Digitale Mathematikwerkzeuge als Mittler im bilingualen Mathematikun-terricht im MISTI GTL Germany und an der GISB - Theoretische Rahmung aus ...

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Digitale Mathematikwerkzeuge als Mittler im bilingualen Mathematikun-terricht im MISTI GTL Germany und an der GISB - Theoretische Rahmung aus ...
Digitale Mathematikwerkzeuge als Mittler im bilingualen Mathematikun-
terricht im MISTI GTL Germany und an der GISB –
Theoretische Rahmung aus Instrumentaler Genese und 4C Framework
MATTHIAS MÜLLER, JENA

Zusammenfassung: Werden digitale Mathematik- 2020, S. 7 f.). Nach Rauh (2012, S. 39) bezeichnen
werkzeuge in bilingualen Lernumgebungen einge- digitale Medien technische Geräte zur Darstellung
setzt, können diese als Mittler fungieren und helfen, von digital gespeicherten Inhalten. Konkreter handelt
mit kulturell bedingten Unterschieden fruchtbar um- es sich um elektronische Geräte, die Informationen
zugehen. Obwohl Mathematik universell zu verstehen digital speichern oder übertragen und in bildhafter o-
ist, kann die Ansicht vertreten werden, dass es in den der symbolischer Darstellung wiedergeben (Pallack,
verschiedenen Ländern Unterschiede in der Schul- 2018, S. 28). Spezielle digitale Medien sind digitale
mathematik gibt. Diese sind für einen bilingualen Mathematikwerkzeuge, deren primärer Zweck es ist,
Mathematikunterricht relevant und beim Einsatz di- das mathematische Arbeiten zu unterstützen. Um die
gitaler Mathematikwerkzeuge von Bedeutung. Zwei Funktion als Mittler zwischen Inhalt und Lernenden
Beispiele US-amerikanisch-deutscher bilingualer genauer untersuchen zu können, ist ein Verständnis
Lernumgebungen werden in diesem Kontext unter- zum Prozess der „Werkzeug-Aneignung“ (Instru-
sucht; der Mathematikunterricht im Rahmen des Pro- mentalisierung) durch den Lernenden notwendig.
jekts MISTI Global Teaching Lab und an der German Diesen Prozess beschreibt die instrumentale Genese,
International School Boston. Vor dem Hintergrund welche insbesondere das Lernen mit digitalen Mathe-
der Studienergebnisse kann die Theorie der instru- matikwerkzeugen theoretisch fassen kann.
mentalen Genese um sprachliche und kulturelle As-
 Werden digitale Mathematikwerkzeuge in einem bi-
pekte des 4C framework erweitert werden.
 lingualen Mathematikunterricht eingesetzt, ist zu er-
 warten, dass sie vergleichbar zum regulären Unter-
Abstract: If digital media is used in bilingual learn-
 richt einen Einfluss auf das Lernen haben. Um diese
ing environments, they can act as mediators and
 Beziehung untersuchen zu können, soll allerdings zu-
help to deal productively with culturally determined
 nächst erläutert werden, was in diesem Zusammen-
differences. Although mathematics is considered to
 hang unter bilingualen Mathematikunterricht ge-
be universal, it can be argued that there are differ-
 meint ist. Bilingualer Mathematikunterricht ist ein
ences in school mathematics in diverse countries.
 großer Bereich und kann verschiedene Ausprägun-
These differences are highly relevant for bilingual
 gen im konkreten Unterrichtssetting aufweisen. Die
mathematics education and are important when us-
 meisten (deutschsprachigen) Lehrpläne orientieren
ing digital media. Two examples of American Ger-
 sich an den Vereinbarungen der Kultusministerkon-
man bilingual teaching and learning environments
 ferenz (2013, S. 3), indem bilingualer Unterricht all-
are examined in this context; Mathematic lessons
 gemein als „Fachunterricht in den nicht-sprachlichen
within the MISTI Global Teaching Lab program and
 Fächern […], in dem überwiegend eine Fremdspra-
at the German International School Boston. Against
 che für den Diskurs verwendet wird“ definiert ist. Für
the background of the study results, the theory of in-
 den Mathematikunterricht ist dabei die Möglichkeit
strumental genesis can be supplemented with regard
 relevant, indem über Module phasenweise bilingual
to linguistic and cultural aspects of the 4C frame-
 an fachlichen Inhalten gearbeitet wird. Damit sollen
work.
 Synergieeffekte für den Fach- und Fremdsprachen-
 unterricht entstehen und genutzt werden (TMBJS,
1. Einleitung S. 10). Diese Sequenzen können je nach Schule oder
Um die Funktion eines digitalen Mathematikwerk- Projekt zeitlich variieren und sogar operativ ange-
zeuges als Mittler (in einem bilingualen Unterricht) passt werden (KMK, 2013, S. 8 f.). Für die europäi-
beschreiben zu können, muss man die digitalen Ma- schen Länder hat sich der Begriff des content and lan-
thematikwerkzeuge als Medien einordnen. Allge- guage integrated learning (CLIL) durchgesetzt, der
mein sind Medien einerseits kognitive und anderer- die verschiedenen Ansätze und Konzepte begrifflich
seits kommunikative Werkzeuge zur Verarbeitung, zusammenfasst (Bonnet, Breitbach & Hallet, 2009,
Speicherung und Übermittlung von zeichenhaften In- S. 173). In diesem Beitrag wird der US-amerika-
formationen (Petko, 2014, S. 13). Das betrifft sowohl nisch-deutsche Mathematikunterricht als bilingualer
analoge als auch digitale Medien. Entscheidend ist Unterricht im Sinne des CLIL verstanden. Dabei wer-
die Eigenschaft des Mediums als Mittler zwischen den zwei vergleichbare US-amerikanisch-deutsche
Inhalt und Lernenden zu fungieren. Dies kann phy- Lernumgebungen betrachtet: Im Projekt MISTI Glo-
sisch als auch digital erfolgen (Rink & Walther, bal Teaching Lab (MISTI GTL) unterrichten US-
mathematica didactica 44(2021)2, online first 1
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math.did. 44(2021)2
amerikanische Lehrkräfte deutschsprachige Ler- Die Implementierung digitaler Mathematikwerk-
nende und an der German International School Bos- zeuge im Unterricht hat in den USA eine lange Tra-
ton (GISB) unterrichten deutschsprachige Lehrkräfte dition. Dabei geht es nicht nur darum, solche digita-
US-amerikanisch-sprachige Lernende. In beiden len Medien einzusetzen, sondern sie aktiv zu gestal-
Lernumgebungen kommen digitale Mathematik- ten und mathematische und informative Inhalte zu
werkzeuge zur Anwendung, da sie sich an vergleich- entwickeln (Papert, 1993). Basierend auf explorati-
baren didaktischen Basispapieren zum Mathematik- ven Interviewstudien (Szücs & Müller, 2013) wurde
unterricht (Lehrpläne und Bildungsstandards) orien- die Hypothese entwickelt, dass Unterschiede zwi-
tieren. schen dem deutschen und dem englischsprachigen
 Kulturraum hinsichtlich der Schulmathematik festge-
Im folgenden Kapitel sollen die theoretischen Aus-
 stellt werden können. Diese Unterschiede sind ver-
gangspunkte für die durchgeführte empirische Unter-
 mutlich für bilinguale Lernumgebungen relevant. Di-
suchung (Kapitel 3 bis 6) vorgestellt werden, dabei
 gitale Mathematikwerkzeuge können beim fruchtba-
wird besonderes Augenmerk auf den Prozess der in-
 ren Umgang mit diesen Unterschieden in den konkre-
strumentalen Genese und das 4C framework für den
 ten Lernumgebungen eine entscheidende Rolle spie-
CLIL Unterricht gelegt. Ein Vorschlag zu Verbin-
 len. Das Modell der instrumentalen Genese kann
dung beider Ansätze wird in Kapitel 7 vor dem Hin-
 Hinweise auf die Funktion digitaler Mathematik-
tergrund der Studienergebnisse diskutiert und im Fa-
 werkzeug als Mittler für Sprache und mathemati-
zit (Kapitel 8) zusammenfassend dargestellt.
 schen Inhalt geben (Müller, 2018).
2. Theoretische Ausgangspunkte Ein zentraler Punkt der instrumentalen Genese ist die
 Unterscheidung zwischen dem Artefakt (artifact) und
Der Einfluss digitaler Mathematikwerkzeuge auf das
 dem Instrument (instrument) (Kieran & Drijvers,
Lernen im Unterricht ist belegt (Barzel, 2012). Es
 2006, S. 206).
kann angenommen werden, dass dieser Einfluss
ebenso in einer bilingualen Lernumgebung (in adap- Whereas the artifact is the – often physical – object that
tierter Form) existiert. Um das Lernen mit digitalen is used as a tool, the instrument involves also the tech-
Mathematikwerkzeugen zu verstehen, ist der bilate- niques and schemes that the user develops while using
rale Prozess der „Werkzeug-Aneignung“ (Instrumen- it, and that guide both the way the tool is used and the
 development of the user´s thinking. The process of an
talisation und Instrumentation) von besonderem Inte- artifact becoming an instrument in the hand of a user –
resse. Die instrumentale Genese kann den Prozess in our case the student – is called instrumental genesis.
epistemologisch fassen. (Kieran & Drijvers, 2006, S. 207)

2.1 Instrumentale Genese Die instrumentale Genese beschreibt die bilaterale
 Beziehung zwischen dem Instrument und dem Nut-
Digitale Mathematikwerkzeuge können in zwei zer. Das beinhaltet auch, dass das Werkzeug (tool)
Richtungen als Türöffner fungieren (Müller, 2018). zielgerichtet durch den Nutzer mit Hilfe seines bishe-
Der Begriff Türöffner ist dabei im Sinne eines Mitt- rigen Wissens eingesetzt wird. Durch die Nutzung
lers zu verstehen. Die Funktion des Mittlers ist ein des Werkzeugs gestaltet er das Werkzeug, dieser Pro-
zentraler Bestandteil eines digitalen Mediums (Rink zess wird als Instrumentalisation bezeichnet (Kieran
& Walther, 2020, S. 7 f.) und kann als Ansatz für die & Drijvers, 2006, S. 207). Bei der Instrumentation
Begriffsbestimmung eben dieser herangezogen wer- hingegen werden bei dem Nutzer mentale Schemata
den. Allgemein sind Medien einerseits kognitive und oder Modelle über Möglichkeiten und Grenzen des
anderseits kommunikative Werkzeuge zur Verarbei- Werkzeugs entwickelt (Weigand, 2006, S. 91). Wäh-
tung, Speicherung und Übermittlung von zeichenhaf- rend des Lernprozesses laufen beide Vorgänge, die
ten Informationen (Petko, 2014, S. 4). Das gilt so- Instrumentation und die Instrumentalisation, neben-
wohl für analoge als auch für digitale Medien. Digi- einander ab und bilden zusammen die instrumentale
tale Medien im Besonderen sind technische Geräte Genese. Damit ist das Instrument in der Hand des
zur Darstellung von digital gespeicherten Inhalten Lernenden mehr als nur das Artefakt, es umfasst auch
(Rauh, 2012, S. 39). Spezielle digitale Medien sind die mentalen Vorstellungen und ist abhängig von der
digitale Mathematikwerkzeuge, deren primärer Aufgabe. Abb. 1 kann in einem Satz auf den Punkt
Zweck es ist, das mathematische Arbeiten zu unter- gebracht werden: „The student´s thinking is shaped
stützen. Das umfasst insbesondere die Medien, die by the artifact, but also shapes the artifact.” (Hoyles
mathematikspezifisch an Beruf und Alltag oder di- & Noss, 2003, S. 339; Kieran & Drijvers, 2006,
daktisch orientiert sind (Barzel, 2019, S. 2). In die- S. 207) Es ist festzuhalten, dass die Wechselbezie-
sem Sinne sind digitale Mathematikwerkzeuge ma- hungen der Trias Artifact, Mental Scheme und Type
thematikspezifische digitale Medien. of Tasks (vgl. Abb. 1) theoretisch beschrieben und in
 verschiedenen Studien nahegelegt wurden (Rieß,

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M. Müller
2018). Für die vorliegende Untersuchung wird davon eck. Kulturelle Aspekte beeinflussen das Bezie-
ausgegangen, dass die Wechselbeziehungen auch in hungsgefüge auf verschiedenen Ebenen (Coyle,
bilingualen Lernumgebungen existieren. Hood & Marsh, 2010, S. 41); einen Überblick über
 das s.g. 4C framework gibt Abb. 2. Für die vorlie-
 gende Untersuchung wird angenommen, dass die
 Artifact Mental Scheme Wechselbeziehungen zwischen den Dimensionen
 Communication, Cognition und Content in beiden
 Lernumgebungen bestehen und belegt sind.
 Instrument
 Communication

 Type of Tasks
 Culture
Abb. 1: Instrument: a triad of artifact, mental scheme and
 task. Beziehungsgefüge der Trias Artifact, Mental
 Scheme, Type of Tasks (Drijvers, 2004, S. 86).

Ein Teil der instrumentalen Genese ist die Beziehung Cognition Content
zwischen Kognition und Artefakt (Verillon & Rabar-
del, 1995), die als Verbindungspunkte zwischen Abb. 2: 4C framework. Beziehungsgefüge der CLIL-Di-
Kommunikation und Kultur fungieren kann. Das Mo- mensionen Communication, Cognition, Content
 und Culture (Coyle et al., 2010, S. 41).
dell der instrumentalen Genese fasst den Einfluss di-
gitaler Werkzeuge auf die Wissenskonstruktion Die Arbeit an den deutschen Auslandsschulen wie
(Rieß, 2018), der auch Ansatzpunkte für kulturelle z. B. der GISB zeigt, dass ein bilingualer Mathema-
Aspekte und Kommunikation liefert. Diese Ansatz- tikunterricht möglich und gewinnbringend ist (Küp-
punkte sollen in den folgenden Abschnitten verfolgt pers, 2013, S. 308). Die symbolische Darstellung von
werden. mathematischen Formeln und Sätzen unterstützt auch
 in der Fremdsprache das Verständnis von mathema-
2.2 Bilingualer Mathematikunterricht und tischen Zusammenhängen. Das Verbalisieren der
 CLIL Formeln in der Fremdsprache kann zu einem tieferen
In einem Papier der Kultusministerkonferenz (2013, Verständnis der Zusammenhänge beitragen (Küp-
S. 3) wird bilingualer Unterricht als „Fachunterricht pers, 2013, S. 311 f.). Insbesondere der Wechsel zwi-
in den nicht-sprachlichen Fächern […], in dem über- schen den enaktiven, ikonischen und symbolischen
wiegend eine Fremdsprache für den Diskurs verwen- Darstellungsformen, der im Fach Mathematik üblich
det wird“ definiert. Bilingualer Sachfachunterricht ist, unterstützt das Arbeiten in bilingualen Lernum-
bezieht sich auf ein Fach, indem z. B. über bilinguale gebungen (Leisen, 2013, S. 156 f.). Die verschiede-
Module phasenweise bilingual an fachlichen Inhalten nen Darstellungsformen und insbesondere der Wech-
gearbeitet wird. Diese Sequenzen können zeitlich va- sel derer regt die Kommunikation an und damit ist
riieren und nach Bedarf bzw. Initiative der Lehrkraft der bilinguale Mathematikunterricht sogar zur Vor-
angepasst werden (KMK, 2013, S. 8 f.). Gesell- bereitung für weitere bilinguale Module in anderen
schaftliche und technologische Veränderungen ver- Fächern geeignet.
stärken den Trend zur Ausweitung des bilingualen Insofern ist die Dimension Culture des 4C framework
Unterrichts weltweit (Breidbach, 2007, S. 28). Für für die bilingualen Lernumgebungen von großer Be-
die europäischen Länder hat sich der Begriff des con- deutung. Schon die kulturellen Einflüsse in Bezug
tent and language integrated learning (CLIL) durch- auf das mathematische Arbeiten und noch enger die
gesetzt, der die verschiedenen Ansätze und Konzepte Schulmathematik sind von einigen Autoren beschrie-
begrifflich zusammenfasst (Bonnet, Breitbach & ben worden: „Doing mathematics is different in dif-
Hallet, 2009, S. 173). Daher schließt CLIL sämtliche ferent languages.“ Diese Aussage von Barwell (2003,
bilinguale Lernumgebungen mit ein und hat einen S. 38) stellt eine Sichtweise dar, die Unterschiede in
breiteren Fokus als die reine Förderung der fremd- der Schulmathematik verschiedener Länder direkt
sprachlichen Kompetenz. Lernenden sollen im CLIL mit der Sprache verknüpft. Es ist wichtig, dass Ma-
sachfachliche, fächerübergreifende, methodische, thematik als universell verstanden werden kann
kognitive und kommunikative Kompetenzen erwer- (Rolka, 2004), allerdings kann das mathematische
ben. Inhalt, Kommunikation und Wissen stehen im Arbeiten im Klassenzimmer, also „doing mathema-
CLIL in besonderer Weise in einem Beziehungsdrei- tics”, in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sein.
 Darüber hinaus trägt die Berücksichtigung kultureller
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Einflüsse dazu bei, die Probleme der Schülerinnen digitalen Mathematikwerkzeugen kommt, kann an-
und Schüler im Mathematikunterricht besser zu ver- genommen werden, dass die Prozesse der instrumen-
stehen: talen Genese erfolgen. In dieser Hinsicht wird der
 However, positioning mathematics as culture-free and
 theoretische Zugang der instrumentalen Genese ge-
 neutral reinforces the belief that the problem lies with wählt, um sich der Verständnisförderung auf Seiten
 the students or their families as opposed to with the der Lernenden zu nähern. Der Begriff des Artifacts
 curriculum, pedagogical choices, or the educational wird im Rahmen dieser Studie im Sinne der instru-
 system. (Felton-Koestler & Koestler, 2017, S. 68) mentalen Genese verwendet. Daher zielt F1 implizit
 auf die Wechselbeziehung zwischen Artifact und
Allgemein kann man sagen, je komplexer die mathe-
 Communication-Dimension. Entsprechend der theo-
matischen Themen sind, desto mehr verschwinden
 retischen Bezüge kann daher die Forschungsfrage 2
die sprachlichen oder kulturellen Unterschiede (No-
 formuliert werden: (F2) Finden sich in bilingualen
votná & Moraová, 2005). Im schulischen Kontext
 Lernumgebungen in denen digitale Mathematik-
kann man davon ausgehen, Unterschiede in der ma-
 werkzeuge eingesetzt werden Belege für eine Ver-
thematischen Arbeit ausmachen zu können. Es ist in-
 bindungen zwischen dem Artifact im Sinne der in-
teressant, wie mit diesen Unterschieden in einer bi-
 strumentalen Genese und der Dimension Commu-
lingualen Lernumgebung umgegangen wird. Wenn
 nication des 4C framework?
sich der kulturelle Hintergrund der Lehrenden von
denen der Lernenden unterscheidet, fällt es den Lehr- Für die bilingualen Lernumgebungen, welche dem
kräften möglicherweise schwer, die Lernausgangs- CLIL-Konzept zuzuordnen sind, ist das 4C frame-
lage der Lernenden richtig einzuschätzen (González, work von hoher Relevanz. Neben der benannten Di-
Andrade, Civil & Moll, 2001). Der Mathematikunter- mension Communication ist auch die Dimension
richt im Projekt MISTI GTL und an der GISB sind Culture immanent. Von Bedeutung sind daher kultu-
gute Beispiele für bilinguale mathematische Lernum- relle Unterschiede aus den beiden Kulturkreisen, die
gebungen. In beiden Lernumgebungen unterscheidet in den konkreten bilingualen Lernumgebungen aufei-
sich die Unterrichtssprache (Fremdsprache) von der nandertreffen. Für die exemplarisch untersuchten
Sprache, die von den Lernenden als erste Sprache er- Lernumgebungen (MISTI GTL und GISB) sollen die
lernt wurde (Erstsprache). In beiden Fällen unterrich- kulturellen Unterschiede auf das mathematische Ar-
ten die Lehrkräfte Mathematik in ihrer Erstsprache. beiten im Unterricht (genauer die Schulmathematik)
 begrenzt werden. Daher soll einer weiteren Fragestel-
3. Ziele der Studie & Fragestellungen lung im Rahmen der Studie nachgegangen werden:
 (F3) Gibt es Unterschiede zwischen der US-ame-
In Anbetracht der dargestellten theoretischen Überle-
 rikanisch- und deutschsprachigen (Schul-) Ma-
gungen kann zentral eine Forschungsfrage formuliert
 thematik und sind diese relevant für bilinguale
werden, die empirisch überprüft werden soll: (F1)
 mathematische Lernumgebungen?
Können digitale Mathematikwerkzeuge als Mitt-
ler für die Fremdsprache in bilingualen Lernum- Die Auseinandersetzung mit den drei Forschungsfra-
gebungen fungieren und somit ein tieferes Ver- gen führt zu einer Verknüpfung der theoretischen
ständnis für mathematische Inhalte fördern? Modelle. Für die beiden Lernumgebungen kann die
 instrumentale Genese mit dem 4C framework in Ver-
Dabei wird unter dem Begriff digitales Mathematik-
 bindung gebracht werden. Eine mögliche theoreti-
werkzeug, wie unter 2.1 definiert, ein spezielles digi-
 sche Brücke soll vor dem Hintergrund der Ergebnisse
tales Medium verstanden, dessen primärer Zweck die
 der empirischen Studie kritisch diskutiert werden.
Unterstützung des mathematischen Arbeitens ist. Aus
 Wie in den theoretischen Überlegungen dargelegt,
dieser Begriffsdefinition leitet sich auch die Mittler-
 wird angenommen, dass die insgesamt sechs Wech-
Funktion her. Das digitale Werkzeug wird (zunächst)
 selbeziehungen der instrumentalen Genese und des
im Rahmen der Studie als Mittler zwischen Lernen-
 4C framework im bilingualen Mathematikunterricht,
den und Inhalt aufgefasst (Rink & Walther, 2020).
 indem digitale Werkzeuge eingesetzt werden, beste-
Entsprechend dem Studienrahmen bezieht sich die
 hen. Die Studie zielt entsprechend der Fragestellung
Fragestellung auf bilinguale Lernumgebungen. Kon-
 F2 darauf ab, die Wechselbeziehung des Artifacts
kret sind damit CLIL-Lernumgebungen gemeint, für
 (instrumentale Genese) und der Dimension Commu-
die als theoretischer Bezugsrahmen das 4C frame-
 nication (4C framework) zu untersuchen. Das digi-
work herangezogen wird. Speziell die Dimension
 tale Mathematikwerkzeug übernimmt an dieser Stelle
Communication des 4C framework bietet Anknüp-
 die Funktion als Mittler für die Fremdsprache, wie es
fungspunkte in Hinblick auf die Interaktion der Ler-
 in der Fragestellung F1 formuliert ist. Die Bedeutung
nenden mit digitalen Mathematikwerkzeugen inner-
 der Dimension Culture für das 4C framework im US-
halb der Lernumgebungen. Wenn es zum Einsatz von
 amerikanisch-deutschen Kontext wird durch Frage-
 stellung F3 untersucht.
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M. Müller
Den formulierten Fragestellungen wird innerhalb definieren, was einen deutschsprachigen Mathema-
zweier bilingualer Lernumgebungen, die dem CLIL- tikunterricht ausmacht. Unterschiede zwischen den
Konzept zuzuordnen sind und in denen vergleichbare 16 Bundesländern mit ihren jeweiligen Bildungssys-
digitale Mathematikwerkzeuge eingesetzt werden, temen sind vorhanden und empirisch belegt, wie der
nachgegangen. Der Geltungsbereich der Aussagen INSM-Bildungsmonitor zeigt (Anger, Plünnecke &
der Studie kann sich daher nur auf ähnliche bilinguale Schüler, 2018). Darüber hinaus ist die Unterrichts-
Lernumgebungen beziehen. Damit sind Lernumge- sprache an österreichischen und vielen Schweizer
bungen gemeint, in denen US-Amerikanisch und Schulen ebenso Deutsch. In den USA gibt es genauso
Deutsch als Sprachen und digitale Mathematikwerk- wenig ein homogenes Bild des US-amerikanischen
zeuge wie z. B. GeoGebra verwendet werden. Auch Mathematikunterrichts. Die 50 Staaten unterscheiden
wenn die theoretischen Grundlagen und die daraus sich in ihren Bildungssystemen. Vergleiche in Form
abgeleiteten Fragestellungen (speziell F2) einen wei- von Ratings und Rankings sind üblich. Beispiels-
teren interpretativen Kontext eröffnen könnten, wird weise wird das Bildungssystem des Staates Massa-
dieser durch die Rahmenbedingungen der Studie ein- chusetts in den USA als das beste angesehen
gegrenzt. (Trimble, 2018). Trotz der Schwierigkeiten mit einer
 abgrenzenden Definition können einige Beobachtun-
4. Rahmenbedingungen der Studie gen zum Mathematikunterricht in den USA formu-
 liert werden, ohne den Anspruch einer Verallgemei-
Um den formulierten Forschungsfragen nachgehen
 nerung zu verfolgen.
zu können, konnte eine empirische Untersuchung in
zwei bilingualen Lernumgebungen durchgeführt Bereits 1913 brachte der US-amerikanische Mathe-
werden. Sowohl das MISTI GTL als auch die GISB matiker Jourdain seine Erwartungen an die Verständ-
zeichnen sich durch besondere organisatorische und lichkeit mathematischer Theorien und Sachverhalte
institutionelle Rahmenbedingungen aus, die im Stu- mit den Worten zum Ausdruck:
diendesign berücksichtigt werden mussten. In beiden [...] he was never satisfied with his knowledge of a
bilingualen Lernumgebungen kommen digitale Ma- mathematical theory until he could explain it to the
thematikwerkzeuge zum Einsatz. Dies liegt zum ei- next man in the street. (Jourdain, 2007, S. 1)
nen in den Lehrplänen begründet, an denen sich ori-
entiert wird (z. B. TMBJS, 2018). Zum anderen sind Das schließt zwei Sichtweisen ein, die ein gewisses
die Lehrkräfte jung, motiviert und technikinteressiert Spannungsfeld ausmachen. Zum einen kann jeder
(vgl. Tab. 1). Die Lernenden arbeiten mit digitalen (Lernende) erwarten, dass Mathematik in „einfachen
Mathematikwerkzeugen wie z. B. dynamischer Geo- Worten“ erklärt wird. Zum anderen kann eine mathe-
metriesoftware, Tabellenkalkulationssoftware und matische Theorie jedoch nicht beliebig vereinfacht
Computeralgebra-Systemen. Es kann davon ausge- werden, bis sie nur für Spezialfälle gilt. Das würde
gangen werden, dass die Prozesse Instrumentation die Aussagekraft zu sehr schmälern (Jourdain, 2007).
und Instrumentalisation in beiden Lernumgebungen Mathematiklehrkräfte bewegen sich zwischen diesen
auf Seiten der Lernenden während der Verwendung beiden Sichtweisen. Es ist interessant zu sehen, wo
der digitalen Mathematikwerkzeuge ablaufen. So- die Prioritäten gesetzt werden.
wohl der Mathematikunterricht im Rahmen des In der Lehrerausbildung ist es wichtig, sich auf die
MISTI GTL als auch an der GISB sind dem CLIL- Herausforderungen des Unterrichts vorzubereiten.
Konzept zuzuordnen. Das 4C framework ist für beide Einige Autoren unterstreichen die Unmöglichkeit all-
Lernumgebungen adäquat, um das Beziehungsge- gemeiner Lösungen für bestimmte Lernsituationen:
füge zwischen den CLIL-Dimensionen zu beschrei-
 We are highly aware that there are no two teachers ex-
ben (vgl. Abb. 2). Neben den spezifischen institutio- actly alike and that no one solution fits all circum-
nellen und organisatorischen Rahmenbedingungen, stances. (Breux & Whitaker, 2015, S. xii)
sind auch die kulturellen Kontexte der US-amerika-
nischen und deutschen Schulmathematik zu beach- Dennoch fühlen sich z. B. Breux & Whitaker (2015)
ten. in der Lage, 60 einfache Antworten auf (allgemeine)
 Probleme im Unterricht anzubieten. Dieser pragma-
4.1 US-amerikanisch- und deutschsprachi- tische Ansatz ist vorteilhaft für junge Lehrkräfte, die
 ger Mathematikunterricht noch wenig eigene Unterrichtserfahrungen gesam-
 melt haben. Weiterhin gehen einige US-amerikani-
Die US-amerikanische und die deutsche Mathema- sche Kollegen (evtl. eine größere Anzahl als unter
tikausbildung zeichnen sich durch kulturelle Spezi- deutschen Lehrkräften) davon aus, dass mathemati-
fika aus, die regional und kontextabhängig stark va- sche Leistungen in Multiple-Choice-Tests gut erfasst
riieren können. Daher ist es schwierig, Verallgemei- und gemessen werden können. Die Ergebnisse in
nerungen vorzunehmen. Erstens kann man nicht klar standardisierten Abschlussprüfungen mit thematisch

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einheitlichen, kompakten Aufgaben („Items“) be- 4.3 GISB
stimmen die Schulkarriere von der Mittel- und Ober-
 Die German School wurde 2001 in Boston von einer
stufe bis zur Universität. Der Mathematikunterricht
 Gruppe aus deutschsprachigen Eltern und Lehrkräf-
berücksichtigt demnach die Vorbereitung auf stan-
 ten gegründet. Der Eröffnung ging eine vierjährige
dardisierte Tests im besonderen Maße (Hyun, 2006;
 Planungs- und Organisationsphase voraus. Da die
Kaplan, 2009). Interessant ist dabei, dass Elemen-
 Schule Schülerinnen und Schüler verschiedener Na-
targeometrie in der gesamten Ausbildung anschei-
 tionalitäten vereint und sich dem Multikulturalismus
nend thematisch präsent ist und elementargeometri-
 verschrieben hat, wurde der Name zu German Inter-
sche Problemstellungen in allen Klassenstufen be-
 national School Boston ergänzt. In den letzten Jahren
handelt werden. So jedenfalls legen es entsprechende
 hat die Anzahl der Anmeldungen kontinuierlich zu-
Unterrichtsmaterialien nahe (Balley, 2012; Lappan,
 genommen und der Campus wurde systematisch er-
Fey, Fitzgerald, Friel & Phillips, 2009).
 weitert. Derzeit hat die GISB ca. 300 Schülerinnen
Diese Beobachtungen vermitteln einen ersten (un- und Schüler von der Vorschule bis zur zwölften
vollständigen) Eindruck von dem Umfeld in dem sich Klasse. Seit 2013 haben erfolgreiche Absolventen
US-amerikanische und deutsche Lehrkräfte bewe- der Schule sowohl das Massachusetts High School
gen. Entscheiden sich die Lehrkräfte in bilingualen Diploma als auch das German International High
Lernumgebungen tätig zu werden, sehen sie sich mit School Diploma, welches äquivalent zum deutschen
besonderen Herausforderungen aufgrund des unter- Abitur ist, erhalten. Absolventinnen und Absolventen
schiedlichen pädagogisch-kulturellen Backgrounds der Schule können in den USA und in Deutschland
(Felton-Koestler & Koestler 2017, S. 68) konfron- bzw. der EU studieren.
tiert. Für die vorliegende Studie werden beide Fälle
 Auch der bilinguale Mathematikunterricht an der
im Sinne des CLIL betrachtet. Im Projekt MISTI
 GISB ist dem CLIL zuzuordnen und orientiert sich
GTL unterrichten US-amerikanische Lehrkräfte
 neben den lokalen Lehrplänen auch an dem Thürin-
deutschsprachige Lernende und an der GISB werden
 ger Lehrplan (TMBJS, 2018), was für eine deutsche
deutschsprachige Lehrkräfte im Fachunterricht tätig.
 Auslandschule üblich ist. Entsprechend dem Thürin-
 ger Lehrplan ist der Einsatz digitaler Mathematik-
4.2 MISTI GTL Germany
 werkzeuge (z. B. GeoGebra) ein integraler Bestand-
Im Januar 2019 besuchten 43 Studentinnen und Stu- teil des Unterrichts. Damit hat der bilinguale Mathe-
denten des Massachusetts Institute of Technology matikunterricht im Rahmen des MIST GTL und an
(MIT) Deutschland im Rahmen des Austauschpro- der GISB vergleichbare didaktische Eckpunkte.
gramms MISTI GTL Germany, um mit deutschen
Lernenden im mathematisch-naturwissenschaftli- 5. Qualitativer Studienteil
chen Unterricht an Schulen in Deutschland zusam-
 Um den aufgestellten Forschungsfragen empirisch
menzuarbeiten. Dabei begeisterten die Studierenden
 nachgehen zu können, wurde ein zweiphasiges
die Schülerinnen und Schüler für ihre mathematisch-
naturwissenschaftlichen Forschungsgebiete und lie- Mixed-Method-Design gewählt. In der ersten quali-
ferten viele wichtige Anregungen für den Lernpro- tativen Phase sollten Hypothesen generiert und in der
zess. Die Teilnahme am GTL-Programm bildete die zweiten quantitativen Phase überprüft bzw. weiter-
Grundlage für die Zusammenarbeit der Schulen in entwickelt werden (vgl. Abb. 3). Grundlegend hat die
 Studie einen explorativen Charakter.
Deutschland mit den MIT Science and Technology
Initiatives (MISTI). Ziel des Projekts ist es, aktuelle Entsprechend der Forschungsfragen sollte die Bezie-
MINT-Forschungsergebnisse für Lernende didak- hung des Artifacts (instrumentale Genese) und der
tisch aufzubereiten. Die eingegangenen Kooperatio- Dimension Communication in den Fokus genommen
nen werden in den folgenden Jahren fortgesetzt. Die werden (vgl. F1 bzw. F2). Dem 4C framework fol-
US-amerikanisch-deutschen Lernumgebungen im gend, muss auch die Dimension Culture Beachtung
Rahmen des Projekts MISTI GTL entsprechen einem finden und kulturell bedingte Unterschiede des Ma-
bilingualen Mathematikunterricht im Sinne des thematikunterrichts betrachtet werden (vgl. F3). Da-
CLIL. Dabei haben die bilingualen Lernumgebungen her zielte die Auswahl der Methodik bzw. die Ent-
modularen Charakter (TMBJS, 2018). Entsprechend wicklung der zugehörigen Erhebungsinstrumente auf
der jeweiligen Basisdokumente kommen digitale die drei eben genannten theoretischen Begriffe und
Mathematikwerkzeuge (z. B. GeoGebra) in den der Wechselbeziehung zwischen Artifact und Com-
Lernumgebungen regulär zum Einsatz. munication-Dimension ab.
 Die Operationalisierung der drei Begriffe und der
 Wechselbeziehung erfolgte in dem Dreischritt (1)
 Identifizierung von Unterschieden, (2) Bestimmung

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deren Relevanz für den Unterricht und (3) Bedeutung mit (unv.) gekennzeichnet. Im Video genannte Na-
für den Werkzeugeinsatz (Wechselbeziehung Arti- men wurden wegen der notwendigen Anonymisie-
fact und Dimension Communication). Der zweite rung mit (Name) transkribiert. Vermutungen wurden
Operationalisierungsschritt bezieht sich auf die 4C in Klammern notiert und mit einem Fragezeichen
Dimension Culture und beinhaltet auch die Behand- versehen. Die Transkripte wurden mit dem Pro-
lung sprachlicher Besonderheiten z.°B. in Hinblick gramm f4transkript angefertigt. Die Videovignetten
auf intendierte Begriffsinhalte. Diese werden in den wurden anonymisiert, indem zufällig und nichtnach-
Beispielen (vgl. Kapitel 5.2) vorgestellt und anschlie- vollziehbare Label (z. B. V_I-1) als Bezeichnung der
ßend (vgl. Kapitel 7) diskutiert. Dateien ausgewählt wurden.
 Die Bestimmung des Analysematerials erfolgte
 1. Phase: 2. Phase: durch die begründete Reduzierung des Beispielmate-
 Qualitative Erhebung Quantitative Erhebung rials. Bei dieser Studie wurde das Beispielmaterial
 ∙ hypothesenbildend ∙ hypothesenprüfend äußert geringfügig reduziert, da alle neun Transkripte
 ∙ standardisierte ∙ Online-Fragebogen analysefähige Informationen enthalten. Es sind ledig-
 Interviews (teils mit mit aus der 1. Phase lich unverständliche Abschnitte ausgeschlossen wor-
 Video-Vignitten) entwickelten Items
 den, wenn z. B. Zwischenrufe längere Zeit dominier-
 ten oder die Aufnahmen unterbrochen wurden. Damit
Abb. 3: Generelles Studiendesign: Zweiphasiges Mixed-
 Method-Design mit explorativem Charakter zur
 standen für die Analyse neun Interview-Transkripte
 Generierung und Weiterentwicklung von Hypothe- und vier Video-Transkripte zur Verfügung. Die Ana-
 sen entsprechend der Forschungsfragen. lyse innerhalb der ersten Phase hatte das Ziel der Hy-
 pothesenbildung und orientierte sich an qualitativen
5.1 Methodik der qualitativen Erhebung Verfahren. Daher wurde auf Grundlage der Video-
Die erste Studienphase hatte explorativen Charakter und Interview-Transkripte ein induktives inhaltsana-
und umfasste im Wesentlichen qualitative Instru- lytisches Kategoriensystem gebildet. Unter indukti-
mente wie z. B. standardisierte Interviews. Geleitet ver Kategorienbildung versteht man die Entwicklung
von den formulierten Forschungsfragen wurde die eines Kategoriensystems in einem systematischen
qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) als Reduktionsprozessen aus dem Material heraus (Ma-
Vorgehensweise für diese Phase gewählt. Das Aus- yring, 2000). Diese Verfahrensweise wurde zur zu-
gangsmaterial für die Analyse wurde in den unter 4.2 sammenfassenden Inhaltsanalyse weiterentwickelt
und 4.3 beschriebenen bilingualen Lernumgebungen (Mayring, 2010) und ist bestimmend für die erste
erhoben. An dieser Stelle sei daher auf die beschrie- Studienphase dieser Untersuchung. Für alle Katego-
benen Rahmenbedingungen verwiesen. Im Folgen- rien sind zwei Ausprägungen (Codierung 0 und 1) im
den wird das Beispielmaterial konkretisiert, aus dem Kodierleitfaden vorgesehen, dabei bildet die Ausprä-
das Analysematerial hervorging. gung 1 das Auftreten der jeweiligen Kategorie ab. Es
 wurde darauf geachtet, dass nur solche Kategorien
Befragt wurden insgesamt neun US-amerikanische und Ausprägungen gebildet wurden, die in dem Ana-
und deutsche Lehrkräfte mithilfe eines standardisier- lysematerial beobachtbar sind. Aus dem Kodierleit-
ten Interviewleitfadens (Szücs & Müller, 2013). Die faden waren neben der Zuordnung der Kategorien die
Lehrenden des Projektes MISTI GTL konnten an- jeweiligen Ausprägungen mit den dazugehörigen De-
hand von Videovignetten über ihre eigenen Aktionen finitionen sowie die zugeordneten Ankerbeispiele er-
im Unterricht nachdenken, denn ihre Lehraktivität sichtlich (vgl. Tab. 6).
wurde von einer Kamera begleitet. Die Auswertung
im Rahmen einer interpretativen Videoanalyse er- Das entwickelte Kategoriensystem zur Auswertung
folgte nach Knoblauch, Schnettler & Tuma (2010). der Video-Transkripte zielte auf die Bestimmung der
Daher wurde für jede Videovignette ein deskriptiver für den bilingualen Unterricht relevanten Unter-
Fallbericht ohne inhaltliche Deutung hinsichtlich der schiede ab und umfasst fünf Kategorien (IK1: Mathe-
jeweiligen Aktivitäten und des Medieneinsatzes an- matisieren, IK2: (fremd-)sprachliche Besonderhei-
gefertigt. Fünf Lehrkräfte der GISB und vier Lehr- ten, IK3: mathematische Symbole und Notation, IK4:
kräfte des MISTI GTL nahmen an der Interviewstu- digitale Mathematikwerkzeuge als Mittler für die
die teil. Die Transkription der Interviews und Video- (Fremd)-Sprache, IK5: digitale Mathematikwerk-
aufnahmen erfolgte standardisiert nach festen Vorga- zeuge als Mittler für mathematische Inhalte). Auf der
ben (Kuckartz, Dresing, Rädiker & Stefer, 2008). So Grundlage der Interview-Transkripte konnten die
wurde jeder akustische Wechsel und die vom Spre- Kategorien IK1 und IK3 als DK1 und DK2 bestätigt
chenden abgrenzbaren Nebengeräusche mit einer werden. Die Kategorie IK2 konnte durch verfeinerte
Zeitmarke versehen sowie unverständliche Stellen Unterkategorien ausgeschärft werden (DK3: traditio-
 nelle Vereinbarungen, DK4: Fachtermini, DK5:
 Wortgebrauch bei mathematischen Bezeichnungen,
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math.did. 44(2021)2
DK6: linguistische Interferenz, DK7: Mehrdeutigkeit der Definition der Kategorie als Beispiel für die Er-
mathematischer Fachbegriffe, DK8: Sprachtypische schließung (fremd-)sprachlicher Inhalte mittels digi-
mathematische Fachbegriffe). Die Kategorien IK4 talen Mathematikwerkzeugs entspricht. So geht aus
und 5 konnten direkt bestätigt und übernommen wer- dem Beispiel hervor, dass die Verwendung des Be-
den. In diesem Sinne handelt es sich um eine induk- fehls (des digitalen Mathematikwerkzeugs) hilft mit
tiv-deduktiven Kontrolle innerhalb der ersten Studi- der sprachlichen Besonderheit der unterschiedlichen
enphase. Auf Grundlage des entwickelten Katego- Verwendung des über (over) in den beiden Sprachen
riensystems konnten alle Transkripte mittels Kodier- umzugehen.
leitfäden gesichtet und analysiert werden. Eine Über-
 Als Kodier-Beispiel für ein Interview mit einer Lehr-
sicht über alle Kategorien mit Definitionen, Kodie-
 kraft der GISB sei folgende Sequenz genannt
rung mit Ausprägung und Ankerbeispielen liefert
 (GISB_V_I-5):
Tab. 6 im Anhang.
 I: (..) Sind jetzt auch vielleicht Unterschiede aufgetre-
Als Kodier-Beispiel für eine Reflexion des eigenen ten, wie die Schüler an die Mathematik herangehen,
Unterrichts einer Lehrperson im Projekt MISTI GTL wie sie Mathematikaufgaben berechnen als du es viel-
sei die Interviewsequenz (MIT_GTL_V_I-1) ange- leicht von Haus aus gewohnt bist? Ja, was hast du da /
führt. Darin wird die Handhabung des CAS-Befehls Hast du da ein, zwei Beispiele oder / für mich, nur
nCr zur Berechnung des Binomialkoeffizienten er- stichpunktartig.
läutert (Müller, 2018, S. 1281): B: Also zum Beispiel bei der Division (.), die (.) / Es
 I: Are there differences in notation? gibt ja unterschiedliche Wege, wie man dividiert und
 wie man multipliziert. Ich hab im amerikanischen
 S: [...] One of the small ones I noticed was for / I like / Schulsystem in der Grundschule gearbeitet. Die haben
 If you say n choose 3, I think that is n over 3, but we zum Beispiel bei der Multiplikation ganz unterschied-
 say n choose 3. N over 3 would be divided by. liche Herangehensweisen gehabt. Oder sie haben un-
 (05:55-06:15) terschiedliche Wege den Kindern beigebracht. Eins
 war die Bow-Tie-Method, ja, also Bow-Tie, das geht
 […] so überkreuz. Eine hieß die Lattice-Method, also die
 I: Do you think the use of the calculator was a help for Salat-Methode. Das war dann eigentlich so ein Gerüst
 you in these lessons? oder wie so ein (unv.) (..). Und (..) die Schreibweise,
 zum Beispiel, dass du bei Mal-Nehmen, dass du den
 S: Yes, sometimes. Maybe, one of the difficult things Punkt hast als Symbol / die Symbole / die mathemati-
 was the problem n choose 3 I mentioned. One of the schen Symbole sind anders. Und bei / in Amerika hast
 students had a different calculator, but we could do it du auch das Kreuz als Mal, wie beim Taschenrechner,
 in one way. We used the same command. We didn ́t bei den amerikanischen Taschenrechnern. (..) Zum
 need to do it in different ways on different systems. // Beispiel (..) / Also, dass die Kinder dann auf so eine
 Or, Yeah, we wouldn ́t know how to do // We knew Aufgabe schauen und sie sehen den Punkt, also hier,
 how to do it by hand, but to get to the place how to do und sie wissen eigentlich überhaupt nicht, was damit
 it with the calculator was difficult. The command is gemeint ist.
 close to the English term. That was helpful. // It is a
 very useful tool for this topic. I: //Das kann passieren ja.//

 (11:33-12:35) B: //Was ist denn dieser Punkt?// Das kann passieren.
 Was ist das denn? Dann sage ich, na ja, das ist Mal-
 Nehmen.
Der obere Teil der Interviewsequenz (05:55-06:15) I: Mit dem Kreuz wissen sie es dann.
ist ein Ankerbeispiel für die Kategorie IK2 (fremd-) B: Mit dem Kreuz wissen sie es dann.
sprachliche Besonderheiten mit positiver Kodierung
(Ausprägung) 1, denn es entspricht insbesondere der (13:36-15:09)
Definition der Kategorie IK2 als sprachliche Beson-
derheit im Sinne des Wortgebrauchs mathematischer
Bezeichnungen (vgl. Tab. 6). Die sprachliche Beson- Der obere Teil der Interviewsequenz (Zeile 7-16;
derheit liegt in der unterschiedlichen Bedeutung des 13:36-15:09) ist ein Ankerbeispiel für die Kategorie
über (over), denn als mathematische Bezeichnung DK1 Mathematisieren mit positiver Kodierung (Aus-
meint n über 3 im Deutschen einen Binomialkoeffi- prägung) 1, da es auf die Kategoriendefinition des
zienten und n over 3 einen Bruch im Englischen. Der mathematischen Arbeitens mit mathematischen Defi-
untere Teil der Interviewsequenz (11:33-12:35) ist nitionen und Verfahren zutrifft (vgl. Tab. 6). Die Be-
ein Ankerbeispiel für die Kategorie IK4 digitale Ma- schreibung unterschiedlicher Verfahren der schriftli-
thematikwerkzeuge als Mittler für die (Fremd)-Spra- chen Division und Multiplikation zielt auf schulspe-
che mit positiver Kodierung (Ausprägung) 1, da es zifische mathematische Arbeitsweisen. Der mittlere
 Teil der Sequenz (Zeile 17-21; 13:36-15:09) steht als

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Ankerbeispiel für die Kategorie DK2 Notation mit i. Gebrauch von Punkt & Komma (DK2, IK3)
positiver Kodierung (Ausprägung) 1, da die Katego- ii. Symbol für die Multiplikation (DK2, IK3)
riendefinition als symbolische Verschriftlichung ma- iii. Handzeichen Zwei (DK3, IK2)
thematischer Begriffe oder Konzepte erfüllt ist (vgl. iv. Symbol für den rechten Winkel (DK2, IK3)
Tab. 6). Die unterschiedlichen Symbole stehen im v. Bezeichnung zum allgemeinen Viereck
schulischen Kontext für dieselbe binäre Operation (DK4, IK2)
der Multiplikation. Der untere Teil der Sequenz stellt vi. Markierungen der Koordinatenachsen (DK3,
ein weiteres Beispiel für die Kategorie IK4 digitale IK2)
Mathematikwerkzeuge als Mittler für die (Fremd)- vii. Umgangssprachliche Bezeichnung für Brü-
Sprache mit positiver Kodierung (Ausprägung) 1 dar, che (DK5, IK2)
da sie der Definition der Kategorie als Beispiel für viii. Koeffizienten in der Lösungsdarstellung
die Erschließung (fremd-) sprachlicher Inhalte mit- quadratischer Gleichungen (DK3, IK2)
tels digitalen Mathematikwerkzeugs entspricht (vgl. ix. Terme in der Lösungsdarstellung quadrati-
Tab. 6). Die Verwendung der unterschiedlichen scher Gleichungen (DK3, IK2)
Symbolik (aufgrund des digitalen Mathematikwerk- x. Definitionsbereich der Wurzelfunktionen
zeugs) sensibilisiert die Lernenden für die Unter- (DK1, IK1)
scheidung in der Notation. xi. Standardintervalle periodischer Funktionen
 (DK1, IK1)
Auf Grundlage der entwickelten Kategorien und de-
 xii. Umgangssprachliche Bezeichnung Binomi-
ren Ankerbeispielen konnten alle Transkripte mittels
 alkoeffizient (DK5, IK2)
Kodierleitfäden gesichtet und analysiert werden.
 xiii. Symbol für Vektorklammern (DK2, IK3)
Eine Übersicht über alle Kategorien mit Definitio-
nen, Kodierung mit Ausprägung und Ankerbeispie- Ordnet man die vorliegenden Beispiele den Inhalts-
len liefert Tab. 6 im Anhang. In Bezug auf die aufge- bereichen der Jahrgangsstufen zu, so fällt auf, dass
stellten Forschungsfragen F1 bis F3 sind die be- sich mehr Beispiele in der Primarstufe und den frü-
schriebenen Kategorien erschöpfend, um entspre- hen Jahrgängen der Sekundarstufe ausfindig machen
chend den Zielen der Studienphase Hypothesen zu lassen als in den höheren Jahrgängen der Sekundar-
formulieren (vgl. Abb. 3, vgl. Abschnitt 5.2). An die- stufen. F3 kann daher in einer Hypothese 3.1 konkre-
ser Stelle sei allerdings angemerkt, dass bei dem zur tisiert werden: (H3.1) Je abstrakter die Schulma-
Analyse der neun Interview-Transkripte und vier Vi- thematik desto weniger Unterschiede lassen sich
deo-Transkripte erarbeiteten Kategoriensystem nicht zwischen den USA und Deutschland ausmachen.
von einer Sättigung ausgegangen werden kann. Ähn- Alle gefunden Beispiele lassen sich in mindestens ei-
lich wie bei IK2 ist erwartbar, dass insbesondere die nem Inhaltsbereich der Schulmathematik verorten.
Kategorien IK4 und IK5 verfeinert werden könnten. Daher lässt sich eine weitere Hypothese in Bezug auf
Es wäre zu vermuten, dass detailliert alle zu erwar- F3 formulieren: (H3.2) Auszumachende Unter-
tenden Wechselbeziehungen zwischen der instru- schiede sind relevant für bilinguale mathemati-
mentalen Genese und den Dimensionen des 4C sche Lernumgebungen.
frameworks erfassten werden könnten. Dies stand al-
 Vor dem Hintergrund ausgemachter Unterschiede
lerdings nicht im Fokus der Untersuchung, da sich F2
 lassen sich auch Aussagen zu F1 und F2 treffen. So
folgend auf die Wechselbeziehung Artifact und Di-
 ist die unterschiedliche Verwendung von Punkt und
mension Communication spezialisiert wurde.
 Komma (Unterschied i.) bedeutend bei der Arbeit mit
 einem digitalen Mathematikwerkzeug und kann zur
5.2 Ergebnisse der qualitativen Erhebung
 tieferen Reflexion über sprachliche und mathemati-
Das erarbeitete Kategoriensystem (vgl. Tab. 6 im sche Konventionen anregen. Dieser Aspekt muss
Anhang) ermöglichte die Analyse der transkribierten z. B. bei der Eingabe (vgl. Abb. 4) berücksichtigt
Daten. Die so gewonnen Ergebnisse können Antwor- werden. Das betrifft neben der Dimension Culture
ten auf die eingangs gestellten Forschungsfragen ge- auch die anderen vier Dimensionen des 4C frame-
ben. In Bezug auf F3 kann festgehalten werden, dass work in beiden bilingualen Lernumgebungen.
in den ausgewerteten Daten dreizehn Unterschiede
zwischen der US-amerikanisch- und der deutschspra-
chigen Schulmathematik ausgemacht werden konn-
ten, die von mindestens zwei der interviewten Lehr-
kräfte unabhängig voneinander genannt wurden:

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 der Einfluss der Dimension Culture des 4C frame-
 work besonders deutlich. Außerdem besteht ein Ein-
 fluss auf den Werkzeugeinsatz; an dieser Stelle wird
 die Funktion der digitalen Werkzeuge als Mittler
 sichtbar. Die Lernenden können die Spracheinstel-
 lung der Werkzeuge wechseln und sich die Bezeich-
 nungen in der Fremdsprache anzeigen lassen (vgl.
 Abb. 5). Ein Vergleich mit der Erstsprache ermög-
 licht ein tieferes Verständnis erstens für die Sprache
Abb. 4: Ausgabe eines digitalen Mathematikwerkzeuges und zweitens für die Mathematik, denn wie oben be-
 zur Eingabe von 0,5. Beispiel für die Funktion des schrieben, ändert sich die Zähl- bzw. Ordnungsweise.
 digitalen Mathematikwerkzeuges als Mittler zwi- Das ermöglicht die instrumentale Genese auf Seiten
 schen Lernenden, Sprache und Mathematik im bi- der Lernenden. Das Werkzeug tritt dabei als Mittler
 lingualen Unterricht.
 auf und eröffnet dabei eine Wechselbeziehung zwi-
An einer weiteren Stelle wird die Funktion der digi- schen Artifact und der Dimension Communication.
talen Mathematikwerkzeuge als Mittler für die Ler-
 Neben unterschiedlichen Symbolen scheinen auch
nenden auch haptisch bedeutend. Bei den meisten
 unterschiedliche Traditionen in der Darstellung von
Rechnern und Taschenrechnern wird das Kreuz als
 Termen zu bestehen. So sind die interviewten US-
Symbol für die Multiplikations-Taste verwendet
 amerikanischen Lehrkräfte mit der finalen Darstel-
(Unterschied ii.). Mit der Verwendung der Taste tritt
 lung der Lösungen quadratischer Gleichungen in
das Werkzeug zunächst als Artifact in Erscheinung.
 Form eines Quotienten-Terms vertraut.
Die unterschiedlichen Symbole sind als ein Beleg für
den kulturellen Einfluss (Dimension Culture) zu wer-
ten. Eine tiefere Auseinandersetzung auf Seiten der
Lernenden mit den beiden Symbolen, unterstützt die
instrumentale Genese. Die Lernenden lernen zu un-
terscheiden, wann welches Symbol adäquat verwen-
det wird. Dies eröffnet die Beziehung zu der Dimen-
sion Communication des 4C framework. Dieses Bei-
spiel wird in den folgenden Abschnitten weiter ver-
tieft und steht exemplarisch für die Entwicklung ei-
nes Items des Erhebungsinstruments für die quantita-
tive Erhebung.
Eine interessante Tatsache besteht darin, dass die in-
terviewten US-amerikanischen Lehrkräfte scheinbar
eine besondere Art haben, geometrische Grundfigu-
ren (triangle, quadrilateral, pentagon usw.) zu be- Abb. 5: Ausgabe eines digitalen Mathematikwerkzeuges
 mit Bezeichnungen von Vierecken. Beispiel für die
nennen und zu ordnen (Unterschied v.). Im Deut- Funktion des digitalen Mathematikwerkzeuges als
schen ist es selbstverständlich, die Ecken zu zählen: Mittler zwischen Lernenden, Sprache und Mathe-
Dreieck, Viereck, Fünfeck, usw. Die US-amerikani- matik im bilingualen Unterricht.
schen (bzw. englischen) Begriffe zielen beim Drei-
 Die interviewten deutschsprachigen Lehrkräfte ten-
eck auf die Anzahl der Winkel, beim Viereck auf die
 dieren zur Verwendung von Termen in Form von
Anzahl der Seiten und beim Fünfeck auf die Anzahl
 Summen als Angabe für die Lösungen quadratischer
der Ecken ab. Zudem ist es eine Mischung aus latei-
 Gleichungen (Unterschied ix.). Auch an dieser Stelle
nischen und altgriechischen Lehnwörtern. Damit wir-
 zeigt sich der kulturelle Einfluss (Dimension Culture)
ken diese Bezeichnungen inkonsistenter als die deut-
 auf die bilingualen Lernumgebungen und den Werk-
sche Nomenklatur. Insbesondere in bilingualen Ler-
 zeugeinsatz, was die Beziehung zwischen dem Arti-
numgebungen kann die Benennung des Vierecks
 fact und der Dimension Communication aufzeigt. Di-
problematisch sein, da Schwierigkeiten beim Finden
 gitale Mathematikwerkzeuge können eine Mittler-
der richtigen geometrischen Figur bzw. deren Be-
 Funktion einnehmen, denn in den Bibliotheken sind
zeichnung bei der Verwendung digitaler Mathema-
 die entsprechenden Lösungsformeln hinterlegt (vgl.
tikwerkzeuge auftreten können. An diesem Beispiel
 Abb. 6).
konkretisiert sich der gewählte theoretische Zugang
zur Studie. Der ausgemachte Unterschied ist von Re-
levanz für bilinguale Lernumgebungen, damit wird

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M. Müller
 Die vorgestellten fünf Unterschiede (i., ii., v., ix., x.,)
 und die daran erarbeiteten Bezüge zu den Dimensio-
 nen der instrumentalen Genese und dem 4C frame-
 work sowie der sich darstellenden Wechselbeziehun-
 gen dieser Dimensionen lassen in Bezug auf F2 die
 folgende Hypothese formulieren: (H2) Im Sinne der
Abb. 6: Ausgabe eines digitalen Mathematikwerkzeuges instrumentalen Genese und dem 4C framework
 zur allgemeinen Lösung quadratischer Gleichun- manifestiert sich die Mittler-Funktion der digita-
 gen in Normalform. Beispiel für die Funktion des len Mathematikwerkzeuge in der Wechselbezie-
 digitalen Mathematikwerkzeuges als Mittler zwi-
 schen Lernenden, Sprache und Mathematik im bi-
 hung zwischen Artifact und Communication-Di-
 lingualen Unterricht. mension.
Rufen die Lernenden diese Formeln auf (Verwen- Die fünf genannten Beispiele weisen weiterhin da-
dung des Artifacts) und vergleichen sie mit den im rauf hin, dass die digitalen Mathematikwerkzeuge im
Unterricht behandelten Formeln kann es zu Synergie- Sinne der beiden Theorien eine Verbindung zwischen
Effekten für die sprachlichen Kompetenzen (Dimen- dem Artifact und der Dimension Communication er-
sion Communication) und dem mathematischen Ver- möglichen und somit eine wichtige Wechselbezie-
ständnis (Teil der Trias der instrumentalen Genese) hung zwischen der instrumentalen Genese und dem
kommen. Auch diese Beobachtung unterstützt die 4C framework unterstützen. Die Mittler-Funktion der
Annahme der Einwirkung der Dimension Culture auf digitalen Mathematikwerkzeuge konkretisiert sich an
die Wechselbeziehung zwischen dem Artifact und dieser Stelle und in Bezug auf F1 lässt sich die Hy-
der Dimension Communication. Die Mittler-Funk- pothese aufstellen: (H1) Digitale Mathematikwerk-
tion der digitalen Mathematikwerkzeuge im bilingu- zeuge können Mittler für die Fremdsprache sein
alen Unterricht wird an diesem Beispiel illustriert. und ein tieferes Verständnis mathematischer In-
 halte fördern.
Ein Vergleich des Plots des Graphen der Funktion
 3
f(x) = √x (vgl. Abb. 7) mit den im Unterricht ver- 6. Quantitativer Studienteil
wendeten Definitionen (Unterschied x.) kann ein
Ausgangspunkt für die (fortschreitende) instrumen- Basierend auf den Ergebnissen der ersten Phase
tale Genese sein. Denn zunächst wird das Werkzeug konnten zu den Forschungsfragen F1, F2 und F3 die
während der Betrachtung als Artifact genutzt, wäh- vier Hypothesen H1, H2, H3.1 und H3.2 formuliert
rend der Auseinandersetzung mit den (unterschiedli- werden. Diese vier Hypothesen sollen im Rahmen ei-
chen) mathematischen Definitionen werden die Be- ner quantitativen Erhebung empirisch überprüft wer-
ziehung zu den Dimensionen Culture und Communi- den. Entsprechend dem grundsätzlichen Forschungs-
cation hergestellt. Die Wechselbeziehung zwischen design (vgl. Abb. 3), sind die Ziele der qualitativen
den Dimensionen des 4C framework und der instru- Erhebung die Hypothesengenerierung und die daran
mentalen Genese liegt für die beiden betrachteten bi- ausgerichtete Entwicklung eines Erhebungsinstru-
lingualen Lernumgebungen nahe. Auch dieses Bei- mentes für die quantitative Erhebung.
spiel wird in den folgenden Abschnitten erneut auf- Auf Grundlage der entwickelten Kategorien und de-
gegriffen und vertieft. ren Ankerbeispielen konnten alle Transkripte mittels
 Kodierleitfäden gesichtet und analysiert werden. Die
 Daten konnten genutzt werden, um die Items für das
 Erhebungsinstrument (Online-Fragebogen) der zwei-
 ten Erhebungsphase zu erstellen. Die Entwicklung
 des Erhebungsinstrumentes soll exemplarisch an-
 hand eines Items erfolgen. Der Online-Fragebogen
 umfasst 13 (vermeintliche) Unterschiede, die qualita-
 tiv in der ersten Phase der Untersuchung erhoben
 wurden. In der zweiten Phase sollen diese Unter-
 3 schiede und deren Relevanz auch quantitativ gefasst
Abb. 7: Plot des Graphens der Funktion f(x) = √x. Bei-
 spiel für die Funktion des digitalen Mathematik- werden. Die Operationalisierung der Begriffe im
 werkzeuges als Mittler zwischen Lernenden, Rahmen der Entwicklung des Online-Fragebogens
 Sprache und Mathematik im bilingualen Unter- folgte dem Dreischritt (1) Identifikation von Unter-
 richt. schieden, (2) Bestimmung deren Relevanz für den
 Unterricht (Dimension Culture) und (3) Bedeutung
 für den Werkzeugeinsatz (Wechselbeziehung Arti-
 fact und Dimension Communication).

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6.1 Methodik der quantitativen Erhebung
H1 und H2 zielen auf die Wechselbeziehung zwi-
schen Artifact und der Dimension Communication.
Diese Wechselbeziehung kann nicht von der Dimen-
sion Culture getrennt betrachtet werden, wenn man
dem 4C framework folgt. Insofern zielte die Entwick-
lung des Erhebungsinstrumentes für die quantitative
Phase (gemäß der Operationalisierung der theoreti-
schen Begriffe) auf die Überprüfung etwaiger kultu-
reller Unterschiede und deren Relevanz für den Un-
terricht (Dimension Culture) sowie auf die Bedeu-
tung beim Werkzeugeinsatz (Wechselbeziehung Ar-
tifact und Dimension Communication). Diesem An-
satz folgend enthält der entwickelte Online-Fragebo-
gen 13 (vermeintliche) Unterschiede, die in der ersten
Studienphase identifiziert wurden (vgl. Abschnitt
5.2). Auf alle 13 Items zu den Unterschieden folgen
zwei weitere Items, die sich jeweils mit der Relevanz
im Unterricht und bei der Verwendung digitaler Ma-
thematikwerkzeuge befassen. In der Abb. 8 ist Item 2
des Fragebogens zuerkennen, welches vor dem Hin-
tergrund des oben beschriebenen Interviewabschnitts
(GISB_V_I-5; 13:36-15:09) und der zugeordneten
Kategorien (IK2, DK3) entwickelt wurde. Die Ent-
wicklung des Items 2 steht exemplarisch für das ge-
nerelle methodische Vorgehen innerhalb der zwei-
phasigen Studie. Alle weiteren Items sind identisch
aufgebaut (Dreischritt Unterschied, Relevanz für Un- Abb. 8: Screenshot der Seite 3 des Online-Fragebogens,
 welcher für mobile Endgeräte optimiert ist. Neben
terricht, Bedeutung beim Werkzeugeinsatz) und ana- Item 2 der Unterschiede sind die zugehörigen
log formuliert bzw. an Lehrende adressiert. Items zur Relevanz für den Unterricht und bei der
 Verwendung digitaler Mathematikwerkzeuge zu
In der zweiten quantitativen Phase wurden Lehrkräfte erkennen.
des Projekts MISTI GTL und der GISB mit einem
standardisierten Online-Fragebogen nach der Rele- Der betreffende Fragebogenteil ist angelehnt an ein
vanz der (qualitativ) festgestellten Unterschiede be- pilotiertes und elaboriertes Fragebogeninstrument
fragt. Bisher haben 75 Lehrkräfte an der Online-Um- aus früheren Studien zur Motivation in mathemati-
frage teilgenommen. Sie alle haben Erfahrung im schen Lernumgebungen (Benölken, 2014) und wurde
US-amerikanisch-deutschen bilingualen Mathema- von dem genannten Autor für internationale Verglei-
tikunterricht entweder im Projekt MISTI GTL oder che (hier Deutschland-Schweden) herangezogen. Mit
an der GISB. Die befragten Lehrkräfte unterrichten Respekt in Bezug auf das Skalenniveau wurden
hauptsächlich in den Sekundarstufen, wo insbeson- nicht-parametrische statistische Tests wie der Mann-
dere im Rahmen des Projekts MISTI GTL der über- Whitney-U-Test für die Datenanalyse ausgewählt.
wiegende Anteil an bilingualen Unterrichtseinheiten Die Daten bezüglich der Unterschiede wurden in
liegt. Vierfelder-Tafeln dargestellt. Verschiebungen in den
 Vierfelder-Tafeln wurden unter Verwendung des
Um das Panel genauer beschreiben zu können, wur- exakten (zweiseitigen) Fisher-Tests identifiziert. Die
den auch vier Motivationsaspekte in den Fragebogen Wahl des Fisher-Tests erfolgte aufgrund der unglei-
aufgenommen. Dies waren Selbstkonzept (zwei chen Stichprobenverteilung (USA zu GER, bzw.
Items), Interesse am Mathematikunterricht (drei MISTI GTL zu GISB). Die Wahl ist adäquat und der
Items), Interesse an Mathematik (drei Items) und die Fisher-Test liefert für diesen Fall stabile Ergebnisse.
Selbstwirksamkeit (sieben Items). Diese vier Aspekte P-Werte wurden unter Verwendung der Methode von
beschreiben Gelingensbedingungen für die Motiva- Agresti (1992) mittels eines selbstgeschriebenen Pro-
tion, sich mit (mathematischen) Problemen erfolg- grammcodes ähnlich Langsrud & Gesellensetter
reich auseinanderzusetzen (Eccles, Adler, Futterman, (n.d.) berechnet. Bezüglich der Anzahl der statisti-
Goff, Kaczala, Meece & Midgley, 1983). schen Tests wurde ein Signifikanzniveau von 0,01
 gewählt.

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