Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie?
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Online-Lehre Bioökonomie: Lehrveranstaltungen 2019-2021 | Beer Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? Abstract Auf Basis von Erkenntnissen zum Fallbeispiel "Biokunststoffe", das wir auf Grundlage des Ansat- zes eigendynamischer politischer Prozesse (AEP) in einem Bioökonomie-Seminar analysiert ha- ben, stellt sich für uns die Frage, ob Biokunststoffe einen Beitrag zu einer nachhaltigen Bioöko- nomie leisten können. Um dies zu beantworten, untersuchen wir, inwieweit sie dazu in der Lage sind, die zunehmenden globalen und komplexen Nebenwirkungen von konventionellen Kunst- stoffen über ihren Lebenszyklus einzudämmen und ob sie auf Grundlage der aktuellen gesetzli- chen Rahmenbedingungen dazu befähigt sind, Ökonomie und Ökologie in diesem Punkt in Ein- klang zu bringen. Diese Fragen analysieren wir mit Fokussierung auf die Policy der Einwegkunst- stoffrichtlinie (EU-Richtlinie 2019/904) und der deutschen Bundesgesetzgebung. Als Bezugs- punkte dienen uns relevante Aspekte der Kunststoffe mit Fokussierung auf Ökologie, Ökonomie und Ethik. Dabei werden komplexe Probleme deutlich, die wir ausführlicher benennen und für die wir Lösungsansätze aufzeigen. Im Ergebnis kann die Frage nach der Möglichkeit von Biokunst- stoffen, Bestandteil einer nachhaltigen Bioökonomie zu werden, aktuell nicht ausreichend sicher beantwortet und somit legitim in Frage gestellt werden. Schlagworte: Bioökonomie, Biokunststoffe, AEP, EU-Plastikstrategie, Einwegkunststoffrichtlinie Based on findings concerning the case of bioplastics, which we analyzed on the foundation of the political process inherent dynamics approach (PIDA) in seminar on bioeconomy, we ask ourselves the question, if bioplastics can provide a contribution to a sustainable bioeconomy. To answer this question we examine to what extend they are capable of confining the increasing global and complex side-effects of conventional plastics through their lifetime and if they can reconcile econ- omy and ecology grounded on current legal foundations. These questions are analyzed focusing on the Single-use plastics directive (EU-directive 2019/904) and German national legislation as policies. We use relevant aspects of plastics as reference points zooming in on ecology, economy and ethics. In this process complex problems become apparent, which we specify in more detail and then identify approaches towards a solution. As a result the question if it is possible for bio- plastics to become a component of a sustainable bioeconomy can not be answered at this point with sufficient certainty and legitimately questioned. Keywords: bioeconomy, bioplastics, PIDA, EU plastic strategy, Single-use plastics directive Debbie Wenzel ist Biologin, Umweltmanagerin und infernum-Studierende an der FernUniversität in Hagen. Kontakt: debbie.schindler@uni-duesseldorf.de Dr. Tilo Meißner ist Humanmediziner, Umweltmanager und infernum-Studierender an der FernUniversität in Hagen. Kontakt: dr.meissner@posteo.de https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 143
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Einleitung Im Rahmen des von Januar bis März 2021 stattgefundenen Onlineseminars "Bioöko- nomie" des Interdisziplinären Fernstudiums Umweltwissenschaften der FernUniversität Hagen (kurz: infernum), beschäftigten wir uns, nach einer Einführung in das Arbeits- feld der Bioökonomie, in einer Gruppenar- beit mit dem Fall "Biokunststoffe". Dies be- Abb. 1: Erklärungsfaktoren politischer Prozesse. (Quelle: Böcher & Töller, 2012.) inhaltete die Analyse der politischen Pro- zesse (Politics), welche zur "Richtli- Nach einer einleitenden Übersichtsanalyse nie (EU) 2019/904 des Europäischen Parla- aller fünf AEP-Erklärungsfaktoren (siehe ments und des Rates vom 5. Juni 2019 über Abb. 1 und Exkurs "AEP"), folgte im Seminar die Verringerung der Auswirkungen be- eine vertiefende Analyse des Faktors "Ak- stimmter Kunststoffprodukte auf die Um- teure und ihre Handlungen". Uns wurde welt", der sogenannten Einwegkunststoff- deutlich, dass ein breites Spektrum an Ak- richtlinie, geführt haben. teur*Innen diesem Fallbeispiel zuzuordnen ist und ihr Handeln größtenteils zweckratio- Als Analyserahmen diente uns hierbei der nal ausgelegt ist. Demnach unterliegt v. a. Ansatz eigendynamischer politischer Pro- das Handeln der politischen und wirtschaft- zesse (AEP) (Böcher & Töller, 2012), der ur- lichen Akteur*Innen einem rationalen Nut- sprünglich für heuristische umweltpoliti- zenkalkül, wobei insbesondere der Erwerb sche Analysen entwickelt wurde. Dieser ver- und Erhalt von Macht ein zentrales Steue- wendet ein Verständnis von politischen Pro- rungselement ist. Es war uns jedoch nicht zessen als eigendynamisch. Hiernach sind möglich, diesen Faktor vollständig isoliert zu diese weder rein auf Problemlösung noch betrachten. Vielmehr zeigte sich, dass im Besonderen "Institutionen" und "politische rein auf Interessenaggregation ausgerich- Instrumente" großen Einfluss auf die "Ak- tet, sondern unterliegen auch Ideologien, teure und ihre Handlungen" ausüben und Eigendynamiken und insbesondere Zufäl- die fallspezifischen "Problemstruktu- len. Er fokussiert dabei fünf definierte Erklä- ren" durch ihre Komplexität und unklare rungsfaktoren, die für den Verlauf und das Definition (Dissens Problemdefinition) in Ergebnis von politischen Prozessen als po- vielen Bereichen zu gleichermaßen unkla- tenziell wesentlich angenommen werden. ren Lösungen (Dissens Lösungsoptionen) Diese sind "Akteure und ihre Handlungen", führen. "Situative Aspekte" wiederum kön- "Institutionen", "Problemstrukturen", "Al- nen bei der Ausarbeitung der Richtlinie als ternativen" (bzgl. politischer Instrumente) Impulse, wie das durch Medien entfachte und "situative Aspekte". Interesse an Mikroplastik und die Probleme der historisch zuvor thematisierten Biok- raftstoffpolitik, verstanden werden. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 144
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Durch die thematische Beschäftigung in Exkurs "AEP": dem Seminar, stellten sich uns im Anschluss weiterführende Fragen: In welchen Berei- "Akteure", als zentraler Faktor des AEP, chen sind Biokunststoffe den konventionel- können entweder auf Basis von Zweckra- len Kunststoffen tatsächlich überlegen? tionalität, orientiert an kurzfristigen Inte- Können sie unter diesen Umständen als Teil ressen, oder auch wertrational, mit Bezug zu einer nachhaltigen Bioökonomiestrategie Werten, Normen und Wahrnehmungen, angesehen werden? Und erfüllt die Richtli- handeln. "Institutionen" werden als Regel- nie (EU) 2019/904 grundsätzlich ihren und Anreizakkumulationen verstanden, die von Akteur*Innen durch Strategien und Zweck, oder ist sie zusammen mit den ge- Handlungen nutzenmaximierend genutzt setzlichen Rahmenbedingungen in Deutsch- werden. Hierbei können auch Normen und land vielleicht einer solchen Bioökonomie Werte sowie soziale Akzeptanz eine wichtige abträglich? Rolle spielen. "Problemstrukturen" stellen die Probleme des entsprechenden Politikfeldes Deshalb greifen wir im Folgenden diese Un- oder Regelungsbereiches dar und klarheiten auf. Hierzu führen wir zunächst in untersuchen, wie sich diese auf den Kapitel eins in die Begrifflichkeiten und den politischen Prozess auswirken. "Alternativen" beschreiben unterschiedlichste politische Kontext von konventionellen Kunststoffen Instrumente, z. B. entlang des Eingriffs- und Biokunststoffen ein, bevor im zweiten ausmaßes von Freiwilligkeit bis Zwang, Kapitel deren Problemstrukturen von uns beispielsweise durch Ge- und Verbote, ausführlicher dargestellt werden. Hierbei finanzielle Anreize und freiwillige fokussieren wir uns insbesondere auf ökolo- Vereinbarungen. Es wird dabei betont, dass diese Instrumente nicht neutral sind, sondern gische Aspekte der Produktion, der Entsor- ihre Verwendung durch politische und gung, der Komplexität, der Meeresvermül- ideologische Eigenschaften, sowie durch die lung und des Plastikzerfalls. Im Anschluss sie verwendenden Institutionen, beeinflusst betrachten wir gesundheitliche, ethische werden. "Situative Aspekte" sind nicht und ökonomische Aspekte. Vertiefend dazu planbare Ereignisse, die keinen direkten inhaltlichen Bezug zu dem Problem haben, führen wir in Kapitel drei in die EU-Richtlinie die Rahmenbedingungen von politischen 2019/904 ein und stellen einen Bezug zur Prozessen jedoch indirekt beeinflussen (z. B. nationalen Rechtslage her. Im Anschluss er- der Atomausstieg Deutschlands aufgrund der läutern wir in Kapitel vier Kritikpunkte der Reaktorkatastrophe in Fukushima) (Beer et europäischen und deutschen Kunststoffpo- al., 2018). litik und den sich daraus für unser Verständ- nis ergebenden Lösungsansätzen in Kapitel fünf. Wir beenden den Beitrag mit einem zusammenfassenden Fazit in Kapitel sechs. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 145
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Abb. 2: Globale Verwertung von Plastik bis 2015 in Prozent. (Eigene Darstellung; Daten aus Geyer et al., 2017.) 1. Konventionelle Kunst- Typische Kunststoffe (mit Beispiel) sind Po- lyethylenterephthalat (PET) (Getränkefla- stoffe und Biokunststoffe schen), Polypropylen (Verpackungen), Po- lyvinylchlorid (PVC) (Rohre) und Polystyrol In diesem Abschnitt wird zunächst kurz vor- (Kunststoffbesteck). gestellt, was Kunststoffe sind und ein Ein- blick in die globale Produktion gegeben, be- 1.2 Produktion vor dann auf den Begriff der Biokunststoffe Die globale Produktionsmenge wird für und der unter diesen Begriff subsumierten 2019 auf 368 Megatonnen (Mt) geschätzt, Materialien genauer eingegangen wird. wovon Europa allein etwa 57,9 Mt produ- Dies bildet eine essenzielle inhaltliche und ziert (Tiseo, 2021a). Eine erste Schätzung terminologische Grundlage für die im weite- der anthropogenen Gesamtproduktion ren Artikel folgende Analyse. ergab 8.300 Mt, wobei bis 2015 eine Pro- duktionsmenge von 6.300 Mt Plastikmüll 1.1 Begriffsdefinition angenommen wurde (Geyer et al., 2017). Kunststoffe, umgangssprachlich oft als Plas- Dabei seien 9 % davon recycelt, 12 % ver- tik bezeichnet, sind polymere Materialien, brannt und 79 % in Deponien oder der Um- die meist durch Hitze oder Druck geformt welt akkumuliert worden. Als wichtigste bzw. gegossen werden können und deren produzierenden Industriebereiche wurde Plastizität im Zusammenspiel mit anderen in dabei die Verpackungsindustrie (2015: 146 der Regel vorliegenden Eigenschaften wie Mt), gefolgt von der Bau- und Textilindust- geringer Dichte, geringer elektrischer Leitfä- rie (2015: 65 und 59 Mt respektive) identifi- higkeit, Durchsichtigkeit und Robustheit die ziert. Hauptausgangsstoff für die Kunst- Herstellung einer großen Produktvielfalt er- stoffproduktion war 2019 mit einem Anteil laubt (Rodriguez, 2021). von etwa 85 % Erdöl (Tiseo, 2021b). Dane- ben werden auch aktuell noch vor allem Gas und Kohle als Ressourcen genutzt. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 146
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Der Kunststoffindustrie wird allgemein eine sehr große Bedeutung für die globale Öko- nomie beigemessen. Beispielsweise be- schrieb das Weltwirtschaftsforum Kunst- stoffe aufgrund der Kombination aus "kon- kurrenzlosen Eigenschaften und niedrigen Kosten" als das "Arbeitspferd-Material der modernen Ökonomie" (World Economic Fo- rum, 2016; eigene Übersetzung). 1.3 Biokunststoffe Neben den konventionellen Kunststoffen gibt es einen kleinen Anteil an sehr hetero- Abb. 3: Einordnung von Kunststoffen anhand ihrer genen Kunststoffen, die unter dem unpräzi- Eigenschaften. (Eigene Darstellung nach Endres und Siebert-Raths, 2009.) sen definierten Begriff "Biokunststoffe" zu- sammengefasst werden (UBA, 2018a). Diese umfassen biobasierte und biologisch Es werden zwei klassische Abbauwege un- abbaubare Kunststoffe, sowie Kunststoffe, terschieden (UBA, 2018a): zum einen mikro- die beide Eigenschaften vereinen (siehe biell die aerobe Kompostierung (unter Sau- Abb. 3). erstoffzufuhr) zu Kohlenstoffdioxid (CO2), Wasser, mineralischen Salzen und Biomasse Biobasierte Kunststoffe verwenden ein Ma- und zum anderen die anaerobe Gärung terial biologischen Ursprungs, wobei vor al- (ohne Sauerstoffzufuhr) zu Kohlenstoffdi- lem kohlenstoffhydratreiche Agrarpflanzen oxid, Methan (CH4), mineralischen Salzen (wie Mais oder Zuckerrohr) verwendet wer- und Biomasse. Eine Besonderheit stellen den, sowie teilweise Ligno-Zellulose (wie oxo-fragmentierbare Kunststoffe dar, de- verholzende Pflanzen) und organische Ab- nen Additive zur schnelleren Zersetzung fallprodukte (European Bioplastics, 2021). beigefügt werden, was zu einer schnellen Die Erstgenannten werden auch als bioba- Zersetzung in kleine Fragmente, nicht je- sierte Kunststoffe der ersten Generation be- doch deren Abbau, führt (UBA, 2018a). Da- zeichnet. Biologisch abbaubare Kunststoffe her gelten diese nicht als biologisch abbau- hingegen werden nicht über ihren Aus- bar. gangsstoff definiert, sondern über ihren Ab- bauweg. Daher können auch aus fossilen Die übliche Subsumierung dieser äußert di- Rohstoffen produzierte Kunststoffe biolo- versen Stoffgruppen unter dem gemeinsa- gisch abbaubar sein und werden dann eben- men Überbegriff Biokunststoffe ist sicher falls als Biokunststoff bezeichnet. kritisch zu betrachten, da sich die einzelnen Stoffe in ihren Eigenschaften auch innerhalb Die als "biologisch abbaubare Kunststoffe" ihrer Subgruppen noch einmal stark unter- bezeichneten Materialien werden, je nach scheiden. Hinzu kommen diesbezüglich un- Stoff, in bestimmten, unterschiedlichen Um- terschiedliche Begriffsdefinitionen relevan- gebungen bei bestimmten Bedingungen in ei- ter Akteur*Innen, die Frage des Umganges ner definierten Zeit abgebaut, also z. B. Po- mit und der Einordnung von aus verschiede- lyhydroxyalkanoate im Boden bei 20-28 °C in nen Kunststoffen bestehenden Produkten ca. 7-12 Monaten (UBA, 2018a), wobei es oder auch von Kunststoffmischungen, die auch hier keine global einheitliche Definition als "Blends" (engl.: to blend = vermischen) gibt. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 147
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner bezeichnet werden. Einer eigenen Bewer- Material selbst, nicht neu. So steht in tung bedarf ebenfalls der Ersatz von fossilen Deutschland seit Beginn der zweiten Hälfte Rohstoffen als Ausgangsstoff durch biogene des 20. Jahrhunderts der Begriff "Plastik" Ressourcen bei chemisch gleichen Endpro- zunehmend für "billig", die Verwendung dukten (z. B. bei Bio-PET), was als "Drop-in- von Plastik wurde als Ausdruck des kulturel- Lösung" bezeichnet wird, da sich damit be- len Verfalls gesehen und bereits die Um- stehende Einsatzbereiche, Strukturen und weltbewegungen in den 1970er Jahren the- petrochemische Verarbeitungsprozesse matisierten die Müllproblematik durch nutzen lassen (Sachverständigenrat Bioöko- Kunststoffe (Schweiger, 2021). Allerdings nomie Bayern, 2017). Dennoch erfolgt der scheint als situativer Aspekt die mediale gesellschaftliche Diskurs und die politische Aufmerksamkeit zuletzt noch einmal zuge- Verhandlung über diese heterogenen Mate- nommen zu haben, wozu auch breit rezi- rialien aktuell unter dem Label "Biokunst- pierte Filmreportagen wie "Plastic Planet" stoffe" als Sammelbegriff. (Boote, 2009) und Forschungserkenntnisse (Geyer et al., 2017) beigetragen haben dürf- 2. Problemstrukturen der ten. Kunststoffpolitik 2.1 Ökologische Aspekte 2.1.1 Produktion In diesem Kapitel werden nach einer Einfüh- Bei der Produktion von Kunststoffen wer- rung in die Debatte ökologische, ethische den vor allem fossile Ressourcen als Aus- und ökonomische Aspekte der Prob- gangmaterialien verwendet. Das Weltwirt- lemstrukturen der Kunststoffpolitik aufge- schaftsforum ging für 2014 allein von einem zeigt, wobei auf ökologische Folgen für Um- Anteil von 6 % am weltweiten Ölverbrauch welt und Mensch fokussiert wird. Zum ei- aus, der sich nach dessen Szenario bei un- nen dient dies dem Verständnis der Hinter- veränderter Entwicklung bis 2050 auf 20 % gründe für die in nachfolgenden Kapiteln erhöhen würde, was dann 15 % des globa- anschließenden Untersuchungen, zum an- len CO2-Budgets ausmachen würde (World deren aber auch einem Einblick in die Breite Economic Forum, 2016). Die globalen CO2- und Komplexität der Problemstrukturen. Emissionen der Kunststoffindustrie wurden für das Jahr 2012 in demselben Bericht auf Global werden zunehmend unerwünschte 390 Mt geschätzt. Nicht eindeutig nachvoll- Nebenwirkungen der Erzeugung, Nutzung ziehbar ist hierbei leider, ob es sich um CO2- und Entsorgung von Kunststoffen sichtbar, Äquivalente handelt, also andere Treib- wobei die Zunahme der Sichtbarkeit unse- hausgase, wie vor allem Methan, mit einge- rer Einschätzung nach z. T. wohl an der ho- rechnet wurden. An anderer Stelle wurde hen und weiter steigenden Produktions- dies im Bericht explizit benannt, hier aber menge aufgrund deren Materialeigenschaf- nicht. Vor dem Hintergrund des Klimawan- ten und einer wachsenden Weltwirtschaft dels würde dies jedoch einen großen Unter- liegt. Daneben könnten aus unserer Sicht u. schied machen. a. die zunehmende Akkumulation von Ab- Das Umweltprogramm der Vereinten Natio- fällen in der Umwelt und Fortschritte in der nen (UNEP) weist in einem mit der Allianz Informations- und Kommunikationstechno- für Klima und saubere Luft zur Reduktion logie mit leichterer Datenerfassung und Be- kurzlebiger Klimagase (CCAC) veröffentlich- richterstattung eine Rolle spielen. Berichte ten Bericht aktuell darauf hin, dass die Errei- über die Probleme der Kunststoffproduk- chung der Begrenzung der Erderwärmung tion sind jedoch, genau wie Kritik am https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 148
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner auf 1,5 °C bis 2100 ohne eine Reduktion von den etwas bessere Daten vorlagen, von ei- Methan bis 2030 um mindestens 40-45 % nem relevanten Reduktionspotenzial durch nicht mehr zu annehmbaren Kosten erreich- Austausch von konventionellem Plastik bar ist (UNEP und CCAC, 2021). CH4 gehört durch Bioplastik aus (Spierling, 2018). laut diesem Bericht zu den kurzlebigen Kli- magasen mit einem Verbleib in der Atmo- In der Kunststoffindustrie erscheinen Nach- sphäre von etwa 10 Jahren, ist dabei aber haltigkeitsthemen wie dieses bisher nur um ein vielfaches klimawirksamer als CO2 sehr begrenzt anzukommen, was sich bei- und seine atmosphärische Konzentration spielhaft in einem Report von Planet Tra- steigt aktuell stärker als jemals zuvor seit cker, einem nicht profitorientierten think den 1980er Jahren. Die Autor*Innen gehen tank, der sich auf die Untersuchung von Ri- ferner davon aus, dass 20 % der weltweiten siken von Marktversagen aufgrund ökologi- CH4-Emissionen aus Müll hervorgehen und scher Grenzen spezialisiert hat, zeigt (Tho- die Müllreduktion für Europa die wichtigste umi et al., 2021). Darin wird berichtet, dass Option zur Mitigation der Methanemissio- nen darstellt. von 83 der größten Unternehmen, die Plas- tikverpackungen und -container herstellen Auch hier lohnt ein differenzierter Blick auf und zusammen einen globalen Marktanteil einzelne Materialien: Polyethylen (PE), der von 93 % haben, 53 keine Policies für nach- global am meisten verwendete Kunststoff, haltige Verpackungen benannten und die scheint von allen häufig verwendeten meisten sich keine Gedanken über Risiken Kunststoffen unter Sonnenstrahlung auch durch (neue) Gesetzesvorgaben in ihrem am meisten CH4 und Ethylen freizusetzen, Unternehmensbereich machen. Insgesamt das ebenfalls ein Treibhausgas ist (Royer et ist aktuell der Anteil an bio-basierten Plastik al., 2017). Eine Metaanalyse zur Lebenszyk- an der globalen Produktion als sehr gering lusanalysen von Bioplastik fand insgesamt einzuschätzen. wenig und schlecht vergleichbare Daten, ging aber für den hier angesprochenen Un- terbereich der Treibhausgasemissionen, für Abb. 4: Prozentuale Anteile der weltweiten Kunststoffproduktion des Jahres 2018. (Eigene Darstellung; Daten aus nova-Institut, 2019.) https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 149
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner 2.1.2 Entsorgung Für Deutschland geht das Statistische Bundes- Die Entsorgung von Abfällen der Kunststoffin- amt (Destatis) für das Jahr 2020 von mehr als 1 Mt exportierten Kunststoffmüll aus und betont dustrie bietet darüber hinaus Ansatzpunkte für dabei die Reduktion um 33 % innerhalb der Kritik. Wie eingangs bereits erwähnt, sind die letzten zehn Jahre (Destatis, 2021). Gleichzeitig Recyclingraten niedrig, die Entsorgung erfolgt hatte Deutschland im Jahr 2018 einen Anteil vorzugsweise bereits nach der Erstnutzung auf von 24,6 % an der gesamten Kunststoffnach- Mülldeponien und zum Teil durch Verbrennung frage in Europa, was mehr als die der beiden (Geyer et al., 2017). Hinzu kommt, dass das Re- Folgenationen Italien (13,9 %) und Frankreich cycling die Entsorgung lediglich um einen oder (9,4 %) gemeinsam war (Plastics Europe, 2019). wenige Nutzungszyklen aufschiebt (Geyer et al., 2017). Auf EU-Ebene wurden laut Statisti- Hauptexportland für Plastikabfälle aus Europa schem Amt der Europäischen Union (Eurostat) war Malaysia mit 17 %, dass die Volksrepublik im Jahr 2018 41,5 % der Verpackungen aus China als Hauptzielland 2018 abgelöst hatte, Plastik recycelt (Eurostat, 2021), was im inter- nachdem "24 verschiedene Recyclingmateria- nationalen Vergleich einen hohen Wert dar- lien nicht mehr in die Volksrepublik China ex- stellt. Allerdings machten Verpackungen 2019 portiert werden [durften] – darunter unsortier- ter Plastikabfall" (Destatis, 2021). Noch 2012 mit 39,9 % weniger als die Hälfte der Kunst- gingen 53 % des Plastikmülls dorthin und wei- stoffnachfrage in Europa aus (Plastics Europe, tere 13 % nach Hongkong (Destatis, 2021). Für 2019). die später analysierte Richtlinie erscheint der Die EU-Kommission sieht das Potenzial für Re- Wechsel der chinesischen Importstrategie ein cycling von Kunststoffabfällen weitestgehend beachtenswerter situativer Aspekt im Sinne des AEP, da die EU damit den Hauptabnehmer- ungenutzt und beschreibt die Wiederverwen- staat ihrer Kunststoffabfälle verloren hat. dungs- und Recyclingraten von Altkunststoffen als sehr gering, insbesondere im Vergleich zu 2.1.3 Komplexität Papier, Glas oder Metall (Europäische Kommis- Ein weiterer zentraler Aspekt der Prob- sion, 2018). Sie geht an derselben Stelle davon lemstrukturen der Kunststoffpolitik kann hier aus, dass in Europa pro Jahr etwa 25,8 Mt anhand eines Beispiels bzgl. der globalen An- Kunststoffabfälle entstehen, von denen weni- teile an Kunststoffabfällen verdeutlicht wer- ger als 30 % gesammelt und davon wiederum den, und zwar, dass aufgrund der Komplexität ein erheblicher Teil in Drittstaaten verbracht ein Gesamtverständnis der Kunststoffmüll- werde, in denen möglicherweise niedrigere Problematik für die Einordnung der oben ge- Umweltstandards gelten würden. nannten Daten notwendig erscheint. Als Bei- spiel sei hier ein Aspekt des bereits erwähnten Ferner werden von ihr in demselben Dokument Reports des World Economic Forum (2016, die hohen Deponierungsraten (31 %, zuletzt Grafik 9) benannt. Ein dargestellter Punkt ist sinkend) und Verbrennungsraten (39 % zuletzt darin die Vermüllung der Meere durch Plasti- steigend) kritisiert. Das Weltwirtschaftsforum kabfälle, wobei der Anteil von Asien daran auf schätzt, dass 95 % des Wertes von Plastikver- 82 % gegenüber 2 % durch die USA und Europa packungen nach dem ersten Nutzungszyklus zusammen beziffert wird. verloren geht und der Wirtschaft damit jährlich 80-120 Mrd US $ verloren gehen (World Econo- Einerseits kann hierbei hinterfragt werden, ob mic Forum, 2016). Der erwähnte Export zum und wie vollständig der oben beschriebene, Teil großer Mengen von Plastikmüll, der dann nach Asien exportierte Müll zurecht dorthin zu- oft über Drittstaaten in der Umwelt landet, geschrieben wird oder dies nicht dem Land der wird regelmäßig von Umweltschutzorganisati- Verbraucher*Innen zugeschrieben werden onen aufgegriffen und kritisiert (Greenpeace, muss. Andererseits geht in der Darstellung die 2021). Relation zur Bevölkerungsgröße unter, wobei laut den Vereinten Nationen (UN) in Asien im https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 150
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Jahr 2020 über 4,6 Mrd. Menschen lebten und Fischereiindustrie (Morales-Caselles et al., damit über viermal so viele wie in Europa mit 2021). knapp 750 Mio. und den USA mit über 330 Mio. zusammen (UN, 2019). Durch diese potenzielle 2.1.5 Plastikzerfall Ungenauigkeit und reale Auslassung wird die Dazu zerfällt Plastik, insbesondere oxo-abbau- Information nicht falsch, aber doch einseitig bare Kunststoffe, oft in sehr lange beständige und fehlleitend, zumal in ihr auch hohe Produk- Kleinteile, die ab einer Größe von unter 5 mm tionskapazitäten Asiens für Kunststoffe ange- meist als Mikroplastik und ab einer Größe im geben werden (45 % der Weltproduktion), Nanometerbereich als Nanoplastik bezeichnet ohne die Märkte und Regionen zu benennen, werden. Nanoplastik hat teilweise etwas an- für die diese produziert werden. dere Eigenschaften als Mikroplastik. Da im po- litischen Diskurs vor allem Mikroplastik thema- 2.1.4 Meeresvermüllung tisiert wird, werden wir dies etwas genauer be- Als Problematik ist auch die Meeresvermüllung schreiben. Mikroplastik kann als primäres Mik- zu benennen, da sie ein wichtiger Aufhänger roplastik direkt bei der Produktion (8 %) oder der EU-Richtline war. Vorteile der Kunststoffe Nutzung (66 %) entstehen, sowie als sekundä- wie Strapazierbarkeit und Haltbarkeit werden res Mikroplastik durch Abbau von Makroplastik an diesem Punkt gleichzeitig zu ihren Nachtei- (26 %) (Bertling et al., 2018). len, da sie nur über lange Zeiträume abbaubar sind und sich im Meer ansammeln. Unter ande- Als die drei Hauptquellen wurden in dieser Stu- rem in den fünf großen ozeanischen Wirbeln die in der genannten Reihenfolge Abriebe von der Weltmeere sammeln sich stellenweise Reifen, Freisetzungen bei der Abfallentsorgung große Mengen von Plastikmüll. Dieser hat laut und Abrieb von Bitumen im Asphalt identifi- dem fünften globalen Biodiversitätsausblick ziert. Die Verteilung von Mikroplastik erfolgt z. des Sekretariats der UN-Biodiversitätskonven- T. anthropogen und durch Flüsse und Meere. tion (CBD) schwere Folgen für marine Ökosys- Daneben geschieht dies auch über die Erdat- teme und weitestgehend unklare Implikatio- mosphäre, wobei Distanzen von bis zu 95 km nen für andere Ökosysteme (Sekretariat der nachgewiesen wurden und davon ausgegan- UN-Biodiversitätskonvention, 2020). gen wird, dass Mikroplastik auch abgelegene und kaum bewohnte Gebiete erreicht (Allen et Ziel acht der 2010 verabschiedeten Aichi-Ziele al, 2019). der CBD-Vertragsstaaten für die Dekade der Biodiversität von 2011 bis 2020 war die Reduk- Für Naturschutzgebiete im Westen der USA tion der Umweltverschmutzung auf ein für die wurde geschätzt, dass durch Wind (75 %) und Funktionsweise von Ökosystemen und die Bio- Niederschläge (25 %) im Durchschnitt 132 Plas- diversität nicht schädliches Ausmaß bis 2020. tikpartikel pro Quadratmeter und Tag abgela- Dieses Ziel wurde verfehlt, insbesondere, was gert werden, was einer gesamten Jahresmenge die Verminderung von Kunststoffabfällen an- von über 1.000 t entspricht (Brahney et al., geht (Sekretariat der UN-Biodiversitätskonven- 2020). Auf marine Ökosysteme wirkt Mikro- tion, 2020), wobei in diesem Bericht darauf ver- plastik z. B. über die Schädigung von Zooplank- wiesen wird, dass aktuelle Schätzungen davon ton, was aktuell ein Stressor ist und bei Persis- ausgehen, dass 10 Mt neuer Kunststoffmüll pro tenz und Konzentrationsanstieg die Basis der Jahr im Ozean landen. Dabei stelle verlorene Fi- marinen Nahrungsmittelpyramide gefährden schereiausrüstung eine besonders große Ge- könnte (Lim, 2021). Es wird davon ausgegan- fahr für die Biodiversität dar und habe bereits gen, dass sich analog zu geochemischen Kreis- knapp die Hälfte (46 %) der auf der roten Liste läufen, wie dem Kohlenstoffkreislauf, ein Plas- für bedrohte Arten der Weltnaturschutzorgani- tikkreislauf entwickelt, wobei das atmosphäri- sation (IUCN) stehenden Arten geschädigt. sche Plastik vor allem als Erbschaft von sich Hauptquelle von globalem marinem Müll sind kontinuierlich weiter aufbauenden Plastikab- Behälter für Essen zum Mitnehmen und Ge- fällen aus früherer Produktion angesehen wird tränke, gefolgt von Nebenwirkungen der (Brahney et al., 2021). https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 151
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner 2.1.6 Gesundheitliche Aspekte mikrobielle Pathogene wurden als wenig beun- Da Plastikabfälle weit verbreitet sind und Mik- ruhigend eingeschätzt und auch für Gefährdun- roplastik mittlerweile nahezu ubiquitär in der gen durch Nanopartikel gebe es aktuell keine menschlichen Umwelt vorkommt, stellen sich Hinweise. Betont wurde allerdings mehrfach Fragen nach gesundheitlichen Folgen für die limitierte Datenlage. Mensch, Tier und Umwelt. Diese Fragen sind nicht neu und aufgrund der bekannten Folgen Insgesamt sieht die WHO kein Gesundheitsri- gab es von wissenschaftlicher Seite bereits Auf- siko durch Mikroplastik im Trinkwasser und rufe, zumindest die giftigsten und schädlichs- empfiehlt vor diesem Hintergrund auch kein ten Kunststoffe zu verbieten und für die Ande- Routine-Monitoring. Empfohlen wird allerdings ren ein geschlossenes Kreislaufsystem aufzu- eine weitere Verbesserung der Wasseraufbe- bauen (Rochman et al., 2013). reitung und Partikelentfernung zur Vermei- dung von mikrobiellen Besiedlungen, was als Es gibt Hinweise auf In-vitro-Toxizität von Nebeneffekt zu einer Reduktion von Mikroplas- Kunststoffen. So fanden etwa Zimmermann et tik in Trinkwasser führen würde. Dazu werden al. (2019) in einem Vergleich von 27 nach Vor- eine Reihe von zu füllenden Forschungslücken testungen ausgewählten Stoffen heraus, dass benannt, welche die Exposition von Mikroplas- Extrakte von PVC und Polyurethan (PUR) die tik entlang der gesamten Lieferkette für Was- höchste Toxizität aufwiesen und Polyactide ser, die Toxizität der Inhaltsstoffe und die Ge- (PLA), eine Biokunststoffgruppe, auch hohe samtexposition des Menschen auch über an- Werte zeigten. Sie benennen Herausforderun- dere Wege betreffen. gen für die Risikoeinschätzung unbekannter Mischungen und betonen aber, dass es bereits Die Ergebnisse dieser Studie zeigen einerseits, Kunststoffe mit weniger toxischen Wirkungen dass es erfreulicherweise bisher keine Hin- auf dem Markt gibt. Gleichwohl ist zu beach- weise auf Gesundheitsschäden durch Mikro- ten, dass In-vitro-Toxizität nicht dasselbe ist plastik in Trinkwasser gibt, andererseits aber wie In-vivo-Toxizität. auch eine sehr limitierte Datenlage. Es bleibt daher die wissenschaftliche Mahnung, dass die Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Abwesenheit von Evidenz nicht Evidenz für die sich 2019 in einem Bericht zu den Folgen von Abwesenheit ist. Im konkreten Fall wird das Mikroplastik in Trinkwasser zum ersten Mal mit durch das gewählte Untersuchungsmedium potenziellen Gesundheitsfolgen für den Men- verstärkt, was die WHO selbst als Limitierung schen durch Mikroplastik in der Umwelt be- angibt. Aus medizinischer Sicht ist sehr gut schäftigt (WHO, 2019), aus dem zentrale Ergeb- nachvollziehbar, warum die WHO Trinkwasser nisse hier kurz vorgestellt werden. Bzgl. der analysiert hat. Allerdings ergab eine Studie aus Trinkwasserbelastung wird auf eine Metastu- demselben Jahr für die USA, dass zum einen die die hingewiesen, die zu dem Ergebnis kam, durchschnittlich durch Wasserkonsum aufge- dass bisherige Studien momentan aufgrund nommenen Kunststoffpartikel stark, je nach der fehlenden Standardisierung von Proben- Art des Wassers, divergieren und für Leitungs- entnahme und -analyse, sowie methodischer wasser auf 4.000 sowie Trinkwasser aus Fla- Limitierungen schwer vergleichbar und Durch- schen 90.000 Partikel geschätzt wurde (Cox et schnittswerte von 0,001 bis 1000 Partikeln pro al., 2019). Zum anderen erhöhte sich die durch- Liter gefunden worden seien. Zur Einschätzung schnittliche Partikelaufnahme von 39.000- des Gesundheitsrisikos untersuchte die WHO 52.000 auf 74.000-113.000, wenn eine inhala- Informationen zu Gesundheitsrisiken von und tive Aufnahme berücksichtigt wird, wobei wir Expositionen mit Kunststoffen für Menschen. uns auf korrigierte Zahlen der Autor*Innen Als Gesundheitsrisiken wurden die physischen selbst beziehen (Cox et al., 2020). Partikel selbst, darin enthaltende Chemikalien (sog. Additive) und Mikroorganismen, die Es erscheint vor diesem Hintergrund wahr- Kunststoffpartikel besiedeln und einen Biofilm scheinlich, dass die WHO die Exposition in ih- bilden könnten, identifiziert. Chemikalien und rem o. g. Report durch Auslassung anderer https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 152
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Aufnahmewege unterschätzt, wobei sie aber 2.2 Ethische Aspekte konservative, also hohe, Expositionswerte für die Wasserexposition verwendet hat. Dazu Aufgrund der Problemlage stellen sich span- kommt, dass es aktuell weitere Hinweise für nende und wichtige ethische Fragen im Prob- die Toxizität von Mikroplastik gibt. So fanden lemfeld der Kunststoffnebenwirkungen. Bei- sich im Tierversuch mit Mäusen nach Exposi- spielsweise darüber, wie weit das Vorsorge- tion mit Mikroplastik Nachweise für Verände- prinzip reicht, wie mit externalisierten Kosten rungen der Blutzusammensetzung, u. a. mit ei- umgegangen wird, die die Umwelt und poten- nem gleichzeitigen Anstieg der Immunglobu- ziell den Menschen schädigen, woher die Bio- line A und neutrophiler Granulozyten, einer Art masse kommen soll, wenn vermehrt bioba- von Abwehrzellen, sowie Veränderungen von sierte Kunststoffe produziert werden (Flächen- Reproduktion und Entwicklung der Embryonen konflikt zur Nahrungsmittelherstellung und Bi- mit weniger und kleineren Nachkommen (Park okraftstoffen), oder wie Gesellschaften inter- et al., 2020). Dazu wurden Plastikpartikel im generationale Verantwortung sicherstellen Menschen in verschiedenen Organen nachge- und gewichten. wiesen, wie u. a. der Plazenta von Frauen mit physiologischer Schwangerschaft (Ragusa et Unser heutiges Handeln als Menschen in einer al., 2021). aus Staaten bestehenden Weltgemeinschaft hat potenziell massive Auswirkungen auf nach- Auch die Blut-Hirn-Schranke von Säugetieren folgende Generationen - sollte sich etwa Nano- scheint für Mikroplastik durchgängig zu sein plastik im menschlichen Körper akkumulieren und dieses dahinter zu toxischen Reaktionen zu und schwere Nebenwirkungen ab einer be- führen (Prüst et al., 2020). In einer Studie zur stimmten Schwelle hervorrufen, würden wir Verwendung von Polyethylen-basierten Plas- vor einem völlig neuartigen Gesundheitsprob- tikflaschen für die Zubereitung von Säuglings- lem stehen, bei dem wir, im Gegensatz z. B. zu nahrung, wofür diese häufig verwendet wer- der Bekämpfung einer Pandemie, keine Vorer- den, wurde regionsabhängig eine Aufnahme fahrungen haben sowie auch sehr wenig Wis- von 14.600 bis 4.550.000 Kunststoffpartikeln sen und Methoden. Gleichzeitig handelt es sich pro Säugling am Tag nachgewiesen (Li, 2020). dabei zwar um ein nachvollziehbares, aber Im Falle von Nanopartikeln ergibt sich die Be- auch schwer quantifizierbares Risiko, da die Ex- sonderheit, dass aufgrund der Größe Nachweis position nur eingeschränkt bekannt und die und Monitoring sowie Einschätzung der Folgen Gefährdung weitestgehend unbekannt und kaum möglich sind (Lim, 2021). schwer evaluierbar ist. Dies macht die Folgen- abschätzung schwieriger als z. B. bei den Folgen Befunde wie diese sind auch zusammenge- der Klima- oder Biodiversitätskrise. nommen keineswegs Beweis für klinisch rele- vante Schädigungen beim Menschen durch Auch wenn wir die genannten und weitere Mikro- und Nanoplastik, berechtigen aber auch ethische Fragen für gesellschaftlich sehr wich- angesichts großer Wissenslücken zur Einleitung tig halten, ist dies nicht der Ort für eine Vertie- von Vorsorgemaßnahmen, sowie weiterer Er- fung dieses Diskurses, weshalb wir es hier beim forschung und Monitoring. Des Weiteren wer- Aufwerfen der Frage belassen wollen und für den die Hinweise auf Toxizität auch politisch einen guten Überblick über wichtige Teilas- pekte auf einen Bericht des Umweltbundesam- zunehmend ernst genommen, z. B. hat Kanada tes verweisen (UBA, 2019), der in Deutschland einige Kunststoffe als toxisch klassifiziert drei vorherrschende Diskursstränge ("affirma- (Walker, 2021). tiv", "pragmatisch" und "kritisch") zur Bioöko- nomie identifiziert und eine ethische Analyse u. a. zu Suffizienz, Gerechtigkeit und Macht an- schließt. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 153
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner 2.3 Ökonomische Aspekte 3. Vorstellung der Richtlinie Die weltweite Biokunststoffproduktion wird für (EU) 2019/904 2020 auf 2,11 Mt geschätzt (European Bioplas- Im Folgenden wird nun zunächst die "Richtli- tics, 2021), was im jahresübergreifenden Ver- nie (EU) 2019/904 des Europäischen Parla- hältnis zur globalen Kunststoffproduktion von ments und des Rates vom 5. Juni 2019 über die 2019 mit 368 Mt (Tiseo, 2021a) einem Anteil Verringerung der Auswirkungen bestimmter von knapp 0,006 % ergeben würde. Ein wichti- Kunststoffprodukte auf die Umwelt", kurz Ein- ger Grund für dieses Ungleichgewicht scheinen wegkunststoffrichtlinie, als Policy der Europäi- aus ökonomischer Sicht, neben einem deutli- schen Union in Auszügen dargestellt, gefolgt chen historischen Rückstand der Biokunststoff- von einer Beschreibung der Umsetzung in nati- industrie im Aufbau effizienter, großskaliger onales Recht in Deutschland. Produktion, die hohen Kosten im Vergleich zu klassischen Kunststoffen zu sein (Waldrop, 2021). Beim Ersatz konventioneller Kunststoffe 3.1 Begründung für die Erstellung durch Polyhydroxyalkanoate wird beispiels- der Einwegkunststoffrichtlinie weise davon ausgegangen, dass dies zu einer Verdrei- bis Vervierfachung der Kosten führen Die Richtlinie (EU) 2019/904 über die Verringe- würde (Laird, 2019). rung der Auswirkungen bestimmter Kunststoff- produkte auf die Umwelt entspricht der Euro- Aufgrund der Vielfalt der Biokunststoffe lohnt päischen Strategie für Kunststoffe (Europäi- sich hier im Einzelfall sicher eine detailgenau- sche Kommission, 2018) zur Erreichung des Zie- ere Analyse, allerdings erkennt auch die Bio- les 12 "nachhaltige Konsum- und Produktions- kunststoffindustrie selbst die erhöhten Kosten muster" der in der Agenda 2030 definierten als allgemeines Problem an (European Bioplas- SDGs (sustainable development goals). Sie soll tics, 2016). Als Grund benennt sie niedrige Öl- den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft die- preise, hohe Kosten für Forschung und Ent- ser Güter durch verschiedene Maßnahmen för- wicklung und verweist auf zuletzt sinkende dern. Erforderlich wurde dies einerseits durch Kosten. Ein weiterer, aus unserer Sicht wesent- einen steigenden Konsum von Einwegkunst- licher, Grund ist die Externalisierung von Folge- stoffartikeln, wobei es sich per Definition um kosten der klassischen Kunststoffproduktion. nicht-wiederverwendbare und nicht kostenef- Hierbei ist zu beachten, dass auch die Analyse fizient recycelbare Produkte handelt. Sowie an- der Nachhaltigkeit von Biokunststoffen kom- dererseits durch den vermehrten Gebrauch plex ist und bzgl. deren Lebensdauer sehr un- von marinen Fanggeräten, welche konventio- terschiedliche Bereiche, von der Biomassepro- nelle und mitunter oxo-abbaubare Kunststoffe duktion bis zur Abfallwirtschaft, inkludiert wer- (welche beim Zerfall u. a. Mikroplastik erzeu- den müssen. gen können) enthalten. Damit einher geht ein Eintrag in die Umwelt, im Weiteren als Vermül- Die in diesem Kapitel dargestellten Prob- lung bezeichnet. Dieser erfolgt insbesondere in lemstrukturen können als Belege für dringen- die gebietsüberschreitende Umweltressource den Handlungsbedarf und gleichzeitig die hohe Wasser. Verstärkt wurde dies jedoch auch Komplexität der Kunststoffpolitik angesehen durch den bereits erwähnten Wechsel der chi- werden und sollen als Verständnisgrundlage nesischen Importstrategie, wodurch die Option für die nun folgende weitere Analyse dienen. der Müllverbringung stark eingeschränkt wurde. Die aus all diesen Faktoren resultieren- den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Fol- gen machen die Schaffung eines kreislauforien- tierten Lebenszyklus für bis dato ineffiziente und lineare Produktions- und Verbrauchsge- wohnheiten von Kunststoffen nötig. https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 154
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Übersicht Policies I Richtlinie (EU) 2019/904 des VI Gesetz zur Förderung der Europäischen Parlaments und des Kreislaufwirtschaft und Sicherung der Rates vom 5. Juni 2019 über die umweltverträglichen Bewirtschaftung Verringerung der Auswirkungen von Abfällen bestimmter Kunststoffprodukte auf die (Kreislaufwirtschaftsgesetz - KrWG) Umwelt, kurz: "Einwegkunststoffrichtlinie" VII Gesetz über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die hochwertige II Richtlinie 2018/851EG des Verwertung von Verpackungen europäischen Parlaments und des (Verpackungsgesetz - VerpackG) Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2008/98/EG über Abfälle VIII Verordnung über das Verbot des und zur Aufhebung bestimmter Inverkehrbringens von bestimmten Richtlinien, kurz: Einwegkunststoffprodukten und von "Abfallrahmenrichtlinie" Produkten aus oxoabbaubarem Kunststoff III Durchführungsverordnung (EU) (Einwegkunststoffverbotsverordnung - 2020/2151 der Kommission vom 17. EWKVerbotsV) Dezember 2020 zur Festlegung harmonisierter IX Verordnung über die Beschaffenheit Kennzeichnungsvorschriften für in Teil und Kennzeichnung von bestimmten D des Anhangs der Richtlinie (EU) Einwegkunststoffprodukten 2019/904 des Europäischen (Einwegkunststoffkennzeichnungsvero Parlaments und des Rates über die rdnung - EWKKennzV) Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die X Verordnung über die Verwertung von Umwelt aufgeführte Bioabfällen auf landwirtschaftlich, Einwegkunststoffartikel, kurz: forstwirtschaftlich und gärtnerisch "Kennzeichnungsverordnung" genutzten Böden (Bioabfallverordnung - BioAbfV) IV Richtlinie (EU) 2018/852 des Europäischen Parlaments und des XI DIN/EN 13432 „Verpackung – Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung Anforderungen an die Verwertung von der Richtlinie 94/62/EG über Verpackungen durch Kompostierung Verpackungen und und biologischen Abbau –Prüfschema Verpackungsabfälle, kurz: und Bewertungskriterien für die "Verpackungsrichtlinie" Einstufung von Verpackungen“ V Richtlinie 2009/125/EG des XII DIN/EN 14995 „Kunststoffe – Europäischen Parlaments und des Bewertung der Kompostierbarkeit“ Rates vom 21. Oktober 2009 zur Schaffung eines Rahmens für die XIII Gesetz über den Handel mit Festlegung von Anforderungen an die Berechtigungen zur Emission von umweltgerechte Gestaltung Treibhausgasen (Treibhausgas- energieverbrauchsrelevanter Emissionshandelsgesetz - TEHG) Produkte, kurz: "Ökodesignrichtlinie" https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 155
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner 3.2 Zusammenfassung der konkre- Hersteller*Innen. Dies gilt für verschiedene Le- bensmittelverpackungen, leichte Kunst- ten Maßnahmen der Einwegkunststoff- stofftragetaschen, Feuchttücher, Luftballons richtlinie und Tabakfilter, sowie insbesondere für marine Fanggeräte, die Kunststoff enthalten. Die Maß- Das erklärte Ziel der Richtlinie ist es, "[...], dafür nahmen zur Gewährleistung einer getrennten Sorge zu tragen, dass alle Kunststoffverpackun- Sammlung (Artikel 9) von bis zu 90 Gewichts- gen bis 2030 wiederverwendbar oder leicht zu prozent der Abfälle aus Einwegkunststoffarti- recyceln sind." (Richtlinie (EU) 2019/904 Abs. keln zum Zwecke des Recyclings (zu realisieren 6). Erreicht werden soll dies in erster Linie bis 2029) hingegen werden durch den jeweili- durch eine generelle Verbrauchsminderung gen Mitgliedsstaat festgelegt. Angeraten wer- von Einwegkunststoffartikeln (Artikel 4). Dies den hierbei Pfandsysteme und Zieldefinitionen entspricht der Abfallvermeidung laut Abfallpo- bzgl. der "erweiterten Herstellerverantwor- litik der EU (II). Die Wahl der dafür notwendi- tung". gen Maßnahmen obliegt dem jeweiligen Mit- gliedsstaat und kann somit ein Angebot von Al- Auch die in der Richtlinie (EU) 2019/904 (I) ver- ternativen, die Erhebung von Gebühren oder abschiedeten Sensibilisierungsmaßnahmen auch Vermarktungsbeschränkungen umfassen. (Artikel 10) obliegen in ihrer Ausgestaltung den Diese Strategie unterstützen Beschränkungen Mitgliedsstaaten. Hierbei sollen "Verbraucher" des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-ab- über wiederverwendbare Alternativen, die baubarem Kunststoff und gewissen Einweg- sachgemäße Entsorgung von Einwegkunststof- kunststoffartikeln (Artikel 5). Dazu zählen Wat- fartikeln und Fanggeräten, sowie die Auswir- testäbchen, Besteck, Teller, Trinkhalme, Rühr- kungen der Vermüllung informiert werden. stäbchen, Luftballonstäbe, sowie Lebensmittel- Gleichzeitig sollen Anreize zu verantwortungs- verpackungen, Getränkebehälter und -becher vollem Verhalten geschaffen werden. aus expandiertem Polystyrol. 3.3 Umsetzung der Einwegkunst- Es wurden Produktanforderungen für die Her- steller*Innen definiert (Artikel 6), nach denen stoffrichtlinie in nationales Recht Verschlüsse und Deckel an Flaschen aus Ein- wegkunststoff befestigt sein müssen. PET-Ge- Die Bioökonomie ist in Deutschland zu einem tränkeflaschen sollen wiederum ab 2025 aus Schwerpunktthema geworden. Als zentrale mindestens 25 % und ab 2030 aus mindestens Strategien gelten hierbei die Nationale For- 30 % recyceltem Kunststoff bestehen. Des Wei- schungsstrategie BioÖkonomie 2030 und die teren gelten ab dem 03.07.2021 Kennzeich- Nationale Politikstrategie Bioökonomie (UBA, nungsvorschriften für Damenhygieneartikel, 2019). Feuchttücher, Tabakfilter und Getränkebecher (Artikel 7), welche durch die Durchführungs- Auf Grundlage der Kunststoffstrategie der EU verordnung (EU) 2020/2151 (III) vor kurzem (Europäische Kommission, 2018) wurden, ne- harmonisiert wurden. Hierdurch werden Ver- ben der Einwegkunststoffrichtlinie (I), weitere braucherInnen über angemessene Entsor- Richtlinien angepasst. Darunter fallen u. a. die gungsmethoden und das Vorhandensein von Abfallrahmen- (II), Verpackungs- (IV) und Öko- Kunststoff aufgeklärt. designrichtlinie (V). Auf nationaler Ebene aus- formulierte Gesetze finden sich u. a. in dem Die "erweiterte Herstellerverantwortung" (Ar- Kreislaufwirtschafts- (KrWG) (VI) und Verpa- tikel 8) (ergänzt die §§ 8 & 8 a) der Abfallrah- ckungsgesetz (VerpackG) (VII), sowie v. a. in der menrichtlinie (II) um die Kostenübernahme von Einwegkunststoffverbots- (EWKVerbotsV) Sensibilisierungsmaßnahmen, von der Samm- (VIII), Einwegkunsstoffkennzeichnungs- (EWK- lung, Beförderung und Behandlung des Pro- KennzV) (IX) und Bioabfallverordnung (Bio- duktabfalls und von damit im Zusammenhang AbfV) (X). stehenden Reinigungsaktionen durch die https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 156
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Das KrWG (VI) entspricht fast vollständig einer muss eine Strategie ermittelt werden, durch Eins-zu-eins-Umsetzung der internationalen die jegliche negative Auswirkungen, welche Abfallrahmenrichtlinie (II) in deutsches Recht. durch Kunststoffe entstehen, reduziert bzw. Zudem greift es einzelne Regelungen der Ein- beendet werden können. Die Stärkung der Bio- wegkunststoffrichtlinie (I) mit auf (BMUV, kunststoffindustrie wird als ein Baustein dieser 2020a). Der "Zweck des Gesetzes ist es, die Strategie angesehen. Kreislaufwirtschaft zur Schonung der natürli- chen Ressourcen zu fördern und den Schutz Im Folgenden wollen wir einige, aus unserer von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung Sicht kritische, Formulierungen insbesondere und Bewirtschaftung von Abfällen sicherzustel- der Einwegkunststoffrichtlinie (I) erläutern und len." (§ 1 Abs. 1 KrWG). Um dieses Ziel mög- wir verweisen im Weiteren auf Diskrepanzen, lichst umfassend erreichen zu können, wurde die sich bezüglich der Entsorgung von Biokunst- das KrWG auf Grundlage der novellierten Ab- stoffen, aufgrund unklarer Definitionen, erge- fallrahmenrichtlinie überarbeitet, sodass nun ben. die Kreislaufwirtschaft insbesondere durch Vermeidung und Recycling von Abfällen geför- 4.1 Kritische Formulierungen der dert werden soll. Zentral hierbei ist die in § 6 EU-Kunststoffstrategie aufgeführte fünfstufige Abfallhierarchie: Ver- meidung, Vorbereitung zur Wiederverwen- dung, Recycling, sonstige Verwertung (v. a. Aktuell enthält insbesondere die Einwegkunst- energetische Verwertung und Verfüllung) und stoffrichtlinie (I) viele Prüfaufträge und kaum Beseitigung (BMUV, 2020b). verbindliche Maßnahmen der Kommission (UBA, 2018b). Demnach obliegt es dem jeweili- Das VerpackG (VII) setzt die Verpackungsricht- gen Mitgliedsstaat, ob eine generelle Ver- linie (IV) in nationales Recht um und ergänzt brauchsminderung (Artikel 4) durch z. B. ein diese um die für Verpackungen geltenden Re- Angebot von Alternativen, die Erhebung von gelungen der Einwegkunststoffrichtlinie (I). Gebühren oder auch Vermarktungsbeschrän- Durch dieses Gesetz wird das Verhalten der kungen erzielt wird. Die Sicherstellung einer Hersteller*Innen reguliert, um die negativen getrennten Sammlung (Artikel 9) soll möglichst Auswirkungen von Verpackungsabfällen durch (dies ist jedoch kein Muss) durch die Etablie- die ersten drei Stufen der Abfallhierarchie zu rung von Pfandsystemen und Zieldefinitionen verringern. Demnach soll einerseits vorrangig bzgl. der "erweiterten Herstellerverantwor- Abfall vermieden und andererseits zur Wieder- tung" erreicht werden. Somit ist auch die "er- verwertung vorbereitet oder recycelt werden weiterte Herstellerverantwortung" (Artikel 8) (UBA, 2021). gegenüber den Produzierenden durch den Mit- gliedsstaat anpassbar. Die in Artikel 10 thema- Die EWKVerbotsV (VIII) überführt Artikel 5 und tisierten Sensibilisierungsmaßnahmen oblie- die EWKKennzV (IX) Artikel 7 der Einwegkunst- gen in vollem Umfang der jeweiligen Nation. stoffrichtlinie (I), auf Basis des KrWG (VI) und Diese soll selbstständig entscheiden, in welcher des VerpackG (VII), in nationales Recht. Die Bi- Form und in welchem Ausmaß "Verbraucher" oAbfV (X) hingegen reguliert die Verwertung über Alternativen, Entsorgung und negative von Bioabfallkomposten und Gärrückständen Auswirkungen informiert und Anreize für ange- (BMUV, 2021). messenes Verhalten geschaffen werden sollen. Des Weiteren finden sich innerhalb der Kunst- 4. Auswahl von Kritikpunkten stoffstrategie viele unklare Definitionen, die ei- an der Kunststoffpolitik nen Ermessensspielraum geben, welcher so weit gefasst ist, dass er dem Ziel einer nachhal- tigen Bioökonomie im Wege steht. So ist bei- Kunststoffe sind, laut Aktionsplan der EU (Eu- spielsweise laut Artikel 4 der Einwegkunststoff- ropäische Kommission, 2018), für die Kreislauf- richtlinie (I) bzgl. der Verbrauchsminderung wirtschaft von zentraler Bedeutung. Demnach von einer "messbaren quantitativen https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 157
Biokunststoffe - ein Beitrag zur nachhaltigen Bioökonomie? | Wenzel, Meißner Verminderung des Verbrauchs" bis 2026 (Refe- mehrfach zum gleichen Zweck wiederverwen- renzjahr: 2022) die Rede. Dies entspricht durch det zu werden und deren tatsächliche Rück- seine Formulierung jedoch keiner verbindli- gabe und Wiederverwendung durch eine aus- chen Zielvorgabe. Auch wird nicht klar formu- reichende Logistik ermöglicht sowie durch ge- liert, dass es sich bei der Umsetzung einer eignete Anreizsysteme, in der Regel durch ein Kreislaufwirtschaft und einer Reduktion von Pfand, gefördert wird." (§ 3 Abs. 3 VerpackG). Kunststoffemissionen um zwei grundsätzlich unterschiedliche Ziele der Kunststoffstrategie In der EWKVerbotsV wird dagegen eine nega- handelt, welche nicht in gleichem Umfang tive Definition von Einweg als "ein ganz oder durch jegliche Maßnahme Beachtung erfahren teilweise aus Kunststoff bestehendes Produkt, (Bertling et al., 2018). Zudem sind natürliche das nicht konzipiert, entwickelt und in Verkehr Polymere, die chemisch nicht modifiziert wur- gebracht wird, um während seiner Lebens- den (Artikel 3 Satz 1 Richtlinie (EU) 2019/904), dauer mehrere Produktkreisläufe zu durchlau- von der Einwegkunststoffrichtlinie ausgenom- fen, indem es zur Wiederbefüllung an einen men. Dazu zählen jedoch auch PHA, PLA, Hersteller oder Vertreiber zurückgegeben wird Lyocell und Viskose. Diese Stoffe unterschei- oder zu demselben Zweck wiederverwendet den sich in ihren Eigenschaften kaum von kon- wird, zu dem es hergestellt worden ist." (§ 2 ventionellen Kunststoffen (bauen sich schlecht Abs. 1 EWKVerbotsV), festgeschrieben. bis gar nicht ab) und können als Schlupfloch ge- nutzt werden, um die Vermeidung von Müll zu Eine Definition von Mehrweg fehlt, macht eine unterbinden. Deshalb plädiert die DUH (2020) Abgrenzung zum Einweg schwierig und fördert dafür, dass es auch keine Ausnahmen für Ein- die missbräuchliche Deklarierung von soge- wegprodukte aus Biokunststoff geben darf. nannten "Pseudo-Mehrweg"-Verpackungen. Dies wird, laut DUH (2020), zunehmend zum Die EWKVerbotsV (VIII) setzt den zentralen Ar- Problem, denn hierbei werden Produkte als tikel 5 der Einwegkunststoffrichtlinie (I) in nati- Mehrwegartikel ausgezeichnet, die zwar eine onales Recht um. Hierbei werden jedoch die bessere Qualität als vergleichbare Einwegarti- europäischen Mindestanforderungen "eins zu kel aufweisen, jedoch minderwertig gegenüber eins" übernommen. Die geforderte Mehrweg- herkömmlichen Mehrwegartikeln sind. Diese förderung wird nicht durch verbindliche Ziele Artikel sind pfandfrei, werden von Verbrau- und Maßnahmen definiert, wodurch ein wei- cher*Innen zumeist nach einer Nutzung ent- testgehendes Ausbleiben der Lenkungswirkung sorgt und weisen bei ihrer Herstellung einen in Richtung Wiederverwendung zu erwarten höheren Ressourcenverbrauch als vergleich- ist. Die Gleichstellung von Mehrwegprodukten bare Einwegartikel auf. Somit kann die Einweg- und Ersatzmaterialien widerspricht der Abfall- kunststoffrichtlinie (I) von Hersteller*Innen ge- hierarchie der Abfallrahmenrichtlinie (II) bzw. zielt umgangen und die Vermüllung fortgesetzt des KrWG VI), denn eine klare Priorisierung von werden (NABU, 2015; DUH, 2020). Mehrwegartikeln ist zentraler Baustein zum Er- reichen einer Abfallvermeidung. Stattdessen 4.2 "Bioplastik" - Braune, Gelbe oder werden Einwegartikel zunehmend aus anderen Materialien gefertigt (wie z. B. Papier), sodass Schwarze Tonne? sich die Vermüllungsproblematik nur verlagert und die Ökobilanz des Herstellungsprozesses Die Europäische Kommission (2018) plädiert in mitunter sogar verschlechtert (NABU, 2015; ihrer Kunststoffstrategie dafür, dass durch DUH, 2020). begleitende Policies zunehmend die Entwicklung von nachhaltigen Materialien Die Definition von "Mehrweg" laut § 3 Absatz 3 gefördert wird, sodass durch die Vermeidung VerpackG (VII) steht in Konflikt zur Definition von Abfällen die Wettbewerbs- und der EWKVerbotsV (VIII). Laut VerpackG sind Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gesteigert "Mehrwegverpackungen [...] Verpackungen, wird. Dieser Übergang zu einer die dazu bestimmt sind, nach dem Gebrauch nachhaltigkeitsorientierten Bioökonomie fußt insbesondere auf den Kernbegriffen: https://doi.org/10.24352/UB.OVGU-2022-010 158
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