall u. a. Mikroplastik erzeu-
den müssen.                                          gen können) enthalten. Damit einher geht ein
                                                     Eintrag in die Umwelt, im Weiteren als Vermül-
Die in diesem Kapitel dargestellten Prob-            lung bezeichnet. Dieser erfolgt insbesondere in
lemstrukturen können als Belege für dringen-         die gebietsüberschreitende Umweltressource
den Handlungsbedarf und gleichzeitig die hohe        Wasser. Verstärkt wurde dies jedoch auch
Komplexität der Kunststoffpolitik angesehen          durch den bereits erwähnten Wechsel der chi-
werden und sollen als Verständnisgrundlage           nesischen Importstrategie, wodurch die Option
für die nun folgende weitere Analyse dienen.         der Müllverbringung stark eingeschränkt
                                                     wurde. Die aus all diesen Faktoren resultieren-
                                                     den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Fol-
                                                     gen machen die Schaffung eines kreislauforien-
                                                     tierten Lebenszyklus für bis dato ineffiziente
                                                     und lineare Produktions- und Verbrauchsge-
                                                     wohnheiten von Kunststoffen nötig.

 https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010                                                     154
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Übersicht Policies

I      Richtlinie   (EU)    2019/904     des     VI     Gesetz      zur      Förderung      der
       Europäischen Parlaments und des                  Kreislaufwirtschaft und Sicherung der
       Rates vom 5. Juni 2019 über die                  umweltverträglichen Bewirtschaftung
       Verringerung    der      Auswirkungen            von                             Abfällen
       bestimmter Kunststoffprodukte auf die            (Kreislaufwirtschaftsgesetz - KrWG)
       Umwelt,                          kurz:
       "Einwegkunststoffrichtlinie"              VII    Gesetz über das Inverkehrbringen, die
                                                        Rücknahme und die hochwertige
II     Richtlinie       2018/851EG       des            Verwertung     von     Verpackungen
       europäischen Parlaments und des                  (Verpackungsgesetz - VerpackG)
       Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung
       der Richtlinie 2008/98/EG über Abfälle    VIII   Verordnung über das Verbot des
       und zur Aufhebung bestimmter                     Inverkehrbringens von bestimmten
       Richtlinien,                     kurz:           Einwegkunststoffprodukten und von
       "Abfallrahmenrichtlinie"                         Produkten     aus    oxoabbaubarem
                                                        Kunststoff
III    Durchführungsverordnung            (EU)          (Einwegkunststoffverbotsverordnung -
       2020/2151 der Kommission vom 17.                 EWKVerbotsV)
       Dezember 2020 zur Festlegung
       harmonisierter                            IX     Verordnung über die Beschaffenheit
       Kennzeichnungsvorschriften für in Teil           und Kennzeichnung von bestimmten
       D des Anhangs der Richtlinie (EU)                Einwegkunststoffprodukten
       2019/904       des        Europäischen           (Einwegkunststoffkennzeichnungsvero
       Parlaments und des Rates über die                rdnung - EWKKennzV)
       Verringerung    der      Auswirkungen
       bestimmter Kunststoffprodukte auf die     X      Verordnung über die Verwertung von
       Umwelt                     aufgeführte           Bioabfällen auf landwirtschaftlich,
       Einwegkunststoffartikel,          kurz:          forstwirtschaftlich und gärtnerisch
       "Kennzeichnungsverordnung"                       genutzten Böden (Bioabfallverordnung
                                                        - BioAbfV)
IV     Richtlinie     (EU)  2018/852   des
       Europäischen Parlaments und des           XI     DIN/EN     13432    „Verpackung   –
       Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung              Anforderungen an die Verwertung von
       der     Richtlinie  94/62/EG   über              Verpackungen durch Kompostierung
       Verpackungen                    und              und biologischen Abbau –Prüfschema
       Verpackungsabfälle,            kurz:             und Bewertungskriterien für die
       "Verpackungsrichtlinie"                          Einstufung von Verpackungen“

V      Richtlinie      2009/125/EG         des   XII    DIN/EN 14995 „Kunststoffe –
       Europäischen Parlaments und des                  Bewertung der Kompostierbarkeit“
       Rates vom 21. Oktober 2009 zur
       Schaffung eines Rahmens für die           XIII   Gesetz über den Handel mit
       Festlegung von Anforderungen an die              Berechtigungen zur Emission von
       umweltgerechte             Gestaltung            Treibhausgasen (Treibhausgas-
       energieverbrauchsrelevanter                      Emissionshandelsgesetz - TEHG)
       Produkte, kurz: "Ökodesignrichtlinie"

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

3.2 Zusammenfassung der konkre-                          Hersteller*Innen. Dies gilt für verschiedene Le-
                                                         bensmittelverpackungen,        leichte    Kunst-
ten Maßnahmen der Einwegkunststoff-
                                                         stofftragetaschen, Feuchttücher, Luftballons
richtlinie                                               und Tabakfilter, sowie insbesondere für marine
                                                         Fanggeräte, die Kunststoff enthalten. Die Maß-
Das erklärte Ziel der Richtlinie ist es, "[...], dafür   nahmen zur Gewährleistung einer getrennten
Sorge zu tragen, dass alle Kunststoffverpackun-          Sammlung (Artikel 9) von bis zu 90 Gewichts-
gen bis 2030 wiederverwendbar oder leicht zu             prozent der Abfälle aus Einwegkunststoffarti-
recyceln sind." (Richtlinie (EU) 2019/904 Abs.           keln zum Zwecke des Recyclings (zu realisieren
6). Erreicht werden soll dies in erster Linie            bis 2029) hingegen werden durch den jeweili-
durch eine generelle Verbrauchsminderung                 gen Mitgliedsstaat festgelegt. Angeraten wer-
von Einwegkunststoffartikeln (Artikel 4). Dies           den hierbei Pfandsysteme und Zieldefinitionen
entspricht der Abfallvermeidung laut Abfallpo-           bzgl. der "erweiterten Herstellerverantwor-
litik der EU (II). Die Wahl der dafür notwendi-          tung".
gen Maßnahmen obliegt dem jeweiligen Mit-
gliedsstaat und kann somit ein Angebot von Al-           Auch die in der Richtlinie (EU) 2019/904 (I) ver-
ternativen, die Erhebung von Gebühren oder               abschiedeten       Sensibilisierungsmaßnahmen
auch Vermarktungsbeschränkungen umfassen.                (Artikel 10) obliegen in ihrer Ausgestaltung den
Diese Strategie unterstützen Beschränkungen              Mitgliedsstaaten. Hierbei sollen "Verbraucher"
des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-ab-           über wiederverwendbare Alternativen, die
baubarem Kunststoff und gewissen Einweg-                 sachgemäße Entsorgung von Einwegkunststof-
kunststoffartikeln (Artikel 5). Dazu zählen Wat-         fartikeln und Fanggeräten, sowie die Auswir-
testäbchen, Besteck, Teller, Trinkhalme, Rühr-           kungen der Vermüllung informiert werden.
stäbchen, Luftballonstäbe, sowie Lebensmittel-           Gleichzeitig sollen Anreize zu verantwortungs-
verpackungen, Getränkebehälter und -becher               vollem Verhalten geschaffen werden.
aus expandiertem Polystyrol.
                                                         3.3 Umsetzung der Einwegkunst-
Es wurden Produktanforderungen für die Her-
steller*Innen definiert (Artikel 6), nach denen          stoffrichtlinie in nationales Recht
Verschlüsse und Deckel an Flaschen aus Ein-
wegkunststoff befestigt sein müssen. PET-Ge-             Die Bioökonomie ist in Deutschland zu einem
tränkeflaschen sollen wiederum ab 2025 aus               Schwerpunktthema geworden. Als zentrale
mindestens 25 % und ab 2030 aus mindestens               Strategien gelten hierbei die Nationale For-
30 % recyceltem Kunststoff bestehen. Des Wei-            schungsstrategie BioÖkonomie 2030 und die
teren gelten ab dem 03.07.2021 Kennzeich-                Nationale Politikstrategie Bioökonomie (UBA,
nungsvorschriften für Damenhygieneartikel,               2019).
Feuchttücher, Tabakfilter und Getränkebecher
(Artikel 7), welche durch die Durchführungs-             Auf Grundlage der Kunststoffstrategie der EU
verordnung (EU) 2020/2151 (III) vor kurzem               (Europäische Kommission, 2018) wurden, ne-
harmonisiert wurden. Hierdurch werden Ver-               ben der Einwegkunststoffrichtlinie (I), weitere
braucherInnen über angemessene Entsor-                   Richtlinien angepasst. Darunter fallen u. a. die
gungsmethoden und das Vorhandensein von                  Abfallrahmen- (II), Verpackungs- (IV) und Öko-
Kunststoff aufgeklärt.                                   designrichtlinie (V). Auf nationaler Ebene aus-
                                                         formulierte Gesetze finden sich u. a. in dem
Die "erweiterte Herstellerverantwortung" (Ar-            Kreislaufwirtschafts- (KrWG) (VI) und Verpa-
tikel 8) (ergänzt die §§ 8 & 8 a) der Abfallrah-         ckungsgesetz (VerpackG) (VII), sowie v. a. in der
menrichtlinie (II) um die Kostenübernahme von            Einwegkunststoffverbots-        (EWKVerbotsV)
Sensibilisierungsmaßnahmen, von der Samm-                (VIII), Einwegkunsstoffkennzeichnungs- (EWK-
lung, Beförderung und Behandlung des Pro-                KennzV) (IX) und Bioabfallverordnung (Bio-
duktabfalls und von damit im Zusammenhang                AbfV) (X).
stehenden Reinigungsaktionen durch die

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Das KrWG (VI) entspricht fast vollständig einer      muss eine Strategie ermittelt werden, durch
Eins-zu-eins-Umsetzung der internationalen           die jegliche negative Auswirkungen, welche
Abfallrahmenrichtlinie (II) in deutsches Recht.      durch Kunststoffe entstehen, reduziert bzw.
Zudem greift es einzelne Regelungen der Ein-         beendet werden können. Die Stärkung der Bio-
wegkunststoffrichtlinie (I) mit auf (BMUV,           kunststoffindustrie wird als ein Baustein dieser
2020a). Der "Zweck des Gesetzes ist es, die          Strategie angesehen.
Kreislaufwirtschaft zur Schonung der natürli-
chen Ressourcen zu fördern und den Schutz            Im Folgenden wollen wir einige, aus unserer
von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung              Sicht kritische, Formulierungen insbesondere
und Bewirtschaftung von Abfällen sicherzustel-       der Einwegkunststoffrichtlinie (I) erläutern und
len." (§ 1 Abs. 1 KrWG). Um dieses Ziel mög-         wir verweisen im Weiteren auf Diskrepanzen,
lichst umfassend erreichen zu können, wurde          die sich bezüglich der Entsorgung von Biokunst-
das KrWG auf Grundlage der novellierten Ab-          stoffen, aufgrund unklarer Definitionen, erge-
fallrahmenrichtlinie überarbeitet, sodass nun        ben.
die Kreislaufwirtschaft insbesondere durch
Vermeidung und Recycling von Abfällen geför-         4.1 Kritische Formulierungen der
dert werden soll. Zentral hierbei ist die in § 6
                                                     EU-Kunststoffstrategie
aufgeführte fünfstufige Abfallhierarchie: Ver-
meidung, Vorbereitung zur Wiederverwen-
dung, Recycling, sonstige Verwertung (v. a.          Aktuell enthält insbesondere die Einwegkunst-
energetische Verwertung und Verfüllung) und          stoffrichtlinie (I) viele Prüfaufträge und kaum
Beseitigung (BMUV, 2020b).                           verbindliche Maßnahmen der Kommission
                                                     (UBA, 2018b). Demnach obliegt es dem jeweili-
Das VerpackG (VII) setzt die Verpackungsricht-       gen Mitgliedsstaat, ob eine generelle Ver-
linie (IV) in nationales Recht um und ergänzt        brauchsminderung (Artikel 4) durch z. B. ein
diese um die für Verpackungen geltenden Re-          Angebot von Alternativen, die Erhebung von
gelungen der Einwegkunststoffrichtlinie (I).         Gebühren oder auch Vermarktungsbeschrän-
Durch dieses Gesetz wird das Verhalten der           kungen erzielt wird. Die Sicherstellung einer
Hersteller*Innen reguliert, um die negativen         getrennten Sammlung (Artikel 9) soll möglichst
Auswirkungen von Verpackungsabfällen durch           (dies ist jedoch kein Muss) durch die Etablie-
die ersten drei Stufen der Abfallhierarchie zu       rung von Pfandsystemen und Zieldefinitionen
verringern. Demnach soll einerseits vorrangig        bzgl. der "erweiterten Herstellerverantwor-
Abfall vermieden und andererseits zur Wieder-        tung" erreicht werden. Somit ist auch die "er-
verwertung vorbereitet oder recycelt werden          weiterte Herstellerverantwortung" (Artikel 8)
(UBA, 2021).                                         gegenüber den Produzierenden durch den Mit-
                                                     gliedsstaat anpassbar. Die in Artikel 10 thema-
Die EWKVerbotsV (VIII) überführt Artikel 5 und       tisierten Sensibilisierungsmaßnahmen oblie-
die EWKKennzV (IX) Artikel 7 der Einwegkunst-        gen in vollem Umfang der jeweiligen Nation.
stoffrichtlinie (I), auf Basis des KrWG (VI) und     Diese soll selbstständig entscheiden, in welcher
des VerpackG (VII), in nationales Recht. Die Bi-     Form und in welchem Ausmaß "Verbraucher"
oAbfV (X) hingegen reguliert die Verwertung          über Alternativen, Entsorgung und negative
von Bioabfallkomposten und Gärrückständen            Auswirkungen informiert und Anreize für ange-
(BMUV, 2021).                                        messenes Verhalten geschaffen werden sollen.

                                                     Des Weiteren finden sich innerhalb der Kunst-
4. Auswahl von Kritikpunkten                         stoffstrategie viele unklare Definitionen, die ei-
an der Kunststoffpolitik                             nen Ermessensspielraum geben, welcher so
                                                     weit gefasst ist, dass er dem Ziel einer nachhal-
                                                     tigen Bioökonomie im Wege steht. So ist bei-
Kunststoffe sind, laut Aktionsplan der EU (Eu-
                                                     spielsweise laut Artikel 4 der Einwegkunststoff-
ropäische Kommission, 2018), für die Kreislauf-      richtlinie (I) bzgl. der Verbrauchsminderung
wirtschaft von zentraler Bedeutung. Demnach          von      einer     "messbaren       quantitativen

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Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner

Verminderung des Verbrauchs" bis 2026 (Refe-          mehrfach zum gleichen Zweck wiederverwen-
renzjahr: 2022) die Rede. Dies entspricht durch       det zu werden und deren tatsächliche Rück-
seine Formulierung jedoch keiner verbindli-           gabe und Wiederverwendung durch eine aus-
chen Zielvorgabe. Auch wird nicht klar formu-         reichende Logistik ermöglicht sowie durch ge-
liert, dass es sich bei der Umsetzung einer           eignete Anreizsysteme, in der Regel durch ein
Kreislaufwirtschaft und einer Reduktion von           Pfand, gefördert wird." (§ 3 Abs. 3 VerpackG).
Kunststoffemissionen um zwei grundsätzlich
unterschiedliche Ziele der Kunststoffstrategie        In der EWKVerbotsV wird dagegen eine nega-
handelt, welche nicht in gleichem Umfang              tive Definition von Einweg als "ein ganz oder
durch jegliche Maßnahme Beachtung erfahren            teilweise aus Kunststoff bestehendes Produkt,
(Bertling et al., 2018). Zudem sind natürliche        das nicht konzipiert, entwickelt und in Verkehr
Polymere, die chemisch nicht modifiziert wur-         gebracht wird, um während seiner Lebens-
den (Artikel 3 Satz 1 Richtlinie (EU) 2019/904),      dauer mehrere Produktkreisläufe zu durchlau-
von der Einwegkunststoffrichtlinie ausgenom-          fen, indem es zur Wiederbefüllung an einen
men. Dazu zählen jedoch auch PHA, PLA,                Hersteller oder Vertreiber zurückgegeben wird
Lyocell und Viskose. Diese Stoffe unterschei-         oder zu demselben Zweck wiederverwendet
den sich in ihren Eigenschaften kaum von kon-         wird, zu dem es hergestellt worden ist." (§ 2
ventionellen Kunststoffen (bauen sich schlecht        Abs. 1 EWKVerbotsV), festgeschrieben.
bis gar nicht ab) und können als Schlupfloch ge-
nutzt werden, um die Vermeidung von Müll zu           Eine Definition von Mehrweg fehlt, macht eine
unterbinden. Deshalb plädiert die DUH (2020)          Abgrenzung zum Einweg schwierig und fördert
dafür, dass es auch keine Ausnahmen für Ein-          die missbräuchliche Deklarierung von soge-
wegprodukte aus Biokunststoff geben darf.             nannten "Pseudo-Mehrweg"-Verpackungen.
                                                      Dies wird, laut DUH (2020), zunehmend zum
Die EWKVerbotsV (VIII) setzt den zentralen Ar-        Problem, denn hierbei werden Produkte als
tikel 5 der Einwegkunststoffrichtlinie (I) in nati-   Mehrwegartikel ausgezeichnet, die zwar eine
onales Recht um. Hierbei werden jedoch die            bessere Qualität als vergleichbare Einwegarti-
europäischen Mindestanforderungen "eins zu            kel aufweisen, jedoch minderwertig gegenüber
eins" übernommen. Die geforderte Mehrweg-             herkömmlichen Mehrwegartikeln sind. Diese
förderung wird nicht durch verbindliche Ziele         Artikel sind pfandfrei, werden von Verbrau-
und Maßnahmen definiert, wodurch ein wei-             cher*Innen zumeist nach einer Nutzung ent-
testgehendes Ausbleiben der Lenkungswirkung           sorgt und weisen bei ihrer Herstellung einen
in Richtung Wiederverwendung zu erwarten              höheren Ressourcenverbrauch als vergleich-
ist. Die Gleichstellung von Mehrwegprodukten          bare Einwegartikel auf. Somit kann die Einweg-
und Ersatzmaterialien widerspricht der Abfall-        kunststoffrichtlinie (I) von Hersteller*Innen ge-
hierarchie der Abfallrahmenrichtlinie (II) bzw.       zielt umgangen und die Vermüllung fortgesetzt
des KrWG VI), denn eine klare Priorisierung von       werden (NABU, 2015; DUH, 2020).
Mehrwegartikeln ist zentraler Baustein zum Er-
reichen einer Abfallvermeidung. Stattdessen           4.2 "Bioplastik" - Braune, Gelbe oder
werden Einwegartikel zunehmend aus anderen
Materialien gefertigt (wie z. B. Papier), sodass
                                                      Schwarze Tonne?
sich die Vermüllungsproblematik nur verlagert
und die Ökobilanz des Herstellungsprozesses           Die Europäische Kommission (2018) plädiert in
mitunter sogar verschlechtert (NABU, 2015;            ihrer Kunststoffstrategie dafür, dass durch
DUH, 2020).                                           begleitende     Policies   zunehmend       die
                                                      Entwicklung von nachhaltigen Materialien
Die Definition von "Mehrweg" laut § 3 Absatz 3        gefördert wird, sodass durch die Vermeidung
VerpackG (VII) steht in Konflikt zur Definition       von Abfällen die Wettbewerbs- und
der EWKVerbotsV (VIII). Laut VerpackG sind            Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gesteigert
"Mehrwegverpackungen [...] Verpackungen,              wird.    Dieser      Übergang     zu     einer
die dazu bestimmt sind, nach dem Gebrauch             nachhaltigkeitsorientierten Bioökonomie fußt
                                                      insbesondere     auf     den    Kernbegriffen:

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