Die taube Zeitmaschine - Eine Zeitreise durch zwei Galaxien

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                 Die taube Zeitmaschine
                 – Eine Zeitreise durch zwei Galaxien
                 In seiner dritten Theaterproduktion begibt sich das Ensemble von Possible World
                 auf eine abenteuerliche Reise durch die Geschichte der Gehörlosen

                 von Michaela Caspar, Rafael Ugarte Chacón und Wille Felix Zante

                 Wenn die eigene Vergangenheit in          mer weniger. Sie können Ihrem Kind       rende Schauspieler. Seitdem haben
                 den Geschichtsbüchern nicht vor-          ein CI einoperieren lassen …             wir den Kurzfilm WIR., der auf inter-
                 kommt, ist diese unsichtbar. Deswe-                                                nationalen Festivals gezeigt wurde,
                 gen gehen gehörlose und hörende           H: … Wieso CI? Brauch ich nicht, ich     und das Theaterstück MEDEA! DIE
                 Jugendliche und junge Erwachsene          kann genug hören. Das brauch ich         WAHRHEIT! ME DEA F! produziert.
                 gemeinsam auf eine Forschungsrei-         nicht. Dein Beeinflussen brauch ich          MEDEA! war unsere zweite Thea-
                 se in die Geschichte der Gehörlosen.      nicht. Dein Aufzwingen brauch ich        terproduktion und sehr schwierig zu
                 Eine erstaunliche und weitgehend          nicht. Nerv nicht! Hau ab! Du hast       proben. Es war ein von einem Laut-
                 unbekannte Geschichte von der Ent-        kein Gefühl vom Kummer eines Kin-        sprachler geschriebener Stücktext:
                 wicklung einer lebendigen Gemein-         des, kein bisschen. Ein CI hilft oder    ein langes Stück und für uns in der
                 schaft mit eigener Sprache und Kul-       hilft nicht. Doof! Operation, dazu       Gruppe inhaltlich kaum zu bewerk-
                 tur, aber auch von der Verfolgung         Geld verschwenden. Ärzte beuten          stelligen. Letztendlich haben wir
382   DZ 98 14   und Unterdrückung einer Minder-           aus. Ich sehe sie als schlimme Leu-      einen Auszug aus dem Stück ge-
                 heit durch eine Mehrheit. Wie sieht       te, boah! ...                            spielt. Den Text in Gebärdensprache
                 es nun im Jahr 2014 aus? Ist die Zeit          Meine Eltern wollen, dass ich ein   zu übertragen und die Inhalte der
                 der Bevormundung vorüber? Was             CI trage, aber ich blocke das ab, ich    Gruppe nahezubringen, war kompli-
                 wissen Hörende überhaupt über Ge-         mag das nicht. Ich möchte natürlich      ziert. Irgendwie war das für mich ein
                 hörlose? Was Gehörlose über Hören-        sein, es ist schön: meine Identität      Schock. Ich hatte nicht mit so großen
                 de? Und was ist eigentlich ein Coch-      und mein Charakter. Wenn ich spä-        Unterschieden gerechnet.
                 lea-Implantat?                            ter Kinder bekomme und sie gehör-            Ich las damals bereits über die Ge-
                                                           los wären, würde ich ihnen niemals       schichte der Gehörlosen und begeg-
                                                           ein CI geben. Ich würde sie natürlich    nete Begriffen wie „Paternalisierung“
                 Szene – Meinungen zum Coch-               aufwachsen lassen, so wie sie sind.      und „Kolonialisierung“. Nach unserer
                 lea-Implantat                             Das ist schön.                           Premiere war mir klar, dass ich mei-
                                                                                                    ne Arbeitsweise verändern wollte.
                 N: Ich heiße N., ich bin taub. Ich habe   Michaela Caspar, Regisseurin                 Jetzt proben wir unser neues
                 letztes Jahr eine Lehre abgeschlossen                                              Stück, das den Titel Die taube Zeitma-
                 als Metallfacharbeiter und arbeite        Berlin, Freitag, der 3. Oktober 2014,    schine trägt. Wie kamen wir auf unser
                 in meinem Beruf. Ich möchte Meis-         10 Uhr: Ich bin gerade dabei, die Pro-   Thema? Zum einen sprachen mich
                 ter werden und dann eine eigene Fir-      ben für das Wochenende vorzube-          nach unseren Vorstellungen von
                 ma aufbauen. Inklusiv. Die Hören-         reiten. Im Dezember haben wir Pre-       MEDEA! oft Hörende an. Sie woll-
                 den, die bei mir arbeiten, müssen ein     miere und jetzt „reflektierend“ auf      ten etwas über Gehörlose wissen.
                 bisschen gebärden lernen, damit wir       unsere Probenarbeit zu blicken, ist      Die meisten von ihnen wussten ein-
                 kommunizieren können.                     mir nicht möglich. Dazu bin ich zu       fach nichts. Über die Geschichte der
                     Das CI ist für mich negativ. Grund:   sehr in das Entwickeln von Szenen        Gehörlosen gibt es in Schulbüchern
                 Die Ärzte, die ganz oben stehen, und      involviert und vielleicht auch zu ner-   vielleicht einen Satz, und der betrifft
                 die Therapeuten, beide beeinflussen       vös. Hier mein Versuch einer kleinen     die Zeit des Nationalsozialismus. Es
                 ganz stark die hörenden Eltern. Sie       Beschreibung:                            schien mir aber, dass die Personen In-
                 gucken ihr gehörloses Kind an, wis-           2009 hatten wir mit unserem          teresse hatten, mehr zu erfahren. Zum
                 sen nicht, was sie tun sollen, dann ge-   ersten Theaterstück Frühling Er-         anderen kenne ich fast ausschließlich
                 hen sie zum HNO-Arzt. Die hörenden        wache! Premiere. Es spielten gehör-      Hörende, die das CI als Errettung der
                 Eltern wissen gar nichts über Gehör-      lose, schwerhörige und mehrfach-         Gehörlosen verstehen und überhaupt
                 lose. Und dann sagt der Arzt zu ihnen:    behinderte Schüler der Ernst-Adolf-      nicht begreifen können, dass es Ge-
                 Die Gehörlosenschulen werden im-          Eschke-Schule in Berlin sowie drei hö-   hörlose gibt, die das CI ablehnen oder

                              Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
Kultur

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 ihm gegenüber kritisch sind. Für die-   provisationen der Gruppe, persön-         bracht. Vieles blieb in seiner improvi-
 se beiden Themenkreise – Geschichte     liche Positionen zum CI, eigene Le-       sierten Form erhalten, manches wur-
 und CI-Debatte – wollte ich nun eine    benserfahrungen, selbst erstellte Zeit-   de weiterentwickelt. Texte, die die hö-
Verknüpfung finden.                      zeugeninterviews, Recherchemate-          rende Position betreffen, wurden teils
     Dafür haben wir eine neue           rial, das aus der Taubengemeinschaft      nach dem gleichen Prinzip erarbeitet.
Arbeitsweise gefunden. Für die Posi-     kommt, von Gehörlosen produzier-          Zum Teil sind es Dokumente, aber ei-
 tion der Gehörlosen nehmen wir nur      te Filme und TV-Sendungen zu Ge-          niges wurde auch direkt von unserem
„Text-Material“, das wirklich von Ge-    schichtsthemen – all dies haben wir       hörenden Autor geschrieben.
 hörlosen stammt. Das bedeutet, dass     recherchiert, angesehen und damit             Auch die Musik wird auf Gehör-
 der Anteil am Stück, der von Gehör-     weitergearbeitet. Unser Autor, Till Ni-   lose zugeschnitten sein. Der Kompo-
 losen stammt, viel größer ist als bei   kolaus von Heiseler, hat das Mate-        nist Jan-Peter Sonntag begleitet das
 unseren vorigen Produktionen. Im-       rial bearbeitet und in Szenenform ge-     Stück mit Klängen, die sich in dem

                            Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
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                 Frequenzbereich bewegen, den so-           Auch arbeiten wir erstmals mit einem       ber nicht entscheiden kann. Aber ich
                 wohl Hörende als auch Gehörlose            gehörlosen Dramaturgen. Nicht nur          glaube, wenn man das Kind schon
                 wahrnehmen können. Dabei geht              wegen der verschiedenen ‚Hörfähig-         früh ins Sprechen reinbringt, dass
                 es vor allem um die Wahrnehmung            keiten‘ ist diese Gruppe inklusiv, es      dann wirklich andere Chancen be-
                 von Schall, die nicht über das Ohr ver-    sind auch Menschen aus völlig ver-         stehen, gerade was den Bildungsweg
                 läuft: Wir spüren die Musik in unse-       schiedenen Lebensbereichen: von der        betrifft.
                 ren Muskeln, auf unserer Haut, in          wissenschaftlichen Mitarbeiterin aus       E: CI hilft beim Hören gut, man hat
                 unseren Organen – das haben wir            dem Bundestag bis zum Mädchen, das         mehr Chancen, aber die Reaktion …
                 alle gemeinsam.                            gerade die Schule abgebrochen hat.         Es ist nah am Gehirn. Ein Drittel der
                      Die Gruppe besteht aus 13 Dar-        Für mich ist das jeden Tag wieder inte-    Personen haben einen Bruch im Kör-
                 stellern. Sie sind gehörlos, schwerhö-     ressant und es birgt immer Unerwar-        per, bei zwei Dritteln klappt und läuft
                 rig, CI-Träger, mehrfachbehindert und      tetes und Spannendes. Ich glaube und       es. Aber eine Reaktion im Körper ist
                 hörend. Unsere Gruppe hat sich verän-      hoffe, dass diese unsere dritte Thea-      immer da.
                 dert. Sie ist ‚gehörlosenlastig‘ gewor-    terproduktion unsere persönlichste         J: CI bedeutet: die Aufnahme ist an-
                 den, und Gebärdensprache spielt eine       Arbeit wird.                               ders, metallisch, tack tack tack tack,
                 größere Rolle auch im Probenprozess.                                                  anders als normale Hörende aufneh-
                 Einige Darsteller sind seit 2009 dabei.    Improvisation zur Szene                    men. Ich mag das nicht.
                 Sie sind jetzt keine Schüler mehr. Vie-    Kamerakreis – Streit ums CI                I: Wenn das CI schon drin ist, dann
                 le haben bereits eine abgeschlossene                                                  gibt es so ein Hin und Her innen. Und
                 Lehre und arbeiten in ihren Berufen.       C: Es ist bestimmt nicht politisch         die Identität ist schlecht.
                 Aber es ist auch ein gehörloser, profes-   korrekt, dass ich das jetzt sage, aber     P: Nicht hören zu können, halte ich
                 sioneller Darsteller hinzugekommen,        ich bin für das CI. Es ist natürlich to-   für einen schlimmen Verlust an Teil-
                 der eine enorme Kraft, Spielfreude,        tal krass, wenn man die Entschei-          nahme. All die Klänge dieser Welt,
                 Kreativität und Wissen mit einbringt.      dung für ein Kind trifft, dass das sel-    natürlich oder von Menschen ge-

                               Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
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macht. Das nicht haben zu können,            griert werden und deswegen bin ich          Stücks, die Teile, wo ich mitspiele. Es
muss furchtbar sein. Daher bin ich           für das CI.                                 ist spannend, zu früh zur Probe zu
für das CI.                                  C: Ich glaube, es ist unrealistisch, dass   kommen und die zu sehen, die vor
I: CIs machen aus Menschen Roboter.          Hörende alle Gebärdensprache ler-           mir spielen. Dann knüpft eine Impro-
F: Ich habe selbst ein CI. Es gibt Positi-   nen. Minderheiten müssen sich an-           visation an eine andere Improvisa-
ves und Negatives. Mein Gefühl zum           passen.                                     tion an, das Improvisierte wird zum
Positiven: Ich kann hören und helfen.        E: Minderheiten müssen akzeptiert           Text, der Text zur Szene. Der Raum
Zum Beispiel wenn Gehörlose nicht            werden. Wir sind Menschen, wir sind         wird komplett ausgefüllt von uns.
sprechen können, kann ich dolmet-            keine Tiere.                                     Ich weiß nicht, wann sich schon
schen. Dann helfe ich in der Kommu-                                                      einmal ein Stück so mit der Gehör­
nikation und das klappt! Positiv ist         Wille Felix Zante, Darsteller               losengeschichte auseinandergesetzt
auch, dass ich bei meiner Arbeit die         und Dramaturg                               hat, den Bogen von Epée übers „Drit-
Maschinen höre, die Geräusche, und                                                       te Reich“ zum CI spannt und dabei
auch hören kann, wenn sie kaputt             Theater kenne ich eigentlich nur aus        einen neuen Text erstellt, und ir-
sind. Das braucht das Hören. Anru-           dem Publikum heraus, wenn ich es            gendwie passt das Ganze auch zu-
fen geht nicht. Die Geräusche gehen          mir selber angucke. Erste Erfahrun-         sammen. Ich weiß nicht, wie es bei         DZ 98 14   385
durcheinander. Ich brauche das Hö-           gen habe ich dann viel später auf           den anderen Stücken war. Vielleicht
ren für Musik und Kulturen. Dafür            einem deutsch-französischen Aus-            ist dadurch, dass ME DEA F! mehr auf
ist es gut.                                  tausch gesammelt, der auch ein Thea-        einem Text basierte – vielleicht mehr
E: Was ist nicht gut? Was?                   terworkshop war, aber eben auch nur         noch als bei Frühling Erwache! – die
F: Geräusche im Kopf. Schmerzen.             ein Workshop. Zweimal eine knap-            Vorbereitung eher ein Auswendig-
Wenig Strom. Kopf und Herz.                  pe Woche, einmal in Marseille, ein-         lernen gewesen. Bestimmt war es ir-
C: Wie ist das mit dir? Würdest du sa-       mal in Hamburg, da dann auch die            gendwo auch ein Prozess – aber der
gen, deine Welt ist hörend? Oder ge-         Aufführung. Ich habe also keine Ah-         fällt mir hier besonders auf. Die Zeit-
hörlos?                                      nung, was auf mich zukommt, als             maschine ist kein monumentales Pro-
W: Es gibt nur eine Welt.                    ich Michaela vor einem Jahr zusage,         dukt einer Einzelperson, einem Ge-
Y: Für mich ist wichtig: Bist du glück-      mitmachen zu wollen beim nächs-             niestreich entsprungen, das dann nur
lich oder bist du unglücklich mit den        ten Stück nach ME DEA F! und Früh-          noch auswendig gelernt wird, son-
CIs?                                         ling Erwache!.                              dern ein organisches Miteinander.
W: Hmmm. Beides gleichermaßen.                   Es geht langsam los – mit Brain-        Der Text schleicht sich langsam in
C: Ich glaube, dass die Welt hart und        storming und Ideensammlungen,               die eigenen Hände und den Mund,
grausam ist und das man besser da-           vier Leute in einem überdimensio-           wird gedacht und ausgesprochen, als
rin bestehen kann, wenn man ein              nal großen Probenraum, Overkill für         wäre es ein eigener.
bisschen mehr wie die Mehrheit ist,          einen Tisch und Schreibwerkzeug.                 Die Aufführung ist im Dezember,
also hören kann.                             Eine lange Pause, dann kommen die           es ist jetzt Oktober. Einerseits wirkt
E: Ich bin gegen das CI, weil ich glau-      ersten Proben mit den Schauspielern,        die Premiere noch weit entfernt, an-
be, die Welt ist sehr, sehr hart und         wo wir uns kennenlernen, wo ich             dererseits weiß ich mit dem Kopf
man sollte sich nicht in eine Gesell-        die anderen kennenlerne. Der Raum           auch, dass zwei Monate schnell um
schaft eingliedern, in der man gar           wird kleiner. Es wird improvisiert, he-     sind – aber es fühlt sich an, als ob der
nicht so gut kommunizieren kann.             rumgespielt. Wir lernen Zeitzeugen          Zeitdruck dem Stück nur gut tun kann.
In seiner eigenen Gesellschaft kann          kennen, Gehörlose aus der Nazizeit.
man viel besser einen Anhaltspunkt           Wir filmen Interviews mit ihnen für         Szene – die junge Darstelle-
finden! Warum sollte man sich dann           das Stück. Wir proben weiter. Wieder        rin C. interviewt die Seniorin
ein CI einbauen lassen?                      eine lange Pause.                           Frau K.
P: Es sollte in Deutschland keine Pa-            Es wird ernst – mit Szenen, die
rallelwelten geben und deswegen              sich herauskristallisieren, und ich         C: Hatten Sie Sprechunterricht? War
müssen auch die Gehörlosen inte­             sehe immer mehr nur Teile des               das schwer?

                               Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                 (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
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                 K: Die Sprache zu lernen, war sehr        wissen? Die hörenden Menschen, be-       E: Hat deine Mutter Geschwister?
                 schlimm. War grausam. Weil ich            sonders in Deutschland, die denken,      S: Ja, sie hat eine Schwester. Auch
                 auch oft den Ton nicht richtig formu-     die Taubstummen sind doof. Haben         taub, auch sterilisiert. Mutters
                 lieren konnte. Also musste ich immer      alle eine Macke. Bei den Blinden oder    Schwester hatte kein Kind.
                 wiederholen, immer wieder wieder-         bei den Krüppeln hat man mehr Ver-       E: Deine Tante hatte also kein Kind?
                 holen. Wenn man nicht hören kann,         ständnis. Aber bei den Gehörlosen        S: Sie lebte kurz. Mit 23 Jahren ist sie
                 ist es schwierig, die richtige Ausspra-   heute immer noch nicht. „Was soll        gestorben. Sie wurde in der Nazizeit
                 che zu führen. Es waren neun harte        ich mich mit dir abgeben? Du bist        eingeschläfert. Ja, mit 23, so war das.
                 Jahre gewesen für meine Großmut-          doch minderwertig.“ Das find ich         E: Würdest du gerne hörend sein?
                 ter, um mich so weit zu bringen. So-      richtig beschämend, wie die Hören-       S: Nein. Ich fühle mich wohl. Ich bin
                 bald ich etwas nicht richtig ausge-       den die Gehörlosen behandeln, find       zufrieden.
                 sprochen habe, beim dritten, vierten      ich einfach nicht gut.
                 Mal, bekam ich eine Schelle. Das war      C: Wenn Sie selbst noch mal geboren      Rafael Ugarte Chacón,
                 nicht schön. Ich bin auch aus dem         würden, möchten Sie hören?               Dramaturg
                 Fenster gesprungen aus dem ersten         K: Schön wär’s, wenn ich hören
386   DZ 98 14   Stock, weil ich nicht mehr sprechen       könnte und eine bessere Jugend ha-       Was ist das Besondere an der Ästhe-
                 wollte, ich wollte meine Ruhe haben.      ben würde, nicht so, wie ich es ge-      tik unserer Inszenierungen? Wenn
                 Es war sehr streng. Deswegen hat-         habt habe: Schläge, danke schön, ich     wir für Gehörlose und Hörende spie-
                 te ich auch keine schöne Kindheit.        möchte kein Kind mehr sein.              len wollen, warum stellen wir dann
                 Das ist ein Vorteil und Nachteil, da-                                              nicht einfach ein paar Dolmetscher
                 für kann ich heute gut reden. Wenn        Szene – der junge Darsteller E.          auf die Bühne? Ganz einfach: Weil
                 sie mich nicht dazu gezwungen hät-        interviewt die Seniorin Frau S.          eine Aufführung für Hörende mit Ge-
                 te, würde ich wahrscheinlich heute                                                 bärdensprachdolmetschern eben im-
                 nicht sprechen können.                    E: Was war dein schlimmstes Erleb-       mer noch eine Aufführung primär
                 C: Wo ist Ihre Heimat?                    nis im Leben?                            für Hörende ist. Umgekehrt gilt das
                 K: Meine Heimat ist die Gehörlosen-       S: Ausgebombt! Im Zweiten Welt-          auch für Aufführungen in der Gehör-
                 welt. Zurück zu der hörenden Welt         krieg. Ich war im Kindergarten. Als      losenkultur, die in Lautsprache ge-
                 möchte ich nicht mehr gehen. Ist zu       ich nach Hause kam, war alles aus-       dolmetscht werden. Wir wollen aber
                 anstrengend für mich. Ich muss alles      gebombt. Meine Mutter hat überlebt.      ein Theater machen, bei dem Hören-
                 vom Mund ablesen. Früher konnte           Ich habe geweint, geweint, geweint.      de und Gehörlose von Anfang an mit
                 ich das noch leisten, aber jetzt funk-    Mama kam zu mir, hat mich umarmt.        gedacht werden. Inszenierungen,
                 tioniert das nicht mehr, vorbei.          Das ist dann aber eine schöne Erin-      die das künstlerische Potenzial, das
                 C: Welchen Beruf haben Sie gelernt?       nerung.                                  Gehörlose und Hörende einbringen,
                 K: Ach wunderbar, eine schöne Fra-        E: Haben die Nazis deine Mutter ste-     auch nutzen und niemanden in die
                 ge, die Sie mir stellen. Keinen Beruf     rilisiert?                               Übersetzerrolle drängen. Auf diese
                 hab ich gelernt. Damals war das nicht     S: Ja, Mama, ja.                         Weise hat sich in den letzten Jahren
                 möglich gewesen, dass man techni-         E: Was ist dann passiert? War sie tap-   unsere Ästhetik entwickelt, die ich
                 sche Zeichnerin oder Friseuse wer-        fer? Oder traurig?                       im Theater der Hörenden und auch
                 den kann. Heute sieht die Welt schon      S: Die Hauptsache für sie war, dass      dem der Gehörlosen ansonsten nicht
                 ganz anders aus. Es wird auch mehr        ich da war, sie hatte so eine Tochter.   entdecken konnte.
                 für die Gehörlosen getan. Und ich         Ich habe keine Geschwister. Kein Bru-        Wir arbeiten viel mit Ein- und
                 find das gut, dass die Jungen heute       der, keine Schwester, weil Mutter ste-   Ausschlussverfahren. So wird der
                 mehr Selbstbewusstsein haben. Find        rilisiert wurde, das war drei Monate     Text teilweise in Gebärdensprache
                 ich toll.                                 nach meiner Geburt.                      oder LBG, teilweise in Lautsprache ge-
                 C: Was glauben Sie, was Hörende           E: Würdest du gerne Geschwister ha-      äußert. Allerdings handelt es sich da-
                 über Gehörlose denken?                    ben?                                     bei nicht um Verdolmetschung, son-
                 K: Wollt ihr wirklich die Wahrheit        S: Ja.                                   dern um eine asymmetrische Infor-

                              Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
Kultur

mationsvergabe. Je nachdem, wel-
chen sprachlichen Hintergrund ich
                                               Die taube Zeitmaschine.
habe, erhalte ich z. T. unterschiedli-
                                               12./13./14. Dezember 2014 – 20 Uhr
che Informationen zu unterschied-
                                               23./24./25. Januar 2015 – 20 Uhr
licher Zeit. Das bedeutet, dass je-
                                               Ballhaus Ost
der im Publikum die Erfahrung des
                                               Pappelallee 15
zeitweiligen Nichtverstehens und
                                               10437 Berlin
Ausgeschlossenseins aufgrund der
                                               Reservierung über karten@ballhausost.de oder Tel. 030 44 039 168
Sprache macht – eine Erfahrung, die
für Gehörlose alltäglich ist, aber Hö-
                                               Mit Asya Avagyan, Johanna Böttcher, Hend El-Kadi, Emilia von
rende sehr verunsichern kann.
                                               Heiseler, Inara Ilyasova, Erdal Kar, Eyk Kauly, Peter Marty,
    Aber warum wollen wir Leute
                                               Nikola Vujicic, Frank Weigang, Wille Felix Zante, Cordula Zielonka
verunsichern? Gehörlose und Hö-
rende sind unterschiedlich. Sie neh-
                                               Regie: Michaela Caspar // Stück nach Improvisationen der Gruppe:
men die Welt anders wahr, haben
                                               Till Nikolaus von Heiseler // Raum und Komposition: Jan-Peter                              387
verschiedene Umgangsformen und                                                                                                 DZ 98 14
                                               Sonntag // Kostüm: Gabriele Wischmann // Gebärdensprachüber-
eigene Sprachen. Im Alltag führt dies
                                               tragung und Körperarbeit: Anka Böttcher // Dramaturgie und
oft zu Unverständnis, Diskriminie-
                                               Recherche: Rafael Ugarte Chacón, Wille Felix Zante // Video: Jens
rung und Konflikten. Wir wollen die-
                                               Kupsch // Produktion: Daniel Schrader // Maske: Janina Kuhlmann
se Unterschiede sichtbar machen und
                                               // Assistenz und Fotografie: Max Neu // Praktikanten: Jana Bien-
zeigen, dass die Kommunikation mit-
                                               roth, Lena Klein, Thamara Logeswaran, Martin Weller
einander nicht immer einfach ist.
Aber dass es trotzdem geht.
                                               Gefördert durch Aktion Mensch, den Projektfonds Kulturelle Bil-
    Nicht zuletzt denke ich, dass wir
                                               dung und den Fonds Soziokultur. Eine Produktion von Possible
mit unserer Arbeit zeigen, dass Dif-
                                               World e. V. in Kooperation mit dem Ballhaus Ost.
ferenz und Heterogenität ein ästhe-
tisches Potenzial bergen. Inklusion
muss keine Pflichtübung und kei-
ne lästige Aufgabe sein, sondern sie
kann spannende, interessante, aufre-           mit einer Gruppe aus gehör-               dem Titel Theater und Taub-
gende, verstörende, lustige, traurige,         losen und schwerhörigen Ju-               heit bei transcript (Bielefeld) er-
provokante und erhellende Ergebnis-            gendlichen sowie professionel-            scheinen. Seit 2010 arbeitet er
se hervorbringen, die man sich bis-            len Schauspielern zusammen.               für Possible World e. V., erst als
her nicht vorstellen konnte. Und sei           Die Theater- und Filmprojekte             Produktionsassistent, dann als
es auch nur, dass Gehörlose und Hö-            von Possible World wurden be-             Dramaturg.
rende gemeinsam das Theater besu-              reits für mehrere nationale und
chen. Wer hätte das schon für mög-             internationale Auszeichnungen             Wille Felix Zante ist taub, hat
lich gehalten?                                 nominiert.                                Cochlea-Implantate und ist
                                                                                         schwerhörig. Er hat an der Uni-
                                               Rafael Ugarte Chacón promo-               versität Hamburg seinen Ma-

    i
                                               vierte am Institut für Theater-           gister in den beiden Hauptfä-
                                               wissenschaft der Freien Uni-              chern Gebärdensprachen und
                                               versität Berlin über Theaterauf-          Amerikanistik gemacht. Bei
      Michaela Caspar ist Schauspie-           führungen, die sich gleicherma-           Possible World e. V. ist er Dar-
      lerin und Regisseurin. Seit 2008         ßen an Gehörlose und Hören-               steller und Dramaturg.
      arbeitet sie im gemeinnützi-             de richten. Seine Doktorarbeit
      gen Verein Possible World e. V.          wird im Sommer 2015 unter                 E-Mail: mail@possibleworld.eu

                            Beitrag aus: DAS ZEICHEN 98/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                              (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
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