Dossier - Psychische Erkrankungen in Deutschland: Trialogische Perspektiven - DGPPN
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Dossier 13,3 % 3,5 % 2020 7,5 3,5 % % ung % 7,5 2 12,9 % 9, % gen k u n n kra Psychische Erkrankungen in Deutschland: Trialogische Perspektiven Eine Publikation der DGPPN
KAPITEL 1 Inhalt Einführung S. 2 Kapitel 1 Soziale Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie S. 4 Kapitel 2 Menschenrechte und psychiatrisches Handeln S. 16 Kapitel 3 Personenzentrierte Angebote und Strukturen S. 28 Portrait Die DGPPN S. 40 Quellenverzeichnis S. 42
EINFÜHRUNG Einführung Die Lebenswelt in unterschiedlichen Gemeinschaften und in der Gesellschaft als verbindendes Ganzes – hier setzt das trialogische Prinzip an. Es folgt der Überzeugung, dass alle psychisch Erkrankten und damit gerade auch die Menschen, die durch ihre psychische Erkrankung nicht oder nur eingeschränkt in der Lage sind, mit ihren Mitmenschen in Beziehung zu treten, auf das gleichberechtigte Miteinander von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen angewiesen sind: drei Perspektiven für eine gute Versorgung – nah am Menschen. Das ist die Maxime, der auch die DGPPN folgt. Ihr Trialogisches Forum steht für die inklusive Sicht auf die Versorgung und den gemeinsamen, beständigen und fruchtbaren Diskussionsprozess, der auch Anstoß für dieses Dossier gab. Den Trialog voranzutreiben, Teilhabe und Inklusion auf alle Ebenen zu über- tragen, wird auch in Zukunft Aufgabe bleiben. Man stelle sich vor, der Mensch wäre allein auf der Welt. Neben ein paar Vorteilen, die sich für ihn vermutlich daraus ergäben, dürfte es ihm mit Sicherheit nicht gut gehen. Wahrscheinlich, so viel lässt sich nicht erst seit der Corona-Pandemie vorhersagen, wäre er sogar richtig schwer krank. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Ohne den Kontakt zu anderen kann er nicht sein. Er ist auf Austausch und auf die Zuwendung seiner Mitmenschen angewiesen, um überleben zu können und gesund zu bleiben. „Im Trialog ist jeder Experte: Profi, Betroffener und Angehöriger. Mit „gesund“ ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit gemeint. Vielmehr geht es um Gesund- Im Trialogischen Forum der DGPPN kommen alle regelmäßig heit im Sinne eines Idealzustands, wie ihn die WHO definiert, bei dem sich sowohl körperliche zusammen, teilen ihre Erfahrungen und begleiten die Arbeit unserer als auch seelisch-geistige und soziale Anteile wechselseitig positiv beeinflussen. Teil einer Ge- Fachgesellschaft. Viele Projekte und Aktivitäten wären ohne meinschaft zu sein, mit ihr in Beziehung zu treten und in der Gesellschaft anerkannt zu werden, Trialog nicht denkbar. Er ist Teil unseres Selbstverständnisses ist ausgesprochen wichtig, damit Menschen gesund leben können. Mit dieser Überzeugung tra- und unser direktester Draht zum Menschen.“ ten die Vertreter der modernen Psychiatrie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts 2 Andreas Heinz, Präsident der DGPPN 3 den Weg der Psychiatriereform an, der mit der Psychiatrie-Enquête seinen Anfang nahm und einen tiefgreifenden Wandel in der psychiatrischen Versorgung in Deutschland bedeutete. Die Forderung, sich von der Verwahrpsychiatrie abzuwenden, Menschen mit psychischen Erkran- kungen zurück in die Gesellschaft zu holen und ihnen so wieder ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, hatte gerade auch zum Ziel, sie von Stigma und gesellschaftlicher Diskriminierung „Nur durch trialogisches Denken und Handeln haben wir die zu befreien. Damit verband sich eine damals radikal erscheinende Vorstellung, die hierzulande Chance auf eine moderne, nachhaltige, leitliniengerechte bis heute den Weg für eine humane, eingliedernde und zugewandte Psychiatrie ebnete. Psychiatrie in Deutschland. Unsere gemeinsame Petition ist hierfür ein leuchtendes Beispiel. Der nächste Schritt in die richtige Richtung Dass psychische Leiden nicht für sich alleine, sondern in ständiger Wechselwirkung mit der so- wäre eine paritätisch besetzte, trialogische Expertenkommission zialen Lebenswelt stehen, veranschaulicht das vorliegende Dossier. Deutlich wird: Ohne soziale auch auf Politikebene.“ Teilhabe kann es keine psychische Gesundheit geben. Damit sie gelingen kann, sind geeignete Rüdiger Hannig, Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter strukturelle Bedingungen ebenso notwendig wie ein menschenwürdiger, respektvoller Umgang Menschen (BApK) und Mitglied im Trialogischen Forum mit psychisch Kranken in unserer Gesellschaft. Kommen Armut, Arbeits- und Wohnungslosig- keit hinzu, sind Maßnahmen, die Ausgrenzung verhindern und Selbstbestimmung fördern, ent- scheidend für die Lebensqualität der Betroffenen. Schwere psychische Erkrankungen können die soziale Teilhabe einschränken oder sie unmög- „Der Trialog ist für mich das wichtigste Kennzeichen guter lich machen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und das Bundesteilhabegesetz sychiatrie. Ein herrschaftsfreier, ebenbürtiger Austausch von P (BTHG) haben die rechtlichen Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Zugehörigkeit und In- Psychiatrie-Erfahrenen, Behandlern und Angehörigen. Ohne ihn klusion, für Autonomie und Teilhabe festgelegt. Sie bekommen gerade für Menschen mit psy- fehlt in der Versorgung eine entscheidende Wissensquelle: chischen Erkrankungen in Hinblick auf ihre bisweilen eingeschränkte Fähigkeit zur Teilhabe und die Erfahrung der Patienten und der Angehörigen.“ Selbstbestimmung eine zentrale Bedeutung. Die in den Institutionen und Settings der psychiat- Brigitte Richter, Pandora Selbsthilfe für Psychiatrie-Erfahrene rischen Versorgung Tätigen unterliegen einer besonderen Verantwortung, der sie in zunehmend und Mitglied im Trialogischen Forum trialogisch besetzten Settings auf Augenhöhe mit Betroffenen und Angehörigen gerecht wer- den müssen. In welchem Spannungsfeld sich moderne Psychiatrie bewegt und was es bedeutet, inhärent der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet zu sein, wird im Folgenden dargelegt.
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN Wohnen und arbeiten können gepflichtentbindungen von den Projektteilnehmern vor, so dass wir mit den Ärzten oder Kliniken kommunizie- ren dürfen. Wir sprechen auch mit den Sozialdiensten, vorausgesetzt die Betroffenen möchten das, wobei der überwiegende Teil dankbar dafür ist. In manchen Kon- stellationen arbeiten wir auch mit gesetzlich bestellten Betreuern zusammen. Unterm Strich sind wir leider in „Eine individuelle diesem Bereich fachlich alles andere als ausreichend aufgestellt und wünschen uns für unser Team eine Entwicklung Fachkraft aus dem psychiatrisch-psychotherapeuti- schen Bereich. setzt eine Welche Philosophie verfolgen Sie in Ihrer Arbeit, um den entsprechende Corinna Müncho und Eva-Maria Koenigs haben teil am Leben Menschen helfen zu können? anderer, indem sie Teilhabe ermöglichen. Sie vermitteln Menschen Der Ansatz fußt auf einem Menschenbild, dass es den Haltung und Betroffenen zusteht, Entscheidungen selbst zu tref- ein Dach über dem Kopf und bringen sie in Lohn und Brot. Dass fen. Das heißt, die Projektteilnehmenden bestimmen passende Bedin sich psychische Erkrankungen, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit das Tempo, die Themen und die Intensität der Unter wechselseitig bedingen und mit sozialer Ausgrenzung einhergehen stützung. Sie sollten, ohne Sanktionen fürchten zu gungen voraus.“ müssen, ihre individuelle Entwicklung machen dürfen, in können, erleben sie immer wieder hautnah. Beide tragen mit ihrer einem Zeitrahmen, den sie bestimmen. Das setzt eine Corinna Müncho Arbeit dazu bei, dass Menschen nicht durchs Raster fallen und dementsprechende Haltung und passende Rahmenbe- 4 5 dingungen voraus. Das Team muss fachlich sehr breit hoffnungslos zurückbleiben. aufgestellt sein. Hohe Flexibilität und gute Absprachen untereinander sind unabdingbar. Die Herausforderung ist insgesamt, und das nicht nur bei den psychisch kran- ken Menschen, den individuellen Bedarf und den richti- gen Umgang zu finden, so dass sie uns vertrauen und Hilfe annehmen können. Dazu konzentrieren wir uns ge- rade am Anfang der Betreuung individuell auf die Per- son und überlegen gemeinsam, wer aus dem Team und / Corinna Müncho gelebt, also in Mehrbettzimmern mit Gemeinschaftskü- welche Hilfen passgenau sind. Projektleiterin Housing First chen und -bädern. Ein großer Teil hat auch direkt auf der Straße, einige im Wechsel, mal Straße, mal Wohnheim, Welche Grenzen gibt es bei der Vermittlung? Housing First ist ein Modellprojekt zur langfristigen Be- mal bei einem Freund oder in Notunterkünften gelebt. Zunächst können wir keine Menschen aufnehmen, die kämpfung von Obdachlosigkeit. Welche Lücke schließt Viele waren inhaftiert oder haben mehrere Klinikaufent- bereits in einer anderen Hilfe z. B. gem. § 67 SGB XII es damit im System? halte hinter sich. Alle haben über einen langen Zeitraum oder Eingliederungshilfe sind. Das Modellprojekt richtet Housing First schafft einen Zugang für Menschen, die keinen privaten Schutzraum gehabt und waren auf sich sich gezielt an Langzeitobdachlose. Menschen, die noch durch das Raster gefallen sind. Diese Menschen werden allein gestellt ohne Aussicht auf ein „normales“ Leben. nicht länger als ein Jahr wohnungslos sind und noch gar sonst eher notversorgt durch Wärmestuben, Notunter- Viele hatten auf der Straße oder schon davor trauma- keine anderen Hilfen ausprobiert haben, vermitteln wir künfte, Essens- und Kleiderausgaben. Was sie vor allem tisierende Erlebnisse, sind psychisch krank oder haben ans bestehende Hilfesystem. Für Nicht-EU-Bürger ist aber benötigen, sind umfangreiche, langfristige und eine Suchtmittelabhängigkeit. ein Leistungsanspruch Voraussetzung. vor allem individuelle und flexible Hilfen, damit sie eine Wohnung dauerhaft halten können. Der Housing-First- Wie gehen Sie mit psychisch Erkrankten um? Neben formalen Kriterien ist in jedem Fall der erkenn- Ansatz bietet genau das. Diejenigen, die unter Drogen- oder Alkoholabhängigkeit bare Wille, dauerhaft in einer Wohnung zu wohnen und leiden, beraten wir dahingehend, eine Suchtberatung Hilfe anzunehmen, die Grundvoraussetzung (housing Wenn sich Menschen an Sie wenden – mit welchen Prob- aufzusuchen. Wer bereits in Behandlung ist, den moti- first, nicht housing only). Es muss eine Kommunikati- lemen kommen Sie und welche Odyssee haben sie dann vieren wir, dabei zu bleiben. Wir haben es aber auch re- onsfähigkeit für Absprachen vorhanden sein. Stellt sich meist schon hinter sich? gelmäßig mit Rückfällen zu tun. Da wir kein Abstinenz- eine psychische Erkrankung so ausgeprägt dar, dass Die Menschen, die wir aufnehmen, sind schon lange gebot aussprechen, fällt es den Betroffenen leichter, das nicht möglich ist, sind wir (noch) nicht die richtige ohne Wohnung. Viele haben über Jahre in Wohnheimen mit uns darüber zu reden. Teilweise liegen uns Schwei- Anlaufstelle. Beispielsweise ist ein Projektteilnehmer,
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN der zweimal eine Wohnung durch uns bekommen hat, /E va-Maria Koenigs sich ein enormes Spezialwissen und jeweils wieder ausgezogen, da er sich von seinen Nach- Teamleiterin in einem Jobcenter ein Erfahrungsschatz bei jedem barn beobachtet und gestört fühlte. Er setzte sich mit Einzelnen angehäuft hat. Die Zu- „Gegenlärm“ zur Wehr und brachte so die gesamte Welchen besonderen Bedarf haben Arbeitsuchende mit sammenarbeit mit den Rehabilita- Nachbarschaft gegen sich auf. Einen Eigenanteil konnte psychischen Erkrankungen? tionsträgern ist sehr gefestigt, es er nicht reflektieren, Gesprächsangebote wurden mehr- Wenn die Erkrankung bekannt ist, ist unsererseits zu gibt regelmäßigen Austausch. Wir mals gemacht und letztlich haben wir ihm leider nicht überprüfen, ob die Klienten sich weiterhin in Behand- arbeiten mit einem spezialisierten helfen können, eine Wohnung dauerhaft zu halten. Das lung befinden und sich an die Therapiepläne halten. Wir Arbeitgeberservice zusammen und Spannende ist, dass wir zu Beginn der Hilfe überhaupt beobachten, ob es eine Verbesserung oder Verschlech- nutzen oft das Wissen der Informa- nicht davon ausgegangen sind, dass es bei ihm nicht terung des Gesundheitszustandes gibt, ob weiterhin tionsfachdienste und anderer spe- klappen wird – ganz im Gegenteil. eine Arbeitsaufnahme möglich ist und welche vorberei- zialisierter Träger. So können wir tenden Maßnahmen sinnvoll sind. Es entsteht bei der professionell mit den individuellen Die Aufnahme gelingt – wie geht es weiter? Beratung ein besonderes professionelles Vertrauens- Bedürfnissen und Beeinträchtigun- Nach Einzug in die Wohnung beginnt für das betreuen- verhältnis, denn die Vermittler begleiten den oft sehr gen umgehen und im Beratungs-, de Team die eigentliche Arbeit. Es ist viel Fingerspitzen- langen Genesungsprozess der Klienten kontinuierlich. Fortbildungs- und Integrations- gefühl notwendig, in der kurzen Vorlaufzeit die Betreu- prozess sehr passgenau agieren. ungsbindung so zu gestalten, dass die Menschen sich Schwieriger ist es, wenn es keine Krankheitseinsicht Die Zusammenarbeit mit Kliniken uns weiter anvertrauen, wenn Probleme auftauchen. gibt oder jemand seinem Therapieplan nicht folgt, gestaltet sich in der Regel gut, im Wir helfen im Umgang mit Finanzen, Behörden und öf- die Medikamente nicht einnimmt etc. Auch hier sind ambulanten Bereich haben wir mit fentlichen Stellen, beim Einhalten der mietvertraglichen in hohem Maß soziale Kompetenzen, Geduld, Empa- denselben Engpässen zu kämpfen, Verpflichtungen, wir beraten im thie und auch Kenntnisse zum wie alle: Therapieplätze sind in Ber- Umgang mit der Wohnung bis Krankheitsbild gefragt. Eben- lin – ähnlich wie bezahlbarer Wohn- hin zur Gesundheitsfürsorge. „Sie verlieren sich so wichtig ist das Wissen da- raum – eher Mangelware. Und ganz wichtig: Wir helfen, rüber, welche Bildungsträger in der Wohnung und im neuen auf dem Weg durch mit welchem Angebot für die Wo sehen Sie ganz konkreten Lebensabschnitt anzukommen. entsprechende Person hilfreich Verbesserungsbedarf? Dazu braucht es manchmal die verschiedenen und passend sein könnten, also Vor allem wären schnell erreichbare 6 7 einfach nur ein gemeinsames weder unter- noch überfordern. Anlaufstellen für Menschen mit psychischen Erkrankun- Corinna Müncho Kaffeetrinken oder Spaziergän- Instanzen.“ Die Herausforderung liegt da- gen eine Entlastung für alle Seiten. Auch gemeinsame 41, leitet das Projekt Housing First in Berlin, das 2018 ge. Die Wege, die die Menschen rin, sachgerechte Eingliede- Hilfeplankonferenzen und ein enger Informationsaus- gestartet ist. Modellprojekt Eva-Maria Koenigs gehen, sind sehr verschieden. Es rungsmaßnahmen auszuwäh- tausch aller Beteiligten unter Beachtung des Sozialda- partner sind die Berliner funktioniert in den meisten Fäl- len und psychisch erkrankte tenschutzes würde die Situation verbessern. Letztlich Stadtmission e. V. und die Neue Chance gGmbH. len, weil die Menschen merken, dass wir sie tatsächlich Menschen individuell an das passende Hilfe- und Un- wären fachliche Hilfen für die Mitarbeiter im Jobcenter zu nichts drängen und sie nicht verurteilen, wenn etwas terstützungssystem anzubinden. Hierfür sind Integra- wünschenswert, da sie mit den Problematiken der Kli- nicht so gelingt, wie es sollte. Mitunter sind mehrere An- tionskräfte in den Jobcentern bisher nicht oder noch enten auch überfordert sein können. Alles in allem wün- Eva-Maria Koenigs 64, hat die Leitung eines läufe für ein und dieselbe Sache nötig, wenn z. B. das nicht ausreichend geschult. sche ich mir eine engere Vernetzung innerhalb des Ge- Berliner Jobcenterteams fünfte Mal die Geldbörse verschwunden ist und die Pa- sundheitssystems und dann auch mit den Jobcentern. inne, das Rehabilitanden und piere neu beantragt werden müssen. Einige schaffen es, Welche Stufen umfasst der Vermittlungsprozess? Menschen mit Schwerbehin- derungen bei der Jobsuche sich einen guten und stabilen Alltag aufzubauen und be- Alles beginnt mit einer Bestandsaufnahme. Was bringt Was könnte die Landes- und Bundespolitik tun, unterstützt – unter Berück- ginnen an einer beruflichen Perspektive zu arbeiten. An- der Einzelne mit? Wie ist die gesundheitliche Situation? um Ihnen Ihre Arbeit zu erleichtern? sichtigung der Gesundheits- dere kümmern sich intensiv um Zahnsanierungen, über- Welche Berufsausbildung ist relevant? Welche Schulbil- Wir sprechen hier von kleineren und größeren Wei- zustände und Genesungs fällige OPs und setzen sich mit ihrer Sucht auseinander. prozesse. dung liegt vor? Wie ist die häusliche Situation, der Fa- chenstellungen: zum einen klare Definitionen sowie milienstand? Gibt es Handlungsbedarfe in den Rahmen- Hilfsangebote und Unterstützungsangebote für den Was könnte die Landes- und Bundespolitik tun, um Ihnen bedingungen? Schulden? Wohnungsnöte? Gemeinsam Integrationsprozess; zum anderen ganz konkret auch Ihre Arbeit zu erleichtern? werden dann die Handlungsbedarfe besprochen und Arbeitsplatzangebote jenseits der Werkstätten als Die Landespolitik sollte nach Beendigung der Modell festgelegt. Aus all diesen Faktoren wird ein Integrati- langfristig geförderte Beschäftigungsmodelle. Psy- laufzeit Housing First als feste Säule im Wohnungs onsplan erstellt, der in den Zielberuf münden soll. Dazu chisch erkrankte Menschen verlieren sich auf dem Weg losenhilfesystem etablieren und die nötigen finanziellen gehört auch die Planung bzw. Kenntnis der zwischen- durch die verschiedenen Instanzen. Vor allem Personen Mittel bereitstellen. Derzeit gehen die Finanzierung zeitlichen weiteren Hilfesysteme. mit stärkeren Einschränkungen drohen, durchs Raster und das Engagement ausschließlich vom Senat für zu fallen. Hier können eindeutigere Regelungen, was Integration, Arbeit und Soziales aus. Auf bundespoli- Wie funktioniert Ihr Angebot? Wie klappt die Zusam- die Erwerbsfähigkeit betrifft, Abhilfe schaffen. Darü- tischer Ebene wäre grundsätzlich eine Strategie zur menarbeit mit dem psychosozialen Hilfesystem? ber hinaus ist auch eine stärkere Kooperation zwischen Vermin derung von Wohnungslosigkeit hilfreich und Mein elfköpfiges Team ist ausschließlich für schwerbe- Jobcentern und Einrichtungen der psychosozialen Ver- dann natürlich unter Berücksichtigung des Housing- hinderte Kunden und Rehabilitanden zuständig, was sorgung sinnvoll sowie aufeinander bezogene Unter- First-Ansatzes. / schon eine Besonderheit ist. Das hat den Vorteil, dass stützungsleistungen. /
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN Gesellschaftliche Die Arbeitslosigkeit in dieser Bevölkerungsgruppe ist überdurchschnittlich hoch. In einer Literaturübersicht europäischer Studien konnte gezeigt wer- Teilhabe als Ziel den, dass die Arbeitsraten bei Patienten mit einer Schizophrenie in der Mehr- heit zwischen 10 und 20 % liegen [4]. Eine Untersuchung von Menschen in stationär-psychiatrischer Behandlung zeigt, dass lediglich 21 % der 815 un- tersuchten Patienten ein festes Arbeitsverhältnis hatte. Viele der Befragten kehrten nach der Entlassung nicht wieder an ihren Arbeitsplatz zurück [5]. Seit Jahren stagnieren die Zahlen der Fälle verminderter Erwerbsfähigkeit Menschen mit schizophrenen aufgrund psychischer Erkrankungen auf hohem Niveau. Im Jahr 2018 wur- Erkrankungen werden im den in Deutschland rund 71.671 neue Renten wegen verminderter Erwerbs- Schnitt mit 42 Jahren früh fähigkeit nach Diagnose einer psychischen Erkrankung gezahlt, das ent- berentet. spricht 42,7 % aller Frühberentungen (siehe Abb. 1). Seit 2010 liegt dieser Wert über 70.000 [6]. Ganz besonders betroffen sind hierbei die schwer Soziale Fragen in Psychiatrie psychisch erkrankten Menschen. So erfolgt die Frühberentung aufgrund schizophrener Erkrankungen im Durchschnitt im Alter von 42 Jahren und und Psychotherapie damit etwa 10 Jahre früher als aufgrund von Depressionen oder Angststö- rungen [7]. Psychische Erkrankungen wirken sich für Betroffene und ihre Angehörigen auf nahezu alle Lebensbereiche aus. Auch, wie die Öffentlichkeit mit psy- chisch erkrankten Menschen umgeht, nimmt maßgeblich Einfluss auf ihre Abbildung 1: Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach seelische Gesundheit. Betroffene leiden nicht nur unter ihrer Erkrankung ausgewählten Diagnosegruppen 2018 [6] selbst, auch Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit können die psychische Gesundheit und den Krankheitsverlauf negativ verstärken. Kommen Risi- Psychische Erkrankungen Neubildungen (Tumore) kofaktoren wie soziale Ausgrenzung und Stigma hinzu, ist die Gefährdung % ,7 umso größer. 13, 3% 42 8 9 Sozioökonomische Faktoren wie Bildung, Beruf und Einkommen wirken sich 3,5 % Atmung auf die Gesundheit aus. Sozial schwächer gestellte Menschen erkranken häufiger chronisch und sind stärker von psychosomatischen Beschwerden % 3,5 9,2 % betroffen. Auch subjektiv nehmen sie ihren eigenen gesundheitlichen Zu- 7, Herz-/Kreislauferkrankungen Stoffwechsel/Verdauung 0 stand als schlechter wahr. Dies hat Folgen für die persönliche Lebensfüh- ,9 % % 7,5 % rung und schließlich auch für die Lebenserwartung, die niedriger ist als bei 12 Nerven/Sinne Menschen mit einem höheren Sozialstatus [1, 2]. Skelett/Muskeln/Bindegewebe Haut 0,4 % Sonstige/keine Aussage möglich Besonders vulnerable Gruppen in dieser Gemengelage sind Kinder psychisch kranker Eltern, Alleinerziehende, Geflüchtete, wohnungslose Menschen oder auch Inhaftierte. Die Corona-Pandemie, welche die Gesellschaft im Früh- jahr 2020 vor bisher ungeahnte Herausforderungen gestellt hat und das so- Auf der anderen Seite steigt der Anteil von Menschen mit psychischen Er- ziale Leben bis heute noch einschränkt, hat die Situation für die betroffenen krankungen, die einer Tätigkeit in einem geschützten Rahmen nachgehen. Personen weiter verschärft. Im Jahr 2018 waren ca. 21 % der Werkstattbeschäftigten Menschen mit psy- chischer Beeinträchtigung [8]. Eine Rückkehr auf den sogenannten ersten Arbeitslosigkeit und Frühberentung Arbeitsmarkt gelingt vielen Betroffenen indes nicht. Psychische Erkrankungen und damit möglicherweise einhergehende Ein- schränkungen wie z. B. die der kognitiven Fähigkeiten sowie des Antriebs Aufschluss über die besondere Situation arbeitsloser psychisch Erkrankter wirken sich direkt auf die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen aus. Grundsätz- aus dem SGB-II-Leistungsbezug (siehe Kap. 3) gibt eine Studie des Instituts lich muss von einem Zusammenspiel aus Funktionen, Fähigkeiten, spezifi- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Demnach wiesen laut erhobener schen Arbeitsanforderungen und Kontextfaktoren ausgegangen werden, Krankenkassendaten mehr als ein Drittel der Versicherten im Arbeitslosen- will man die Arbeitsfähigkeit beurteilen. Laut Krankenkassen stehen psy- geld-II-Bezug innerhalb eines Jahres mindestens eine psychiatrische Diag- chische Erkrankungen als Ursache von Arbeitsunfähigkeitstagen mit 15,2 % nose auf. Affektive und neurotische Störungen, Belastungs- und somato an dritter Stelle hinter den Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. forme Störungen wurden dabei am häufigsten registriert. Den Anteil an Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen entwickelt sich ALG-II-Beziehern mit psychischen Beeinträchtigungen schätzen Arbeits- inzwischen linear gleichbleibend. Mit 236 Fehltagen bezogen auf 100 Versi- vermittler der SGB-II-Träger abhängig vom jeweiligen Aufgabengebiet zwi- chertenjahre ließ sich im Jahr 2018 erstmals seit 2006 kein Anstieg, sondern schen 5 % und 40 %, Fallmanager in ihrem Bereich auf die Hälfte bis zwei ein leichter Rückgang verzeichnen [3]. Drittel aller Fälle [9].
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN Im Paritätischen Armutsbericht, der auf Daten des Sozioökonomischen Wohnunglose sind viermal 61,7 % 70 % Abbildung 2: Beeinträchtigungen durch Niedergeschlagenheit/Schwermut/ Panels (SOEP), der größten und am längsten laufenden multidisziplinären häufiger von psychischen 60 % Hoffnungslosigkeit mit/ohne Armuts betroffenheit innerhalb von zwei Langzeitstudie in Deutschland beruht, zeigte sich eine signifikant stärkere Erkrankungen betroffen als 46,6 % Wochen [13] psychische Belastung bei Armutsbetroffenen im Vergleich zu Nicht-Armen. die Allgemeinbevölkerung. 50 % Dies zeichnete sich z. B. bei über 60 % durch wenig Freude bzw. geringes 38,0 % Interesse an der eigenen Tätigkeit aus. Mehr als die Hälfte der Betroffe- 31,4 % 40 % nen beklagte Nervosität, Anspannung, Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit 30 % bzw. Schwermut oder Hoffnungslosigkeit (siehe Abb. 2) [13]. 10,5 % 20 % Wohnungslosigkeit 5,2 % 5,0 % 10 % Laut aktuellen Schätzungen sind in Deutschland 678.000 Menschen von 1,7 % arm Wohnungslosigkeit betroffen [14]. Die Mehrheit von ihnen leidet unter be- 0% nicht arm an mehr als der Hälfte der Tage handlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen. Menschen mit chroni- (fast) jeden Tag überhaupt nicht an einzelnen Tagen schen psychischen Beeinträchtigungen sind besonders gefährdet. Das Pro- blem, dass zu wenig bezahlbarer Wohnraum existiert, erweist sich gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen als erheblich. Auch spezielle Wohnformen, die Menschen mit besonderem Hilfebedarf (z. B. multimor bide alte psychisch kranke Menschen) Unterstützung anbieten, fehlen. Armut Erkrankungen Wohnungslose Menschen Allgemeinbevölkerung Laut Armutsdefinition der EU-Kommission spricht man von (relativer) Ar- mut bei Personen, Familien bzw. Haushalten, „die über nur so geringe ma- Klinische Störungen und andere klinisch 77,4 % 19,8 % terielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise relevante Probleme (Achse-I-Störungen) ausgeschlossen sind, die von der Allgemeinheit als unterste Grenze des Ak- Substanzbezogene Störungen 60,9 % 2,9 % zeptablen angesehen wird“. 10 11 Von Armut betroffene Armut und ihre Folgen sind häufige Ursachen für psychische Erkrankungen. Alkoholabhängigkeit 55,4 % 2,5 % (Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch zusammengefasst) Menschen leiden deutlich Armut führt dazu, dass Betroffene ihre menschlichen Grundbedürfnisse stärker unter psychischen nach existenzieller Sicherheit und sozialer Integration nicht ausreichend er- Drogenabhängigkeit 13,9 % 0,5 % (Abhängigkeit und schädlicher Belastungen. füllen können. Menschen in Armut haben weniger Handlungschancen und Gebrauch zusammengefasst) Wahlmöglichkeiten, und es fällt ihnen viel schwerer, ein selbstbestimmtes Affektive Störungen 15,2 % 6,3 % Leben zu führen. Ihr Leben in die Hand zu nehmen, es auch in Hinblick auf Freizeit und Ernährung frei und selbstbestimmt zu gestalten, ist ihnen deut- Majore Depression 11,6 % 5,6 % (jegliche unipolare Depression) lich erschwert. Es entsteht ein Teufelskreis: „Psychisch krank macht arm, arm macht psychisch krank“. Psychotische Erkrankungen 8,3 % 1,5 % (umfasst auch psychotische Symptome bei affektiven Spotlight 1 Erkrankungen) Alleinerziehende Angststörungen 17,6 % 9,0 % Tabelle 1: Punktprävalenzen seelischer Erkrankungen in Deutschland [15] Die Zahl der Ein-Eltern-Familien in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen [10]. Alleinerziehende stehen bei der In einer Metaanalyse zu Prävalenzen psychischer Erkrankungen in Deutsch- Vereinbarkeit von Beruf, Betreuung und Erziehung vor großen Her- land zeigt sich bezogen auf alle Störungen eine im Vergleich zur Allgemein- ausforderungen und Problemen. Die damit verbundenen Belastun- bevölkerung um fast 4-fach höhere Rate psychischer Erkrankungen bei gen schlagen sich auf die gesundheitliche Lage nieder. Bei vielen Ge- wohnungslosen Menschen. Vor allem die Prävalenzraten substanzbezo- sundheitsindikatoren weisen sowohl alleinerziehende Mütter als auch gener Störungen, insbesondere für die Alkoholabhängigkeit, sind um mehr Väter höhere Prävalenzen auf als in Partnerschaft Lebende. Dies als das 20-Fache erhöht. Zu berücksichtigen sind dabei Wechselwirkungen betrifft z. B. Depressionen, den Konsum psychotroper Substanzen zwischen Substanzkonsum und Wohnungslosigkeit. Aber auch für andere wie Alkohol oder Drogen und Rauchen. Zudem sind Alleinerziehende Erkrankungen, wie affektive Störungen oder psychotische Erkrankungen, überdurchschnittlich von Armut betroffen [11]. Auch nehmen alleiner- lassen sich unter wohnungslosen Menschen deutlich erhöhte Raten finden ziehende Mütter mehr psychotherapeutische Hilfe in Anspruch [12]. (siehe Tab. 1) [15].
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN Soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung Soziale Fragen in der Psychiatrie stellen sich auch im Zusammenhang mit Ein Aspekt der sozialen Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Er- Menschen, die im Justizvollzug inhaftiert sind. Durch Faktoren wie geringe krankungen ist ihre gesellschaftliche Stigmatisierung. Während sich der Bildung und/oder Arbeitslosigkeit sind Strafgefangene, zusätzlich zum gesellschaftliche Umgang mit Depressionserkrankten in den letzten Jah- Stigma des „Gesetzesbrechers“, in besonderem Maße von Armut und sozia- ren tendenziell zum Positiven gewandelt hat, lässt sich für Menschen mit ler Ausgrenzung bedroht. Schizophrenie ein negativer Trend feststellen. Vor allem das Bedürfnis nach sozialer Distanz gegenüber Menschen mit dieser Erkrankung ist angestie- Die Prävalenz psychischer Erkrankungen ist bei Strafgefangenen im Ver- gen. So lehnen laut einer Studie fast ein Drittel der Befragten Schizophrenie gleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht. Dies betrifft vor allem Inhaftierte in deutschen Justiz- erkrankte als Nachbarn ab. Mit zunehmender sozialer Nähe steigen die Ab- Suchterkrankungen wie Heroinkonsum, Alkoholabhängigkeit und -miss- vollzugsanstalten sind häufig lehnungswerte auf bis zu 81 % (siehe Tab. 2) [16]. brauch und Rauchen. Bei 3 bis 4 % der Inhaftierten wurde eine psychotische suchtkrank. Störung festgestellt – bei einem Viertel besteht eine Aufmerksamkeits defizit-Hyperaktivitätsstörung [23]./ Antwortkategorie Schizophrenie Schwere depressive Alkoholabhängigkeit „würde ich ablehnen“ Episode 1990 2011 1990 2011 1990 2011 Spotlight 2 als Nachbar 19 29 ↗ 16 15 ↘ 36 31 ↘ Kinder psychisch kranker Eltern als Arbeitskollege 20 31 ↗ 15 18 ↗ 35 34 ↘ einem Freund vorstellen 39 53 ↗ 33 37 ↗ 56 60 ↗ für einen Job empfehlen 44 63 ↗ 40 45 ↗ 62 66 ↗ Über 3,5 Millionen Kinder wachsen in Deutschland in Familien mit ei- ein Zimmer vermieten 46 58 ↗ 37 35 ↘ 62 61 ↘ nem psychisch kranken Elternteil auf [24]. Kinder psychisch kranker Eltern entwickeln oftmals selbst eine psychische Störung. Bei rund in die Familie einheiraten 56 60 ↗ 52 41 ↘ 75 68 ↘ der Hälfte der Patienten in der Kinder‐ und Jugendpsychiatrie liegen auf Kinder aufpassen 67 79 ↗ 58 62 ↗ 80 81 ↗ bei den Eltern psychische Störungen vor [25]. Auch Kinder von Eltern mit einer Suchtproblematik sind in ihrer Entwicklung erheblichen Ri- 12 13 siken ausgesetzt, da diese Eltern häufig mit der Erziehung und Förde- Tabelle 2: Entwicklung des Wunschs nach Die Vorurteile über die Krankheit übertragen sich auf die Betroffenen, die es rung der Kinder überfordert sind. Das Risiko für Vernachlässigung und sozialer Distanz gegenüber Menschen mit folglich umso schwerer haben, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen und Gewalt gegenüber dem Kind ist in suchtbelasteten Familien erhöht. psychischen Erkrankungen zwischen 1990 und 2011 in Prozent [16] rechtzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Studien belegen, dass allein das Schätzungen der Bundesdrogenbeauftragten gehen davon aus, dass Gefühl, einer Stigmatisierung ausgesetzt zu sein, ausreicht, um die Suizida- etwa jedes sechste minderjährige Kind bis zum Erreichen der Volljäh- lität bei Betroffenen zu erhöhen [17]. Bei einer Befragung unter Medizinstu- rigkeit eine Suchtabhängigkeit im Elternhaus erlebt [26, 27]. Im Sinne denten, welche Krankheiten ihrer Ansicht nach im Falle von Sparvorgaben eines Teufelskreises kann frühe Gewalterfahrung selbst zu aggressi- das größte Potential für Einsparungen besäßen, wurden unter den Top 5 mit vem Verhalten und Substanzkonsum beitragen [28]. Handlungsbe- Alkoholismus, Alzheimer und Schizophrenie drei Diagnosen aus dem Bereich darf besteht hinsichtlich frühzeitiger Unterstützungsangebote oder der psychischen Erkrankungen genannt. Die Depression belegte Platz 7 [18]. spezifischer therapeutischer Hilfen für die betroffenen Familien. Diskriminierung betrifft auch die besonders vulnerable Gruppe der ge- flüchteten Menschen. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland Schutz vor Krieg, Verfolgung, Gewalt und Hunger suchen, hat stark zugenommen. Viele der Neuankömmlinge sind psychisch schwer belastet. Trotz ihrer Not stoßen sie im psychosozialen Versorgungssystem auf erhebliche Zugangs- barrieren. Studien zeigen, dass zwischen 20 und 70 % der nach Deutschland Geflüchteten an Depressionen, Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden [19–21]. Doch auch Menschen mit Migrations- hintergrund, die unter anderen Umständen nach Deutschland gekommen sind oder schon lange in Deutschland leben, stehen im psychiatrisch-psy- chotherapeutischen Versorgungssystem vor sprachlichen, kulturellen und administrativen Hürden. Zum Tragen kommen unterschiedliche Stress-, Be- lastungs- und Risikofaktoren wie die Trennung von den Angehörigen, eine schlechtere Bildung, ein niedriger sozioökonomischer Status, unklarer Auf- enthaltsstatus und ein erhöhtes Risiko für Obdachlosigkeit, Diskriminierung oder fremdenfeindliche Übergriffe [22].
KAPITEL 1 SOZIALE FRAGEN Perspektiven „Der Einbezug des sozialen Umfelds in die psychiatrische Behandlung ist zwingend.“ Uta Gühne und Steffi Riedel-Heller Der Schlüssel zur Vermeidung von Arbeitsunfähigkeit (AU), Arbeitslosigkeit und Frühberentung liegt in der Stärkung von Prävention, Therapie und Rehabilitation von psychischen Erkrankun- gen. Die sektoren- und settingübergreifende Zusammenarbeit aller Leistungserbringer muss in Zukunft stärker im Vordergrund stehen. Dabei gilt es, die Angebote je nach individuellem Bedarf „Zugänge zum Arbeitsmarkt müssen für psychisch erkrankte Menschen zu vernetzen. individuell gestaltet werden.“ Matthias Rosemann Bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung sollte der Berufseinstieg früh- zeitig im Rahmen der Behandlung geplant werden. Eine anschließende Begleitung durch einen festen professionellen Ansprechpartner schafft momentan die besten Voraussetzungen für eine perspektivische (Wieder-)Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. „Es müssen das öffentliche Bewusstsein für die besondere Schutz würdigkeit von Kindern psychisch kranker Eltern gestärkt und Zur Gewährleistung einer besseren Versorgung wohnungsloser Menschen sollten Zugangs- Finanzierungsmöglichkeiten für Patenschaften erweitert werden.“ barrieren abgebaut und ggf. Abstinenzschwellen im suchttherapeutischen Bereich angepasst Brigitte Richter werden. Hilfen müssen unabhängig von der Wohnform individuell angepasst, leistungs- und rechtskreisübergreifend geleistet werden. Präventiv könnte ein frühzeitigeres Erkennen psy- 14 15 chischer Beschwerden bereits in Behörden und Einrichtungen durch entsprechende Aufklärung und Vernetzung wirken. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer verlässlichen Grundsicherung „Inklusion fördern – Exklusion verhindern!“ für chronisch psychisch kranke Menschen mit der Möglichkeit des Zuverdienstes. Leistungen Christian Kieser zum Wohnen müssen unabhängig von anderen Unterstützungsleistungen erfolgen. Armut sollte als eine – die soziale Teilhabe erschwerende – Barriere sichtbar gemacht werden. Gelingende Teilhabe muss als wichtiger Zielparameter psychiatrischer Behandlung begriffen werden. Eine alleinige Symptomreduktion als Behandlungsziel greift zu kurz. „Arbeit ist für Menschen ein überaus integrativer Teil der Lebenswelt, denn sie ermöglicht regelmäßige soziale Kontakte und vermittelt das Gefühl g esellschaftlicher Zugehörigkeit und Um der sozialen Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund entgegenzuwirken, be- Wertschätzung. Gerade bei Menschen mit psychischen Störungen kann Arbeit zur psychosozi- darf es einer sprach- und kultursensiblen Anpassung der Versorgungsangebote, der Schulung alen Stabilisierung beitragen und das Selbstwertgefühl stärken.“ von Mitarbeitern zu interkultureller Kompetenz sowie einer Überprüfung der bisherigen diag- Katarina Stengler nostischen Kriterien für diese kulturellen Hintergründe. Zugangsbarrieren in das Regelversor- gungssystem sollten z. B. durch stärkere Kostenübernahme spezieller Leistungen vermindert werden [29, 30]. Ein hoher Anteil der Inhaftierten in Deutschland leidet an psychischen Erkrankungen. Dort ist „Bei der Versorgung wohnungsloser Menschen mit psychischen Erkrankungen in eine gute psychiatrische Versorgung besonders wichtig, auch, um das Risiko zukünftiger Straf- den urbanen Zentren ist eine Anpassung der Zugangsbarrieren, der Abstinenz- fälligkeit zu verringern. Im Justizvollzug ist daher eine Erweiterung der psychiatrischen Fach- schwellen im suchttherapeutischen Bereich und Prävention sowie Früherkennung kenntnisse aller dort tätigen Ärzte dringend erforderlich. Daneben ist eine Verbesserung der bereits in a nderen Behörden oder Einrichtungen notwendig.“ ambulanten konsiliar-psychiatrischen Versorgung anzustreben. Auch die stärkere Nutzung tele- medizinischer Möglichkeiten kann zur Verbesserung der Situation beitragen [31]. Stefanie Schreiter und Stefan Gutwinski Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung betreffen alle Menschen mit psychischer Erkrankung und auch ihre Angehörigen. Das betrifft auch Kinder psychisch erkrankter Menschen. Die Be- mühungen im Rahmen der Anti-Stigma-Arbeit müssen fortgesetzt und ausgebaut werden. Ein Fokus muss dabei auf die vulnerabelsten Gruppen gerichtet werden: auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, auf die Gruppe der schwer und chronisch psychisch kranken Menschen sowie auf die Gruppe psychisch erkrankter Menschen mit komplexen Problemlagen.
KAPITEL 2 MENSCHENRECHTE / Catharina Flader geschlossenen Personen. Gemeinsam, aber nebenein- EX-IN-Genesungsbegleiterin ander. Inklusion = „Miteinschließen“ von allen Menschen ohne Ausnahme. Gemeinsam verschieden sein. Heute Vor 25 Jahren war ich – damals 15 Jahre würde ich in meinem Fall eher von Integration spre- alt – erstmals im System psychiatri- chen. Auch wenn ich an manchen Stellen nicht immer scher Hilfen und manchmal kann ich eingeschlossen bin, bin ich zufrieden, dass ich in mei- selbst nicht glauben, was sich seither nem Maß an gesellschaftlichen Themen teilhabe. Ich bin alles verändert hat. Seit Ende 2016, zufrieden, etwas mehr als nur ausreichend zum Leben also nun über drei Jahre, arbeite ich als zu haben. Ich bin viel entspannter, weil ich unabhängig EX-IN-Genesungsbegleiterin in der Re- vom Jobcenter bin und keine Rechenschaft über meine habilitationseinrichtung für psychisch Finanzen ablegen muss. Das bedeutet für mich Selbst- Kranke (RPK) in Karlsbad mit Erwach- bestimmung. senen und Jugendlichen. Das dortige Programm beginnt mit einer medizini- Ich weiß, ich kann nur dann langfristig hilfreich sein, schen Reha und geht dann in eine be- wenn es mir selbst gut geht. Das ist genau das, was rufliche Reha über – die Teilnehmer ha- ich auch weitergebe. Ernährung, Sport, Freizeit, ge- ben bis zu zwei Jahre Zeit, um wieder in sundheitliche Versorgung, soziale Kontakte und Rück- Arbeit zu kommen. Mein Alltag ist sehr zug sind dabei eine wichtige Basis. Früher fehlten mir Den Weg selbst vielfältig. an manchen dieser Stellen die finanziellen Mittel und vielen Betroffenen geht es heute auch so. Viele wissen, An drei Tagen in der Woche nehme ich was sie brauchen, doch es scheitert aus unterschiedli- an Teamsitzungen teil, tausche mich mit chen Gründen an der Umsetzung. Hier die Betroffenen bestimmen Kollegen aus, leite eine Recovery- und einzubeziehen und ihnen ein Mitspracherecht einzuräu- eine Skills-Gruppe mit je einer Kollegin, men, halte ich für wichtig. Dies gelingt meiner Ansicht esse mit den Jugendlichen gemeinsam nach am besten, wenn die Rahmenbedingungen sich zu Mittag und führe Einzelgespräche. den Bedürfnissen der Betroffenen anpassen. Bin ich 16 17 Meine Arbeit füllt mich aus, gibt mir beispielsweise durch einen Arzt im weißen Kittel einge- Sicherheit, fordert, aber überfordert schüchtert, wird es mir kaum möglich sein, Wünsche zu mich nicht. äußern. Menschen lassen sich nicht in Vorgaben pres- sen, alle Versuche in diese Richtung sind zum Scheitern An Wochenenden bin ich als EX-IN-Trai- verurteilt. Das größte Problem ist, dass Gelder oft nicht nerin tätig, d. h. ich führe mit Trainerkol- verantwortungsvoll eingesetzt, sondern verschwendet legen im Tandem einen EX-IN-Kurs. Die Vermittlung von Theorie und Praxis be- reichert meine Tätigkeit in der Rehabili- „Meine Arbeit füllt mich Peter Grollich und Catharina Flader sind hochspezialisiert: tationseinrichtung und ist für mich eine Sie wissen, wie es sich anfühlt, Patient im psychiatrischen wichtige Einnahmequelle. Außerdem aus, gibt mir Sicherheit, engagiere ich mich als Vorstandsmit- Hilfesystem zu sein und geben ihre Erfahrungen weiter. glied aktiv bei EX-IN Deutschland. Und fordert, aber überfordert Als Patientenfürsprecher und EX-IN-Genesungsbegleiterin das alles, obwohl ich bis vor vier Jah- sind sie wichtige Ansprechpartner und leisten wertvolle ren der festen Überzeugung war, nicht mich nicht.“ mehr als sechs Stunden am Tag arbei- Aufklärungsarbeit. ten zu können. Der Einstieg war schwie- Catharina Flader rig und stellte mich auf vielen Ebenen vor Herausforderungen. Mein Chef werden, während sie bei jemandem, der sie gut gebrau- nahm sich wöchentlich Zeit, außerdem chen könnte, eingespart werden. Wenn es gelingt, diese kannte ich eine EX-IN-Kollegin auf dem Missverhältnisse aufzulösen, ist viel erreicht. Bis dahin Campus, mit der ich mich regelmäßig gehen wir gemeinsam kleine Schritte in eine richtig gute austauschen und an einer Supervision Richtung. Die Neuregelung der PsychKGs war zum Bei- teilnehmen konnte – dies alles half sehr. spiel ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg, der nun Es scheint, als sei mit 37 Jahren bei mir weitergegangen werden muss. endlich Inklusion gelungen. Wesentlich in allem ist und bleibt der Faktor Zeit. Im- Im EX-IN-Kurs notierte ich mir: Integ- mer wieder hört man, es sei keine Zeit da. Ich behaupte ration = „Eingliedern“ von bisher aus- jedoch, sich bewusst ausreichend Zeit für die Behand-
KAPITEL 2 MENSCHENRECHTE lung zu nehmen, erleichtert die Kommunikation und das den Kliniken eingehalten und die Rechte der Patienten Verstehen und führt zu einer höheren Zufriedenheit der gewahrt werden. Beteiligten. Das spart langfristig wieder Zeit ein. Der größte psychische Druck der meisten Patienten ba- Ein anderer Aspekt sind die Angehörigen, die viel zu we- siert auf der Tatsache, für unbestimmte Zeit im MRV nig mitgedacht werden. Da ich bereits als Jugendliche untergebracht zu sein. Alle sozialen Beziehungen bre- in das Hilfesystem kam, fanden anfangs noch einige Ge- chen weg, während sie nach vielen Jahren wieder in die spräche mit meinen Eltern statt, jedoch nicht mit mei- Gemeinschaft eingegliedert werden sollen – das sind nen Schwestern. Bis heute erlebe ich die Rolle der Ange- zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Hier müssen hörigen als wichtig und schwierig – für alle Beteiligten. wir von den bundesweit besten Praktiken lernen. Dazu Angehörige selbst erfahren oftmals wenig bis gar keine gehört, so viele soziale Bezüge und Interaktionen wie Unterstützung, auch sollen sie ganz selbstverständlich möglich aus der Gemeindepsychiatrie und den psycho- Hilfe leisten, alles neben ihrem Alltag. Das muss sich un- sozialen Netzwerken zu übernehmen sowie verbindliche bedingt ändern. Hier wünsche ich mir mehr EX-IN-An- Helfer- oder Hilfeplankonferenzen anzusetzen, um die gehörigenbegleiter. Betroffenen nach der Entlassung in den ambulanten Bereich zu überführen. Nur so kann Resozialisierung und Ich habe gelernt, dass es sich lohnt zu kämpfen, auch Teilhabe gelingen. wenn man aktuell nicht daran glauben kann: dass es sich auch nach erstem Scheitern lohnt, sich Unterstützung zu holen, nach und nach Verantwortung zu tragen, Dinge „Eine psychiatrische zu benennen und sich die Chance auf Positives nicht zu nehmen. Ich finde, man sollte nicht immer nur meckern, Diagnose sollte sich nicht sondern selbst das tun, was möglich ist. Diese Erfahrung gebe ich in meiner Arbeit weiter. Wir haben in Deutsch- verheerend auf die eigene land wirklich tolle Hilfsangebote, wenn auch leider nicht flächendeckend. An manchen Stellen hinkt das System, Biografie auswirken.“ 18 19 es ist schwierig, sich darin zurechtzufinden und schnell Peter Grollich geeignete Anlaufstellen und Unterstützung zu finden – vor allem ohne einheitliche, einfache Sprache. Ich wün- sche jedem die Kraft so lange durchzuhalten, bis es bes- Eine Diagnose ist nach wie vor ein tiefer Einschnitt in Eine Erfahrung aus meiner Arbeit als Patientenfür- Mein Anliegen: Eine psychiatrische Diagnose sollte sich ser wird, und auf seinem Weg die kleinen Lichter nicht die Biografie der Betroffenen. Deshalb sollte nicht die sprecher ist, dass die Transparenz des therapeutischen nicht verheerend auf die eigene Biografie auswirken, zu übersehen. Für die Fachleute wünsche ich mir Geduld medizinische Einordnung in Form der Diagnose im Zen- Vorgehens und eine gemeinsame Sprache zum Ver- denn was daraus folgt, sind Ohnmachtsgefühle, Fremd- und Offenheit für andere Ideen und auch Freude am Be- trum stehen, sondern vielmehr die Frage, wie die Ge- ständnis der psychischen Störung enorm wichtig sind. und Selbststigmatisierung, Hoffnungslosigkeit und der gleiten von Betroffenen und Angehörigen. Ich danke al- nesung gelingen kann. Speziell in „meiner“ Klinik haben Die Behandlung muss den Patienten in alle Schritte enorme Druck seitens der Leistungsgesellschaft. All len für ihr Engagement, insbesondere der RPK Karlsbad. sich die Dinge in den letzten Jahren zum Positiven ent- und Entscheidungen einbeziehen und seine Vorschlä- dem möchte ich den Kampf ansagen. Es wird weiter viel / wickelt. Neue Klinikstrukturen haben den Patienten in ge berücksichtigen. In meiner Arbeit spielen Ängste, Kraft brauchen, um die Dinge in die richtige Richtung zu den Mittelpunkt gestellt. Dazu gehört die Struktur und Hoffnungslosigkeit und die dramatisch veränderte Le- bringen. Dafür setze ich mich gerne ein, denn mir geht / Peter Grollich Arbeit in Behandlungsteams, wie z. B. das Team für sta- benssituationen von Betroffenen und Angehörigen die es um die Menschen, die diese Kraft gerade nicht auf- Patientenfürsprecher und Mitglied tionsäquivalente Behandlung (StäB), das gerontopsy- Hauptrolle – oft ausgelöst dadurch, dass wichtige Infor- bringen können. / einer Besuchskommission chiatrische Team oder die Akut-Tagesklinik. mationen fehlen. Beispielsweise wendete sich eine Frau an mich mit der Bitte, sie dabei zu unterstützen, ihren Ehrenamtliches Engagement im Psychiatriebereich er- Wenn es deutschlandweit in diese Richtung geht, kann Mann von einer Elektrokonvulsionstherapie zu überzeu- fordert vor allem eines: Kraft. Diese Kraft hatte ich vor ich mir die Zukunft der Psychiatrie gut vorstellen. Un- gen. Oder einmal beschwerte sich eine Patientin, dass ein paar Jahren nicht, als ich in der akuten Phase einer ter diesen Bedingungen ist es möglich, flexibler und in- die Klinik bei ihr fälschlicherweise eine Bipolare Störung Depression steckte. 2008 war ich acht Wochen lang in dividueller auf die Menschen und ihre Bedürfnisse ein- diagnostiziert hätte – aus Geldgier. Ich sollte sie unbe- Catharina Flader stationärer und viele Jahre in ambulanter Behandlung zugehen. Für gute Gespräche braucht es Beziehungen dingt bei der Selbstentlassung und der Suche nach ei- 40, ist Vorstandsmitglied im Dachverband EX-IN Deutschland e. V., der es sich zur in der Immanuel Klinik in Rüdersdorf. Dem war eine zer- auf Augenhöhe und dafür wiederum Zeit und klinische ner angemessenen Therapie unterstützen. Dies sind nur Aufgabe gemacht hat, Psychiatrie-Erfahrene mürbende Suche nach zeitnaher psychologischer Hilfe Organisationsstrukturen, die das ermöglichen. Zeit zwei Beispiele, die zeigen, wie wichtig genug Zeit und zu bezahlten Fachkräften im psychiatrischen und Behandlung vorausgegangen. Heute bin ich dort ist Geld. Das ist in unserem Gesundheitssystem nicht sachkundige Gespräche sind. System zu qualifizieren. Patientenfürsprecher und leite seit 2012 eine Patienten- anders – die Personalsituation in den Kliniken ist zum und Angehörigenvertretung. Ich versuche vor allem zu Teil wirklich prekär, obwohl eine ausreichend große Aus- Ich bin zudem seit fünf Jahren Mitglied einer unabhän- Peter Grollich informieren und zwischen dem Fachpersonal und den stattung mit gut qualifiziertem und bezahlten Personal gigen, trialogischen und multiprofessionellen Besuchs- 65, ist nicht nur Patientenfürsprecher und Mitglied einer Besuchskommission, er hat Patienteninteressen zu vermitteln. Ich kenne also beide Garant für die Sicherung der Patientenrechte und er- kommission, die für die drei Kliniken des Maßregelvoll- eine Trainerausbildung für „Reha-Sport – Seiten sehr gut und sehe trotzdem oder gerade deshalb folgreiche Therapie ist. Die Wertschätzung und die Aus- zugs (MRV) im Land Brandenburg zuständig ist. Wir Psychiatrie“ absolviert und arbeitet derzeit vieles ambivalent. bildung des Pflegepersonals sind zentrale Punkte. prüfen, ob die gesetzlichen Regelungen des PsychKG in als Sporttherapeut in einer Suchttagesklinik
KAPITEL 2 MENSCHENRECHTE Patienten Spotlight 3 UN-Behindertenrechtskonvention autonomie im Blick Die oberste Forderung der Behindertenrechtskonvention der Verein- ten Nationen (UN-BRK) ist es, Menschen mit Behinderungen den vol- len Genuss von Menschen- und Grundrechten zu garantieren [32]. Mit der Ratifizierung im Jahr 2009 hat sich Deutschland dazu verpflich- tet, die Prinzipien der Selbstbestimmung und Diskriminierungsfrei- heit auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen umzusetzen. Die folgenden Paragrafen haben besonders große Implikationen für Menschenrechte die psychiatrische Versorgung. und psychiatrisches Handeln → Artikel 12: Gleiche Anerkennung vor dem Recht verbrieft Menschen mit Behinderungen das Recht, stets als Rechtssubjekt anerkannt zu werden und überall die gleiche Rechts- und Handlungsfähigkeit wie andere Menschen zu genießen. → Artikel 14: Freiheit und Sicherheit der Person Alle Menschen mit psychischen Erkrankungen haben dasselbe Recht auf sichert das Recht von Menschen mit Behinderungen auf persönli- bestmögliche medizinische und therapeutische Versorgung wie Patienten che Freiheit, gleichberechtigt mit Menschen ohne Behinderungen. mit anderen Krankheiten. Dies gilt auch, wenn sie nicht in der Lage sind, → Artikel 16: Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. In der Psychiatrie wird deshalb schützt die körperliche und seelische Unversehrtheit von Men- intensiv nach Wegen gesucht, Patienten gleichermaßen das Recht auf me- schen mit Behinderung. dizinische Behandlung und Selbstbestimmung zuteilwerden zu lassen und 20 21 die Menschenrechte in jedem Fall zu wahren. Auch wenn die UN-BRK zum Teil sehr unterschiedlich ausgelegt wird [33–35], so hat sie doch in der Behinderten- und Gesundheitspolitik Psychische Erkrankungen können gravierende kognitive und emotionale Fol- Fortschritte ermöglicht. Sie hat höchstrichterliche Entscheidungen gen haben und die Betroffenen in ihrer Fähigkeit, freie Entscheidungen zu beeinflusst sowie Novellierungen im Betreuungsgesetz und in den Psychische Erkrankungen treffen, erheblich einschränken. Dies kann gegebenenfalls dazu führen, dass Landesgesetzen erforderlich gemacht [32] und damit die Rechte von können zu Selbst- oder ein Mensch sich selbst oder andere gefährdet, aber Hilfe ablehnt. Wenn ein Menschen mit psychischen Erkrankungen erheblich gestärkt. Fremdgefährdung führen. Mensch etwa an einer schweren Lungenentzündung leidet und aufgrund eines Vergiftungswahns eine notwendige Behandlung ablehnt, kann er in Lebensgefahr geraten. Verschiedene Menschenrechte geraten dann in Kon- flikt zueinander: das Recht auf medizinische Behandlung und das Recht auf bzw. Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze (PsychKG) der Bundesländer Selbstbestimmung; im Falle einer Fremdgefährdung auch das Recht Dritter durch ein Gericht angeordnet werden, wenn ein Mensch aufgrund einer psy- auf körperliche Unversehrtheit. Solche ethischen Dilemmata machen eine chischen Erkrankung in seiner Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt sorgfältige Abwägung notwendig, bei der im Ergebnis über Maßnahmen ist und sich selbst oder andere in diesem Zustand gefährdet. Noch gibt es gegen den natürlichen Willen des Patienten – wie eine Unterbringung, Si- kein bundesweites Register, das eine valide Aussage darüber treffen könnte, cherungs-, Quarantäne- und Zwangsmaßnahmen – entschieden werden wie viele Menschen in Deutschland aktuell untergebracht sind. Die letzten muss. Situationen wie diese finden nicht nur in der Psychiatrie statt, die verfügbaren Zahlen weisen für 2016 insgesamt 56.048 Unterbringungen auf Menschenrechte spielen hier aber zu Recht eine besondere Rolle. Alle Ärzte Basis des BGB aus [36]. Diese Zahl umfasst nicht nur Unterbringungen in sind nach der Genfer Deklaration des Weltärztebunds verpflichtet, die Au- psychiatrischen Kliniken, sondern auch in anderen Settings, z. B. in Heimein- tonomie und Würde ihrer Patienten zu respektieren und die Menschenrechte richtungen. Zudem gab es 2015 nach den PsychKG bzw. Unterbringungsge- nicht zu verletzen. Dieses Grundprinzip schließt die Umsetzung von Maß- setzen der Länder 83.418 Unterbringungsverfahren [37]. Bei dieser Zahl ist nahmen zur Prävention und Vermeidung von Zwang mit ein. zu beachten, dass es sich hierbei um die Anzahl der anhängig gewordenen Gerichtsverfahren handelt, nicht um die Anzahl der auch tatsächlich geneh- Unterbringung in psychiatrischen Kliniken migten Unterbringungen. Als Anhaltspunkt kann jedoch die Quote der Ge- Bundesweit sind von Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung in seiner Selbstbe- nehmigung in betreuungsrechtlichen Unterbringungsverfahren dienen, wel- 10.000 Einwohnern 10 nach stimmungsfähigkeit eingeschränkt ist und sich selbst in diesem Zustand er- che kontinuierlich etwa 95 % beträgt [38]. Im bundesweiten Durchschnitt dem PsychKG und 4 nach heblich gefährdet, kann er auf Basis des Betreuungsrechts des Bürgerlichen entspricht das 10 von 10.000 Einwohnern, die nach dem PsychKG und 4 von BGB untergebracht. Gesetzbuchs (BGB) in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen seinen 10.000 Menschen, die nach dem BGB untergebracht sind [39]. Gemessen an Willen untergebracht werden, sofern ein Gericht dies genehmigt. Darüber allen Fällen in psychiatrischen Kliniken wird der Anteil der unfreiwillig unter- hinaus kann eine Unterbringung entsprechend der Unterbringungsgesetze gebrachten Patienten auf 10 % geschätzt [40].
Sie können auch lesen