Die Zukunft der europäischen Integration ist untrennbar mit dem Thema Zuwanderung verknüpft
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ÖGfE Policy Brief 18’2018 Die Zukunft der europäischen Integration ist untrennbar mit dem Thema Zuwanderung verknüpft Von Laurenz Ennser-Jedenastik und Christina Gahn Wien, 07. September 2018 ISSN 2305-2635 Handlungsempfehlungen 1. Das Thema Immigration darf auch von pro-europäischen Kräften keinesfalls ignoriert werden, da Haltungen zur Zuwanderung und zum europäischen Integrationsprozess immer stärker korrelieren. 2. Insbesondere sollte nicht davon ausgegangen werden, dass sich die politische Bearbeitung von Immigrationsfragen durch sinkende Zuwanderungszahlen von selbst erledigen wird, da der massive Rückgang der Asylanträge seit 2015 nicht im selben Maß die Bedeutung des Themas Zuwanderung verringert hat. 3. Von der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU abzurücken macht jedoch auch aus wahlstrategischen Gründen keinen Sinn, denn eine wachsende Mehrheit steht Zuwanderung aus anderen EU-Ländern positiv gegenüber. Zusammenfassung Seit dem starken Anstieg an Asylanträgen im Jahr tungen zur europäischen Integration vorherrscht: Wer 2015 hat das Thema Zuwanderung in der öffentlichen Migration ablehnt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Debatte massiv an Bedeutung gewonnen. Dennoch auch gegenüber der EU skeptisch eingestellt. Diese sind die Einstellungen der Bevölkerung zur Zuwande- Verschränkung von Einstellungen zu Zuwanderung rung in Österreich und der EU nicht nachhaltig negati- und EU hat in den letzten Jahren stark zugenommen. ver geworden. Im Gegenteil, EU-Binnenmigration wird Als Folge davon ist die zukünftige Gestaltung des heute sogar positiver gesehen als noch vor einigen europäischen Integrationsprozesses eng mit Fragen Jahren. Aus europapolitischer Sicht ist besonders re- der Migration verknüpft. Gerade für pro-europäische levant, dass sowohl in der Bevölkerung als auch bei Akteure bedeutet dies, dass der politischen Bear- den politischen Parteien eine immer stärkere Korrela- beitung des Themas Zuwanderung hohe Priorität tion zwischen Zuwanderungseinstellungen und Hal- zukommen sollte. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 1
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Die Zukunft der europäischen Integration ist untrennbar mit dem Thema Zuwanderung verknüpft Seit dem Sommer 2015 bestimmt das Thema zahlreichen Flüchtlingsankünften im Jahr 2015 die Zuwanderung den politischen Diskurs in Österreich Einstellungen zu Zuwanderung in der österreichi- und Europa. Im Wahlkampf zur Nationalratswahl schen Wählerschaft nachhaltig verschoben haben. 2017 setzten sowohl Medien als auch Parteien ver- Außerdem gehen wir in diesem Policy-Brief der Fra- stärkt auf Immigration (Bodlos et al. 2018; Galyga et ge nach, welche Rolle Zuwanderung für die Akzep- al. 2018). Dies wirft die Frage auf, ob sich seit den tanz des europäischen Integrationsprozesses spielt. Abbildung 1: Entwicklung der Bedeutung des Themas Zuwanderung und Anzahl der Asylanträge in Österreich und der EU Abbildung 1 zeigt deutlich, dass sich mit dem Mit dem rapiden Anstieg der Asylanträge wurde Anstieg der Asylanträge im Jahr 2015 (in Blau, Da- also das Thema Migration binnen kurzer Zeit auf der ten von Eurostat1) auch die Bedeutung des Themas politischen Agenda ganz nach oben katapultiert, Zuwanderung schlagartig erhöht hat. In Rot werden und auch nach dem Rückgang der Neuankünfte hat Ergebnisse der halbjährlichen Eurobarometer-Be- es nur teilweise an Bedeutung verloren. fragungen gezeigt, für die die Befragten aus einer Liste von rund 15 Themen jene zwei auswählen, die Ein ähnliches – wenn auch weniger extremes – sie für die derzeit wichtigsten in ihrem Land halten. Bild zeigt sich für die EU insgesamt, wobei der Zwischen Mai 2014 und November 2015 steigt die- Spitzenwert auch hier im Herbst 2015 erreicht ser Anteil von zehn auf nicht weniger als 56 Prozent. wird: 35 Prozent der Befragten nannten damals Im März 2018 liegt er immer noch bei rund 30 Pro- Zuwanderung als eines der wichtigsten zwei The- zent und somit deutlich über dem Durschnitt der men. Im März 2018 liegt dieser Anteil bei nur mehr Jahre vor 2015. 18 Prozent. 1) Eurostat-Code: migr_asyappctzm 2 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Zuwanderung wird wichtiger – aber hat, stellt sich die Frage, ob sich auch Einstellungen werden die Einstellungen auch zur Zuwanderung verschoben haben. Abbildung 2 restriktiver? zeigt (wieder mit Eurobarometer-Daten), wie sich die Einstellung zur Zuwanderung von außerhalb der EU Während der Anstieg an Asylanträgen die Bedeu- (Grafiken oben) sowie aus anderen EU-Ländern (Gra- tung des Themas Zuwanderung also massiv erhöht fiken unten) zwischen 2014 und 2018 geändert hat. Abbildung 2: Einstellung gegenüber Zuwanderung in Österreich und der EU seit 2014 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 3
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Während sich das Gesamtbild im Zeitverlauf we- Was bedeutet das für den nig wandelt, steigt in Österreich der Anteil jener mit europäischen Integrationsprozess? sehr negativen Einstellungen gegenüber Zuwande- rung von außerhalb der EU zwischen Mai 2015 (22 Das Jahr 2015 hat zwei Dinge offensichtlich ge- Prozent) und November 2015 (36 Prozent) stark an, macht: Weder sind die existierenden europäischen pendelt sich im Mai 2016 aber wieder auf rund 24 Regelwerke zur Migration adäquat, noch gibt es Prozent ein. In punkto Einstellungen gegenüber Zu- derzeit in der EU politische Mehrheiten für ein neu- wanderung von außerhalb der EU ist die öffentliche es, tragfähiges Regime. Das ist umso relevanter, als Meinung heute in Österreich in etwa wieder dort, die Akzeptanz des europäischen Einigungsprozes- wo sie 2014 war. Für die EU-28 gilt ähnliches – ins- ses in der Bevölkerung immer stärker mit der Zu- gesamt werden die Veränderungen jedoch nicht so wanderungsfrage verknüpft wird. stark sichtbar. Abbildung 3 zeigt, wie sich die Korrelation zwi- Zuwanderung aus anderen EU-Ländern wird schen dem Vertrauen ins Europäische Parlament deutlich positiver wahrgenommen als solche aus (abgefragt auf einer Skala von 0 „überhaupt kein Nicht-EU-Staaten. Zudem verzeichnet Österreich Vertrauen“ bis 10 „vollkommenes Vertrauen“) und ei- hier sogar eine deutliche Zunahme positiver Einstel- nem Index aus sechs Einstellungsfragen zur Immig- lungen: von 56 Prozent („sehr“ und „eher“ positive ration (siehe Anhang) zwischen 2002 und 2016 ver- Antworten addiert) im November 2014 auf 68 Pro- ändert haben (Daten vom European Social Survey, zent im März 2018. Derselbe Trend lässt sich auch www.europeansocialsurvey.org). Höhere Korrelati- EU-weit beobachten. onswerte bedeuten, dass jene Befragten, die skep- tisch gegenüber Zuwanderung sind, auch weniger Vertrauen in das Europäische Parlament haben. Abbildung 3: Korrelationen zwischen Migrationseinstellungen und Vertrauen ins Europäische Parlament, 2002 und 2016 (European Social Survey) 4 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 18’2018 In den meisten Ländern Europas ist der empiri- skeptisch sieht, hat geringes Vertrauen in europäi- sche Zusammenhang zwischen Zuwanderungsein- sche Institutionen – und umgekehrt. stellungen und Vertrauen ins Europäische Parlament zwischen 2002 und 2016 deutlich angestiegen, am Diese Entwicklung findet ihre Entsprechung auf stärksten in Italien (plus 0.15), Finnland (plus 0.13) Seite der politischen Parteien. Abbildung 4 zeigt und Großbritannien (plus 0.12). Kaum verändert anhand von Daten des Manifesto-Projekts (siehe haben sich die Korrelationswerte allerdings in den Anhang für Details zur Berechnung), wie sich die postkommunistischen Ländern (Ungarn, Tschechi- Positionen politischer Parteien in Europa bei den en, Polen und Slowenien). Themen Immigration und europäische Integration seit den 1980er-Jahren gewandelt haben. Jeder Vor allem in Westeuropa verlaufen also Einstellun- Kreis stellt eine politische Partei bei einer nationalen gen zu den Themen Immigration und europäische Parlamentswahl dar, die Größe der Kreise entspricht Integration immer öfter parallel: Wer Zuwanderung dem Stimmenanteil der Partei. Abbildung 4: Zusammenhang zwischen Parteipositionen zu Immigration und europäischer Integration nach Jahrzehnten (MARPOR-Daten) Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 5
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Während die Korrelation zwischen Zuwande- Sowohl die hier präsentierten Daten als auch das rungs- und EU-Positionen der Parteien in den Beispiel Brexit machen eines klar: Die Zukunft des 1980er-Jahren nur 0.16 beträgt, steigt sie in jünge- europäischen Integrationsprozesses ist untrennbar ren Jahrzehnten systematisch an: auf 0.27 in den mit der Zuwanderungsfrage verknüpft. Daraus er- 1990ern, 0.33 in den 2000ern und schließlich auf geben sich mehrere Implikationen für politische Ak- 0.47 im gegenwärtigen Jahrzehnt. teure: Die Bedeutung des Themas Zuwanderung ist in der Wählerschaft und im öffentlichen Diskurs Für politische Parteien gilt also ähnliches – viel- deutlich gestiegen – es ist also praktisch unmöglich leicht sogar noch in stärkerem Ausmaß – wie für die geworden, das Thema zu ignorieren. Aber selbst, Wählerschaft: Parteien, die Zuwanderung ablehnen, wenn man akzeptiert, dass die öffentliche Meinung lehnen auch den europäischen Integrationsprozess dem politischen Handeln hier gewisse Grenzen ab, während liberalere Immigrationspositionen im- setzt, ist eine „Grenzen zu“-Haltung beileibe nicht mer stärker mit pro-europäischen Haltungen ein- die einzig wahlstrategisch ratsame. hergehen. Die Eurobarometer-Umfragedaten zeigen näm- Die politische Landschaft in Europa bewegt sich lich auch, dass es eine klare Differenzierung in der also in eine Richtung, in der Fragen von Zuwande- Haltung zur Migration von außerhalb der EU und in- rung und europäischer Integration empirisch immer nerhalb der EU gibt. Selbst in den Jahren nach der stärker verschmelzen. Das bedeutet, dass der po- sogenannten „Flüchtlingskrise“ ist die Zustimmung litische Konflikt um den europäischen Integrations- zur EU-Binnenmigration in Österreich und der EU prozess wohl mehr als bisher auf dem Terrain der insgesamt deutlich gestiegen und hält bei rund zwei Migrationspolitik ausgetragen werden wird. Dass Drittel. Die Personenfreizügigkeit innerhalb der Eu- Zuwanderung Einfluss auf existenzielle europapoliti- ropäischen Union ist demnach alles andere als ein sche Entscheidungen haben kann, hat nicht zuletzt unpopuläres Projekt. das Brexit-Referendum in Großbritannien vor Augen geführt. Goodwin und Milazzo (2017) etwa zeigen, Dennoch bleibt in einem tendenziell migrations- dass der Zuwachs an MigrantInnen im lokalen Um- skeptischen Land wie Österreich die Gefahr akut, feld und die individuelle Einstellung zur Immigration dass die stärkere Verquickung von Zuwanderungs- starken Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der und Europafragen die im Grunde immer noch relativ britischen Bevölkerung hatten: Je negativer die Hal- breite Akzeptanz der österreichischen EU-Mitglied- tung zur Immigration und je stärker die Zuwachsrate schaft in der Bevölkerung schmälern. nicht-britischer Bevölkerung in der lokalen Umge- bung, desto eher wurde für den EU-Austritt Groß- britanniens gestimmt. 6 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Verweise Bodlos, Anita, Martin Haselmayer & Teresa Haudum (2018). War 2017 ein „Ausländerwahlkampf“? VieCER Blog. https://viecer.univie.ac.at/blog/detail/news/war-2017-ein-auslaenderwahlkampf/?tx_ news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=b2b5e0696ab85733 569d9f513702b4b5 Galyga, Sebastian, Georg Rettenegger, Jakob-Moritz Eberl & Hajo Boomgaarden (2018). Themenver- schiebungen in der Berichterstattung im Vorfeld der Wahl 2017. VieCER Blog. https://viecer.univie.ac.at/ blog/detail/news/themenverschiebungen-in-der-berichterstattung-im-vorfeld-der-wahl-2017/?tx_news_ pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=40844cb5f0a220b2a02dc6 7bb0429200 Goodwin, Matthew & Caitlin Milazzo (2017). Taking back control? Investigating the role of immigration in the 2016 vote for Brexit. British Journal of Politics and International Relations 19 (3) 450–464. Lowe, Will, Kenneth Benoit, Slava Mikhaylov & Michael Laver (2011). Scaling policy preferences from coded political texts. Legislative Studies Quarterly 36 (1): 123–155. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 7
ÖGfE Policy Brief 18’2018 Über die Autoren Laurenz Ennser-Jedenastik ist Universitätsassistent am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Er lehrt und forscht dort zu Parteienwettbewerb, politischen Eliten, Bürokratie, Gender und Sozialpolitik in Österreich und im europäischen Vergleich. Sein Blog „Standardabweichung“ erscheint wöchentlich auf derstandard.at. Kontakt: laurenz.ennser@univie.ac.at Christina Gahn ist Studienassistentin am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Sie studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien und Wirtschafts- und Sozial- wissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihr Interessensgebiet liegt bei quanti- tativer Parteien- und Wahlforschung in Österreich und Europa. Kontakt: christina.gahn@univie.ac.at Über die ÖGfE Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän- giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In- tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu- ropapolitischen Informationen. ISSN 2305-2635 Impressum Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kom- Österreichische Gesellschaft für Europapolitik men, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder je- Rotenhausgasse 6/8-9 nen, der Organisation, für die die Autorin arbeitet, überein. A-1090 Wien, Österreich Schlagworte Generalsekretär: Paul Schmidt EU, Europäische Integration, Zuwanderung, Flüchtlinge Verantwortlich: Christoph Breinschmid Zitation Tel.: +43 1 533 4999 Ennser-Jedenastik, L., Gahn, C. (2018). Die Zukunft der eu- Fax: +43 1 533 4999 – 40 ropäischen Integration ist untrennbar mit dem Thema Zu- E-Mail: policybriefs@oegfe.at wanderung verknüpft. Wien. ÖGfE Policy Brief, 18’2018 Web: http://oegfe.at/policybriefs 8 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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