Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen - Finanz- und Wirtschaftspolitik
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Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen
Inhalt Seite 3 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 5 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 7 1.1 Konzeptioneller Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 7 1.2 Ökonomische Bedeutung tragfähiger öffentlicher Finanzen . . . . . . . . . . . . Seite 9 1.3 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 10 1.4 Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen . . . . . . . Seite 11 1.4.1 Auswirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 11 1.4.2 Herausforderungen durch den demografischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 13 1.4.3 Sonstige Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16 II. Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 2.1 Erläuterungen zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 2.1.1 Messkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 2.1.2 Tragfähigkeitsindikatoren der EU-Kommission („sustainability gaps“) . . Seite 18 2.2 Annahmen der Modellrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20 2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 23 2.3.1 Basisvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 23 2.3.2 Alternative Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 29 2.4 Internationaler Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 35 2.5 Rückblick: Entwicklung der Tragfähigkeitslücken im Zeitablauf . . . . . . . . Seite 40
Seite 4 Inhalt III. Die Rolle der Politik bei der Sicherung tragfähiger öffentlicher Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 43 3.1 Leitlinien einer Politik für tragfähige öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . Seite 43 3.2 Ansatzpunkte in der Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 44 3.2.1 Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 44 3.2.2 Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 49 3.3 Ansatzpunkte in anderen Politikfeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 52 3.3.1 Wachstum und Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 52 3.3.2 Zuwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 54 3.3.3 Bildungs- und Innovationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 55 3.3.4 Systeme der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 56 3.3.5 Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 57 IV. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 58 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 60 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 61
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 5 Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, uns allen hat die Finanzmarkt- und Wirt- Tragfähig sind öffentliche Finanzen, schaftskrise vor Augen geführt, wie wich- wenn der Staat seinen finanziellen Ver- tig ein handlungsfähiger Staat ist. Die pflichtungen – beispielsweise in den Be- Bundesregierung konnte durch ihr ent- reichen Rente, Arbeitsmarkt, Gesundheit, schlossenes Handeln dazu beitragen, dass aber auch für die Zins- und Personalaus- Deutschland besser durch die Krise ge- gaben – langfristig nachkommen kann. kommen ist als viele andere Länder. Aller- Nur wenn dies gegeben ist, bleibt der dings hatten die stabilisierenden Maß- Staat handlungsfähig und bleibt das Ver- nahmen auch ihren Preis: Der Schulden- trauen von Finanzmarktteilnehmern, In- stand der Bundesrepublik Deutschland ist vestoren und nicht zuletzt der Bürgerin- sprunghaft in die Höhe geschnellt. Umso nen und Bürger in unsere Soziale Markt- mehr gilt es, die Solidität der öffentlichen wirtschaft erhalten. Finanzen sicherzustellen, indem wir Mit dem vorliegenden Dritten Bericht nachhaltig konsolidieren und zugleich zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finan- die Weichen für die Zukunft richtig stel- zen informiert das Bundesministerium len. der Finanzen die Öffentlichkeit über die Dabei kommt der langfristigen Tragfä- langfristige Entwicklung der öffentlichen higkeit der öffentlichen Finanzen beson- Finanzen bis zum Jahr 2060. Die Rolle die- dere Bedeutung zu. Im übertragenen Sinn ses Berichts ist am besten mit der eines erinnert der Begriff der Tragfähigkeit an Frühwarnsystems zu vergleichen: Die Er- den Bau eines Hauses: Nur wenn das Ge- gebnisse der Modellrechnungen zeigen, bäude auf einem soliden Fundament in welchem Ausmaß bereits heute Hand- steht, ist gewährleistet, dass die gesamte lungsbedarf besteht, um die Solidität der Struktur das Haus auch langfristig trägt. öffentlichen Finanzen sicherzustellen.
Seite 6 Vorwort Der Bericht macht deutlich, dass sich Allerdings besteht kein Anlass, sich mit die Tragfähigkeit der öffentlichen Finan- dem bisher Erreichten zufrieden zu ge- zen – nicht zuletzt aufgrund der Auswir- ben. Ganz im Gegenteil: Es wird in Zu- kungen der Finanzmarkt- und Wirt- kunft darum gehen, die grundgesetzliche schaftskrise – im Vergleich zum Zweiten Schuldenregel dauerhaft und verlässlich Tragfähigkeitsbericht von 2008 ver- einzuhalten und gleichzeitig die Voraus- schlechtert hat. Dennoch sind wir in setzungen für Wachstum und Beschäfti- Deutschland auf einem guten Weg. Ver- gung in Deutschland weiter zu verbes- glichen mit letztem Jahr ist bereits wieder sern. Die Botschaft des vorliegenden Trag- eine erste Verbesserung der Tragfähigkeit fähigkeitsberichts ist eindeutig: Wir kön- zu verzeichnen. Sowohl die neu im Grund- nen die Herausforderungen von morgen gesetz verankerte Schuldenregel als auch bewältigen, wenn wir bereits heute auch die erfolgreich begonnene wachstums- unbequeme Schritte einleiten, für die der freundliche Konsolidierung stehen im Bericht konkrete Ansatzpunkte nennt. Einklang mit den Vorgaben des Europäi- schen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und werden maßgeblich dazu beitragen, die Schuldenstandsquote weiter sinken zu lassen. Dr. Wolfgang Schäuble Bundesminister der Finanzen
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 7 I. Einführung Mit dem Dritten Bericht zur Tragfähigkeit standes, den nicht zuletzt die Finanz- der öffentlichen Finanzen führt das markt- und Wirtschaftskrise mit sich ge- Bundesministerium der Finanzen (BMF) bracht hat, aber auch andere langfristige seine Berichterstattung der Jahre 2005 Herausforderungen, wie insbesondere und 2008 fort. Der Bericht trägt dazu bei, der demografische Wandel, der sich spür- dass langfristige Herausforderungen für bar auf die künftige Entwicklung der öf- die öffentlichen Haushalte besser wahrge- fentlichen Finanzen auswirken wird. nommen werden und in die politische Meinungsbildung einfließen. Um politi- sche Entscheidungen zur Sicherung trag- 1.1 Konzeptioneller Hinter- fähiger öffentlicher Finanzen auf eine grund fundierte und nachvollziehbare Basis zu stellen, ist es notwendig, sowohl die künf- Das Konzept der Tragfähigkeit der Staats- tige finanzpolitische Entwicklung als finanzen hat die langfristige Entwicklung auch die Wirksamkeit von Reformen und der öffentlichen Haushalte im Blick. Dabei Reformoptionen so gut wie möglich abzu- geht es vor allem um die Frage, ob Sozial-, schätzen. Das BMF hat daher unabhän- Wirtschafts- und Finanzpolitik dauerhaft gige Wirtschaftswissenschaftler mit den so fortgeführt werden können wie bisher, Modellrechnungen beauftragt, die die- oder ob politischer Handlungsbedarf be- sem Bericht zugrunde liegen.1 steht, um den Anstieg der Staatsverschul- Das Einhalten der neuen, im Grundge- dung aufzuhalten bzw. umzukehren. Es setz verankerten Schuldenregel wird in handelt sich somit um ein Konzept, das den Modellrechnungen nur bis zum Jahr die Nachhaltigkeit (engl. „sustainability“) 2015 unterstellt. Dies geschieht mit der der Politik unter finanzpolitischen Ge- Absicht, den Handlungsbedarf offen zu le- sichtspunkten bewertet. gen, der zur langfristigen Sicherung soli- Verantwortungsvolle Finanzpolitik der Staatsfinanzen besteht. Dadurch wird muss deshalb weit in die Zukunft rei- zudem deutlich, dass weitere politische chende Wirkungszusammenhänge be- Entscheidungen zur Konsolidierung der rücksichtigen, um mögliche Fehlentwick- Haushalte erforderlich sind, um die Schul- lungen früh genug zu erkennen und dem- denregel auch in Zukunft einhalten zu entsprechend rechtzeitig gegensteuern können. Risiken für die Tragfähigkeit der zu können. Um zu bewerten, ob die Finan- öffentlichen Finanzen bergen beispiels- zen eines Staates tragfähig sind, sollte weise der starke Anstieg des Schulden- eine Vielzahl von Parametern in den Blick 1. Prof. Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum, in Kooperation mit dem ifo-Institut, München.
Seite 8 Einführung genommen werden.2 So spielt beispiels- Die Berechnungen umfassen den Zei- weise – neben der zukünftigen wirtschaft- traum von 2010 bis 2060, reichen also weit lichen Entwicklung – die Struktur der in die Zukunft. Die Ergebnisse der Modell- staatlichen Ausgaben eine wichtige Rolle. rechnungen sind dabei keine Prognosen, Für eine sorgfältige Beurteilung ist es da- sondern sie veranschaulichen die hypo- her erforderlich, eine möglichst umfas- thetische Entwicklung der staatlichen Fi- sende Analyse der zukünftigen Entwick- nanzen unter der Annahme, dass die bis- lung der Staatsfinanzen vorzunehmen – herige Politik unverändert beibehalten so wie es mit den Modellrechnungen in wird. Damit kommen die Berechnungen diesem Bericht geschieht. einem Frühwarnmechanismus gleich: Der vorliegende Bericht analysiert die Die auf dieser Grundlage ermittelten Indi- öffentlichen Haushalte insgesamt, also katoren geben Auskunft darüber, in wel- die Haushalte von Bund, Ländern, Ge- chem Ausmaß bereits heute weitere Maß- meinden und den Sozialversicherungen. nahmen notwendig sind, um die Tragfä- Nur wenn alle staatlichen Ebenen ihren fi- higkeit der öffentlichen Finanzen lang- nanziellen Verpflichtungen – beispiels- fristig sichern zu können. Bei der Interpre- weise in den Bereichen Rente, Arbeits- tation der Ergebnisse ist große Sorgfalt er- markt, Gesundheit, aber auch für Zins- forderlich (vgl. Kasten 1). und Personalausgaben – langfristig nach- kommen können, ist die Tragfähigkeit der Finanzpolitik gewährleistet. Kasten 1: Zur Aussagekraft von Tragfähigkeitsanalysen „Die Beurteilung der Nachhaltigkeit bestimmter ökonomischer Aktivitäten und Politi- ken erfordert eine nicht ganz unbedeutende Ausweitung der Perspektive: Bei Fragen der Nachhaltigkeit verlassen wir die auf unverrückbaren Fakten beruhende Berichterstattung über den derzeitigen Zustand und begeben uns auf das Gebiet von Projektionen in die Zu- kunft. Dies ist nicht mit der Prognose zukünftiger Entwicklungen gleichzusetzen, da Pro- gnosen eine Annahme über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse beinhalten. Die Diskussion der Nachhaltigkeit hingegen befasst sich mit den Konsequenzen einer dauer- haften Fortschreibung gegenwärtiger Aktivitäten und Entscheidungen in die Zukunft. Demzufolge sind Aussagen zur Nachhaltigkeit „was wäre, wenn“-Aussagen, die mögliche Konsequenzen eines bereits eingeschlagenen Aktionspfades beschreiben.“ Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Conseil d’Analyse économique: Expertise „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikato- rensystem“ (Dezember 2010), S. 107. 2. Vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2010/11, Tz 336. Abrufbar unter: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 9 Aufgrund des langen Projektionshori- dass die Ausgaben für den Zinsendienst zonts sind Tragfähigkeitsberechnungen von Jahr zu Jahr größeren Raum einneh- mit erheblichen Unsicherheiten behaftet men, dann schränkt dies den Handlungs- und können somit nur Modellcharakter spielraum des Staates zunehmend ein. In haben. Um das deutlich zu unterstrei- diesem Zusammenhang müssen auch die chen, kommen in diesem Bericht zwei Ba- wichtigsten Ausgabenbereiche des Staa- sisvarianten zum Einsatz: Die „Variante tes regelmäßig auf ihre Effizienz und auf T–“ ist von einem durchgängigen Pessi- ihre dauerhafte Finanzierbarkeit hin mismus getragen, während die „Variante überprüft werden. T+“ durchgängig optimistische Annah- Tragfähige Staatsfinanzen bringen men enthält. Zusammen genommen be- auch wichtige Vertrauenseffekte mit schreiben die beiden Varianten einen sich: Wenn beispielsweise die Finanz- Korridor möglicher künftiger Entwicklun- märkte darauf vertrauen, dass ein Staat gen, ohne dass die dahinter stehenden ein zuverlässiger und leistungsfähiger Szenarien als extrem erscheinen. So wird Schuldner ist, dann sind sie bereit, diesem es möglich, Risiken und Chancen für die Staat zu vergleichsweise günstigen Kondi- Sicherung langfristig solider Staatsfinan- tionen Geld zu leihen. Die Schuldenlast ist zen aufzuzeigen, ohne den Blick von vorn- dann deutlich geringer als bei einem herein auf eine mehr oder minder willkür- Staat, dem weniger Vertrauen entgegen lich ausgewählte Linie zu verengen. Kom- gebracht wird und der infolgedessen Zins- plettiert wird die Darstellung der beiden aufschläge in Kauf nehmen muss. Darü- Basisvarianten von Alternativrechnun- ber hinaus wirkt sich die Erwartung von gen, die den Einfluss abweichender An- Bürgern und Unternehmen, dass ein Staat nahmen und Berechnungsansätze veran- auch in Zukunft handlungsfähig sein schaulichen. wird, positiv auf Investitionen und Kon- sum aus. Zweifel an der Solidität der Staatsfinanzen können dagegen sowohl 1.2 Ökonomische Bedeu- bei Unternehmen als auch bei Konsumen- tung tragfähiger öffent- ten zu einem zögerlichen, abwartenden Verhalten führen und damit das Wirt- licher Finanzen schaftswachstum dämpfen. Daher ist es im ureigenen Interesse eines jeden Staa- Solide öffentliche Finanzen garantieren tes, mit einer umsichtigen und voraus- die Handlungsfähigkeit des Staates. So schauenden Fiskalpolitik dafür zu sorgen, hat beispielsweise die Finanzmarkt- und dass erst gar keine Zweifel an seiner dau- Wirtschaftskrise gezeigt, dass ein Staat, erhaften Solidität aufkommen. der in schlechten Zeiten finanzielle Spiel- Zwischen einer soliden Haushaltsfüh- räume besitzt, durch entschlossenes Han- rung und einem dauerhaften Wirt- deln dazu beitragen kann, die wirtschaft- schaftswachstum bestehen wichtige liche Entwicklung zu stabilisieren. Aber Rückkopplungseffekte: Einerseits ist auch in guten Zeiten sind solide Staatsfi- „gute“ Finanzpolitik eine wichtige Vor- nanzen unerlässlich, um beispielsweise aussetzung für dauerhaft günstige wichtige Zukunftsinvestitionen finanzie- Wachstums- und Beschäftigungsbedin- ren zu können, etwa in den Bereichen Bil- gungen. Umgekehrt gilt aber auch: An- dung und Forschung. Wenn dagegen ein haltendes Wirtschaftswachstum und ein steigender Schuldenstand dazu führt, damit einhergehender Beschäftigungsan-
Seite 10 Einführung stieg schaffen die besten Voraussetzun- schwere Fehler zu vermeiden. Vielmehr gen für solide finanzierte öffentliche gilt es, die wachstumsorientierte struktu- Haushalte. Entscheidend ist dabei unter relle Konsolidierung des Haushalts voran- anderem die so genannte Schulden- zutreiben und eine strikte Ausgabendiszi- standsquote, also der Schuldenstand des plin beizubehalten. Deshalb sollten kon- Staates im Verhältnis zum nominalen junkturell bedingte Verbesserungen der Bruttoinlandsprodukt. Sie zeigt an, wie öffentlichen Haushalte zur Senkung der hoch die Last, die ein Staatshaushalt zu Neuverschuldung eingesetzt werden. Ins- tragen hat, relativ zur Wirtschaftskraft besondere in wirtschaftlich guten Zeiten des Landes ist. Ein Anstieg des Schulden- gilt es, die Haushalte konsequent zu kon- stands ist nur dann grundsätzlich unpro- solidieren. blematisch, wenn die Wachstumsrate des Aus finanzpolitischer Sicht markiert Schuldenstands dauerhaft unterhalb der das Jahr 2011 einen Wendepunkt. Zum ei- Wachstumsrate der Wirtschaftskraft nen kam erstmals bei der Aufstellung des bleibt. Die Schuldenstandsquote sinkt da- Bundeshaushalts 2011 die im Grundgesetz durch langfristig auf ein tragbares Ni- verankerte neue Schuldenregel zur An- veau. wendung, die einen zentralen Beitrag zur Sicherung tragfähiger öffentlicher Finan- zen leistet. Zum anderen mussten die zur 1.3 Ausgangslage Krisenbewältigung ergriffenen konjunk- turstützenden Maßnahmen zurückge- Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise führt werden, ohne gleichzeitig das hat sich in fast allen Industriestaaten Wachstum zu dämpfen. Die Schuldenre- spürbar auf die öffentlichen Finanzen aus- gel folgt der Einsicht, dass weder Ausga- gewirkt. Sowohl der öffentliche Schulden- benerhöhungen noch Steuersenkungen stand als auch das Staatsdefizit haben sich dauerhaft über Kreditaufnahme finan- nicht nur in Deutschland im Verlauf der ziert werden dürfen. Damit zielt die neue Krise erheblich ausgeweitet. Gleichzeitig Regel auf anhaltende strukturelle Haus- ist die Frage der Tragfähigkeit der Staatsfi- haltsverbesserungen ab. Vor diesem nanzen sowohl bei der Bewertung der Hintergrund hat die Bundesregierung ein Kreditwürdigkeit von Staaten als auch in Bündel von Maßnahmen ergriffen, um die der öffentlichen Wahrnehmung in den öffentlichen Finanzen nachhaltig zu sa- Fokus gerückt. Ein weiterer Anstieg der nieren. Dabei steht die wachstums- Schuldenstandsquote – ausgehend von freundliche Konsolidierung im Vorder- dem bereits sehr hohen Niveau – ist unter grund, denn es wäre verfehlt, Konsolidie- dem Gesichtspunkt der Tragfähigkeit rungsmaßnahmen zu ergreifen, die mit nicht mehr hinnehmbar. einer Schwächung der wirtschaftlichen Deutschland befindet sich nach wie Leistungsfähigkeit einhergehen. Daher vor in einem Wirtschaftsaufschwung. hat die Bundesregierung bei der Auswahl Die günstige konjunkturelle Entwicklung ihrer Konsolidierungsmaßnahmen in ih- hat auch unmittelbare Auswirkungen auf rem haushaltspolitischen „Zukunftspa- die staatlichen Einnahmen und Ausgaben ket“ den Schwerpunkt auf wachstums- und erleichtert so den Konsolidierungs- freundliche Politik gelegt. Dies zeigt sich prozess. Allerdings kommt es gerade in unter anderem in der Priorität für Ausga- wirtschaftlich guten Zeiten darauf an, in ben im Bereich Bildung und Forschung. der Finanzpolitik möglicherweise folgen-
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 11 Die konjunkturelle Erholung und die 1.4.1 Auswirkungen der ersten Erfolge der Konsolidierungspolitik werden im Haushaltsvollzug des Bundes Finanzmarkt- und 2011 sichtbar. So wird es der Bundesregie- rung im laufenden Jahr voraussichtlich Wirtschaftskrise gelingen, die tatsächliche Neuverschul- dung des Bundes auf eine Größenord- Die öffentlichen Finanzen in Deutschland nung von rund 30 Mrd. € zu reduzieren wurden durch die Krise erheblich in Mit- (Soll 2011: 48,4 Mrd. €). Die konsequente leidenschaft gezogen. Dabei wurden die Einhaltung eines wachstumsorientierten Auswirkungen sowohl auf der Einnah- Konsolidierungskurses bleibt auch in Zu- menseite als auch insbesondere auf der kunft die wesentliche wirtschafts- und fi- Ausgabenseite sichtbar. In der Rezession nanzpolitische Aufgabe. gingen die Steuereinnahmen deutlich zu- rück, dagegen stiegen die Ausgaben bei- spielsweise im Bereich der Arbeitslosen- 1.4 Mögliche Risiken für versicherung stark an. Zudem waren die Tragfähigkeit der staatliche Stabilisierungsmaßnahmen er- forderlich, um die Auswirkungen des kon- öffentlichen Finanzen junkturellen Einbruchs – über die automa- tischen Stabilisatoren hinaus – abzumil- Bis vor einigen Jahren wurden Risiken für dern und die Funktionsfähigkeit der Fi- die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen nanzmärkte zu gewährleisten. hauptsächlich im Zusammenhang mit Nach nahezu ausgeglichenen Haushal- den Herausforderungen durch den demo- ten in den Jahren 2007 und 2008 ver- grafischen Wandel gesehen. Die Auswir- schlechterte sich der gesamtstaatliche Fi- kungen der Krise haben jedoch nach- nanzierungssaldo in Deutschland im Jahr drücklich verdeutlicht, dass auch der er- 2009 auf ein Defizit von 3,2 % in Relation reichte Schuldenstand und die Haushalts- zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahr situation am aktuellen Rand die langfris- 2010 wurde mit einer Defizitquote von tige Solidität der Staatsfinanzen gefähr- 4,3 % der Maastricht-Referenzwert von 3 % den können.3 des BIP deutlich überschritten (siehe Ab- bildung 1). Für das Jahr 2011 geht die Bundesregierung davon aus, dass sich der Finanzierungssaldo jedoch schon wieder merklich auf ein Defizit von rund 1 ½ % ver- bessern wird. Damit erfüllt Deutschland die Vorgaben des Europäischen Stabi- litäts- und Wachstumspakts bereits zwei Jahre früher als im Defizitverfahren gegen Deutschland gefordert. 3. So identifiziert beispielsweise der im Jahr 2009 veröffentlichte Tragfähigkeitsbericht („Sustainability Re- port“) der EU-Kommission für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur mögliche fiskalische Belas- tungen aus der Bevölkerungsalterung, sondern auch Risiken einer mangelnden Konsolidierung der Staatsfinan- zen in der kurzen und mittleren Frist.
Seite 12 Einführung Abbildung 1: Ausgaben, Einnahmen und Finanzierungssaldo des Staates - in % des BIP - 50 9 49 8 48 7 47 6 46 5 45 4 44 3 43 2 42 0,2 0 1 41 0 -0,1 -0 40 - 1/2 -1 -1 39 -1,3 -1,3 -2 -1,6 -1,7 38 -2,4 -2,5 -2,3 -3 -2,9 -3,0 -2,8 -3,0 -3,1 -3,2 37 -3,4 -3,3 -4 -3,8 -3,8 -4,2 36 -4,3 -5 35 -6 1) 2) 1991 1995 2000 2005 2010 2015 gesamtstaatlicher Finanzierungssaldo (rechte Skala) Staatsquote (linke Skala) Einnahmequote (linke Skala) 1) Ohne die Vermögenstransfers infolge der Übernahme der Schulden der Treuhandanstalt und der Wohnungsbau- unternehmen der DDR. Inklusive dieses Effekts belief sich das gesamtstaatliche Defizit auf 9,5 % des BIP. 2) Ohne UMTS-Erlöse. Inklusive dieses Effekts wies der Staatshaushalt einen Überschuss in Höhe von 1,1 % des BIP auf. Quellen: Statistisches Bundesamt für Ist-Daten (Stand: September 2011), Projektion: Bundesministerium der Finanzen (Stand: Juli 2011) Der gesamtstaatliche Schuldenstand Der mittlerweile erreichte staatliche stieg in Folge der Krise von 74,4 % im Jahr Schuldenstand kann jedoch nicht allein 2009 auf 84,2 % im Jahr 2010 an. Dieser durch die Auswirkungen der Krise erklärt starke Anstieg geht insbesondere darauf zu- werden. Vielmehr ist die Verschuldung von rück, dass die neu errichteten Abwicklungs- Bund, Ländern und Gemeinden bereits seit anstalten der Hypo Real Estate und der den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegen West LB dem Sektor Staat zugeordnet wur- (Abbildung 2). Im gleichen Zeitraum sind den und somit in den Schuldenstand ein- auch die Ausgaben für den Schuldendienst fließen. Bei einer Betrachtung ohne Berück- erheblich angestiegen. sichtigung aller Finanzmarktstabilisie- rungsmaßnahmen hätte sich für 2010 eine Schuldenstandsquote in Höhe von rund 70 % ergeben.
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 13 Abbildung 2: Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts in Relation zum BIP (%), 1950 bis 2010 90 80 70 Gemeinden 60 Länder Extrahaushalte des Bundes 50 Bund 40 30 20 10 0 *) 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 20 8 0 10 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 *=neue Systematik Quelle: Bundesministerium der Finanzen 1.4.2 Herausforderungen ten wird in Deutschland der Anteil der Per- sonen, die 65 Jahre und älter sind, stark zu- durch den demografi- nehmen. Der Anteil der Personen im er- werbsfähigen Alter wird dagegen deutlich schen Wandel zurückgehen. Diese Veränderungen in der Altersstruktur unserer Gesellschaft führen Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der bei ansonsten unveränderten Rahmenbe- öffentlichen Finanzen ergeben sich nicht dingungen dazu, dass die vom Alter der nur aus dem sprunghaften Anstieg des Bürger abhängigen staatlichen Ausgaben Schuldenstands im Zuge der Finanzmarkt- ansteigen, während sich die staatlichen Ein- und Wirtschaftskrise und der damit ver- nahmen ohne Gegensteuern vergleichs- bundenen Einschränkung des finanzpoliti- weise schwächer entwickeln werden. Infol- schen Handlungsspielraums. Ein maßgeb- gedessen wird sich der Druck auf die öffent- licher zusätzlicher Risikofaktor ist die be- lichen Haushalte in Zukunft tendenziell er- reits heute absehbare demografische Ent- höhen. wicklung: In den kommenden Jahrzehn-
Seite 14 Einführung Abbildung 3: Entwicklung des Bevölkerungsanteils unterschied- licher Altersgruppen in Deutschland von 1871 bis 2060 ... bei vergleichsweise starker Bevölkerungsalterung (Variante 2-W1) 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1871 1939 1960 1980 2000 2009 2020 2040 2060 Anteil in % Kalenderjahr unter 20 Jahren 65 Jahre und älter 80 Jahre und älter ... bei schwächerer Bevölkerungsalterung (Variante 3-W2) 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1871 1939 1960 1980 2000 2009 2020 2040 2060 Kalenderjahr Anteil in % unter 20 Jahren 65 Jahre und älter 80 Jahre und älter Quelle: Statistisches Bundesamt
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 15 Da demografische Entwicklungen erheb- Um mögliche Folgen für die fiskalische lichen Einfluss auf die öffentlichen Haus- Entwicklung in ihrer ganzen Breite abbil- halte haben und zugleich eine vergleichs- den zu können, wurden hier solche An- weise gut vorhersehbare Einflussgröße nahmen verwendet, die zu vergleichs- darstellen, bilden sie einen Schwerpunkt weise großen Abweichungen in der künf- der Modellrechnungen zur Tragfähigkeit. tigen Altersstruktur der Bevölkerung füh- Die in den Modellrechnungen verwende- ren. Denn es ist vor allem die Alterung der ten Daten zur demografischen Entwick- Bevölkerung – weniger die Entwicklung lung beruhen auf den Ergebnissen der der absoluten Einwohnerzahl – von der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausbe- Risiken für die Tragfähigkeit der öffent- rechnung, die im Jahr 2009 vom Statisti- lichen Finanzen ausgehen. An der schen Bundesamt in Zusammenarbeit mit Schlussfolgerung, dass es zu gravierenden den Statistischen Ämtern der Länder er- Veränderungen im Altersaufbau der Be- stellt wurde. Darin werden unterschiedli- völkerung kommen wird, hat sich seit Be- che Annahmen über die Determinanten ginn der Tragfähigkeitsberichterstattung der Bevölkerungsentwicklung, zu denen des BMF nichts geändert: Die Jahrgänge neben der Lebenserwartung auch die je- im hohen und höchsten Alter bekommen weils unterstellten Geburtenraten und ein merklich höheres, die jüngeren ein Wanderungssalden zählen, miteinander deutlich geringeres Gewicht. kombiniert. Den Modellrechnungen in Die aktuelle und absehbare demogra- diesem Bericht liegen zwei verschiedene fische Entwicklung in Deutschland und Varianten zur Fortschreibung der demo- die Auswirkungen des demografischen grafischen Entwicklung zu Grunde. Die Wandels auf einzelne Politikbereiche pessimistischere Variante geht von einer werden erstmals in einem ressortüber- vergleichsweise starken Bevölkerungsal- greifenden Demografiebericht der Bun- terung aus, während die Alterung in der desregierung („Bericht der Bundesregie- optimistischeren Variante schwächer aus- rung zur demografischen Lage und künf- fällt (siehe Abbildung 3). tigen Entwicklung des Landes“) ausführ- lich beschrieben. Der Bericht verschafft zudem einen Überblick über die bislang ergriffenen Maßnahmen des Bundes zur Gestaltung des demografischen Wandels. Er wird Ende Oktober veröffentlicht. Zu- gleich bildet er die Grundlage für die De- mografiestrategie der Bundesregierung, die sie im Frühjahr 2012 vorlegen wird. Innerhalb der Bundesregierung werden Demografiebericht und Demografiestra- tegie federführend durch das Bundesmi- nisterium des Innern koordiniert.
Seite 16 Einführung 1.4.3 Sonstige Risiken Demgegenüber sind die zur Stabilisie- rung der Europäischen Wirtschafts- und Neben dem krisenbedingten Anstieg der Währungsunion getroffenen Maßnah- Schuldenstandsquote und der zukünfti- men bereits in den Modellrechnungen gen demografischen Entwicklung besteht enthalten. So sind die bilateralen Maß- eine Vielzahl von weiteren Herausforde- nahmen für Griechenland, die anteiligen rungen für die Tragfähigkeit der Staatsfi- Kredite der EFSF an Irland und Portugal nanzen. So stellen beispielsweise der Kli- sowie die zukünftigen Einzahlungen an mawandel und der verstärkte Ausbau der den Europäischen Stabilitätsmecha- Erneuerbaren Energien Herausforderun- nismus (ESM) in der Mittelfristprojektion gen dar, die zu dauerhaften Veränderun- zur Entwicklung der Schuldenstands- gen der staatlichen Einnahmen und Aus- quote berücksichtigt. Sobald die Kredite gaben führen werden. wieder zurückgezahlt werden, wird sich Allerdings lassen sich diese mittel- und die Schuldenstandsquote entsprechend langfristigen Herausforderungen für die verringern. Zukünftige Belastungen für öffentlichen Finanzen – anders als die re- die öffentlichen Finanzen sind hieraus lativ gut projizierbare demografische Ent- nicht zu erwarten, sofern es zu keinen wicklung – zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ausfällen kommt. kaum verlässlich in die Zukunft fort- Der weitere Aufbau des Berichts ist schreiben. Eine Quantifizierung dieser wie folgt: Kapitel 2 zeigt die Ergebnisse möglichen Risiken würde im Rahmen der der aktualisierten Modellrechnungen zur hier vorgenommenen Tragfähigkeitsana- Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. lysen kaum zu belastbaren Aussagen füh- Die Resultate für den Zeitraum 2010 bis ren.4 Daher sind die möglichen Auswir- 2060 verdeutlichen – unter bestimmten kungen dieser Herausforderungen be- Annahmen – wie groß der politische wusst nicht Gegenstand der Modellrech- Handlungsbedarf zur Sicherung der Trag- nungen, die diesem Bericht zugrunde lie- fähigkeit bereits heute ist. Kapitel 3 legt gen. die bereits erfolgten Reformen der Bundesregierung dar und zeigt weitere politische Handlungsoptionen auf. Neben der Finanzpolitik im engeren Sinne (vgl. Kapitel 3.2) beeinflussen auch die Ent- scheidungen in vielen anderen Politikbe- reichen die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen (vgl. Kapitel 3.3). Kapitel 4 schließt den Bericht mit einem Fazit ab. 4. Ein im Auftrag des BMF erstelltes Gutachten hat gezeigt, dass sich das Ausmaß der aus dem Klima- wandel entstehenden fiskalischen Belastungen kaum zuverlässig abschätzen lässt (Ecologic Institut/ Infras (2009): „Klimawandel: Welche Belastungen entstehen für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen?“).
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 17 II. Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen 2.1 Erläuterungen zur Dazu zählen vor allem die von der EU- Methodik Kommission bei der Prüfung der Stabi- litäts- und Konvergenzprogramme der Mitgliedstaaten genutzten Verfahren und 2.1.1 Messkonzept die dort ermittelten „Sustainability Gaps“. Was Deutschland betrifft, haben sie im er- Bei der Entwicklung von Indikatoren, mit sten Tragfähigkeitsbericht des BMF eine denen die Tragfähigkeit der gegenwärti- frühe Verwendung gefunden. Sie wurden gen Finanzpolitik geprüft werden kann, zuletzt auch vom Sachverständigenrat hat es in einschlägigen Untersuchungen zur Begutachtung der gesamtwirtschaft- zwei Entwicklungsstränge gegeben, die lichen Entwicklung im Rahmen seiner ei- über einige Jahre getrennt verfolgt wur- genen Arbeiten auf diesem Gebiet einge- den. Einerseits wurden Maßstäbe entwi- setzt. ckelt, die sich bei der Ermittlung erst Die folgenden Ausführungen bezie- künftig entstehender Zahlungsverpflich- hen sich auf die Ergebnisse eines vom tungen des Staates eng an gängige Ver- BMF vergebenen und von Prof. Martin fahren der Planung und Analyse der lau- Werding, Ruhr-Universität Bochum, in fenden Haushaltspolitik und damit an die Kooperation mit ifo, München, bearbeite- gewohnte Messung expliziter öffentlicher ten Forschungsauftrags. Der Abschlussbe- Verschuldung anlehnen (so die ursprüng- richt dazu wird in zeitlicher Nähe zum lichen Arbeiten der OECD). Andererseits Tragfähigkeitsbericht veröffentlicht und wurden Ansätze mit mehr theoretischer enthält eine detaillierte Beschreibung Fundierung konzipiert, deren Ziel zu- sämtlicher hier vorgestellter Modellrech- nächst vor allem in der Messung von Be- nungen. lastungs- und Verteilungseffekten fiskali- Das grundsätzliche Vorgehen hat sich scher Maßnahmen auf der Mikroebene gegenüber dem Zweiten Tragfähigkeits- bestand (Konzept der Generationenbilan- bericht des BMF nicht verändert, der Zeit- zierung). horizont wurde in Anpassung an die jüng- Inzwischen sind allerdings längst An- sten Bevölkerungsvorausberechnungen sätze entstanden, die Elemente beider des Statistischen Bundesamtes aber bis in Entwicklungsstränge in sich vereinen. das Jahr 2060 ausgedehnt. Die Gutachter
Seite 18 Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen analysieren auf der Grundlage von An- die neben der Summe der bisher aufge- nahmen über die demografische Entwick- laufenen Defizite auch künftig zu erwar- lung und einer damit konsistenten ge- tende Belastungen einbeziehen. Das ge- samtwirtschaftlichen Entwicklung, wel- schieht einmal im Jahr bei der Prüfung chen Verlauf die öffentlichen Ausgaben der Stabilitäts- und Konvergenzpro- (am BIP gemessen) in den Bereichen neh- gramme jedes einzelnen Landes, außer- men könnten, die von Verschiebungen in dem in einer Querschnittsuntersuchung der Altersstruktur der Bevölkerung vor- für sämtliche Mitgliedstaaten im jährlich aussichtlich besonders betroffen sein wer- vorgelegten „Public Finance Report“ und den. Die Ausgaben der gesetzlichen Ren- in einem nur diesem Thema gewidmeten tenversicherung, gefolgt von den Ausga- Tragfähigkeitsbericht, den die Kommis- ben der gesetzlichen Krankenversiche- sion immer dann ausarbeitet, wenn auf rung, haben darunter das höchste Ge- Gemeinschaftsebene neue Modellrech- wicht, aber auch die Ausgaben der ande- nungen zu den Auswirkungen der Bevöl- ren Zweige der Sozialversicherung und kerungsalterung auf die Staatsfinanzen die Beamtenversorgung, sowie die staat- vorliegen. Der jüngste derartige Bericht lichen Bildungsausgaben und der Famili- der Kommission („Sustainability Report“) enleistungsausgleich werden mit Blick stammt aus dem Jahr 2009. auf demografisch bedingte Änderungen untersucht. Unter der Annahme konstan- Erläuterung der Kennziffern ter Quoten für alle übrigen Ausgabenbe- reiche und einer ebenfalls konstanten Ein- Zur Einschätzung etwaiger Risiken für die nahmenquote werden daraus Projektio- langfristige Tragfähigkeit der öffent- nen für die Staatsquote, die gesamtstaat- lichen Finanzen weist die Kommission re- lichen Finanzierungssalden und den gelmäßig zwei Indikatoren aus: In einem Schuldenstand abgeleitet und die Ergeb- Fall (Tragfähigkeitslücke S1) wird bis nisse zu Indikatoren für die langfristige zum Ende des Projektzeitraums in sämt- Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen lichen Mitgliedstaaten ein Erreichen des in Deutschland zusammengefasst. Maastricht-Kriteriums für die Schulden- standsquote (60% in Relation zum BIP) ver- 2.1.2 Tragfähigkeitsindikato- langt. Im anderen Fall (Tragfähigkeitslü- cke S2) wird gefordert, dass der Staat sei- ren der EU-Kommission nen expliziten wie impliziten Verbind- lichkeiten auf Dauer nachkommen kann. („sustainability gaps“) Wird die vorab festgelegte Bedingung - bei Einrechnung der budgetären Effekte Für die Operationalisierung des Tragfä- der Bevölkerungsalterung - nicht erfüllt, higkeitsziels und für die Abschätzung er- entstehen Tragfähigkeitslücken. Sie be- forderlicher Maßnahmen zur Sicherung schreiben das Ausmaß der notwendigen der langfristigen Solidität der öffent- Anpassung in Form einer Verringerung lichen Finanzen gibt es unterschiedliche der sich andernfalls einstellenden Defizit- Möglichkeiten. Bei der haushaltspoliti- quoten (genauer in einer Verbesserung schen Überwachung der EU-Mitgliedstaa- der strukturellen Primärsalden). Weitere ten stützen sich der Rat der Wirtschafts- Darstellungsformen sind möglich und und Finanzminister und die Europäische werden von der EU-Kommission auch ge- Kommission wie das BMF auf Indikatoren, nutzt. Zum Beispiel wird über eine Zerle-
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 19 gung der Indikatoren in unterschiedliche dauerhaften Erhöhung des staatlichen Komponenten aufgezeigt, welcher Teil Primärsaldos ausweisen. Das hat auch der der Lücke schon in der gegenwärtigen Sachverständigenrat zur Begutachtung Haushaltslage angelegt ist und welcher der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Teil erst im Laufe der Zeit über die Zu- in seiner diesjährigen Frühjahrsexpertise nahme der alterungsbedingten Ausgaben so gesehen. entsteht. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, Die Indikatoren legen damit Hand- dass die Resultate derartiger Rechnungen lungsbedarfe offen. Spezifische politische in der augenblicklichen Situation mit be- Handlungsanweisungen ergeben sich aus sonderen Unsicherheiten behaftet sind. den so errechneten Werten nicht: Er- Einerseits lässt sich die strukturelle Aus- reicht werden kann ein Schließen der gangsposition der öffentlichen Haushalte Tragfähigkeitslücken grundsätzlich so- derzeit nur schwer korrekt beurteilen. So- wohl über eine Verringerung des Anteils fern die vor dem Hintergrund der Finanz- der öffentlichen Ausgaben am BIP als markt- und Wirtschaftskrise getroffenen auch über eine Steigerung des Anteils der befristeten Maßnahmen nicht vollständig öffentlichen Einnahmen. Zudem bleibt of- aus den strukturellen Haushalten heraus- fen, welche Maßnahmen zu welchem Zeit- gefiltert worden sind, könnte das Tragfä- punkt ergriffen werden sollten, damit es higkeitsrisiko überschätzt worden sein. zu den notwendigen Änderungen auf der Andererseits könnten die Wachstums- Ausgabenseite und/oder Einnahmenseite möglichkeiten der Volkswirtschaften auf kommt. längere Sicht stärker Schaden genommen Die am Ende der Rechnungen ausge- haben als bisher angenommen. In diesem wiesenen Kennziffern lassen leicht ver- Fall würden die Tragfähigkeitsrisiken gessen, dass dahinter extrem lang ange- unterschätzt. Auch das spricht dafür, in legte Projektionen mit entsprechend ho- entsprechenden Analysen mit unter- hen Unwägbarkeiten stehen. Sie werden schiedlichen Szenarien zu arbeiten, die stark von den zuvor getroffenen Annah- solche Unwägbarkeiten veranschaulichen men gesteuert. Das zeigt sich bei entspre- können. In den Modellrechnungen für chenden Sensitivitätsanalysen. Daher ist Deutschland, die diesem Tragfähigkeits- Vorsicht bei der Interpretation der nume- bericht zugrunde liegen, ist genau das ge- rischen Ergebnisse angebracht. Das gilt schehen. erst recht, wenn die Ungleichgewichte in den öffentlichen Haushalten nicht wie im Falle S1 und S2 in einer periodischen „Stromgröße“ sondern als einmalige „Be- standsgröße“ ausgewiesen werden. Das ist zum Beispiel bei der Kalkulation einer im- pliziten Staatschuld der Fall, die sich aus der Addition der Barwerte künftig anfal- lender Defizite ergibt. Deren Höhe ist vom jeweils unterstellten Zins- bzw. Diskontie- rungssatz wesentlich stärker abhängig als die auf Gemeinschaftsebene üblicher- weise genutzten Indikatoren, die etwa er- forderliche Anpassungen in Form einer
Seite 20 Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen 2.2 Annahmen der Modell- Einen Überblick über sämtliche An- nahmen, sowohl in Variante T– als auch in rechnungen Variante T+, gibt Tabelle 1. Die unter- schiedlichen Projektionen zur demografi- Die beiden Basisvarianten, die für Zwecke schen Entwicklung wirken sich unter an- des BMF-Tragfähigkeitsberichts konzi- derem spürbar auf den Altenquotient aus: piert wurden, beruhen auf divergieren- Während der Quotient in Variante T– von den Annahmen zur langfristigen Entwick- 31,2 im Jahr 2010 über 50,5 im Jahr 2030 lung in den Bereichen Demografie, Ar- auf 68,5 im Jahr 2060 steigt, verläuft der beitsmarkt und sonstige gesamtwirt- Anstieg in Variante T+ deutlich gedämpf- schaftliche Entwicklung. Hinsichtlich ih- ter – hier erreicht der Altenquotient im rer Konsequenzen für die langfristige Jahr 2060 einen Wert von 54,9. Die An- Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen nahmen zur Erwerbslosenquote gehen in sind diese Annahmen einerseits von ei- Variante T– von einer vergleichsweise ho- nem gewissen durchgängigen Pessi- hen strukturellen Arbeitslosigkeit in Höhe mismus („Variante T–“), andererseits von von 5,8 % über den gesamten Projektions- einem gewissen durchgängigen Opti- zeitraum aus, während in Variante T+ mismus („Variante T+“) getragen. So wer- eine deutlich günstigere Entwicklung der den in Variante T+ zum Beispiel hinsicht- Erwerbslosenquote angenommen wird lich der demografischen Entwicklung (Rückgang bis auf 3,4 % im Jahr 2060). Zu- eine höhere Geburtenrate und eine grö- sammen genommen wirken sich die An- ßere Zuwanderung unterstellt als in Vari- nahmen zur demografischen Entwick- ante T–. Ausgangsjahr ist das Jahr 2010, lung, zur Höhe der Erwerbsbeteiligung für das bei der Durchführung der Rech- und zur Erwerbslosigkeit unmittelbar auf nungen für die meisten relevanten Grö- die Anzahl der Erwerbstätigen aus: In Va- ßen bereits Ist-Daten oder zumindest ver- riante T– sinkt die Zahl der Erwerbstäti- lässliche Schätzwerte vorlagen.5 Berück- gen von 40,5 Mio. Personen im Jahr 2010 sichtigt wurden außerdem einschlägige über 36,1 Mio. Personen im Jahr 2030 auf Eckdaten der mittelfristigen Finanzpla- 29,2 Mio. Personen im Jahr 2060. In Vari- nung der Bundesregierung mit dem End- ante T+ ergibt sich dagegen ein deutlich jahr 2015. langsamerer Rückgang, mit 38,8 Mio. er- werbstätigen Personen im Jahr 2030 und 35,7 Mio. erwerbstätigen Personen im Jahr 2060. 5. Für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) lagen die Ergebnisse des Statistischen Bun- desamtes vom Jahresanfang 2011 zugrunde. Die große VGR-Revision, deren Ergebnisse das Statistische Bundesamt zum 1. September 2011 veröffentlichte, ist demzufolge hier nicht berücksichtigt. Tabelle rechts: a) Angaben für 2010 basieren auf Ist-Daten aus der amtlichen Statistik (die bei der Erstellung der Projektionen teilweise noch als Bevölkerungsvorausschätzung: Statistisches Bundesamt (2009). b) Personen im Alter 65+ je 100 Personen im Alter 15-64. c) In % aller Erwerbspersonen; international standardisierte Definition. d) Reale Wachstumsraten (jahresdurchschnittliche Werte im vorangegangenen 10-Jahres-Zeitraum). Quelle: Werding/ifo 2011
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 21 Tabelle 1: a) Annahmen für die Projektionen (Variante „T-“) 2010 a) 2020 2030 2040 2050 2060 Demografie: Wohnbevölkerung (Mio.) 81,6 80,2 78,2 75,2 71,4 66,9 Altenquotient b) 31,2 37,0 50,5 60,0 64,3 68,5 Arbeitsmarkt: Erwerbsbeteiligung (%) - Frauen (15-64) 74,5 76,3 76,9 78,8 79,7 80,5 - Männer (15-64) 83,8 84,1 84,3 85,5 85,8 86,5 Erwerbspersonen (Mio.) 43,3 42,0 38,2 35,5 33,4 30,9 Erwerbstätige (Mio.) 40,5 39,7 31,6 33,6 31,5 29,2 Registrierte Arbeitslose (Mio.) 3,2 2,8 2,5 2,3 2,2 2,0 Erwerbslosenquote (%) c) 6,8 5,8 5,8 5,8 5,8 5,8 Gesamtwirtschaft: Arbeitsproduktivität d) (%) 0,5 1,5 1,7 1,5 1,4 1,4 Bruttoinlandsprodukt (%) d) 0,9 1,3 0,7 0,8 0,8 0,6 BIP pro Kopf d) (%) 0,9 1,5 1,0 1,2 1,3 1,3 b) Annahmen für die Projektionen (Variante „T+“) 2010 a) 2020 2030 2040 2050 2060 Demografie: Wohnbevölkerung (Mio.) 81,6 80,8 80,2 78,8 76,7 74,5 Altenquotient b) 31,2 36,1 47,5 53,5 54,0 54,9 Arbeitsmarkt: Erwerbsbeteiligung (%) - Frauen (15-64) 74,5 76,6 77,9 79,4 80,1 80,9 - Männer (15-64) 83,8 84,8 85,7 86,2 86,6 87,2 Erwerbspersonen (Mio.) 43,3 42,7 40,2 38,5 37,9 36,8 Erwerbstätige (Mio.) 40,5 40,8 38,8 37,3 36,7 35,7 Registr. Arbeitslose (Mio.) 3,2 2,3 1,7 1,5 1,5 1,4 Erwerbslosenquote c) (%) 6,8 4,7 3,7 3,4 3,4 3,4 Gesamtwirtschaft: Arbeitsproduktivität d) (%) 0,5 1,6 1,9 1,8 1,7 1,7 Bruttoinlandsprodukt (%) d) 0,9 1,6 1,4 1,4 1,5 1,4 d) BIP pro Kopf (%) 0,9 1,7 1,5 1,6 1,8 1,7
Seite 22 Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Als Rechtsstand lagen den beiden Ba- sein dürfte, lässt einen Rückgang gemäß sisvarianten die zu Jahresbeginn 2011 gel- der unter günstigen Bedingungen in der tenden gesetzlichen Rahmenbedingun- Variante T+ schon im Vorgängerbericht gen für alle einzeln erfassten Bereiche der erwarteten Größenordnung dagegen öffentlichen Finanzen zugrunde, ein- durchaus wieder möglich erscheinen, zu- schließlich darin bereits geregelter, je- gleich wurde die ungünstige Variante T– doch erst während des Projektionszei- in dieser Hinsicht weniger pessimistisch traums wirksam werdender Änderungen. angelegt. Dafür spricht nicht zuletzt die Vorgaben für die Entwicklung des ge- zu erwartende Knappheit beim Faktor Ar- samtstaatlichen Defizits oder der gesamt- beit, die zur weiteren Integration von Er- staatlichen Verschuldung in Form spezifi- werbslosen in den Arbeitsmarkt führen scher Haushaltsregeln wurden jenseits sollte. Unter diesen Umständen wäre von des Zeithorizonts der mittelfristigen Fi- dieser Seite nicht nur mit verringerten nanzplanung nicht gemacht. Andernfalls Transferleistungen und einer deutlichen würden langfristig entstehende Belastun- Verminderung des Drucks auf die öffent- gen – wie sie sich aus den Folgen des de- lichen Haushalte zu rechnen. Auch das ge- mografischen Wandels aber auch als Kon- samtwirtschaftliche Wachstum fiele auf- sequenz einer ungünstigen Haushaltslage grund der dann höheren Beschäftigung am aktuellen Rand und einer dadurch zu- günstiger aus. nehmenden Staatsverschuldung ergeben Der Entwicklungspfad für das Bruttoin- könnten – eher verschleiert als aufge- landsprodukt wurde in beiden Basisvari- deckt. anten erneut nicht exogen vorgegeben, Zusammen genommen beschreiben sondern wie in den vorherigen Projektio- die beiden Varianten einen Korridor mög- nen aus einer Produktionsfunktion abge- licher künftiger Entwicklungen, ohne leitet. Die Bandbreite der sich dann ab- dass die dahinter stehenden Szenarien als zeichnenden Entwicklung für das gesamt- extrem erscheinen. Wie schwierig das ins- wirtschaftliche Produktionspotential spie- besondere bei den Annahmen über die gelt Abbildung 4 wider. Bei einem Blick künftige Entwicklung der strukturellen zurück ist der Einbruch der gesamtwirt- Arbeitslosigkeit sein kann, hat sich schon schaftlichen Produktion im Jahr 2009 cha- bei den in der Vergangenheit durchge- rakteristisch. Ein Anschluss an das vor der führten Untersuchungen gezeigt. Unter Krise erreichte Produktionsniveau wurde dem Eindruck der Finanzmarkt- und Wirt- in Deutschland anders als in vielen ande- schaftskrise zum Beispiel hatten sich bei ren betroffenen Volkswirtschaften inzwi- vielen Beobachtern die Erwartungen für schen aber bereits wieder erreicht. Gemes- einen langfristigen Abbau der Unterbe- sen am Stand des Jahres 2005 kann lang- schäftigung in Deutschland gravierend fristig in der günstigen Variante (T+) verschlechtert und diese hatten eine mehr als eine Verdoppelung der gesamt- ad-hoc durchgeführte Aktualisierung der wirtschaftlichen Leistung erzielt werden. Modellrechnungen aus dem Zweiten In der ungünstigen Variante (T–) ergibt Tragfähigkeitsbericht, deren wichtigste sich dagegen kaum mehr als eine Steige- Ergebnisse das BMF der Öffentlichkeit im rung um die Hälfte, die sich überwiegend vergangenen Jahr ebenfalls bekannt ge- aus dem unterstellten Produktivitätsfort- macht hat, wesentlich geprägt. Die an- schritt speist. schließende rasche Erholung, die nicht al- lein konjunkturellen Faktoren geschuldet
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 23 Abbildung 4: Bruttoinlandsprodukt (Indexwerte 2005 = 100; 1991-2060) 225 217,8 200 Variante T+ reales BIP (2005 = 100) 175 161,1 150 125 Variante T- 100 Variante T+ Variante T– 75 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060 Quelle: Werding/ifo 2011 2.3 Ergebnisse > Die infolge der Krise sich einstel- lende Schrumpfung der gesamtwirt- 2.3.1 Basisvarianten schaftlichen Produktion, die bei einem Blick auf die Entwicklung des BIP in der Die grundsätzlichen Verfahren zur Fort- jüngeren Vergangenheit inzwischen schreibung der öffentlichen Finanzen ha- so deutlich erkennbar ist (vgl. Abbil- ben sich in den Modellrechnungen im dung 4), war zum Zeitpunkt der Erstel- Vergleich zum Vorgängerbericht nicht lung der Rechnungen für den Vorgän- geändert. Die Projektionen beruhen bei gerbericht nicht erwartet worden. Auf allen Budgetkomponenten auf dem bei der anderen Seite sind die Staatsausga- Erstellung der Rechnungen geltenden ben in keinem der hier betrachteten Rechtsstand und nutzen die Kenntnis al- Bereiche entsprechend zurückgegan- ters- und geschlechtsspezifischer Ausga- gen. Daher zeigt sich in praktisch allen benprofile für die langfristige Fortschrei- Feldern ein charakteristischer Sprung bung der Entwicklung in den einzelnen im Niveau der Ausgaben in Relation Ausgabenbereichen. Sie berücksichtigen zum laufenden BIP, dessen langfristige hinsichtlich der demografischen und ma- Effekte durch die seither eingetretene kroökonomischen Entwicklung zugleich gesamtwirtschaftliche Entwicklung die in Abschnitt 2.2 beschriebenen An- allerdings wieder leicht gedämpft wer- nahmen und führen im Vergleich zu den den. Abgesehen davon entsprechen früheren Rechnungen zu folgenden Er- vor allem die projizierten Verläufe der gebnissen: Ausgaben der gesetzlichen Renten-
Seite 24 Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen versicherung sowie der gesetzlichen Werden die Ergebnisse der Rechnun- Krankenversicherung weitestgehend gen zusammengeführt und gleichzeitig den Resultaten der Projektionen für um den so genannten Verrechnungsver- den Zweiten Tragfähigkeitsbericht. kehr – also Zahlungen zwischen den Teil- budgets – bereinigt, so nimmt die Ent- > Im Bereich der Beamtenversor- wicklung der demografieabhängigen gung und der sozialen Pflegeversi- Ausgaben in der Summe den in Abbildung cherung führen zwischenzeitliche 5 dargestellten Verlauf: Die von der demo- Rechtsänderungen, die bei den frühe- grafischen Entwicklung besonders abhän- ren Projektionen im Rahmen der Basis- gigen Ausgaben belaufen sich danach im varianten noch nicht berücksichtigt Basisjahr (2010) in allen hier erfassten Be- wurden, bei den Ausgaben jeweils zu reichen auf 28,5 % des BIP und entspre- einer verringerten langfristigen Auf- chen damit rund 61 % aller öffentlichen wärtsdynamik. Besonders ausgeprägt Ausgaben. Es wird erwartet, dass diese sind diese Effekte bei der Pflegeversi- Quote – nach ihrem deutlichen Anstieg im cherung. Sie sind langfristig aber auch Zuge der jüngsten Finanzmarkt- und mit einer deutlichen Reduktion des Wirtschaftskrise – im Zeithorizont der Sicherungsniveaus dieses Systems ver- hier berücksichtigten Mittelfristprojek- bunden. tion der Bundesregierung bis 2015 auf rund 27,6 % zurückgeht. In der pessimisti- > Bei den Leistungen der Arbeitslo- scheren Basisvariante „T–“ beginnt die senversicherung und der Grundsi- Ausgabenquote danach allerdings rasch cherung für Arbeitsuchende machen wieder zu steigen, und zwar insbesondere sich kurz- bis mittelfristig noch die im Zeitraum bis 2035, mit verringertem Auswirkungen der Krise auf die Tempo jedoch weiter bis 2060. Sie erreicht Arbeitsmarktentwicklung bemerkbar. bis zum Ende des Projektionszeitraums Langfristig wirken sich zudem die ge- dann 34,5 %. In der optimistischeren Basis- änderten Regelungen zur Anpassung variante „T+“ ergibt sich eine deutlich ge- der Leistungen der Grundsicherung ringere, langfristige Dynamik der Ausga- aus. benquote, durch die sie in dieser Variante bis 2060 lediglich auf 30,3 % steigt. Die > Die projizierten Verläufe der öffent- projizierte Zunahme der Ausgabenquote lichen Ausgaben für Bildung und Kin- gegenüber 2010 beläuft sich je nach Vari- derbetreuung sowie für den Famili- ante somit auf 1,8 bis 6,0 Prozentpunkte, enleistungsausgleich erhöhen sich gegenüber 2015 sogar auf 2,7 bis 6,9 Pro- gegenüber den Projektionen zum zentpunkte. Hält man rechnerisch alle an- Zweiten Tragfähigkeitsbericht eben- deren öffentlichen Ausgaben in Relation falls jeweils leicht. Im Falle der Bil- zum laufenden BIP konstant, würde sich dungsausgaben liegt dies vor allem an daraus ein langfristiger Anstieg der ge- einer Berücksichtigung aktualisierter samtstaatlichen Ausgabenquote von zu- Daten am aktuellen Rand, nach denen letzt (2010) ca. 46,7 % auf Werte von 48,5 % diese zuletzt schon stärker gestiegen bis 52,7 % des BIP ergeben. sind als zuvor unterstellt wurde. Auch die Ausgaben für den Familienleis- tungsausgleich sind zwischenzeitlich gezielt erhöht worden.
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