Die tägliche Spritze Diamorphingestützte Substitutionsbehandlung - Deutsches Ärzteblatt
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POLITIK
Diamorphingestützte Substitutionsbehandlung
Die tägliche Spritze
Foto: picture alliance/Kristin Bethge/dpa
Vor zehn Jahren wurde eine zusätzliche Option zur Behandlung schwerst kranker Heroinabhängiger
geschaffen: die Substitution mit reinem Heroin. Doch nur wenige Patienten werden so versorgt.
Unter anderem bei „Patrida“, der bundesweit größten Diamorphin-Ambulanz in Berlin. Ein Besuch.
E
r hat mir mein Leben wieder- In dem sogenann- und konsumiert die restliche Zeit schwerst Opioidabhängige ab 23
gegeben“, sagt Martin* und ten Applikations- nichts anderes, wie er sagt. Er hat Jahre: Sie müssen seit mindestens
zeigt auf den Arzt, der gerade raum (oben) wieder Arbeit, zumindest für ein fünf Jahren abhängig sein und ih-
spritzen sich die
aus dem Aufenthaltsraum geht. Seit paar Stunden am Tag, eine Woh- re Suchterkrankung muss bereits
Patienten die
eineinhalb Jahren ist der 54-Jährige Diamorphin-Lösung
nung, mit den Ämtern ist alles ge- zweimal erfolglos behandelt wor-
bei Dr. med. Thomas Peschel in Be- selbst. klärt. „Ich muss nur noch meine so- den sein, davon einmal mit einer
handlung, der sich mit seinem Team zialen Kontakte in Angriff neh- anderen Substitutionstherapie. Bei
um schwerst abhängige Heroinkon- men“, sagt Martin. Patrida haben die meisten im
sumenten kümmert. „Ich hab’ alles Zugang zu der Behandlung mit Durchschnitt 20 Jahre Abhängig-
hinter mir und alles erlebt, aber hier Diamorphin in der Regelversor- keit hinter sich, bevor sie dort ein-
ist es so, wie es sein sollte“, sagt gung haben nach dem Gesetz nur treten. Der Altersschnitt liegt bei
Martin. Mit 15 Jahren hat er ange- 44 Jahren; 70 Prozent sind Männer.
fangen zu kiffen, mit 25 begann er
über zehn Jahre exzessiv Kokain zu Wirbel um „Heroin auf Rezept“
konsumieren, dann Benzodiazepi- Vor rund zehn Jahren wurde eine zu-
ne. Als die „nicht mehr zur Hand sätzliche Option zur Behandlung
waren“ stieg er auf Heroin um. Er schwerst kranker Opioidabhängiger
hat acht stationäre Suchttherapien in der Regelversorgung geschaffen:
hinter sich, war bei der Suchtselbst- Eine Flasche mit Nach langwierigen Diskussion darü-
hilfegemeinschaft Synanon und in Diamorphin (10 g) ber, ob man „Heroin auf Rezept“
Methadonbehandlung. Auch im Ge- kostet 262 Euro. verantworten könne, trat im Juli
fängnis war er schon. Bei „Patrida“ Sechs Flaschen 2009 das Gesetz zur diarmorphinge-
(griechisch für Heimat), der bun- werden im Schnitt stützten Behandlung in Kraft. Dia-
desweit größten Diamorphin-Am- für 130 Patienten morphin wurde dafür als verschrei-
bei Patrida
bulanz in Berlin-Tegel, spritzt sich bungspflichtiges Betäubungsmittel
gebraucht. Die
Martin jetzt einmal am Tag das Medikationskosten eingestuft. Zuvor hatte die Arznei-
Foto: Petra Bühring
halbsynthetisch hergestellte Heroin, liegen somit bei mittelstudie zum Modellprojekt zur
rund 10 Euro pro diarmorphingestützten Behandlung
* Name von der Redaktion geändert Patient am Tag. (www.heroinstudie.de) die Vorteile
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 2 | Februar 2020 61
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für die Gruppe der Schwerstabhän- Prozent der 79 400 Substitutions- Drogenarbeit an: „Wir betreiben
gigen gegenüber der herkömmli- patienten in Deutschland erhielten Schadensbegrenzung. Die Patienten
chen Substitutionsbehandlung mit 2018 dem Substitutionsregister des erhalten hier sauberes Heroin in
Methadon oder Buprenorphin be- Bundesinstitutes für Arzneimittel sauberen Spritzen, von der Kran-
legt. Danach verbesserte sich der und Medizinprodukte (BfArM) zu- kenkasse bezahlt. Sie kommen da-
Gesundheitszustand, die Kriminali- folge eine Behandlung mit Dia- mit raus aus der Illegalität und der
tätsrate sank und der Ausstieg aus morphin. Die meisten bekommen kriminellen Szene und weg von un-
der Drogenszene gelang signifikant Methadon (39 Prozent), Levome- sauberen Spritzen“, erklärt Peschel.
besser als unter herkömmlicher thadon (35 Prozent) und Buprenor- Das Gefährliche an illegal erworbe-
Substitution. Insgesamt führte die phin (23 Prozent). nem Heroin sei vor allem, dass die
Substitution mit Diarmorphin zu ei- Woran liegt das? Peschels Mei- tatsächliche Menge der Droge in ei-
ner deutlichen psychosozialen und nung hierzu ist eindeutig: „Erstaun- nem erworbenen Gemisch nicht be-
gesundheitlichen Stabilisierung der licherweise stehen Moralisierung, kannt sei. Zu hohe Mengen könnten
Betroffenen. zu Atemstillstand führen. Reines
Psychiater Thomas Peschel, der Heroin sei als psychopharmakolo-
Patrida vor sechs Jahren gegründet gische Substanz indes nicht toxisch
hat, war zu Zeiten der Heroinstudie und weniger schädlich als beispiels-
Studienarzt in Hannover, an einer weise Alkohol oder Zigaretten, er-
der damals sieben Diamorphin- klärt der Arzt.
Ambulanzen, die die Wirksamkeit
der Behandlung testeten. Neben Mangel an Geborgenheit
Hannover gab es im Rahmen des Die Funktionalität von Heroin be-
Modellprojekts Ambulanzen mit stehe für die meisten Patienten
speziellen Anforderungen in Bonn, nicht in einem Drogenrausch, son-
Frankfurt am Main, Hamburg, dern „in einem Gefühl von Wärme,
Foto: Petra Bühring
Karlsruhe, Köln und München. Geborgenheit und Sicherheit, das
Zwischen 2013 und 2016 kamen substituiert wird“, berichtet Pe-
weitere Ambulanzen in Stuttgart, schel. In der Biografie der Patienten
Düsseldorf und eben Berlin hinzu.
In der Schweiz mehr Patienten
„Die körperliche Abhängigkeit von
Heroin ist nicht das große Problem,
finde man immer einen Mangel
daran: Broken-home, Traumatisie-
rung, Vernachlässigung, Gewalt,
„Die neuen Ambulanzen haben alle Heimaufenthalte. „Die körperliche
Plätze belegt und eine Warteliste. aber das Fehlen des positiven Abhängigkeit von Heroin ist nicht
Die anderen haben alle noch Spiel- psychischen Effektes, den die das große Problem, aber das Fehlen
Patienten brauchen.
“
raum nach oben“, berichtet Peschel. des positiven psychischen Effek-
130 Patienten sind bei ihm in Be- tes“, sagt der Psychiater. Diejeni-
Dr. med. Thomas Peschel, Facharzt für Psychiatrie
handlung. Rund 850 sind es nach und Psychotherapie gen, die bei Patrida täglich ein- und
Angaben der bundesweiten Arbeits- ausgehen brauchen diesen Effekt,
gemeinschaft (www.diamorphin- können ohne nicht überleben.
behandlung.de) in ganz Deutsch- Vorurteile sowie die Stigmatisie- Deshalb gehört zum Konzept der
land. In der bevölkerungsärmeren rung der psychopharmakologischen Einrichtung, über die Möglichkeit
Schweiz werden danach hingegen Substanz Diamorphin über der wis- sich unter Aufsicht Diamorphin zu
1 500 Patienten mit Diamorphin be- senschaftlichen Erkenntnis – auch spritzen hinaus, den Patienten das
handelt. „Nimmt man die Schwei- bei vielen Ärzten.“ Obwohl die ihnen fehlende Gefühl von Wärme,
zer Zahlen als Maßstab, müssten Diamorphin-Behandlung interna- Geborgenheit und Sicherheit über
in Deutschland eigentlich 15 000 tional die am besten untersuchte die Räumlichkeiten und die Atmo-
Opioidabhängige so versorgt wer- Methode im Vergleich zu allen an- sphäre zu bieten. Gemütliche Sofas
den“, sagt Peschel. deren von allen Substitutionsmit- und Sitzecken mit Bücherregalen,
Auch die drogenpolitische Spre- teln sei. Entscheidend sei auch die ein Klavier, Tische mit Blumen, ei-
cherin der Grünen im Bundestag, Haltung der Ärzte: „Sehe ich die ne Kochecke, um sich Kaffee oder
Dr. med Kirsten Kappert-Gonther, Diamorphin-Behandlung als letzte Tee zuzubereiten, stehen zur Verfü-
mahnte anlässlich des Drogen- und Option, dann werde ich versuchen gung. „Patrida soll behaglich sein
Suchtberichts der Bundesregierung zu vermeiden, Patienten in eine und Sicherheit vermitteln. Die die
kürzlich: „Zehn Jahre nach dem Spezialambulanz zu schicken“, sagt sonst keiner haben will, sind einge-
Beschluss im Bundestag für eine Peschel. Zudem sei die Abstinenz- laden, sich hier aufzuhalten. Wir ar-
Substitutionsbehandlung für He- orientierung nach wie vor stark aus- beiten ohne Sanktionen und Willkür
roinabhängige mit dem Original- geprägt. Man müsse jedoch sehen, – die Patienten sollen Vertrauen be-
stoff Diamorphin, haben immer dass einige Heroinabhängige es nie- kommen und langfristig Hand-
noch zu wenig Betroffene Zugang mals schafften, abstinent zu wer- lungsalternativen zu Heroin entwi-
zu dieser Therapie.“ Lediglich ein den. Hier setze die akzeptierende ckeln“, erklärt Peschel. Es gibt auch
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einen Ruheraum, wo Patienten beitnehmer mit dem Hamburger achtens „ein Segen“. Doch die
schlafen können. Manche sind ge- Modell wahrnehmen könnten. Schweiz gehört arzneimittelrecht-
rade am Anfang der Behandlung Zugang zur Diamorphin-Behand- lich nicht zur Europäischen Union.
obdachlos und schlafen eben dort. lung bekommen nur Suchtkranke, Für Deutschland müsste sich ein
Im Laufe der Zeit und mithilfe der die an anderen Substitutionsthera- Pharmaunternehmen finden, das ei-
Sozialarbeiter von Vista gGmbH, pien gescheitert sind. Warum schei- ne Zulassungsstudie beantragt. Doch
der psychosozialen Betreuung tern manche an der Substitution mit für die wenigen Diamorphin-Pa-
(PSB), die bei Patrida eine Sprech- Methadon, dem häufigsten Substitu- tienten lohnt sich das aus unterneh-
stunde anbietet, finden sie dann ei- tionsmittel? „Über die Funktion und merischer Sicht kaum.
ne Unterkunft. Die PSB muss jede die Wirkung der Substitute hat sich
Diamorphin-Ambulanz vorhalten. bei der Einführung in den Sechzi- Grüne fordern Ausbau
Bei Patrida gibt es einen Kreativ- gerjahren niemand Gedanken ge- Die Grünen fordern aufgrund der
raum, in dem Patienten sich mit macht – Methadon wurde ohne gro- positiven Erfahrungen mit der Dia-
Malen und Werken ausprobieren ße Studienlage irgendwann Gold- morphin-gestützten Behandlung ei-
können und eine Tischtennisplatte. standard“, schickt Peschel vorweg. ne Weiterentwicklung und einen
Die Einrichtung ist an sieben Ta- Patienten berichteten ihm, sie wür- Ausbau des Angebots und haben
gen in der Woche für zwölf Stunden den unter Methadon antriebslos, trä- dazu bereits im April eine Kleine
am Tag geöffnet. Neben Initiator ge, ohne Interesse. Um das wettzu- Anfrage an die Bundesregierung
Peschel, der eine Zulassung als machen, nähmen sie Alkohol, Tab- gestellt. Die anerkennt in ihrer Ant-
Psychiater mit Sonderbedarf hat, ar- letten, Stimulanzien oder Kokain. wort (Drucksache 19/9569) zwar,
beiten in der weitläufigen Praxis Diese „Methadonversager“, die dass diese therapeutische Option
Links: Bücher und
Tische mit Blumen
Foto: picture alliance/Kristin Bethge/dpa
laden zum Aufent-
halt ein.
Rechts: Im „Krea-
tivraum“ können
Foto: Petra Bühring
sich die Patienten
mit Malen und Wer-
ken ausprobieren.
zwei angestellte Fachärzte und zwei dann oft noch Heroin zusätzlich von der Gruppe der Patienten und
Ärztinnen in Weiterbildung. Hinzu spritzten, „sind mit Diamorphin der behandelnden Personen ange-
kommen zwölf nichtärztliche Mit- besser versorgt“, sagt der Arzt. nommen werde. Bedarf für einen
arbeiter: Krankenpfleger, Medizini- Die Diamorphin-Behandlung er- Ausbau der Versorgung sieht die
sche Fachangestellte, Hausmeister, folgt derzeit ausschließlich intrave- Bundesregierung jedoch nicht. Die
aber auch fachfremde Mitarbeiter nös. Wenngleich seit der Ände- Genehmigung und Überwachung
„mit gesundem Menschenverstand, rung der Betäubungsmittelverschrei- der Spezialambulanzen „obliegt
die Lust haben, andere zu beglei- bungsverordnung von 2017 auch den medizinischen Einrichtung vor
ten“, wie Peschel berichtet. andere Darreichungsformen grund- Ort und den Landesbehörden“,
sätzlich zulässig sind. In der heißt es in der Antwort.
Überforderung in Jobcentern Schweiz stehen bereits Diamor- Der Arzt von der Basis indes
Begleiten zum Beispiel in die Job- phin-Tabletten zur Verfügung. Nach sieht den Bedarf an Plätzen in Dia-
center, damit die Patienten nicht Angaben der Bundesregierung wur- morphin-Ambulanzen lange nicht
überfordert werden. „Dort werden de bisher aber weder ein Antrag auf gedeckt. „In Berlin brauchen wir
ihnen Vollzeitjobangebote gemacht, Beratung noch auf ein Zulassungs- rund 800 Plätze“, schätzt er. Patrida
weil sie nicht für krank gehalten verfahren für Diamorphin-haltige bietet 130 Plätze an, die auch nur
werden, sondern nur für drogenab- Tabletten beim BfArM gestellt. selten frei werden. Manche Patien-
hängig oder substituiert“, sagt Pe- „In der Schweiz nimmt bereits ten sind seit sechs Jahren in Be-
schel. Die Betroffenen ließen sich ein Drittel der Diamorphin-substi- handlung. Im nächsten Frühjahr er-
darauf ein, weil sie Sanktionen tuierten Patienten Tabletten statt öffne eine Kollegin eine zweite
fürchteten und scheiterten dann oft- flüssiges Heroin zum Spritzen“, Diamorphin-Ambulanz mit 100
mals. Manche brauchten „ewig“, weiß Peschel. Für Suchtkranke mit Plätzen im Osten der Stadt, in Lich-
um sich davon wieder zu erholen. schlechten Venenverhältnissen, tenberg. Ein kleiner Lichtblick für
Viel sinnvoller sei ein langsamer oder solchen, die spritzenmüde schwerst Suchtkranke, die keine Al-
Einstieg, wie sie langzeitkranke Ar- sind, wären die Tabletten seines Er- ternative mehr haben. Petra Bühring
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