Die USA unter Joe Biden: Kehrtwende oder "America first light"? - ifo Institut
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ZUR DISKUSSION GESTELLT Die USA unter Joe Biden: Kehrtwende oder »America first light«? Am 20. Januar 2021 wird Joe Biden als der 46. Präsident der USA ins Weiße Haus einziehen. Mit dem Machtwechsel in Washington werden in Deutschland und in Europa große Erwartungen und Hoffnungen verbunden. Viele versprechen sich eine Entspannung der transatlantischen Beziehungen sowie die Rückkehr der USA zum Multilateralismus und einer regelbasierten internationalen Ordnung. Auch in der Wirtschaftspolitik wird mit Veränderungen gerechnet, die vor allem der Handels- und der Klimapolitik positive Impulse verleihen würden. Sind die Hoffnungen auf eine neue politische Ära berechtigt? Philipp Hauber US-Wirtschaftspolitik unter Joe Biden: Pläne und Umsetzbarkeit vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie Mit der Wahl Joe Bidens zum 46. Präsidenten der vor, dass die Ausgaben bis zum Jahr 2030 zwischen Vereinigten Staaten ist mit erheblichen Verände- 2 bis 4 Billionen Dollar umfassen dürften. rungen in der Wirtschaftspolitik zu rechnen. Seine Ein wichtiger Bestandteil der Bidenschen Agenda Agenda sieht weitreichende Ausgaben vor allem in ist die Ausweitung der Krankenversicherung im Rah- den Bereichen Infrastruktur, erneuerbare Energien men des »Affordable Care Act« sowie die Möglich- und Bildung vor. Finanziert werden sollen diese Maß- keit, dass Bürger der Vereinigten Staaten Medicare nahmen zum Teil durch Steuererhöhungen. In einer bereits ab einem Alter von 60 statt vormals 65 Jah- Abschätzung geht das Comittee for a Responsible ren in Anspruch nehmen können. Das CRFB geht von Budget (CRFB) von zusätzlichen Defiziten in den Jah- Mehrausgaben in diesem Bereich in Höhe von etwa ren 2021 bis 2030 in Höhe von 5,6 Billionen Dollar aus 2 Billionen Dollar aus. In der Sozialpolitik setzt Biden (CFRB 2020). vor allem bei der Bildung Akzente. So soll der Zugang zur Kinderbetreuung ausgeweitet und vergünstigt KEHRTWENDE IN DER KLIMA- UND werden. Im Bereich der Hochschulpolitik folgt die STEUERPOLITIK Regierung einem Gesetzentwurf von Bernie Sanders, der vorsieht, dass Studierende aus Familien mit ei- Einen deutlichen Bruch mit der Vorgängerregierung nem jährlichen Einkommen von bis zu 125 000 Dollar stellt die Klimapolitik dar. So werden unter Präsident in den ersten beiden Jahren ihres Studiums keine Biden die Vereinigten Staaten wieder dem Pariser Gebühren zahlen müssen. Des Weiteren ist ein Vor- Klimaabkommen beitreten. Des Weiteren bekennt schlag zum Erlass von Studienkrediten im Gespräch. sich die Regierung zu dem Ziel, bis zum Jahr 2050 Alles in allem umfassen die Maßnahmen in diesem die Nettotreibhausgasemissionen auf null zu reduzie- Bereich Mehrausgaben in Höhe von 2,7 Billionen ren; für die Stromerzeugung soll dies bereits ab dem Dollar. Hinzukommen eine Auswei- Jahr 2035 gelten. Um dies zu erreichen, hat Biden im tung des sozialen Wohnungsbaus Wahlkampf mehrere Programme vorgeschlagen, die (750 Mrd. Dollar) sowie höhere sich teilweise überschneiden. Diese beinhalten die sozialstaatliche Transfers im Förderung der erneuerbaren Energien und E-Mobili- Rahmen der Social Security In- tät, Gebäudesanierungen und ein Ausbau des (emis- come und Supplemental Secu- sionsfreien) öffentlichen Nahverkehrs. Zusätzlich soll rity Income-Programme (1,1 Bio. Philipp Hauber die Forschung im Bereich der negativen Emissions- Dollar). technologien vorangetrieben werden. Alles in allem Auch mit Blick auf die Steuer- ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungszentrum »Konjunk- herrscht angesichts der Vielzahl an Plänen und mög- politik unterscheidet sich Bidens tur und Wachstum« am Institut licher Doppelzählungen Unsicherheit über das finan- Programm deutlich von jenem für Weltwirtschaft in Kiel. zielle Volumen der Maßnahmen. CRFB (2020) rechnet seines Vorgängers. Die Regierung ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT hat vor, die Steuersätze insbesondere für Spitzen- Aufträgen zu bevorzugen. Außerdem plant er die För- verdiener mit einem Jahreseinkommen von mehr als derung von Forschungs- und Entwicklungsausgaben 400 000 Dollar zu erhöhen und damit im Wesentli- an nationale Beschäftigungsgarantien zu koppeln, chen die Änderungem im Rahmen des »Tax Cuts and damit Industriejobs in den Vereinigten Staaten blei- Jobs Act« (TCJA) der Trump-Regierung rückgängig zu ben bzw. dorthin zurückverlagert werden. Neben den machen. Außerdem sollen auf Einkommen ab dieser Mitteln unterscheiden sich auch die Begründungen Grenze künftig 12,4% Sozialversicherungsbeiträge der Ansätze. Unter Präsident Trump wurde merkan- (Social Security payroll tax) entfallen, die jeweils zur tilistisch argumentiert: Der internationale Handel sei Hälfte von Arbeitgeber und -nehmer getragen wer- ein Nullsummenspiel, Handelsdefizite ein Ausdruck den.1 Auch im Bereich der Körperschaftsteuer werden von (volkswirtschaftlicher) Schwäche und schlecht Teile des TCJA zurückgedreht: So will die Regierung ausgehandelter Rahmenbedingungen; Zölle wären den Spitzensteuersatz von 21 auf 28% erhöhen. Des demnach ein geeignetes Mittel, um ausländische Weiteren soll ein Mindeststeuersatz von 15% für Un- Konkurrenten zu schwächen oder Handelspartner ternehmen mit einem jährlichen Gewinn in Höhe von am Verhandlungstisch zu Konzessionen zu zwingen. mindestens 100 Mio. Dollar gelten. Insgesamt rechnet Die Argumentation von Biden richtet sich hingegen das CRFB mit Mehreinnahmen in Höhe von 4,3 Billio- in erster Linie an die eigene Bevölkerung und stellt nen Dollar in den kommenden zehn Jahren. Die Tax die Schaffung von (gut bezahlten) Industriejobs Foundation setzt diese mit 3,3 Billionen Dollar deut- sowie die Förderung von strukturschwachen Regi- lich niedriger an und rechnet vor, dass die verfügba- onen in den Vordergrund. Weitere geplante Maß- ren Einkommen in Folge der Maßnahmen im Durch- nahmen wie die Erhöhung des bundesweiten Min- schnitt um knapp 2% sinken dürften; mit 7,7% fielen destlohns oder eine gesetzlich gestärkte Verhand- die Einkommensverluste für die oberen 1% der Ein- lungsmacht von Gewerkschaften fügen sich in diesen kommensverteilung deutlich höher aus (Watson et al. Rahmen. 2020). Modellgestützte Analysen der wirtschaftlichen Die möglichen Folgen einer solchen Politik der Folgen des Programms Bidens unter Berücksichtigung Importsubstitution dürften freilich in beiden Vari- von makroökonomischen Wechselwirkungen kommen anten ähnlich sein: Durch den Schutz vor ausländi- zu unterschiedlichen Einschätzungen. Äußerst negativ scher Konkurrenz entgehen den Vereinigten Staaten beurteilen Ökonomen der Hoover Institution Bidens Handelsvorteile, und staatliche Großaufträge werden Wahlprogramm: Hasset et al. (2020) ermitteln einen teurer für die Steuerzahler; zudem werden dadurch Rückgang des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner ineffiziente Strukturen zementiert, was das Produk- um 8%, wenn die von Biden geplanten Steuer- und tionspotenzial schmälert. Mit Blick auf die Handels Subventionserhöhungen so wie verschärfte Regulie- partner der Vereinigten Staaten könnte es den Trend rungsvorschriften umgesetzt werden. Noch stärker beschleunigen, dass sich ausländische Firmen vor Ort sinkt in diesem Modell der Kapitalstock je Einwoh- niederlassen, um bei öffentlichen Ausschreibungen ner (14%). Hingegen dürfte laut PWBM (2020) im Jahr nicht benachteiligt zu werden. Damit würden sie auch 2030 das Bruttoinlandsprodukt und der Kapitalstock Vorgaben und Auflagen nationaler Industrie- und Si- gegenüber der aktuellen Gesetzeslage nur etwas nied- cherheitspolitik ausgesetzt, die ihren unternehme- riger ausfallen (0,4 bzw. 0,7%); der Schuldenstand rischen Zielen widersprechen könnten. Fraglich ist (im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung) bliebe quasi letztlich, ob eine solche Politik der Importsubstitution unverändert.2 erfolgreich sein kann. Trumps Bilanz war in dieser Hinsicht wenig glanzvoll: Weder die Beschäftigung »MADE IN ALL OF AMERICA« STATT noch die Produktion nahmen in den Jahren 2017 bis »MAKE AMERICA GREAT AGAIN« 2019 in den besonders durch Zölle protegierten Auto- mobil-, Stahl- oder Aluminiumbranchen stark zu (Gern Weniger deutlich sind die Unterschiede zwischen und Hauber 2020). So erscheint denn auch Bidens Biden und Trump hingegen in der Industrie- und Versprechen, 5 Millionen Arbeitsplätze im Verarbei- Außenwirtschaftspolitik. Beide wollen letztlich die tenden Gewerbe zu schaffen – dies entspricht einem heimische Industrieproduktion stärken und die Nach- Anstieg von 40% gegenüber dem Jahr 2019 – reichlich frage nach Erzeugnissen ausländischer Hersteller optimistisch. verringern (Langhammer 2020). Während Präsident Trotz gewisser Überschneidungen mit seinem Trump dabei vorrangig auf Zölle setzte, sieht Biden Vorgänger und der teils protektionistischen Rhetorik verschärfte »Buy-American«-Regeln vor, um inlän- in Bidens Wahlprogramm dürfte nach dem Wechsel dische Hersteller bei der Vergabe von öffentlichen dennoch ein anderer Wind aus Washington wehen. 1 Einkommen, die über der bisherigen Beitragbemessungsgrenze Zwar wird auch eine Biden-Regierung zuerst US-ame- von 137 700 Dollar, aber unter 400 000 Dollar liegen, sind nicht abga- rikanische Interessen vertreten. Allerdings dürfte sie benpflichtig. Das Loch, das dadurch in der Besteuerung entsteht, wird in der politischen Debatte als »donut hole« bezeichnet. dabei diplomatischer, berechenbarer und pragmati- 2 Die große Diskrepanz zwischen den Analysen dürfte zum Teil dar- scher agieren. Zölle oder Zolldrohungen außerhalb auf zurückzuführen sein, dass unterschiedliche Aspekte Bidens Wahl- programms simuliert wurden. So berücksichtigen PWBM (2020) auch des WTO-Rechts dürften der Vergangenheit angehö- die Folgen höherer öffentlicher Investitionen. ren. Zudem erscheint es wahrscheinlicher, dass die 4 ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT Europäische Union mit der US-Regierung in Fragen Repräsentantenhaus verabschiedete HEROES-Act um- wie dem Airbus-Boeing-Konflikt, einem möglichen fasste Maßnahmen in Höhe von knapp 3 Billionen Dol- CO2-Grenzausgleich oder einer gemeinsamen Position lar – abweichen, um die Zustimmung der Republikaner gegenüber China zu einer einvernehmlichen Lösung im Senat zu erhalten. So erhalten US-Steuerzahler kommen kann. Einmalzahlungen in Höhe von lediglich 600 Dollar, und die Arbeitslosenversicherung wird für elf Wochen um COVID-19-KRISE SCHRÄNKT BIDENS 300 Dollar pro Woche aufgestockt. HANDLUNGSSPIELRÄUME EIN Nachdem es den Demokraten Anfang Januar gelang, in Stichwahlen die beiden Senatssitze aus Wie viel dieser ambitionierten Agenda Biden umset- Georgia zu gewinnen, sind die Stimmverhältnisse in zen kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abzu- der oberen Kammer des Kongresses nun ausgeglichen, schätzen. Denn die Coronakrise hält die US-Wirtschaft und bei einem Patt entscheidet die Stimme der Vize- weiterhin in Atem. Trotz einem deutlichen Rückprall präsidentin Harris. Dies gibt der Biden-Regierung die der gesamtwirtschaftlichen Produktion im dritten Möglichkeit, ein noch umfassenderes Konjunkturpaket Quartal des Jahres 2020, ist die wirtschaftliche Er- als Ergänzung zu den bereits beschlossenen Maßnah- holung keineswegs vollständig: So liegt das Brutto- men auf den Weg zu bringen. Auch wenn dies aus sta- inlandsprodukt immer noch um 3,5% unter seinem bilisierungspolitischer Sicht angezeigt sein dürfte und Vorkrisenniveau; im Dezember hatten 10 Millionen die mittel- und langfristigen Folgen der Corona-Rezes- weniger Menschen einen Job als vor der Pandemie. sion dadurch geschmälert werden, schränkt die in der Zwar verhinderten umfangreiche staatliche Transfers Folge steigende Staatsverschuldung den Handlungs- durch den im März verabschiedeten CARES-Act bis- spielraum der künftigen US-amerikanischen Regierung lang einen Rückgang der privaten Einkommen, und in allerdings ein. der Folge stieg die Sparquote der privaten Haushalte sprunghaft an. Seit dem Sommer haben die Impulse LITERATUR aber deutlich nachgelassen, und die Sparquote nor- Committee for a Responsible Federal Budget – CRFB (2020), »The cost malisierte sich teilweise. Zum Ende des vergangenen of the Trump and Biden campaign plans«, US Budget Watch, 7. Oktober, verfügbar unter: http://www.crfb.org/sites/default/files/CRFB_USBW_ Jahres liefen jedoch auch die verlängerte Bezugs- CostOfTrumpAndBidenPlans.pdf, aufgerufen am 6. Dezember 2020. dauer und ausgeweitete Anspruchsberechtigung der Gern, K.-J. und P. Hauber (2020), »Entwicklung der US-Industrie: Kein Arbeitslosenversicherung aus. Im Rahmen der Pande- Trump-Effekt erkennbar«, Kurzbericht, Institut für Weltwirtschaft, ver- fügbar unter: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/policy-papers/ mic Emergency Unemployment Compensation bzw. entwicklung-der-us-industrie-kein-trump-effekt-erkennbar-0/, aufgerufen Pandemic Unemployment Assistance bezogen Mitte am 3. Dezember 2020. Dezember noch mehr als 13 Millionen Personen Leis- Hasset, K., C. Mulligan, T. Fitzgerald und C. Kallen (2020), »An Analysis Of Vice President Biden’s Economic Agenda: The Long Run Impacts Of tungen. Zudem hat das Infektionsgeschehen wieder Its Regulation, Taxes, And Spending«, Hoover Institution Study, 13. Okto- an Fahrt aufgenommen, und angesichts von Infekti- ber, verfügbar unter: https://www.hoover.org/research/analysis-vice- president-bidens-economic-agenda-long-run-impacts?fbclid= onsschutzmaßnahmen und Verhaltensanpassungen IwAR1RootX4GaGSKEmzafR3vUrUAh-XPbsjwUCduQoWTXNVBfKa_ ist die wirtschaftliche Erholung ins Stocken geraten. HO6G14oyc, aufgerufen am 10. Dezember 2020. Vor diesem Hintergrund hat der Kongress noch Langhammer, R. (2020), »Freierer Handel mit Joe Biden? Nein, nur die Mittel ändern sich«, Kiel Focus, Institut für Weltwirtschaft Kiel, verfügbar Ende vergangenen Jahres ein weiteres Konjunkturpa- unter: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-focus/2020/freierer- ket verabschiedet. Dieses beinhaltet in weiten Teilen handel-mit-joe-biden-nein-nur-die-mittel-aendern-sich-15233/, aufgeru- fen am 2. Dezember 2020. ähnliche Maßnahmen wie der CARES-Act, fällt mit ei- PWBM – Penn Wharton Budget Model (2020), »PWBM Analysis of the nem finanziellen Volumen in Höhe von 900 Mrd. Dollar Biden Platform«, 14. September, verfügbar unter: https://budgetmodel. allerdings deutlich geringer aus. Insbesondere bei der wharton.upenn.edu/issues/2020/9/14/biden-2020-analysis#spend-pubIn- vestment, aufgerufen am 10. Dezember 2020. Höhe der Einmalzahlungen sowie der Ausweitung der Watson, G., H. Li und T. Lajoie (2020), Details and Analysis of Presi- Arbeitslosenunterstützung mussten die Demokraten dent-elect Joe Biden’s Tax Proposals, October 2020 Update, FISCAL FACT, von ihren Vorstellungen – der bereits im Oktober vom Nr. 730, Tax Foundation. Oktober. ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT Stormy-Annika Mildner »We Are Back« – Kurskorrektur in der US-Handelspolitik in Sicht? »Ich lasse sie wissen, dass Amerika zurück ist. […] Juristin bringt viel Erfahrung mit. Als Mitarbeiterin im Es ist nicht Amerika allein,« sagte US-Präsident Joe USTR-Büro vertrat sie die USA in zahlreichen Handels- Biden Reportern in seinem Heimat- konflikten mit China bei der WTO. Zuletzt beriet sie die staat Delaware kurz nach seinem Demokraten im Repräsentantenhaus in Handelsfragen. Wahlerfolg im November 2020 Sie spielte eine wichtige Rolle in den Neuverhandlun- (Marri 2020). Der 46. Präsident gen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens der Vereinigten Staaten will (NAFTA), insbesondere der Frage der Arbeitnehmer- der »America-first«-Politik von rechte. Ihr soll der Brückenschlag zwischen Adminis- Donald Trump ein Ende setzen. tration und Kongress gelingen. Ihr Job wird jedoch Dr. Stormy-Annika Mildner nicht leicht sein. Denn gerade in Handelsfragen tritt ist Direktorin des Aspen »BUILDING BACK BETTER!« die Biden-Administration ein schweres Erbe an; die Institutes Deutschland, Berlin. To-Do-Liste ist lang. Wo Präsident Trump auf Unilatera- lismus und Drohkulissen gesetzt TRUMPS HANDELSPOLITISCHER hat, will Biden die internationale TRÜMMERHAUFEN Zusammenarbeit und den Multilateralismus stärken. Wo Trump Disruption und Unsicherheit geschaffen hat, Präsident Trump hat deutlich mit der Handelspoli- will Biden Vertrauen und Verlässlichkeit aufbauen. tik seiner Vorgänger gebrochen. Für ihn war Handel Wo Trump versucht hat zu spalten, möchte Biden ein Nullsummenspiel: Exporte waren gut, Importe vereinen. »Building back better« ist das Motto seiner schlecht. Das große Handelsbilanzdefizit der USA war Präsidentschaft. Beweis für ihn, dass andere Länder unfair handeln. Biden ist ein Transatlantiker der alten Schule – Mit seiner »America-First«-Handelspolitik wollte er die ein Internationalist. Er sieht den Wert internationaler industrielle Basis in den USA stärken, Produktion in Organisationen und die Bedeutung internationalen die USA zurückholen und Millionen neuer Arbeitsplätze Rechts. Er will die USA zurück in das Pariser Klima- schaffen. Er setzte auf bilaterale und Quid-pro-quo- schutzabkommen führen; der Austritt der USA aus der Lösungen anstelle multilateraler Zusammenarbeit. Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist mit ihm vom Da er sich mehr für »Deals« als für durchsetzbares Tisch. Andere internationale Organisationen wie die internationales Handelsrecht interessierte, war sein Welthandelsorganisation (WTO) will er reformieren. Ansatz sehr transaktional. Trump brach zahlreiche Und dies alles zusammen mit den Partnern der USA. Handelskonflikte vom Zaun, auch mit der EU. Die EU Biden sieht – ganz anders als sein Vorgänger –keinen bezeichnete er als Gegner, die nur gegründet worden Wert in einem geschwächten, gespaltenen Europa. sei, um die USA auszunutzen. Er unterstützte nicht Ganz im Gegenteil will er die transatlantischen Be- nur den Brexit, sondern versuchte aktiv, einen Keil ziehungen stärken. zwischen die Europäer zu treiben, nicht zuletzt beim Entsprechend hat Biden ein starkes außenpoli- Umgang mit Russland. tisches Team zusammengestellt. Antony Blinken soll Trump setzte auf drei Strategien, um die Handels der neue Außenminister der USA werden. Der lang- politik stärker an den nationalen (Sicherheits-)Inte jährige Vertraute von Joe Biden berät ihn seit Jahren ressen der USA ausrichten: in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Blinken ist ein bekennender Internationalist und Multilatera- Aggressiver Unilateralismus list. »Wir können nicht alle Probleme der Welt allein lösen. Wir müssen mit anderen Ländern zusammen- Das Mittel der Wahl waren Zölle, insbesondere Ab- arbeiten,« so Blinken (Business Standard 2020). Linda schnitt 232 des Handelsgesetzes von 1962 und Ab- Thomas-Greenfield soll die USA bei den Vereinten Na- schnitt 301 des Handelsgesetzes von 1974. Gemäß tionen vertreten. Die erfahrene Diplomatin war in ihrer Abschnitt 232 können die USA Zölle auf Waren aus langen Karriere unter anderem unter Präsident Obama dem Ausland verhängen, wenn diese eine Gefährdung Staatssekretärin für Afrika-Angelegenheiten. Auch sie der nationalen Sicherheit darstellen. Laut Abschnitt ist eine bekennende Internationalistin: »Ich möchte 301 können die USA mit Zöllen gegen unfaire Handels Ihnen sagen: Amerika ist zurück. Der Multilateralis- praktiken im Ausland vorgehen. Seit März 2018 erhe- mus ist zurück. Die Diplomatie ist zurück.« (DW 2020) ben die USA 232-Zölle auf Stahl (25%) und Aluminium Für die Position des US-Handelsbeauftragten (10%). Anfang 2020 weitete die Trump-Administration (United States Trade Representative, USTR) hat Bi- die 232-Zölle auf Stahl und Aluminium auf Produkte den Katherine Tai im Blick. Die China-Expertin und mit einem hohen Anteil dieser Metalle, wie etwa Nä- 6 ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT gel, Kabel und bestimmte Automobilteile, aus. Zudem sanktionieren, die ihre Handelspraktiken nicht frist- drohte Trump mit Zöllen auf Fahrzeuge und Fahrzeug- gerecht bei der WTO melden. Besonders kritisch sah teile, denn ein Bericht des Wirtschaftsministeriums die Trump-Administration den Streitschlichtungsme- war zu dem Ergebnis gekommen, dass auch diese die chanismus der WTO, insbesondere das Berufungs- nationale Sicherheit bedrohten. Darüber hinaus ließ gremium. Dieses habe Fristen nicht eingehalten, sein Trump untersuchen, ob Importe von Titanschwamm, Mandat überschritten und in Bereiche eingegriffen, für mobilen Kränen oder auch von Elektrostahl ein Si- die die WTO-Mitglieder selbst verantwortlich seien. cherheitsrisiko für die USA darstellten. Die 301-Zölle Die Trump-Administration blockierte daher die Be- kamen vor allem in Chinahandel zum Einsatz. Im Som- nennung von Mitgliedern in das Berufungsgremium. mer 2018 schlugen die USA erstmals Sonderzölle in In der Folge brach der Streitschlichtungsmechanismus der Höhe von 25% auf Warenimporte aus China in Ende 2019 zusammen. Zuletzt verhinderten die USA einem Wert von 34 Mrd. US-Dollar auf. Mittlerweile die Besetzung des WTO-Generaldirektorpostens. ist ein US-Importvolumen von mehr als 360 Mrd. Trump wollte die Handelsbilanz der USA verbes- US-Dollar mit Sonderzöllen bis zu 25% belegt. In der sern; gelungen ist ihm dies nicht. Die Sonderzölle und Folge stiegt der durchschnittliche US-Zoll auf Importe zahlreichen Handelskonflikte verschlechterten nicht aus China von 3,1% im Jahr 2017 auf 19,3% (2020) nur die Rahmenbedingungen für Unternehmen, son- (Brown 2020). dern führten auch zu erheblichen Kosten für US-Ver- braucher. Die fortschreitende De-Industrialisierung (Neu-)Verhandlung von Handelsabkommen konnte Trump nicht aufhalten; die Situation der so- genannten »blue collar workers« hat sich kaum ver- Bis zu Trumps Amtsantritt hatten die USA 14 bilaterale bessert. Infolge strenger US-Exportkontrollen gerade und plurilaterale Freihandelsabkommen mit 20 Staa- für Hightech-Produkte und kritischer Investitionskont- ten abgeschlossen. Präsident Obama hatte in seiner rollen verändern sich zwar die Wertschöpfungsketten. Amtszeit zwei Mega-FTAs verhandelt: die Transpa- Das erhoffte großflächige Reshoring, also die Rückver- zifische Partnerschaft (TPP) mit Australien, Brunei, lagerung von Produktion in die USA, hat sich hingegen Chile, Japan, Malaysia, Neuseeland, Peru, Singapur, nicht materialisiert. Vietnam, Kanada und Mexiko sowie die Transatlan- tische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP. BIDENS HANDELSPOLITISCHE AGENDA Ganz anders Trump: Als eine seiner ersten Amtshand- lungen vollzog er im Januar 2017 den Austritt aus der Die Hoffnungen auf eine deutliche Kurskorrektur in TPP. Auch die TTIP-Verhandlungen legte er auf Eis. der US-Handelspolitik sind groß – gerade in Europa. Eine Top-Priorität war die Neuverhandlung von NAFTA. Ohne Frage: Biden wird die »America-first«-Politik von Das mittlerweile in Kraft getretene U.S.-Mexico-Ca- Trump nicht fortsetzen. Allerdings sollte nicht ver- nada Agreement (USMCA) ist deutlich weniger liberal, gessen werden: Die USA haben schon immer einen gerade in puncto Ursprungsregeln. Diese legen fest, pragmatischen Multilateralismus verfolgt – kein Multi- wann eine Ware unter den präferenziellen Bedingun- lateralismus zum Selbstzweck, sondern im Sinne ame- gen eines Freihandelsabkommens (FTA) gehandelt rikanischer Interessen. Zudem gehört Handel nicht werden kann. Auch das Abkommen mit Südkorea zu den Top-Prioritäten von Biden. Ganz oben stehen (KORUS) wurde neu verhandelt; mit Japan schlossen innen- und binnenwirtschaftliche Themen: Die Über- die USA ein sektorales Teilabkommen ab. Eine weitere windung der Coronakrise und die Wiederbelebung der Top-Priorität für Trump waren die Verhandlungen über Wirtschaft; die Bekämpfung des strukturellen Ras- den sogenannten »Phase One Deal« mit China. In dem sismus sowie der Einkommensungleichheit; Klima; Abkommen von Anfang 2020 sicherte China den USA Bildung; Infrastruktur. zu, mehr US-Produkte zu importieren, zukünftig auf Mit Joe Biden werden die vergangenen vier Jahre erzwungenen Technologietransfer zu verzichten und nicht ausradiert werden. Auch Joe Biden wird be- den Schutz geistigen Eigentums besser durchzusetzen. weisen wollen, dass er US-Arbeitsplätze verteidigt. Zahlreiche Streitpunkte, wie Chinas Industriepolitik Für viele vielleicht überraschend: Auch seine Han- oder auch die unfaire Subventionierung chinesischer delspolitik wird daher protektionistische Elemente Staatsunternehmen, sollten in einem »Phase Two beinhalten. Deal« angegangen werden. Stärkung der industriellen Basis Angriff auf multilaterale Organisationen Die Förderung inländischer Produktion und die Stär- Die Trump-Administration stand der WTO äußerst kung der US-amerikanischen Mittelschicht haben für kritisch gegenüber. Trump monierte, dass Länder Biden hohe Priorität. Bidens »Made-in-All-of-Ameri- wie China nach wie vor als Entwicklungsländer bei ca«-Plan sieht vor, Investitionen und Handel zu nut- der WTO gelten und so in den Genuss umfassender zen, um die Abhängigkeit von ausländischer Fertigung Ausnahmen kommen. Das sollte sich ändern. Zu- zu verringern, inländische Innovationen anzustoßen dem schlug die Trump-Administration vor, Länder zu und mindestens 5 Millionen amerikanische Indust- ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT riearbeitsplätze zu schaffen. US-Firmen sollen mit Beziehungen auch unter Biden nicht sein. Gerade in Strafsteuern davon abgehalten werden, Arbeitsplätze der Chinapolitik wird er mehr Engagement und eine ins Ausland zu verlagern. Auch Staatsaufträge sollen klarere geopolitische Positionierung der Europäer prioritär an US-Unternehmen gehen (Stichwort: »Buy einfordern. Dies wird auch wichtige Einzelthemen, American«). Für Unternehmen, die in den USA investie- wie die Frage einer Beteiligung chinesischer Firmen ren, soll es dagegen Steuererleichterungen geben. Ins- am Aufbau von 5G-Netzen, betreffen. Ende 2020 ver- besondere bei kritischen Gütern, wie Pharmazeutika ständigten sich die EU und China auf ein Investitions- und medizinischer Schutzausrüstung, will er auf mehr abkommen. Erste Reaktionen aus Washington waren Unabhängigkeit von globalen Lieferketten setzen. überrascht bis kritisch. Es bleibt abzuwarten, inwie- weit das Abkommen den Handlungsspielraum der EU Zollpolitik einschränken wird, gemeinsam mit den USA gegen unfaire Handelspraktiken Pekings vorzugehen. Anders als Trump wolle er zwar Zölle nicht einsetzen, »um Härte vorzutäuschen« (Washington Trade Daily Alte und neue Handelsabkommen 2020). Wo für den Aufbau der heimischen Wirtschaft erforderlich, werde aber auch er vor Zöllen nicht zu- Weltweit steigt die Zahl von Freihandelsabkommen. rückschrecken und kann sich dabei einer breiten Un- Mit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens terstützung in der Bevölkerung und der Gewerkschaf- RCEP Ende 2020 durch China und 14 weitere Staa- ten versichert sein. Die Hoffnungen der Europäer, dass ten aus dem asiatisch-pazifischen Raum wurde die Joe Biden nach Amtsantritt die 232-Zölle auf Stahl weltweit größte Freihandelszone geschaffen. Für die und Aluminium zügig abschafft, könnten somit leicht USA bedeutet dies, dass sich ihr Zugang zu auslän- enttäuscht werden. Die 301-Zölle im Chinahandel sol- dischen Märkten relativ verschlechtert. Dennoch ist len laut Biden zunächst in Kraft bleiben. nicht damit zu rechnen, dass Biden zu Beginn seiner Präsidentschaft versuchen wird, neue Handelsabkom- Chinapolitik men abzuschließen. Laufende Verhandlungen wie mit dem Vereinigten Königreich werden keine Priorität für Der Konflikt zwischen den USA und China ist weit ihn haben. Im Sommer 2021 endet die sogenannte mehr als ein Handelsstreit. Es ist ein Wettstreit un- »Trade Promotion Authority« (TPA). Dieses Mandat, terschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Sys- das der Kongress dem Präsidenten gewähren kann, teme. Chinas wirtschaftliches Hybridmodell mit einem ist unabkömmlich für einen erfolgreichen Ratifizie- starken Einfluss des Staates auf der einen, die markt- rungsprozess. Sowohl Präsident George W. Bush als wirtschaftlichen und demokratischen Prinzipien des auch Präsident Barack Obama hatten die TPA nur mit Westens auf der anderen Seite. Biden dürfte daher knappen Mehrheiten im Repräsentantenhaus erhal- den Konfrontationskurs gegenüber China fortsetzen ten. Angesichts seiner ambitionierten innenpolitischen – und sich der Unterstützung im Kongress und der Agenda dürfte Biden kein politisches Kapitel für die Bevölkerung sicher sein. Dies gilt jedoch anders als bei TPA opfern wollen. Sollte Biden neue Handelsabkom- Trump nicht nur für die Handelspolitik, sondern auch men verhandeln, werden Arbeitnehmerrechte und Kli- für Menschenrechtsfragen. So wird sich der Druck auf maschutz eine wichtige Rolle in den Verträgen spie- Peking in Bezug auf Hongkong, Taiwan, Xinjian und len. Die Biden-Administration wird sehr genau die Ein- das Südchinesische Meer erhöhen. Biden wird kon- haltung von Handelsverträgen überwachen und sich sequent die Umsetzung des »Phase One-Deal« ein- nicht scheuen, rigoros gegen unfaire Handelspraktiken fordern. Strenge Exportkontrollen werden genauso vorzugehen. Weit oben auf der Agenda dürften da- Bestand von Bidens Wirtschaftspolitik sein wie die bei USMCA und das Kapitel zu Arbeitnehmerrechten kritische Prüfung ausländischer Direktinvestitionen stehen – eine Top-Priorität für die demokratischen in die USA. Ob China bereit sein wird, weitere Zuge- Handelspolitiker im Kongress. ständnisse zu machen, ist fraglich. Die Aussichten auf einen »Phase Two-Deal« sind daher ungewiss. Handel und Klima Transatlantische Beziehungen Bidens Klimaschutzziele sind ambitioniert. Bis 2035 möchte er den Energiesektor klimaneutral umgestal- US-Zölle auf Stahl und Aluminium und EU-Gegenmaß- ten. Wie genau Klima- und Handelspolitik miteinander nahmen, US-Antidumping-Zölle auf Aluminiumbleche, verknüpft werden sollen, ist zum jetzigen Zeitpunkt Trumps Drohung, Autozölle zu erheben, Luftfahrtsub- noch unklar. Viele Europäer hoffen, dass sich hier neue ventionen, US-Russlandsanktionen, französische Digi- transatlantische Kooperationsmöglichkeiten öffnen. talsteuer, EU-Chinapolitik – die Liste der EU-US-Han- Die EU-Kommission will 2021 einen Gesetzesvorschlag delskonflikte ist lang. In den vergangenen Jahren ist für einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) viel Vertrauen in den transatlantischen Beziehungen vorlegen. So soll für europäische Unternehmen, die verlorengegangen. Eine Wiederbelebung dieser wird strengeren Klimaschutzanforderungen als ihre Wett- kein Selbstläufer sein. Ganz konfliktfrei werden die bewerber im Ausland unterliegen, international faire 8 ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Bei mehr Verantwortung seitens der Entwicklungsländer US-Umweltgruppen und Gewerkschaften findet die einfordern. Präsident Trump hatte wiederholt ange- Idee eines CBAM viel positiven Widerhall. Die notwen- kündigt, die Mitgliedschaft der USA im WTO-Über- digen Mehrheiten im Kongress für ein umfangreiches einkommen über das öffentliche Beschaffungswesen Klimagesetz mit einer CBAM hat Biden allerdings aufkündigen zu wollen. Unter Biden werden die USA nicht. Sollte er versuchen, eine CBAM per präsiden- sicherlich Mitglied des Abkommens bleiben. Ein posi- tieller Anordnung (»executive order«) einzuführen, tiver Impuls könnte von den laufenden plurilateralen dürfte diese mit großer Wahrscheinlichkeit vor den WTO-Verhandlungen über elektronischen Handel aus- US-Gerichten angefochten werden. Der Großteil der gehen. Denn digitaler Handel ist wichtig für die USA. US-Wirtschaft steht diesem Instrument kritisch ge- In den Verhandlungen geht es unter anderem um den genüber. Vielversprechender sind Überlegungen, die Abbau von Handelsbarrieren auf elektronische Über- Verhandlungen über ein plurilaterales Abkommen zur tragungen, den Schutz personenbezogener Daten und Beseitigung von Zöllen auf sogenannte Umweltgüter die Verbesserung der Marktzugangsverpflichtungen für wiederzubeleben. Seit Trumps Amtsantritt liegen diese Telekommunikations- und Computerdienste. auf Eis. Allerdings könnte ein solches Abkommen auch auf Widerstand unter den Demokraten stoßen, da es – APELL ZUM HANDELN zumindest auf den ersten Blick – im Widerspruch mit Bidens »Made-in-All-of-America«-Plan steht. Handelspolitik ist Ergebnis eines komplexen Zusam- menspiels zahlreicher interner und externer Fakto- Handel und Gesundheit ren: der Werte des Präsidenten und seines Teams, aber auch der verfassungsrechtlichen Aufgabenver- Die Corona-Pandemie hat die US-Wirtschaft in eine teilung zwischen der Exekutive und der Legislative, schwere Rezession gestürzt. Die Pandemie hat ge- der Mehrheitsverhältnisse im Kongress, der Koope- zeigt: Nationale Exportverbote für medizinische rationsbereitschaft der Regierungsorgane, dem Ein- Produkte sind keine Lösung, sondern verschärfen fluss von Interessengruppen und der öffentlichen Mei- aufgrund komplexer internationaler Wertschöpfungs- nung sowie nicht zuletzt der wirtschaftlichen Lage ketten Lieferengpässe. Diversifizierung von Lieferket- selbst. ten und Produktionsnetzwerken sowie internationale Verfassungsrechtlich liegt die Verantwortung Kooperation bei Forschung und Entwicklung sind ge- für die Handelspolitik beim Kongress; der exekutive nauso wichtig wie der Abbau von Handelsbarrieren. Spielraum ist jedoch groß, wie Präsident Trump mit Ende November schlug die EU zusammen mit zwölf der Anwendung von Abschnitt 232 und 301 wiederholt anderen Staaten vor, weltweit Zölle auf Medizinpro- unter Beweis stellte. Mit dem US-Japan-Abkommen dukte abzuschaffen. Die USA gehören bisher nicht zeigte er zudem, dass bestimmte sektorale Handels dieser Initiative an. Sie sind zwar Mitglied des pluri- abkommen nicht vom Kongress ratifiziert werden lateralen Pharma-Abkommens der WTO, mit dem sich müssen. Joe Biden wird jedoch keine Handelspoli- 22 WTO-Mitglieder 1995 verpflichteten, Zölle auf eine tik am Kongress vorbei machen können und wollen. Vielzahl pharmazeutischer Produkte und bestimmter Mit »Build back better« hat er sich viel vorgenommen. chemischer Zwischenprodukte, die zur Herstellung Ohne parteiübergreifende Zusammenarbeit wird dies von Arzneimitteln verwendet werden, zu beseitigen. nicht gelingen. Eine proaktive Handelspolitik würde Bislang standen sie einer Modernisierung dieses aufgrund der innenpolitischen Lage dem Präsiden- mittlerweile veralteten Abkommens kritisch gegen- ten den Einsatz von viel politischem Kapital ab- über. Die Biden-Administration hat sich noch nicht verlangen. öffentlich zu den Vorschlägen der Ottawa-Gruppe Beim Thema Handel kann Biden zudem nicht auf positioniert. Allerdings könnte es auch hier zu einem die volle Unterstützung durch seine Partei zählen. Widerspruch mit Bidens »Made-in-All-of-America«- Insbesondere der progressive, linke Flügel fürchtet Plan kommen. den Verlust heimischer Arbeitsplätze und positioniert sich – unterstützt von den Gewerkschaften – deutlich Reform der WTO gegen neue Handelsabkommen. Viele Demokraten im Kongress befürworteten Trumps Zollpolitik. Auch in Biden sieht zwar erheblichen Reformbedarf bei der den Reihen der Republikaner, die traditionell Han- WTO, erkennt aber an, dass sie unter Mitwirkung der delsabkommen positiver gegenüberstehen, fand der USA ein »effektives Instrument« sein kann (Bade 2020). scheidende Präsident viel Zuspruch. Mit ihm öffnet sich ein Fenster, den Konflikt um die Handelspolitik gehört nicht zu den Top-Priori- neue WTO-Generaldirektorin beizulegen. Der Disput täten von Joe Biden. Gleichwohl wird er die lange um den Streitschlichtungsmechanismus dürfte sich handelspolitische To-Do-Liste nicht ignorieren kön- jedoch nicht so einfach lösen lassen. Die Kritik am Be- nen. Die Wiederbelebung der WTO, die Stärkung der rufungsgremium ist überparteilich. Auch unter Biden transatlantischen Beziehungen – all das wird kein dürften die USA zudem auf strengere Überwachungs- Selbstläufer sein. Auch Joe Bidens Handelspolitik verfahren und Sanktionsmöglichkeiten pochen sowie wird protektionistische Elemente enthalten. Umso ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT wichtiger ist es, dass die Handelspartner der USA – Brown, C. (2020), »US-China Trade War Tariffs: An Up-to-Date Chart«, 14. Februar, verfügbar unter: https://www.piie.com/research/piie-charts/ allen voran die EU – nicht auf Angebote und Initiati- us-china-trade-war-tariffs-date-chart. ven aus Washington warten, sondern den USA aktiv Business Standard (2020), »US Should Proceed with Both Humility and Angebote unterbreiten. Dies ist dann am erfolgver- Confidence: Antony Blinken«, 25. November, verfügbar unter: https:// www.business-standard.com/article/international/us-should-proceed- sprechendsten, wenn Bidens innen- und binnenwirt- with-both-humility-and-confidence-antony-blinken-120112500091_1. schaftliche Prioritäten mit internationalen Themen html. verknüpft werden. DW (2020), »Joe Biden Lays out Foreign Policy Vision: ‘America is Back’«, 24. November, verfügbar unter: https://www.dw.com/en/ joe-biden-lays-out-foreign-policy-vision-america-is-back/a-55715379. LITERATUR Marri, S. (2020), »US is Back and Ready to Lead, Says Joe Biden«, Sky Bade, G. (2020), »Biden Won’t Rule out new Tariffs, Adviser Says«, News, 25. November, verfügbar unter: https://news.sky.com/story/ Politico, 22. September, verfügbar unter: https://www.politico.com/ biden-america-is-back-and-were-ready-to-lead-12141689. news/2020/09/22/biden-tariffs-adviser-420096, aufgerufen am Washington Trade Daily (2020), »Biden’s Trade Policy«, 29. Juli, 2–6. 28. November 2020. Galina Kolev und Jürgen Matthes Neue handelspolitische Kooperationsmöglichkeiten mit der Biden-Administration Der scheidende US-Präsident hat die Welthandels im Airbus-Boeing-Konflikt. Zudem drohte er immer organisation (WTO) massiv geschwächt und zahl- wieder mit US-Zöllen auf Automobilimporte. Letzt- reiche Handelskonflikte entfacht, vor allem gegen- lich machte er diese Drohung aber nicht wahr. Die über China, mit dem Ziel, das US-Leistungsbilanzde- EU-Strategie scheint sich ausgezahlt zu haben, mit fizit zu verringern. Sein konfrontativer handelspoliti- Stärke und Gegenmaßnahmen zu reagieren. So blieb scher Kurs säte Zweifel an der Verlässlichkeit der USA es überwiegend bei Theaterdonner für das heimische unter Verbündeten, trug jedoch keineswegs zu einer Publikum, und nur ein geringer Teil der EU-Exporte in Reduktion des Leistungsbilanzdefizits bei, das mit die USA war letztlich von höheren Zöllen betroffen. 480 Mrd. US-Dollar im Jahr 2019 so hoch war wie seit Daher blieben die gesamtwirtschaftlichen Schäden in über zehn Jahren nicht mehr. In einer globalisierten Deutschland geringer als befürchtet (Matthes 2020a). Welt, in der neue Handelsbarrieren durch Umlenkung der Handelsströme zu geringen Kosten umgegangen VORSICHTIGE HOFFNUNGEN AUF BIDEN werden können, sind solche Maßnahmen von vorn- herein zum Scheitern verurteilt. Dies ist umso mehr Der neu gewählte Präsident wird von der internati- der Fall für die USA, die die Reservewährung der Welt onalen Gemeinschaft mit vorsichtiger Hoffnung er- stellen und in demselben Zeitraum die Binnennach- wartet. Zwar wird er in den ersten Monaten zunächst frage durch diverse fiskalische Maßnahmen angekur- sehr intensiv mit der Innenpolitik beschäftigt sein. belt haben (Kolev 2020). Im Mittelpunkt wird dabei der Umgang mit der eska- Donald Trump hat mit seiner konfliktsuchenden lierenden Covid-19-Pandemie und die Spaltung der Politik auch das transatlantische Verhältnis einer ext- Gesellschaft stehen, sei es mit Blick auf die wirt- remen Belastungsprobe ausgesetzt – sei es durch die schaftliche Ungleichheit oder die politische Lager- Einführung von Zöllen auf Stahl- und Aluminiumim- bildung. Doch Joe Biden wird als erfahrener Politiker porte oder durch die mangelnde einen schnellen Einstieg in sein Amt finden und Verhandlungsbereitschaft bereitete schon vor dem Jahreswechsel ein weltoffenes Team vor, um den Verbünde- ten weltweit ein Versöhnungssignal aus- zusenden. Dennoch ist selbst mit Joe Biden als US-Präsidenten nicht davon auszugehen, Prof. Dr. Galina Kolev Jürgen Matthes dass es zu einer 180-Grad-Wende in der Han- ist Professorin an der Hochschule leitet das Kompetenzfeld delspolitik kommt. Wenngleich sich der Ton RheinMain und Leiterin der »Internationale Wirtschafts- ändern dürfte und mehr internationale Ko- Forschungsgruppe »Gesamtwirt- forschung und Konjunktur« operation mit gleichgesinnten Staaten, ins- schaftliche Analysen und am Institut der deutschen Konjunktur« am Institut der Wirtschaft. besondere im Umgang mit China, möglich deutschen Wirtschaft. wäre (s.u.), dürfte der wirtschafts- und han- delspolitische Kurs der USA weiterhin von 10 ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT dem Grundsatz »Buy American« geprägt sein, zu- KOOPERATION BEI FREIHANDELSABKOMMEN!? mindest wenn Joe Biden seine Ankündigungen wahr macht (Bardt und Kolev 2020). So ist anhand seines Aus der Sicht der deutschen und anderen europäi- Wahlprogramms eine klare Ablehnung von Produkti- schen Unternehmen stellt sich die Frage, ob es mit onsverlagerungen ins Ausland zu erkennen, die mit Joe Biden möglich wäre, die Verhandlungen zu ei- steuerpolitischen Druckmitteln angegangen werden nem potenziellen Freihandelsabkommen wieder zu sollen (»Pro-American Worker Tax and Trade Stra- beleben. Zwar haben die TTIP-Verhandlungen mit der tegy«, siehe Biden 2020a). Zudem sollen die beste- Obama-Administration gezeigt, dass ein umfassendes henden Buy-American-Regeln vermehrt eingesetzt Handels- und Investitionsabkommen kaum realisier- werden, um Nachfrageimpulse für die heimischen bar ist, nicht zuletzt aufgrund des Widerstands in der Produzenten zu schaffen. EU. Doch die EU hat bereits Anfang Dezember 2020 Wichtige Änderungen dürften mit dem Macht- einen Vorschlag für eine neue transatlantische Agenda wechsel in Bezug auf die Unterstützung des Multi- unterbreitet, die den Rahmen für mehr Kooperation lateralismus kommen. Joe Biden hat diesbezüglich und Handelsliberalisierung schaffen soll (European bereits entsprechende Signale ausgesendet. Die Commission 2020a). Nachdem die letzten Jahre von Schaffung des Postens eines Klima-Sonderbeauf- einer hohen Unsicherheit in den transatlantischen Be- tragten und die Besetzung dieses Postens mit dem ziehungen geprägt waren, dürfte zumindest ein reines ehemaligen Präsidentschaftskandidaten John Kerry, Freihandelsabkommen mit der neuen US-Administ- einem entschiedenen Kämpfer gegen den Klimawan- ration möglich werden, im Rahmen dessen Zölle und del, zeigt die Entschlossenheit des neu gewählten einige weniger sensible nicht-tarifäre regulatorische Präsidenten, dieses globale Problem mitanzugehen Hemmnisse abgebaut werden. und die Bemühungen der internationalen Klima- Doch die Verschiebung des Fokus der USA vom schutzgemeinschaft zu unterstützen. Klimaneutrali- transatlantischen hin zum transpazifischen Raum, die tät bis 2050, Investitionen von historischem Maßstab bereits in den Jahren vor der Wahl Donald Trumps in klimafreundlicher Energie und Klimaforschung und stattfand, dürfte nun weiter fortgesetzt werden. So -innovationen, Förderung der Elektromobilität, Stei- ist es nicht ausgeschlossen, dass weniger Interesse gerung der Energieeffizient von Gebäuden und vieles an Verhandlungen mit der EU besteht. Zudem ist auf mehr – die Liste der geplanten Maßnahmen ist lang, europäischer Seite immer noch wenig Einigkeit dar um den Beitrag der USA zum globalen Klimaschutz über vorhanden, ob der Agrarsektor Teil eines transat- zu steigern (Biden 2020b). lantischen Freihandelsabkommens werden soll – was Was sich jedoch in der Liste nicht findet, ist eine in den letzten Jahren eine wichtige Forderung der explizite Bepreisung von CO2-Emissionen (Kolev und USA war, um mit den Verhandlungen zu beginnen. Schaefer 2020). Und vermutlich wird das Tempo Solange die USA das öffentliche Beschaffungswesen beim Klimaschutz in den USA hinter dem in der EU nicht in die Verhandlungen mit einbringen, dürfte zurückbleiben. Somit wird es auch unter Joe Biden die EU den Agrarsektor auch außen vor halten. Dann eine große Herausforderung bleiben, für gleiche stellt sich die Frage, ob ein reines Industriegüterab- Wettbewerbsbedingungen der CO2-intensiven Bran- kommen WTO-konform gestaltet werden kann, denn chen zu sorgen. Während der europäische Emissi- die WTO akzeptiert nur Handelsabkommen, die nach onshandel die Herstellungskosten in die Höhe treibt dem GATT-Article XXIV »substantially all the trade« und die EU-Kommission nach Lösungen für dieses abdecken. Problem, etwa in der Form einer Grenzausgleich- Insbesondere der Abschluss des asiatisch-pazifi- steuer sucht, sind die US-Hersteller kaum mit dieser schen Abkommens RCEP dürfte die USA dazu bewe- Herausforderung konfrontiert. Hierbei kann selbst ein gen, ihren Ausstieg aus der während der Obama-Amts- Grenzausgleichsmechanismus keine effiziente Markt- zeit ausverhandelten Transpazifischen Partnerschaft lösung liefern, stattdessen droht hier ein weiterer (damals TPP) auf den Prüfstand zu stellen. Denkbar Handelskonflikt. wäre auch ein Beitritt der USA zu einem etwas ange- Auch andere Besetzungen im Team Joe Bidens passten CPTPP, der auch die EU unter Druck setzen signalisieren den Willen des neu gewählten Präsiden- würde, diesem wichtigen Schritt nachzugehen und ten, mehr auf Kooperation mit gleichgesinnten Län- eine eigene Beteiligung der EU am CPTPP zu prüfen dern weltweit zu setzen. So dürfte Antony Blinken als (Matthes und Kolev 2020). In so einem Szenario wür- Außenminister die Rolle der USA in der internationa- den sich die Verhandlungen zu einem transatlanti- len Zusammenarbeit und Koordination stärken. Und schen Freihandelsabkommen erübrigen, und der wenn Katherine Tai die Rolle der Handelsbeauftragten Prozess der globalen Handelsliberalisierung dürfte übernimmt, ist die Message an die Welt klar: Als Chi- ein Momentum erfahren. Doch auch hier bestehen na-Expertin dürfte sie die bestehende Chinas-Strate- zahlreiche Fragezeichen, nicht nur bezüglich der stra- gie überarbeiten und neue Ansätze im bestehenden tegischen Verhandlungsmacht beim Beitritt zu einem Konflikt suchen. Im Ergebnis dürfte es an der Han- bereits ausverhandelten Abkommen. Auch die gravie- delsfront zwischen den USA und China jedoch nicht renden Unterschiede in den Abkommen der EU und zu einer wesentlichen Entspannung kommen. der USA etwa in Sachen Nachhaltigkeit in FTA stehen ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 11
ZUR DISKUSSION GESTELLT solch einem Schritt zunächst im Wege. Die EU wird auch diese multilaterale Organisation wieder stärken sich damit fragen müssen, welche Kompromisse ein- wird. Doch wie viel davon ist realistisch und wie viel zugehen sie bereit ist, um in der asiatisch-pazifischen ist Wunschdenken? Wachstumsregion in Zukunft hinreichend präsent Unter Donald Trump hatten die USA erst im Ok- zu sein. tober 2020 noch die Wahl einer neuen WTO-Gene- raldirektorin blockiert. Die Mehrheit der WTO-Mit- HOFFNUNGEN AUF FORTSCHRITTE BEI glieder hatte sich zuvor für die Nigerianerin Ngozi AUSGEWÄHLTEN KONFLIKTFELDERN Okonjo-Iweala ausgesprochen, die Trump-Administ- ration für die Südkoreanerin Yoo Myung-hee. Es gibt Bei einigen bestehenden transatlantischen handels Spekulationen darüber, dass die Biden-Administration politischen Konflikten erscheinen Hoffnungen auf hier umschwenken könnte, da Okonjo-Iweala den De- Fortschritte unter einer Biden-Administration begrün- mokraten in den USA offenbar nahesteht (Third World det, auch wenn darüber aktuell noch keine belastbare Network 2020). Das wäre wünschenswert, denn die Aussage getroffen werden kann. WTO braucht gerade in diesen schwierigen Zeiten eine starke Führung. ‒ Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass die Die Berufungsinstanz des WTO-Streitschlich- Biden-Administration die Drohung mit Autozöllen tungsmechanismus, der »Appellate Body«, ist para- nicht aufrechterhält. Das wäre vor allem für die lysiert, weil die USA die Nachbesetzung von ausschei- deutsche Wirtschaft ein sehr positives Signal. denden Schiedsexperten blockierten, bis zu wenige ‒ Bei den US-Zöllen auf Stahl- und Aluminiumim- Streitschlichter verblieben (Matthes 2020b). Damit porte aus der EU spielt eine wichtige Rolle, wie können Staaten einen gültigen Schiedsspruch ver- weit die Bidensche Handelspolitik sich wieder hindern, indem sie nach einem erstinstanzlichen Ur- stärker an den multilateralen Handelsregeln ori- teil Berufung einlegen, die dann ins Leere läuft. Die entieren wird. Wenn das der Fall ist, dürften die WTO kann in einem solchen Fall die multilateralen Zölle vermutlich zurückgenommen werden, weil Regeln nicht mehr durchsetzen. Vor diesem Hinter- sie mit dem Verweis auf die nationale Sicherheit grund initiierte die EU zusammen mit Kanada einen sehr fragwürdig begründet sind. Möglicherweise temporären Ersatzmechanismus für den »Appellate wird der Schritt eher früher als später realisiert, Body« mit der Bezeichnung MPIA (»Multiparty Interim weil die EU eine zweite Tranche ihrer Gegenmaß- Appeal Arbitration Arrangement«). Das Abkommen nahmen im Frühjahr 2021 in Kraft setzen dürfte trat Ende April 2020 in Kraft (WTO 2020), und ihm (European Commission 2018). Gleichwohl sollte sind inzwischen rund 20 Staaten beigetreten, unter Brüssel im Blick haben, dass Biden möglicher- anderem China, Brasilien, Mexiko, Australien und die weise als Gegenleistung etwas vorweisen muss, Schweiz. Zudem haben Rat und Europäisches Parla- um die Rücknahme politisch durchsetzen zu ment einen Enforcement-Mechanismus auf den Weg können. gebracht, um gegenüber Nicht-Teilnehmern am MPIA, ‒ Im schon lange bestehenden Airbus-Boeing-Kon- wie den USA, weiter handlungsfähig zu bleiben. Falls flikt um Subventionen für den Flugzeugbau wa- diese ins Leere in Berufung gehen, schaffen die neuen ren Klagen beider Seiten vor der WTO erfolg- EU-Regeln bald die Möglichkeit, dass die EU bereits reich (Matthes 2020b). Die WTO hat inzwischen Gegenmaßnahmen ergreifen kann, wenn ein gültiges sowohl die USA als auch die EU zu Gegenmaß- Urteil bei der WTO in der ersten Instanz vorliegt. Es nahmen in Form von Zollerhöhungen auf Importe geht dabei um die Rücknahme von Zugeständnissen der jeweils anderen Seite ermächtigt, die USA der EU, nicht nur wie bisher bei Zöllen und öffentli- schon im Oktober 2019 und die EU Ende Oktober chen Aufträgen, sondern in Zukunft auch bei Libe- 2020, woraufhin Brüssel die Zölle kurz nach der ralisierungen von Dienstleistungen oder geistigen US-Präsidentschaftswahl in Kraft setzte (Euro- Eigentumsrechten. pean Commission 2020b). Wenig später ist die Das Drohpotenzial dieses Enforcement-Mecha- Trump-Administration auf das schon länger be- nismus könnte mit dazu beitragen, dass sich die USA stehende Angebot der EU eingegangen und hat unter der Biden-Administration auf Verhandlungen Verhandlungen über eine Lösung des Subventi- über eine Reform des »Appellate Body« einlassen. onsstreits begonnen. Die Hoffnung besteht, dass Dabei ist ein Teil der Kritik der USA durchaus berech- die Biden-Administration hier anknüpft. Im Ideal- tigt (Matthes 2020b; EP 2019). Zu Recht kritisieren fall würden bereits während der Verhandlungen sie vor allem, dass die Schiedsexperten ihre Kompe- die gegenseitigen Strafzölle ausgesetzt. Aber das tenzen zu weit ausgelegt und neues Recht gesetzt bleibt abzuwarten. haben (Matthes 2020c). Zudem sehen sich die USA zu Recht in ihren Möglichkeiten zu sehr eingeschränkt, BEWEGUNG IN SACHEN WTO? gegen Wettbewerbsverzerrungen durch chinesische Industriesubventionen vorgehen zu können. Ein Kon- Auch mit Blick auf die stark geschwächte WTO sind zeptpapier der Europäische Kommission zur WTO-Re- die Hoffnungen groß, dass die Biden-Administration form aus dem Jahr 2018 greift zahlreiche dieser As- 12 ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT pekte auf (European Commission 2018). Es kann als LITERATUR Grundlage für Verhandlungen über eine Reform und Bardt, H. und G. Kolev (2020), Biden versus Trump – Positionen in der die hoffentlich darauffolgende Wiedereinsetzung Handels-, Wirtschafts- und Klimapolitik, IW-Policy Paper, Nr. 16, Köln. des »Appellate Body« dienen. Dazu ist aber auch Biden, J. (2020a), »The Biden plan to ensure the future is »made in all of America« by all of America’s workers«, verfügbar unter: https://joebiden. ein Entgegenkommen Chinas beim Thema Wettbe- com/made-in-america/, aufgerufen am 14. Dezember 2020. werbsverzerrungen nötig, auf das die EU mit Nach- Biden, J. (2020b), »The Biden plan for a clean energy revolution and druck und gemeinsam mit den USA hinwirken sollten environmental justice«, verfügbar unter: https://joebiden.com/ climate-plan/, aufgerufen am 17. Dezember 2020. (Matthes 2020c). EP – European Parliament (2019), »Balanced and fairer world trade de- fence – EU, US and WTO perspectives«, Workshop documentation, EP/ GEMEINSAME STRATEGIE GEGENÜBER CHINA EXPO/B/INTA/2018/08-10, Brüssel. European Commission (2018), »EU adopts rebalancing measures in re action to US steel and aluminium tariffs«, Pressemitteilung, 20 Juni, ver- Bislang gibt es in Sachen China jedoch zu wenig Ko- fügbar unter: https://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1868, operation zwischen der EU und den USA wegen des aufgerufen am 17. Dezember 2020. konfrontativen Kurses der Trump-Administration ge- European Commission (2020a), »EU-US: A new transatlantic agenda for global change«, Pressemitteilung, 2. Dezember, verfügbar unter: https:// genüber der EU. Die USA setzte – anders als Europa ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_2279, aufgerufen und Deutschland – auf eine weitgehende Entkoppe- am 14. Dezember 2020. lung von China (»Decoupling«). European Commission (2020b), »Boeing WTO case: EU puts in place countermeasures against U.S. exports«, 9 November, verfügbar unter: Doch gab es auf Expertenebene bei den Themen https://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=2207, aufgerufen Industriesubventionen und Staatsunternehmen be- am 17. Dezember 2020 reits zusammen mit Japan eine trilaterale Zusammen- Kolev, G. (2020), US-Leistungsbilanz: Eine Zwischenbilanz vor der Wahl, IW-Kurzbericht, Nr. 107, Köln. arbeit, die weitreichende Vorschläge für Reformen der Kolev, G. und T. Schaefer (2020), US-Präsidentschaftswahl: Implikationen WTO-Regeln gemacht hat (USTR 2020). Diese Initiative für die Klima- und Energiepolitik, IW-Kurzbericht, Nr. 109, Köln. gilt es nun, mit Nachdruck in die WTO einzubringen Matthes, J. (2020a), Deutsch-amerikanische Handelsbeziehungen unter und Verbündete zu suchen, um China zu Verhandlun- Donald Trump, IW Kurzbericht, Nr. 98, Köln gen über eine WTO-Regelreform zu bringen. Matthes, J. (2020b), Protektionismus eindämmen und WTO-Reform voran- treiben - Handelspolitische Empfehlungen für Bundesregierung und EU, Auch auf hoher politischer Ebene kam es in den Gutachten für die INSM, Köln. letzten Monaten zu einer Annäherung. Ende Oktober Matthes, J. (2020c), Die europäische Handelspolitik und China - Schritte 2020 wurde ein bilateraler Dialog zwischen der EU und zu einer neuen Balance mit fairem Wettbewerb, IW-Analyse, Nr. 138, Köln. den USA zu China aufgenommen (US Department of Matthes, J. und G. Kolev (2020), Eine Einordnung von RCEP. Was das regi- onale Handelsabkommen für die EU und die deutsche Wirtschaft bedeutet State 2020). Die EU hatte zuvor ihre Positionierung – und was nicht, IW-Policy Paper, Nr. 28, Köln. gegenüber China verschärft, nicht zuletzt durch die Third World Network (2020), »General Council meeting on WTO DG selec- Benennung Chinas als systemischen Wettbewerber tion postponed, TWN Info Service on WTO and Trade Issues Nov20/08«, und die Einführung einer Prüfung von Investitionen 10 November, verfügbar unter: https://www.twn.my/title2/wto.info/2020/ ti201108.htm, 17. Dezember 2020. aus Drittstaaten wie China. Die Grundsatzeinigung US Department of State (2020), »Launch of the U.S.-EU Dialogue on auf ein Investitionsschutzabkommen der EU mit China China«, Media Note, 23. Oktober, verfügbar unter: https://www.state. stellt hingegen einen Schritt hin zu mehr Kooperation gov/launch-of-the-u-s-eu-dialogue-on-china/, aufgerufen am 9. Dezem- ber 2020. mit China dar und könnte einen Schulterschluss mit USTR (2020), »Joint Statement of the Trilateral Meeting of the Trade den USA erschweren. Ministers of Japan, the United States and the European Union«, 14. Ja- Unter der Biden-Administration dürfte die Zusam- nuar, verfügbar unter: https://ustr.gov/about-us/ policy-offices/press- office/press-releases/2020/january/joint-statement-trilateralmeeting- menarbeit zwischen der EU und den USA weiter inten- trade-ministers-japan-united-states-and-european-union, aufgerufen am siviert werden können. Klare gemeinsame Interessen 9. Dezember 2020. finden sich z. B. auch bei Menschenrechtsverstößen in WTO (2020), »Statement on a Mechanism for developing, documenting and sharing Practices in the Conduct of WTO Disputes«, JOB/DSB/1/ China und möglichen Sanktionen (etwa gegen Güter Add.12, 30 April, verfügbar unter: https://docs.wto.org/dol2fe/Pages/SS/ aus Arbeitslagern) und bei der gemeinsamen Setzung directdoc.aspx?filename=q:/Jobs/DSB/1A12.pdf&Open=True. von internationalen Produktstandards, wo China im Rahmen seiner China Standards 2035 zunehmend sei- nen Einfluss geltend macht. ifo Schnelldienst 1 / 2021 74. Jahrgang 20. Januar 2021 13
Sie können auch lesen