Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen - Finanz- und Wirtschaftspolitik

Die Seite wird erstellt Pirmin Zander
 
WEITER LESEN
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen - Finanz- und Wirtschaftspolitik
Finanz- und Wirtschaftspolitik

             Dritter Bericht zur Tragfähigkeit
                   der öffentlichen Finanzen
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit
      der öffentlichen Finanzen
Inhalt Seite 3

          Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 5

I.        Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 7
1.1       Konzeptioneller Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 7
1.2       Ökonomische Bedeutung tragfähiger öffentlicher Finanzen . . . . . . . . . . . . Seite 9
1.3       Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 10
1.4       Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen . . . . . . . Seite 11
1.4.1 Auswirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 11
1.4.2 Herausforderungen durch den demografischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 13
1.4.3 Sonstige Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16

II.       Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen
          Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17
2.1       Erläuterungen zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17
2.1.1 Messkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17
2.1.2 Tragfähigkeitsindikatoren der EU-Kommission („sustainability gaps“) . . Seite 18
2.2       Annahmen der Modellrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20
2.3       Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 23
2.3.1 Basisvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 23
2.3.2 Alternative Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 29
2.4       Internationaler Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 35
2.5       Rückblick: Entwicklung der Tragfähigkeitslücken im Zeitablauf . . . . . . . . Seite 40
Seite 4   Inhalt

                   III.      Die Rolle der Politik bei der Sicherung tragfähiger
                             öffentlicher Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 43
                   3.1       Leitlinien einer Politik für tragfähige öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . Seite 43
                   3.2       Ansatzpunkte in der Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 44
                   3.2.1 Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 44
                   3.2.2 Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 49
                   3.3       Ansatzpunkte in anderen Politikfeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 52
                   3.3.1 Wachstum und Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 52
                   3.3.2 Zuwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 54
                   3.3.3 Bildungs- und Innovationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 55
                   3.3.4 Systeme der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 56
                   3.3.5 Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 57

                   IV.       Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 58
                   Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 60
                   Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 61
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 5

     Vorwort

Liebe Leserinnen

und Leser,

uns allen hat die Finanzmarkt- und Wirt-       Tragfähig sind öffentliche Finanzen,
schaftskrise vor Augen geführt, wie wich-      wenn der Staat seinen finanziellen Ver-
tig ein handlungsfähiger Staat ist. Die        pflichtungen – beispielsweise in den Be-
Bundesregierung konnte durch ihr ent-          reichen Rente, Arbeitsmarkt, Gesundheit,
schlossenes Handeln dazu beitragen, dass       aber auch für die Zins- und Personalaus-
Deutschland besser durch die Krise ge-         gaben – langfristig nachkommen kann.
kommen ist als viele andere Länder. Aller-     Nur wenn dies gegeben ist, bleibt der
dings hatten die stabilisierenden Maß-         Staat handlungsfähig und bleibt das Ver-
nahmen auch ihren Preis: Der Schulden-         trauen von Finanzmarktteilnehmern, In-
stand der Bundesrepublik Deutschland ist       vestoren und nicht zuletzt der Bürgerin-
sprunghaft in die Höhe geschnellt. Umso        nen und Bürger in unsere Soziale Markt-
mehr gilt es, die Solidität der öffentlichen   wirtschaft erhalten.
Finanzen sicherzustellen, indem wir                Mit dem vorliegenden Dritten Bericht
nachhaltig konsolidieren und zugleich          zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finan-
die Weichen für die Zukunft richtig stel-      zen informiert das Bundesministerium
len.                                           der Finanzen die Öffentlichkeit über die
   Dabei kommt der langfristigen Tragfä-       langfristige Entwicklung der öffentlichen
higkeit der öffentlichen Finanzen beson-       Finanzen bis zum Jahr 2060. Die Rolle die-
dere Bedeutung zu. Im übertragenen Sinn        ses Berichts ist am besten mit der eines
erinnert der Begriff der Tragfähigkeit an      Frühwarnsystems zu vergleichen: Die Er-
den Bau eines Hauses: Nur wenn das Ge-         gebnisse der Modellrechnungen zeigen,
bäude auf einem soliden Fundament              in welchem Ausmaß bereits heute Hand-
steht, ist gewährleistet, dass die gesamte     lungsbedarf besteht, um die Solidität der
Struktur das Haus auch langfristig trägt.      öffentlichen Finanzen sicherzustellen.
Seite 6   Vorwort

                       Der Bericht macht deutlich, dass sich         Allerdings besteht kein Anlass, sich mit
                    die Tragfähigkeit der öffentlichen Finan-     dem bisher Erreichten zufrieden zu ge-
                    zen – nicht zuletzt aufgrund der Auswir-      ben. Ganz im Gegenteil: Es wird in Zu-
                    kungen der Finanzmarkt- und Wirt-             kunft darum gehen, die grundgesetzliche
                    schaftskrise – im Vergleich zum Zweiten       Schuldenregel dauerhaft und verlässlich
                    Tragfähigkeitsbericht von 2008 ver-           einzuhalten und gleichzeitig die Voraus-
                    schlechtert hat. Dennoch sind wir in          setzungen für Wachstum und Beschäfti-
                    Deutschland auf einem guten Weg. Ver-         gung in Deutschland weiter zu verbes-
                    glichen mit letztem Jahr ist bereits wieder   sern. Die Botschaft des vorliegenden Trag-
                    eine erste Verbesserung der Tragfähigkeit     fähigkeitsberichts ist eindeutig: Wir kön-
                    zu verzeichnen. Sowohl die neu im Grund-      nen die Herausforderungen von morgen
                    gesetz verankerte Schuldenregel als auch      bewältigen, wenn wir bereits heute auch
                    die erfolgreich begonnene wachstums-          unbequeme Schritte einleiten, für die der
                    freundliche Konsolidierung stehen im          Bericht konkrete Ansatzpunkte nennt.
                    Einklang mit den Vorgaben des Europäi-
                    schen Stabilitäts- und Wachstumspaktes
                    und werden maßgeblich dazu beitragen,
                    die Schuldenstandsquote weiter sinken zu
                    lassen.

                    Dr. Wolfgang Schäuble
                    Bundesminister der Finanzen
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 7

      I. Einführung

Mit dem Dritten Bericht zur Tragfähigkeit         standes, den nicht zuletzt die Finanz-
der öffentlichen Finanzen führt das               markt- und Wirtschaftskrise mit sich ge-
Bundesministerium der Finanzen (BMF)              bracht hat, aber auch andere langfristige
seine Berichterstattung der Jahre 2005            Herausforderungen, wie insbesondere
und 2008 fort. Der Bericht trägt dazu bei,        der demografische Wandel, der sich spür-
dass langfristige Herausforderungen für           bar auf die künftige Entwicklung der öf-
die öffentlichen Haushalte besser wahrge-         fentlichen Finanzen auswirken wird.
nommen werden und in die politische
Meinungsbildung einfließen. Um politi-
sche Entscheidungen zur Sicherung trag-
                                                  1.1 Konzeptioneller Hinter-
fähiger öffentlicher Finanzen auf eine                grund
fundierte und nachvollziehbare Basis zu
stellen, ist es notwendig, sowohl die künf-       Das Konzept der Tragfähigkeit der Staats-
tige finanzpolitische Entwicklung als             finanzen hat die langfristige Entwicklung
auch die Wirksamkeit von Reformen und             der öffentlichen Haushalte im Blick. Dabei
Reformoptionen so gut wie möglich abzu-           geht es vor allem um die Frage, ob Sozial-,
schätzen. Das BMF hat daher unabhän-              Wirtschafts- und Finanzpolitik dauerhaft
gige Wirtschaftswissenschaftler mit den           so fortgeführt werden können wie bisher,
Modellrechnungen beauftragt, die die-             oder ob politischer Handlungsbedarf be-
sem Bericht zugrunde liegen.1                     steht, um den Anstieg der Staatsverschul-
   Das Einhalten der neuen, im Grundge-           dung aufzuhalten bzw. umzukehren. Es
setz verankerten Schuldenregel wird in            handelt sich somit um ein Konzept, das
den Modellrechnungen nur bis zum Jahr             die Nachhaltigkeit (engl. „sustainability“)
2015 unterstellt. Dies geschieht mit der          der Politik unter finanzpolitischen Ge-
Absicht, den Handlungsbedarf offen zu le-         sichtspunkten bewertet.
gen, der zur langfristigen Sicherung soli-            Verantwortungsvolle      Finanzpolitik
der Staatsfinanzen besteht. Dadurch wird          muss deshalb weit in die Zukunft rei-
zudem deutlich, dass weitere politische           chende Wirkungszusammenhänge be-
Entscheidungen zur Konsolidierung der             rücksichtigen, um mögliche Fehlentwick-
Haushalte erforderlich sind, um die Schul-        lungen früh genug zu erkennen und dem-
denregel auch in Zukunft einhalten zu             entsprechend rechtzeitig gegensteuern
können. Risiken für die Tragfähigkeit der         zu können. Um zu bewerten, ob die Finan-
öffentlichen Finanzen bergen beispiels-           zen eines Staates tragfähig sind, sollte
weise der starke Anstieg des Schulden-            eine Vielzahl von Parametern in den Blick

1. Prof. Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum, in Kooperation mit dem ifo-Institut, München.
Seite 8   Einführung

                          genommen werden.2 So spielt beispiels-              Die Berechnungen umfassen den Zei-
                          weise – neben der zukünftigen wirtschaft-       traum von 2010 bis 2060, reichen also weit
                          lichen Entwicklung – die Struktur der           in die Zukunft. Die Ergebnisse der Modell-
                          staatlichen Ausgaben eine wichtige Rolle.       rechnungen sind dabei keine Prognosen,
                          Für eine sorgfältige Beurteilung ist es da-     sondern sie veranschaulichen die hypo-
                          her erforderlich, eine möglichst umfas-         thetische Entwicklung der staatlichen Fi-
                          sende Analyse der zukünftigen Entwick-          nanzen unter der Annahme, dass die bis-
                          lung der Staatsfinanzen vorzunehmen –           herige Politik unverändert beibehalten
                          so wie es mit den Modellrechnungen in           wird. Damit kommen die Berechnungen
                          diesem Bericht geschieht.                       einem Frühwarnmechanismus gleich:
                              Der vorliegende Bericht analysiert die      Die auf dieser Grundlage ermittelten Indi-
                          öffentlichen Haushalte insgesamt, also          katoren geben Auskunft darüber, in wel-
                          die Haushalte von Bund, Ländern, Ge-            chem Ausmaß bereits heute weitere Maß-
                          meinden und den Sozialversicherungen.           nahmen notwendig sind, um die Tragfä-
                          Nur wenn alle staatlichen Ebenen ihren fi-      higkeit der öffentlichen Finanzen lang-
                          nanziellen Verpflichtungen – beispiels-         fristig sichern zu können. Bei der Interpre-
                          weise in den Bereichen Rente, Arbeits-          tation der Ergebnisse ist große Sorgfalt er-
                          markt, Gesundheit, aber auch für Zins-          forderlich (vgl. Kasten 1).
                          und Personalausgaben – langfristig nach-
                          kommen können, ist die Tragfähigkeit der
                          Finanzpolitik gewährleistet.

   Kasten 1:

   Zur Aussagekraft von Tragfähigkeitsanalysen
      „Die Beurteilung der Nachhaltigkeit bestimmter ökonomischer Aktivitäten und Politi-
   ken erfordert eine nicht ganz unbedeutende Ausweitung der Perspektive: Bei Fragen der
   Nachhaltigkeit verlassen wir die auf unverrückbaren Fakten beruhende Berichterstattung
   über den derzeitigen Zustand und begeben uns auf das Gebiet von Projektionen in die Zu-
   kunft. Dies ist nicht mit der Prognose zukünftiger Entwicklungen gleichzusetzen, da Pro-
   gnosen eine Annahme über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse beinhalten. Die
   Diskussion der Nachhaltigkeit hingegen befasst sich mit den Konsequenzen einer dauer-
   haften Fortschreibung gegenwärtiger Aktivitäten und Entscheidungen in die Zukunft.
   Demzufolge sind Aussagen zur Nachhaltigkeit „was wäre, wenn“-Aussagen, die mögliche
   Konsequenzen eines bereits eingeschlagenen Aktionspfades beschreiben.“

   Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Conseil d’Analyse
   économique: Expertise „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikato-
   rensystem“ (Dezember 2010), S. 107.

                          2. Vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
                          Entwicklung 2010/11, Tz 336. Abrufbar unter: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 9

    Aufgrund des langen Projektionshori-      dass die Ausgaben für den Zinsendienst
zonts sind Tragfähigkeitsberechnungen         von Jahr zu Jahr größeren Raum einneh-
mit erheblichen Unsicherheiten behaftet       men, dann schränkt dies den Handlungs-
und können somit nur Modellcharakter          spielraum des Staates zunehmend ein. In
haben. Um das deutlich zu unterstrei-         diesem Zusammenhang müssen auch die
chen, kommen in diesem Bericht zwei Ba-       wichtigsten Ausgabenbereiche des Staa-
sisvarianten zum Einsatz: Die „Variante       tes regelmäßig auf ihre Effizienz und auf
T–“ ist von einem durchgängigen Pessi-        ihre dauerhafte Finanzierbarkeit hin
mismus getragen, während die „Variante        überprüft werden.
T+“ durchgängig optimistische Annah-              Tragfähige Staatsfinanzen bringen
men enthält. Zusammen genommen be-            auch wichtige Vertrauenseffekte mit
schreiben die beiden Varianten einen          sich: Wenn beispielsweise die Finanz-
Korridor möglicher künftiger Entwicklun-      märkte darauf vertrauen, dass ein Staat
gen, ohne dass die dahinter stehenden         ein zuverlässiger und leistungsfähiger
Szenarien als extrem erscheinen. So wird      Schuldner ist, dann sind sie bereit, diesem
es möglich, Risiken und Chancen für die       Staat zu vergleichsweise günstigen Kondi-
Sicherung langfristig solider Staatsfinan-    tionen Geld zu leihen. Die Schuldenlast ist
zen aufzuzeigen, ohne den Blick von vorn-     dann deutlich geringer als bei einem
herein auf eine mehr oder minder willkür-     Staat, dem weniger Vertrauen entgegen
lich ausgewählte Linie zu verengen. Kom-      gebracht wird und der infolgedessen Zins-
plettiert wird die Darstellung der beiden     aufschläge in Kauf nehmen muss. Darü-
Basisvarianten von Alternativrechnun-         ber hinaus wirkt sich die Erwartung von
gen, die den Einfluss abweichender An-        Bürgern und Unternehmen, dass ein Staat
nahmen und Berechnungsansätze veran-          auch in Zukunft handlungsfähig sein
schaulichen.                                  wird, positiv auf Investitionen und Kon-
                                              sum aus. Zweifel an der Solidität der
                                              Staatsfinanzen können dagegen sowohl
1.2 Ökonomische Bedeu-                        bei Unternehmen als auch bei Konsumen-
    tung tragfähiger öffent-                  ten zu einem zögerlichen, abwartenden
                                              Verhalten führen und damit das Wirt-
    licher Finanzen                           schaftswachstum dämpfen. Daher ist es
                                              im ureigenen Interesse eines jeden Staa-
Solide öffentliche Finanzen garantieren       tes, mit einer umsichtigen und voraus-
die Handlungsfähigkeit des Staates. So        schauenden Fiskalpolitik dafür zu sorgen,
hat beispielsweise die Finanzmarkt- und       dass erst gar keine Zweifel an seiner dau-
Wirtschaftskrise gezeigt, dass ein Staat,     erhaften Solidität aufkommen.
der in schlechten Zeiten finanzielle Spiel-       Zwischen einer soliden Haushaltsfüh-
räume besitzt, durch entschlossenes Han-      rung und einem dauerhaften Wirt-
deln dazu beitragen kann, die wirtschaft-     schaftswachstum bestehen wichtige
liche Entwicklung zu stabilisieren. Aber      Rückkopplungseffekte:      Einerseits     ist
auch in guten Zeiten sind solide Staatsfi-    „gute“ Finanzpolitik eine wichtige Vor-
nanzen unerlässlich, um beispielsweise        aussetzung für dauerhaft günstige
wichtige Zukunftsinvestitionen finanzie-      Wachstums- und Beschäftigungsbedin-
ren zu können, etwa in den Bereichen Bil-     gungen. Umgekehrt gilt aber auch: An-
dung und Forschung. Wenn dagegen ein          haltendes Wirtschaftswachstum und ein
steigender Schuldenstand dazu führt,          damit einhergehender Beschäftigungsan-
Seite 10   Einführung

                        stieg schaffen die besten Voraussetzun-         schwere Fehler zu vermeiden. Vielmehr
                        gen für solide finanzierte öffentliche          gilt es, die wachstumsorientierte struktu-
                        Haushalte. Entscheidend ist dabei unter         relle Konsolidierung des Haushalts voran-
                        anderem die so genannte Schulden-               zutreiben und eine strikte Ausgabendiszi-
                        standsquote, also der Schuldenstand des         plin beizubehalten. Deshalb sollten kon-
                        Staates im Verhältnis zum nominalen             junkturell bedingte Verbesserungen der
                        Bruttoinlandsprodukt. Sie zeigt an, wie         öffentlichen Haushalte zur Senkung der
                        hoch die Last, die ein Staatshaushalt zu        Neuverschuldung eingesetzt werden. Ins-
                        tragen hat, relativ zur Wirtschaftskraft        besondere in wirtschaftlich guten Zeiten
                        des Landes ist. Ein Anstieg des Schulden-       gilt es, die Haushalte konsequent zu kon-
                        stands ist nur dann grundsätzlich unpro-        solidieren.
                        blematisch, wenn die Wachstumsrate des              Aus finanzpolitischer Sicht markiert
                        Schuldenstands dauerhaft unterhalb der          das Jahr 2011 einen Wendepunkt. Zum ei-
                        Wachstumsrate der Wirtschaftskraft              nen kam erstmals bei der Aufstellung des
                        bleibt. Die Schuldenstandsquote sinkt da-       Bundeshaushalts 2011 die im Grundgesetz
                        durch langfristig auf ein tragbares Ni-         verankerte neue Schuldenregel zur An-
                        veau.                                           wendung, die einen zentralen Beitrag zur
                                                                        Sicherung tragfähiger öffentlicher Finan-
                                                                        zen leistet. Zum anderen mussten die zur
                        1.3 Ausgangslage                                Krisenbewältigung ergriffenen konjunk-
                                                                        turstützenden Maßnahmen zurückge-
                        Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise           führt werden, ohne gleichzeitig das
                        hat sich in fast allen Industriestaaten         Wachstum zu dämpfen. Die Schuldenre-
                        spürbar auf die öffentlichen Finanzen aus-      gel folgt der Einsicht, dass weder Ausga-
                        gewirkt. Sowohl der öffentliche Schulden-       benerhöhungen noch Steuersenkungen
                        stand als auch das Staatsdefizit haben sich     dauerhaft über Kreditaufnahme finan-
                        nicht nur in Deutschland im Verlauf der         ziert werden dürfen. Damit zielt die neue
                        Krise erheblich ausgeweitet. Gleichzeitig       Regel auf anhaltende strukturelle Haus-
                        ist die Frage der Tragfähigkeit der Staatsfi-   haltsverbesserungen ab. Vor diesem
                        nanzen sowohl bei der Bewertung der             Hintergrund hat die Bundesregierung ein
                        Kreditwürdigkeit von Staaten als auch in        Bündel von Maßnahmen ergriffen, um die
                        der öffentlichen Wahrnehmung in den             öffentlichen Finanzen nachhaltig zu sa-
                        Fokus gerückt. Ein weiterer Anstieg der         nieren. Dabei steht die wachstums-
                        Schuldenstandsquote – ausgehend von             freundliche Konsolidierung im Vorder-
                        dem bereits sehr hohen Niveau – ist unter       grund, denn es wäre verfehlt, Konsolidie-
                        dem Gesichtspunkt der Tragfähigkeit             rungsmaßnahmen zu ergreifen, die mit
                        nicht mehr hinnehmbar.                          einer Schwächung der wirtschaftlichen
                            Deutschland befindet sich nach wie          Leistungsfähigkeit einhergehen. Daher
                        vor in einem Wirtschaftsaufschwung.             hat die Bundesregierung bei der Auswahl
                        Die günstige konjunkturelle Entwicklung         ihrer Konsolidierungsmaßnahmen in ih-
                        hat auch unmittelbare Auswirkungen auf          rem haushaltspolitischen „Zukunftspa-
                        die staatlichen Einnahmen und Ausgaben          ket“ den Schwerpunkt auf wachstums-
                        und erleichtert so den Konsolidierungs-         freundliche Politik gelegt. Dies zeigt sich
                        prozess. Allerdings kommt es gerade in          unter anderem in der Priorität für Ausga-
                        wirtschaftlich guten Zeiten darauf an, in       ben im Bereich Bildung und Forschung.
                        der Finanzpolitik möglicherweise folgen-
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen            Seite 11

   Die konjunkturelle Erholung und die            1.4.1 Auswirkungen der
ersten Erfolge der Konsolidierungspolitik
werden im Haushaltsvollzug des Bundes                     Finanzmarkt- und
2011 sichtbar. So wird es der Bundesregie-
rung im laufenden Jahr voraussichtlich                    Wirtschaftskrise
gelingen, die tatsächliche Neuverschul-
dung des Bundes auf eine Größenord-               Die öffentlichen Finanzen in Deutschland
nung von rund 30 Mrd. € zu reduzieren             wurden durch die Krise erheblich in Mit-
(Soll 2011: 48,4 Mrd. €). Die konsequente         leidenschaft gezogen. Dabei wurden die
Einhaltung eines wachstumsorientierten            Auswirkungen sowohl auf der Einnah-
Konsolidierungskurses bleibt auch in Zu-          menseite als auch insbesondere auf der
kunft die wesentliche wirtschafts- und fi-        Ausgabenseite sichtbar. In der Rezession
nanzpolitische Aufgabe.                           gingen die Steuereinnahmen deutlich zu-
                                                  rück, dagegen stiegen die Ausgaben bei-
                                                  spielsweise im Bereich der Arbeitslosen-
1.4 Mögliche Risiken für                          versicherung stark an. Zudem waren
    die Tragfähigkeit der                         staatliche Stabilisierungsmaßnahmen er-
                                                  forderlich, um die Auswirkungen des kon-
    öffentlichen Finanzen                         junkturellen Einbruchs – über die automa-
                                                  tischen Stabilisatoren hinaus – abzumil-
Bis vor einigen Jahren wurden Risiken für         dern und die Funktionsfähigkeit der Fi-
die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen              nanzmärkte zu gewährleisten.
hauptsächlich im Zusammenhang mit                     Nach nahezu ausgeglichenen Haushal-
den Herausforderungen durch den demo-             ten in den Jahren 2007 und 2008 ver-
grafischen Wandel gesehen. Die Auswir-            schlechterte sich der gesamtstaatliche Fi-
kungen der Krise haben jedoch nach-               nanzierungssaldo in Deutschland im Jahr
drücklich verdeutlicht, dass auch der er-         2009 auf ein Defizit von 3,2 % in Relation
reichte Schuldenstand und die Haushalts-          zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahr
situation am aktuellen Rand die langfris-         2010 wurde mit einer Defizitquote von
tige Solidität der Staatsfinanzen gefähr-         4,3 % der Maastricht-Referenzwert von 3 %
den können.3                                      des BIP deutlich überschritten (siehe Ab-
                                                  bildung 1). Für das Jahr 2011 geht die
                                                  Bundesregierung davon aus, dass sich der
                                                  Finanzierungssaldo jedoch schon wieder
                                                  merklich auf ein Defizit von rund 1 ½ % ver-
                                                  bessern wird. Damit erfüllt Deutschland
                                                  die Vorgaben des Europäischen Stabi-
                                                  litäts- und Wachstumspakts bereits zwei
                                                  Jahre früher als im Defizitverfahren gegen
                                                  Deutschland gefordert.

3. So identifiziert beispielsweise der im Jahr 2009 veröffentlichte Tragfähigkeitsbericht („Sustainability Re-
port“) der EU-Kommission für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur mögliche fiskalische Belas-
tungen aus der Bevölkerungsalterung, sondern auch Risiken einer mangelnden Konsolidierung der Staatsfinan-
zen in der kurzen und mittleren Frist.
Seite 12    Einführung

           Abbildung 1: Ausgaben, Einnahmen und Finanzierungssaldo
                        des Staates
                                                                                                   - in % des BIP -
             50                                                                                                                                                                                         9
             49                                                                                                                                                                                         8
             48                                                                                                                                                                                         7
             47                                                                                                                                                                                         6
             46                                                                                                                                                                                         5
             45                                                                                                                                                                                         4
             44                                                                                                                                                                                         3
             43                                                                                                                                                                                         2
             42                                                                                                                             0,2                                                   0     1
             41                                                                                                                                                                                         0
                                                                                                                                                  -0,1                                      -0
             40                                                                                                                                                                     - 1/2               -1
                                                                                                                                                                               -1
             39                                                                       -1,3                                                                              -1,3                            -2
                                                                               -1,6                                                  -1,7
             38          -2,4          -2,5                             -2,3                                                                                                                            -3
                  -2,9          -3,0                             -2,8
                                              -3,0                                                -3,1                                                   -3,2
             37                                           -3,4                                                                -3,3                                                                      -4
                                                                                                         -3,8          -3,8
                                                                                                                -4,2
             36                                                                                                                                                 -4,3                                    -5
             35                                                                                                                                                                                         -6
                                                     1)                                      2)
                  1991                        1995                                    2000                                    2005                              2010                             2015
                   gesamtstaatlicher Finanzierungssaldo (rechte Skala)                                                  Staatsquote (linke Skala)                      Einnahmequote (linke Skala)

           1) Ohne die Vermögenstransfers infolge der Übernahme der Schulden der Treuhandanstalt und der Wohnungsbau-
              unternehmen der DDR. Inklusive dieses Effekts belief sich das gesamtstaatliche Defizit auf 9,5 % des BIP.
           2) Ohne UMTS-Erlöse. Inklusive dieses Effekts wies der Staatshaushalt einen Überschuss in Höhe von 1,1 % des BIP auf.

           Quellen: Statistisches Bundesamt für Ist-Daten
           (Stand: September 2011), Projektion: Bundesministerium der Finanzen (Stand: Juli 2011)

                                            Der gesamtstaatliche Schuldenstand                                                           Der mittlerweile erreichte staatliche
                                        stieg in Folge der Krise von 74,4 % im Jahr                                                   Schuldenstand kann jedoch nicht allein
                                        2009 auf 84,2 % im Jahr 2010 an. Dieser                                                       durch die Auswirkungen der Krise erklärt
                                        starke Anstieg geht insbesondere darauf zu-                                                   werden. Vielmehr ist die Verschuldung von
                                        rück, dass die neu errichteten Abwicklungs-                                                   Bund, Ländern und Gemeinden bereits seit
                                        anstalten der Hypo Real Estate und der                                                        den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegen
                                        West LB dem Sektor Staat zugeordnet wur-                                                      (Abbildung 2). Im gleichen Zeitraum sind
                                        den und somit in den Schuldenstand ein-                                                       auch die Ausgaben für den Schuldendienst
                                        fließen. Bei einer Betrachtung ohne Berück-                                                   erheblich angestiegen.
                                        sichtigung aller Finanzmarktstabilisie-
                                        rungsmaßnahmen hätte sich für 2010 eine
                                        Schuldenstandsquote in Höhe von rund
                                        70 % ergeben.
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 13

Abbildung 2: Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts in Relation
                                             zum BIP (%), 1950 bis 2010
90

80

70
                        Gemeinden

60                      Länder

                        Extrahaushalte des Bundes
50
                        Bund

40

30

20

10

  0

     *)
    50

    52

    54

    56

    58

    60

    62

    64

    66

    68

    70

    72

    74

    76

    78

    80

    82

    84

    86

    88

    90

    92

    94

    96

    98

    00

    02

    04

    06

20 8
    0
  10
 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 19

 20

 20

 20

 20

 20
 *=neue Systematik

Quelle: Bundesministerium der Finanzen

1.4.2 Herausforderungen                         ten wird in Deutschland der Anteil der Per-
                                                sonen, die 65 Jahre und älter sind, stark zu-
            durch den demografi-                nehmen. Der Anteil der Personen im er-
                                                werbsfähigen Alter wird dagegen deutlich
            schen Wandel                        zurückgehen. Diese Veränderungen in der
                                                Altersstruktur unserer Gesellschaft führen
Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der      bei ansonsten unveränderten Rahmenbe-
öffentlichen Finanzen ergeben sich nicht        dingungen dazu, dass die vom Alter der
nur aus dem sprunghaften Anstieg des            Bürger abhängigen staatlichen Ausgaben
Schuldenstands im Zuge der Finanzmarkt-         ansteigen, während sich die staatlichen Ein-
und Wirtschaftskrise und der damit ver-         nahmen ohne Gegensteuern vergleichs-
bundenen Einschränkung des finanzpoliti-        weise schwächer entwickeln werden. Infol-
schen Handlungsspielraums. Ein maßgeb-          gedessen wird sich der Druck auf die öffent-
licher zusätzlicher Risikofaktor ist die be-    lichen Haushalte in Zukunft tendenziell er-
reits heute absehbare demografische Ent-        höhen.
wicklung: In den kommenden Jahrzehn-
Seite 14    Einführung

           Abbildung 3: Entwicklung des Bevölkerungsanteils unterschied-
                        licher Altersgruppen in Deutschland von 1871 bis 2060
                   ... bei vergleichsweise starker Bevölkerungsalterung (Variante 2-W1)
              50
              45
              40
              35
              30
              25
              20
              15
              10
               5
               0
                     1871       1939         1960      1980       2000       2009       2020     2040    2060

            Anteil in %                                       Kalenderjahr
                                         unter 20 Jahren   65 Jahre und älter   80 Jahre und älter

                             ... bei schwächerer Bevölkerungsalterung (Variante 3-W2)

              50
              45
              40
              35
              30
              25
              20
              15
              10
               5
               0
                     1871       1939         1960      1980      2000        2009      2020      2040    2060
                                                              Kalenderjahr
            Anteil in %
                                     unter 20 Jahren       65 Jahre und älter       80 Jahre und älter

       Quelle: Statistisches Bundesamt
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 15

Da demografische Entwicklungen erheb-            Um mögliche Folgen für die fiskalische
lichen Einfluss auf die öffentlichen Haus-   Entwicklung in ihrer ganzen Breite abbil-
halte haben und zugleich eine vergleichs-    den zu können, wurden hier solche An-
weise gut vorhersehbare Einflussgröße        nahmen verwendet, die zu vergleichs-
darstellen, bilden sie einen Schwerpunkt     weise großen Abweichungen in der künf-
der Modellrechnungen zur Tragfähigkeit.      tigen Altersstruktur der Bevölkerung füh-
Die in den Modellrechnungen verwende-        ren. Denn es ist vor allem die Alterung der
ten Daten zur demografischen Entwick-        Bevölkerung – weniger die Entwicklung
lung beruhen auf den Ergebnissen der         der absoluten Einwohnerzahl – von der
12. koordinierten Bevölkerungsvorausbe-      Risiken für die Tragfähigkeit der öffent-
rechnung, die im Jahr 2009 vom Statisti-     lichen Finanzen ausgehen. An der
schen Bundesamt in Zusammenarbeit mit        Schlussfolgerung, dass es zu gravierenden
den Statistischen Ämtern der Länder er-      Veränderungen im Altersaufbau der Be-
stellt wurde. Darin werden unterschiedli-    völkerung kommen wird, hat sich seit Be-
che Annahmen über die Determinanten          ginn der Tragfähigkeitsberichterstattung
der Bevölkerungsentwicklung, zu denen        des BMF nichts geändert: Die Jahrgänge
neben der Lebenserwartung auch die je-       im hohen und höchsten Alter bekommen
weils unterstellten Geburtenraten und        ein merklich höheres, die jüngeren ein
Wanderungssalden zählen, miteinander         deutlich geringeres Gewicht.
kombiniert. Den Modellrechnungen in              Die aktuelle und absehbare demogra-
diesem Bericht liegen zwei verschiedene      fische Entwicklung in Deutschland und
Varianten zur Fortschreibung der demo-       die Auswirkungen des demografischen
grafischen Entwicklung zu Grunde. Die        Wandels auf einzelne Politikbereiche
pessimistischere Variante geht von einer     werden erstmals in einem ressortüber-
vergleichsweise starken Bevölkerungsal-      greifenden Demografiebericht der Bun-
terung aus, während die Alterung in der      desregierung („Bericht der Bundesregie-
optimistischeren Variante schwächer aus-     rung zur demografischen Lage und künf-
fällt (siehe Abbildung 3).                   tigen Entwicklung des Landes“) ausführ-
                                             lich beschrieben. Der Bericht verschafft
                                             zudem einen Überblick über die bislang
                                             ergriffenen Maßnahmen des Bundes zur
                                             Gestaltung des demografischen Wandels.
                                             Er wird Ende Oktober veröffentlicht. Zu-
                                             gleich bildet er die Grundlage für die De-
                                             mografiestrategie der Bundesregierung,
                                             die sie im Frühjahr 2012 vorlegen wird.
                                             Innerhalb der Bundesregierung werden
                                             Demografiebericht und Demografiestra-
                                             tegie federführend durch das Bundesmi-
                                             nisterium des Innern koordiniert.
Seite 16   Einführung

                          1.4.3 Sonstige Risiken                               Demgegenüber sind die zur Stabilisie-
                                                                            rung der Europäischen Wirtschafts- und
                          Neben dem krisenbedingten Anstieg der             Währungsunion getroffenen Maßnah-
                          Schuldenstandsquote und der zukünfti-             men bereits in den Modellrechnungen
                          gen demografischen Entwicklung besteht            enthalten. So sind die bilateralen Maß-
                          eine Vielzahl von weiteren Herausforde-           nahmen für Griechenland, die anteiligen
                          rungen für die Tragfähigkeit der Staatsfi-        Kredite der EFSF an Irland und Portugal
                          nanzen. So stellen beispielsweise der Kli-        sowie die zukünftigen Einzahlungen an
                          mawandel und der verstärkte Ausbau der            den     Europäischen     Stabilitätsmecha-
                          Erneuerbaren Energien Herausforderun-             nismus (ESM) in der Mittelfristprojektion
                          gen dar, die zu dauerhaften Veränderun-           zur Entwicklung der Schuldenstands-
                          gen der staatlichen Einnahmen und Aus-            quote berücksichtigt. Sobald die Kredite
                          gaben führen werden.                              wieder zurückgezahlt werden, wird sich
                              Allerdings lassen sich diese mittel- und      die Schuldenstandsquote entsprechend
                          langfristigen Herausforderungen für die           verringern. Zukünftige Belastungen für
                          öffentlichen Finanzen – anders als die re-        die öffentlichen Finanzen sind hieraus
                          lativ gut projizierbare demografische Ent-        nicht zu erwarten, sofern es zu keinen
                          wicklung – zum gegenwärtigen Zeitpunkt            Ausfällen kommt.
                          kaum verlässlich in die Zukunft fort-                Der weitere Aufbau des Berichts ist
                          schreiben. Eine Quantifizierung dieser            wie folgt: Kapitel 2 zeigt die Ergebnisse
                          möglichen Risiken würde im Rahmen der             der aktualisierten Modellrechnungen zur
                          hier vorgenommenen Tragfähigkeitsana-             Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.
                          lysen kaum zu belastbaren Aussagen füh-           Die Resultate für den Zeitraum 2010 bis
                          ren.4 Daher sind die möglichen Auswir-            2060 verdeutlichen – unter bestimmten
                          kungen dieser Herausforderungen be-               Annahmen – wie groß der politische
                          wusst nicht Gegenstand der Modellrech-            Handlungsbedarf zur Sicherung der Trag-
                          nungen, die diesem Bericht zugrunde lie-          fähigkeit bereits heute ist. Kapitel 3 legt
                          gen.                                              die bereits erfolgten Reformen der
                                                                            Bundesregierung dar und zeigt weitere
                                                                            politische Handlungsoptionen auf. Neben
                                                                            der Finanzpolitik im engeren Sinne (vgl.
                                                                            Kapitel 3.2) beeinflussen auch die Ent-
                                                                            scheidungen in vielen anderen Politikbe-
                                                                            reichen die Tragfähigkeit der öffentlichen
                                                                            Finanzen (vgl. Kapitel 3.3). Kapitel 4
                                                                            schließt den Bericht mit einem Fazit ab.

                        4. Ein im Auftrag des BMF erstelltes Gutachten hat gezeigt, dass sich das Ausmaß der aus dem Klima-
                        wandel entstehenden fiskalischen Belastungen kaum zuverlässig abschätzen lässt (Ecologic Institut/
                        Infras (2009): „Klimawandel: Welche Belastungen entstehen für die Tragfähigkeit der öffentlichen
                        Finanzen?“).
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 17

     II. Modellrechnungen zur langfristigen
         Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

2.1 Erläuterungen zur
                                             Dazu zählen vor allem die von der EU-
    Methodik                                 Kommission bei der Prüfung der Stabi-
                                             litäts- und Konvergenzprogramme der
                                             Mitgliedstaaten genutzten Verfahren und
2.1.1 Messkonzept                            die dort ermittelten „Sustainability Gaps“.
                                             Was Deutschland betrifft, haben sie im er-
Bei der Entwicklung von Indikatoren, mit     sten Tragfähigkeitsbericht des BMF eine
denen die Tragfähigkeit der gegenwärti-      frühe Verwendung gefunden. Sie wurden
gen Finanzpolitik geprüft werden kann,       zuletzt auch vom Sachverständigenrat
hat es in einschlägigen Untersuchungen       zur Begutachtung der gesamtwirtschaft-
zwei Entwicklungsstränge gegeben, die        lichen Entwicklung im Rahmen seiner ei-
über einige Jahre getrennt verfolgt wur-     genen Arbeiten auf diesem Gebiet einge-
den. Einerseits wurden Maßstäbe entwi-       setzt.
ckelt, die sich bei der Ermittlung erst          Die folgenden Ausführungen bezie-
künftig entstehender Zahlungsverpflich-      hen sich auf die Ergebnisse eines vom
tungen des Staates eng an gängige Ver-       BMF vergebenen und von Prof. Martin
fahren der Planung und Analyse der lau-      Werding, Ruhr-Universität Bochum, in
fenden Haushaltspolitik und damit an die     Kooperation mit ifo, München, bearbeite-
gewohnte Messung expliziter öffentlicher     ten Forschungsauftrags. Der Abschlussbe-
Verschuldung anlehnen (so die ursprüng-      richt dazu wird in zeitlicher Nähe zum
lichen Arbeiten der OECD). Andererseits      Tragfähigkeitsbericht veröffentlicht und
wurden Ansätze mit mehr theoretischer        enthält eine detaillierte Beschreibung
Fundierung konzipiert, deren Ziel zu-        sämtlicher hier vorgestellter Modellrech-
nächst vor allem in der Messung von Be-      nungen.
lastungs- und Verteilungseffekten fiskali-       Das grundsätzliche Vorgehen hat sich
scher Maßnahmen auf der Mikroebene           gegenüber dem Zweiten Tragfähigkeits-
bestand (Konzept der Generationenbilan-      bericht des BMF nicht verändert, der Zeit-
zierung).                                    horizont wurde in Anpassung an die jüng-
    Inzwischen sind allerdings längst An-    sten Bevölkerungsvorausberechnungen
sätze entstanden, die Elemente beider        des Statistischen Bundesamtes aber bis in
Entwicklungsstränge in sich vereinen.        das Jahr 2060 ausgedehnt. Die Gutachter
Seite 18   Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

                         analysieren auf der Grundlage von An-        die neben der Summe der bisher aufge-
                         nahmen über die demografische Entwick-       laufenen Defizite auch künftig zu erwar-
                         lung und einer damit konsistenten ge-        tende Belastungen einbeziehen. Das ge-
                         samtwirtschaftlichen Entwicklung, wel-       schieht einmal im Jahr bei der Prüfung
                         chen Verlauf die öffentlichen Ausgaben       der Stabilitäts- und Konvergenzpro-
                         (am BIP gemessen) in den Bereichen neh-      gramme jedes einzelnen Landes, außer-
                         men könnten, die von Verschiebungen in       dem in einer Querschnittsuntersuchung
                         der Altersstruktur der Bevölkerung vor-      für sämtliche Mitgliedstaaten im jährlich
                         aussichtlich besonders betroffen sein wer-   vorgelegten „Public Finance Report“ und
                         den. Die Ausgaben der gesetzlichen Ren-      in einem nur diesem Thema gewidmeten
                         tenversicherung, gefolgt von den Ausga-      Tragfähigkeitsbericht, den die Kommis-
                         ben der gesetzlichen Krankenversiche-        sion immer dann ausarbeitet, wenn auf
                         rung, haben darunter das höchste Ge-         Gemeinschaftsebene neue Modellrech-
                         wicht, aber auch die Ausgaben der ande-      nungen zu den Auswirkungen der Bevöl-
                         ren Zweige der Sozialversicherung und        kerungsalterung auf die Staatsfinanzen
                         die Beamtenversorgung, sowie die staat-      vorliegen. Der jüngste derartige Bericht
                         lichen Bildungsausgaben und der Famili-      der Kommission („Sustainability Report“)
                         enleistungsausgleich werden mit Blick        stammt aus dem Jahr 2009.
                         auf demografisch bedingte Änderungen
                         untersucht. Unter der Annahme konstan-       Erläuterung der Kennziffern
                         ter Quoten für alle übrigen Ausgabenbe-
                         reiche und einer ebenfalls konstanten Ein-   Zur Einschätzung etwaiger Risiken für die
                         nahmenquote werden daraus Projektio-         langfristige Tragfähigkeit der öffent-
                         nen für die Staatsquote, die gesamtstaat-    lichen Finanzen weist die Kommission re-
                         lichen Finanzierungssalden und den           gelmäßig zwei Indikatoren aus: In einem
                         Schuldenstand abgeleitet und die Ergeb-      Fall (Tragfähigkeitslücke S1) wird bis
                         nisse zu Indikatoren für die langfristige    zum Ende des Projektzeitraums in sämt-
                         Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen      lichen Mitgliedstaaten ein Erreichen des
                         in Deutschland zusammengefasst.              Maastricht-Kriteriums für die Schulden-
                                                                      standsquote (60% in Relation zum BIP) ver-
                         2.1.2 Tragfähigkeitsindikato-                langt. Im anderen Fall (Tragfähigkeitslü-
                                                                      cke S2) wird gefordert, dass der Staat sei-
                                ren der EU-Kommission                 nen expliziten wie impliziten Verbind-
                                                                      lichkeiten auf Dauer nachkommen kann.
                                („sustainability gaps“)                   Wird die vorab festgelegte Bedingung
                                                                      - bei Einrechnung der budgetären Effekte
                         Für die Operationalisierung des Tragfä-      der Bevölkerungsalterung - nicht erfüllt,
                         higkeitsziels und für die Abschätzung er-    entstehen Tragfähigkeitslücken. Sie be-
                         forderlicher Maßnahmen zur Sicherung         schreiben das Ausmaß der notwendigen
                         der langfristigen Solidität der öffent-      Anpassung in Form einer Verringerung
                         lichen Finanzen gibt es unterschiedliche     der sich andernfalls einstellenden Defizit-
                         Möglichkeiten. Bei der haushaltspoliti-      quoten (genauer in einer Verbesserung
                         schen Überwachung der EU-Mitgliedstaa-       der strukturellen Primärsalden). Weitere
                         ten stützen sich der Rat der Wirtschafts-    Darstellungsformen sind möglich und
                         und Finanzminister und die Europäische       werden von der EU-Kommission auch ge-
                         Kommission wie das BMF auf Indikatoren,      nutzt. Zum Beispiel wird über eine Zerle-
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 19

gung der Indikatoren in unterschiedliche      dauerhaften Erhöhung des staatlichen
Komponenten aufgezeigt, welcher Teil          Primärsaldos ausweisen. Das hat auch der
der Lücke schon in der gegenwärtigen          Sachverständigenrat zur Begutachtung
Haushaltslage angelegt ist und welcher        der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Teil erst im Laufe der Zeit über die Zu-      in seiner diesjährigen Frühjahrsexpertise
nahme der alterungsbedingten Ausgaben         so gesehen.
entsteht.                                        Darüber hinaus ist zu berücksichtigen,
    Die Indikatoren legen damit Hand-         dass die Resultate derartiger Rechnungen
lungsbedarfe offen. Spezifische politische    in der augenblicklichen Situation mit be-
Handlungsanweisungen ergeben sich aus         sonderen Unsicherheiten behaftet sind.
den so errechneten Werten nicht: Er-          Einerseits lässt sich die strukturelle Aus-
reicht werden kann ein Schließen der          gangsposition der öffentlichen Haushalte
Tragfähigkeitslücken grundsätzlich so-        derzeit nur schwer korrekt beurteilen. So-
wohl über eine Verringerung des Anteils       fern die vor dem Hintergrund der Finanz-
der öffentlichen Ausgaben am BIP als          markt- und Wirtschaftskrise getroffenen
auch über eine Steigerung des Anteils der     befristeten Maßnahmen nicht vollständig
öffentlichen Einnahmen. Zudem bleibt of-      aus den strukturellen Haushalten heraus-
fen, welche Maßnahmen zu welchem Zeit-        gefiltert worden sind, könnte das Tragfä-
punkt ergriffen werden sollten, damit es      higkeitsrisiko überschätzt worden sein.
zu den notwendigen Änderungen auf der         Andererseits könnten die Wachstums-
Ausgabenseite und/oder Einnahmenseite         möglichkeiten der Volkswirtschaften auf
kommt.                                        längere Sicht stärker Schaden genommen
    Die am Ende der Rechnungen ausge-         haben als bisher angenommen. In diesem
wiesenen Kennziffern lassen leicht ver-       Fall würden die Tragfähigkeitsrisiken
gessen, dass dahinter extrem lang ange-       unterschätzt. Auch das spricht dafür, in
legte Projektionen mit entsprechend ho-       entsprechenden Analysen mit unter-
hen Unwägbarkeiten stehen. Sie werden         schiedlichen Szenarien zu arbeiten, die
stark von den zuvor getroffenen Annah-        solche Unwägbarkeiten veranschaulichen
men gesteuert. Das zeigt sich bei entspre-    können. In den Modellrechnungen für
chenden Sensitivitätsanalysen. Daher ist      Deutschland, die diesem Tragfähigkeits-
Vorsicht bei der Interpretation der nume-     bericht zugrunde liegen, ist genau das ge-
rischen Ergebnisse angebracht. Das gilt       schehen.
erst recht, wenn die Ungleichgewichte in
den öffentlichen Haushalten nicht wie im
Falle S1 und S2 in einer periodischen
„Stromgröße“ sondern als einmalige „Be-
standsgröße“ ausgewiesen werden. Das ist
zum Beispiel bei der Kalkulation einer im-
pliziten Staatschuld der Fall, die sich aus
der Addition der Barwerte künftig anfal-
lender Defizite ergibt. Deren Höhe ist vom
jeweils unterstellten Zins- bzw. Diskontie-
rungssatz wesentlich stärker abhängig als
die auf Gemeinschaftsebene üblicher-
weise genutzten Indikatoren, die etwa er-
forderliche Anpassungen in Form einer
Seite 20   Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

                         2.2 Annahmen der Modell-                            Einen Überblick über sämtliche An-
                                                                          nahmen, sowohl in Variante T– als auch in
                             rechnungen                                   Variante T+, gibt Tabelle 1. Die unter-
                                                                          schiedlichen Projektionen zur demografi-
                         Die beiden Basisvarianten, die für Zwecke        schen Entwicklung wirken sich unter an-
                         des BMF-Tragfähigkeitsberichts konzi-            derem spürbar auf den Altenquotient aus:
                         piert wurden, beruhen auf divergieren-           Während der Quotient in Variante T– von
                         den Annahmen zur langfristigen Entwick-          31,2 im Jahr 2010 über 50,5 im Jahr 2030
                         lung in den Bereichen Demografie, Ar-            auf 68,5 im Jahr 2060 steigt, verläuft der
                         beitsmarkt und sonstige gesamtwirt-              Anstieg in Variante T+ deutlich gedämpf-
                         schaftliche Entwicklung. Hinsichtlich ih-        ter – hier erreicht der Altenquotient im
                         rer Konsequenzen für die langfristige            Jahr 2060 einen Wert von 54,9. Die An-
                         Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen          nahmen zur Erwerbslosenquote gehen in
                         sind diese Annahmen einerseits von ei-           Variante T– von einer vergleichsweise ho-
                         nem gewissen durchgängigen Pessi-                hen strukturellen Arbeitslosigkeit in Höhe
                         mismus („Variante T–“), andererseits von         von 5,8 % über den gesamten Projektions-
                         einem gewissen durchgängigen Opti-               zeitraum aus, während in Variante T+
                         mismus („Variante T+“) getragen. So wer-         eine deutlich günstigere Entwicklung der
                         den in Variante T+ zum Beispiel hinsicht-        Erwerbslosenquote angenommen wird
                         lich der demografischen Entwicklung              (Rückgang bis auf 3,4 % im Jahr 2060). Zu-
                         eine höhere Geburtenrate und eine grö-           sammen genommen wirken sich die An-
                         ßere Zuwanderung unterstellt als in Vari-        nahmen zur demografischen Entwick-
                         ante T–. Ausgangsjahr ist das Jahr 2010,         lung, zur Höhe der Erwerbsbeteiligung
                         für das bei der Durchführung der Rech-           und zur Erwerbslosigkeit unmittelbar auf
                         nungen für die meisten relevanten Grö-           die Anzahl der Erwerbstätigen aus: In Va-
                         ßen bereits Ist-Daten oder zumindest ver-        riante T– sinkt die Zahl der Erwerbstäti-
                         lässliche Schätzwerte vorlagen.5 Berück-         gen von 40,5 Mio. Personen im Jahr 2010
                         sichtigt wurden außerdem einschlägige            über 36,1 Mio. Personen im Jahr 2030 auf
                         Eckdaten der mittelfristigen Finanzpla-          29,2 Mio. Personen im Jahr 2060. In Vari-
                         nung der Bundesregierung mit dem End-            ante T+ ergibt sich dagegen ein deutlich
                         jahr 2015.                                       langsamerer Rückgang, mit 38,8 Mio. er-
                                                                          werbstätigen Personen im Jahr 2030 und
                                                                          35,7 Mio. erwerbstätigen Personen im
                                                                          Jahr 2060.

                       5. Für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) lagen die Ergebnisse des Statistischen Bun-
                       desamtes vom Jahresanfang 2011 zugrunde. Die große VGR-Revision, deren Ergebnisse das Statistische
                       Bundesamt zum 1. September 2011 veröffentlichte, ist demzufolge hier nicht berücksichtigt.

                       Tabelle rechts:

                       a) Angaben für 2010 basieren auf Ist-Daten aus der amtlichen Statistik (die bei der Erstellung der
                          Projektionen teilweise noch als Bevölkerungsvorausschätzung: Statistisches Bundesamt (2009).
                       b) Personen im Alter 65+ je 100 Personen im Alter 15-64.
                       c) In % aller Erwerbspersonen; international standardisierte Definition.
                       d) Reale Wachstumsraten (jahresdurchschnittliche Werte im vorangegangenen 10-Jahres-Zeitraum).

                       Quelle: Werding/ifo 2011
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 21

Tabelle 1:
a) Annahmen für die Projektionen (Variante „T-“)

                                          2010 a)   2020    2030    2040    2050    2060
Demografie:
Wohnbevölkerung (Mio.)                       81,6    80,2    78,2    75,2    71,4    66,9
Altenquotient     b)
                                             31,2    37,0    50,5    60,0    64,3    68,5
Arbeitsmarkt:
Erwerbsbeteiligung (%)
- Frauen (15-64)                             74,5    76,3    76,9    78,8    79,7    80,5
- Männer (15-64)                             83,8    84,1    84,3    85,5    85,8    86,5
Erwerbspersonen (Mio.)                       43,3    42,0    38,2    35,5    33,4    30,9
Erwerbstätige (Mio.)                         40,5    39,7    31,6    33,6    31,5    29,2
Registrierte Arbeitslose (Mio.)               3,2     2,8     2,5     2,3     2,2     2,0
Erwerbslosenquote (%)  c)
                                              6,8     5,8     5,8     5,8     5,8     5,8
Gesamtwirtschaft:
Arbeitsproduktivität d) (%)                   0,5     1,5     1,7     1,5     1,4     1,4
Bruttoinlandsprodukt (%)    d)
                                              0,9     1,3     0,7     0,8     0,8     0,6
BIP pro Kopf d) (%)                           0,9     1,5     1,0     1,2     1,3     1,3

b) Annahmen für die Projektionen (Variante „T+“)
                                          2010 a)   2020    2030    2040    2050    2060
Demografie:
Wohnbevölkerung (Mio.)                       81,6    80,8    80,2    78,8    76,7    74,5
Altenquotient b)                             31,2    36,1    47,5    53,5    54,0    54,9
Arbeitsmarkt:
Erwerbsbeteiligung (%)
- Frauen (15-64)                             74,5    76,6    77,9    79,4    80,1    80,9
- Männer (15-64)                             83,8    84,8    85,7    86,2    86,6    87,2
Erwerbspersonen (Mio.)                       43,3    42,7    40,2    38,5    37,9    36,8
Erwerbstätige (Mio.)                         40,5    40,8    38,8    37,3    36,7    35,7
Registr. Arbeitslose (Mio.)                   3,2     2,3     1,7     1,5     1,5     1,4
Erwerbslosenquote c) (%)                      6,8     4,7     3,7     3,4     3,4     3,4
Gesamtwirtschaft:
Arbeitsproduktivität d) (%)                   0,5     1,6     1,9     1,8     1,7     1,7
Bruttoinlandsprodukt (%)    d)
                                              0,9     1,6     1,4     1,4     1,5     1,4
             d)
BIP pro Kopf (%)                              0,9     1,7     1,5     1,6     1,8     1,7
Seite 22   Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

                             Als Rechtsstand lagen den beiden Ba-      sein dürfte, lässt einen Rückgang gemäß
                         sisvarianten die zu Jahresbeginn 2011 gel-    der unter günstigen Bedingungen in der
                         tenden gesetzlichen Rahmenbedingun-           Variante T+ schon im Vorgängerbericht
                         gen für alle einzeln erfassten Bereiche der   erwarteten Größenordnung dagegen
                         öffentlichen Finanzen zugrunde, ein-          durchaus wieder möglich erscheinen, zu-
                         schließlich darin bereits geregelter, je-     gleich wurde die ungünstige Variante T–
                         doch erst während des Projektionszei-         in dieser Hinsicht weniger pessimistisch
                         traums wirksam werdender Änderungen.          angelegt. Dafür spricht nicht zuletzt die
                         Vorgaben für die Entwicklung des ge-          zu erwartende Knappheit beim Faktor Ar-
                         samtstaatlichen Defizits oder der gesamt-     beit, die zur weiteren Integration von Er-
                         staatlichen Verschuldung in Form spezifi-     werbslosen in den Arbeitsmarkt führen
                         scher Haushaltsregeln wurden jenseits         sollte. Unter diesen Umständen wäre von
                         des Zeithorizonts der mittelfristigen Fi-     dieser Seite nicht nur mit verringerten
                         nanzplanung nicht gemacht. Andernfalls        Transferleistungen und einer deutlichen
                         würden langfristig entstehende Belastun-      Verminderung des Drucks auf die öffent-
                         gen – wie sie sich aus den Folgen des de-     lichen Haushalte zu rechnen. Auch das ge-
                         mografischen Wandels aber auch als Kon-       samtwirtschaftliche Wachstum fiele auf-
                         sequenz einer ungünstigen Haushaltslage       grund der dann höheren Beschäftigung
                         am aktuellen Rand und einer dadurch zu-       günstiger aus.
                         nehmenden Staatsverschuldung ergeben              Der Entwicklungspfad für das Bruttoin-
                         könnten – eher verschleiert als aufge-        landsprodukt wurde in beiden Basisvari-
                         deckt.                                        anten erneut nicht exogen vorgegeben,
                             Zusammen genommen beschreiben             sondern wie in den vorherigen Projektio-
                         die beiden Varianten einen Korridor mög-      nen aus einer Produktionsfunktion abge-
                         licher künftiger Entwicklungen, ohne          leitet. Die Bandbreite der sich dann ab-
                         dass die dahinter stehenden Szenarien als     zeichnenden Entwicklung für das gesamt-
                         extrem erscheinen. Wie schwierig das ins-     wirtschaftliche Produktionspotential spie-
                         besondere bei den Annahmen über die           gelt Abbildung 4 wider. Bei einem Blick
                         künftige Entwicklung der strukturellen        zurück ist der Einbruch der gesamtwirt-
                         Arbeitslosigkeit sein kann, hat sich schon    schaftlichen Produktion im Jahr 2009 cha-
                         bei den in der Vergangenheit durchge-         rakteristisch. Ein Anschluss an das vor der
                         führten Untersuchungen gezeigt. Unter         Krise erreichte Produktionsniveau wurde
                         dem Eindruck der Finanzmarkt- und Wirt-       in Deutschland anders als in vielen ande-
                         schaftskrise zum Beispiel hatten sich bei     ren betroffenen Volkswirtschaften inzwi-
                         vielen Beobachtern die Erwartungen für        schen aber bereits wieder erreicht. Gemes-
                         einen langfristigen Abbau der Unterbe-        sen am Stand des Jahres 2005 kann lang-
                         schäftigung in Deutschland gravierend         fristig in der günstigen Variante (T+)
                         verschlechtert und diese hatten eine          mehr als eine Verdoppelung der gesamt-
                         ad-hoc durchgeführte Aktualisierung der       wirtschaftlichen Leistung erzielt werden.
                         Modellrechnungen aus dem Zweiten              In der ungünstigen Variante (T–) ergibt
                         Tragfähigkeitsbericht, deren wichtigste       sich dagegen kaum mehr als eine Steige-
                         Ergebnisse das BMF der Öffentlichkeit im      rung um die Hälfte, die sich überwiegend
                         vergangenen Jahr ebenfalls bekannt ge-        aus dem unterstellten Produktivitätsfort-
                         macht hat, wesentlich geprägt. Die an-        schritt speist.
                         schließende rasche Erholung, die nicht al-
                         lein konjunkturellen Faktoren geschuldet
Dritter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Seite 23

Abbildung 4: Bruttoinlandsprodukt
             (Indexwerte 2005 = 100; 1991-2060)
                          225
                                                                                                             217,8

                          200

                                                                 Variante T+
reales BIP (2005 = 100)

                          175

                                                                                                             161,1

                          150

                          125
                                                                                               Variante T-

                          100
                                                                                               Variante T+
                                                                                               Variante T–
                           75
                            1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

Quelle: Werding/ifo 2011

2.3 Ergebnisse                                               > Die infolge der Krise sich einstel-
                                                             lende Schrumpfung der gesamtwirt-
2.3.1 Basisvarianten                                         schaftlichen Produktion, die bei einem
                                                             Blick auf die Entwicklung des BIP in der
Die grundsätzlichen Verfahren zur Fort-                      jüngeren Vergangenheit inzwischen
schreibung der öffentlichen Finanzen ha-                     so deutlich erkennbar ist (vgl. Abbil-
ben sich in den Modellrechnungen im                          dung 4), war zum Zeitpunkt der Erstel-
Vergleich zum Vorgängerbericht nicht                         lung der Rechnungen für den Vorgän-
geändert. Die Projektionen beruhen bei                       gerbericht nicht erwartet worden. Auf
allen Budgetkomponenten auf dem bei                          der anderen Seite sind die Staatsausga-
Erstellung der Rechnungen geltenden                          ben in keinem der hier betrachteten
Rechtsstand und nutzen die Kenntnis al-                      Bereiche entsprechend zurückgegan-
ters- und geschlechtsspezifischer Ausga-                     gen. Daher zeigt sich in praktisch allen
benprofile für die langfristige Fortschrei-                  Feldern ein charakteristischer Sprung
bung der Entwicklung in den einzelnen                        im Niveau der Ausgaben in Relation
Ausgabenbereichen. Sie berücksichtigen                       zum laufenden BIP, dessen langfristige
hinsichtlich der demografischen und ma-                      Effekte durch die seither eingetretene
kroökonomischen Entwicklung zugleich                         gesamtwirtschaftliche      Entwicklung
die in Abschnitt 2.2 beschriebenen An-                       allerdings wieder leicht gedämpft wer-
nahmen und führen im Vergleich zu den                        den. Abgesehen davon entsprechen
früheren Rechnungen zu folgenden Er-                         vor allem die projizierten Verläufe der
gebnissen:                                                   Ausgaben der gesetzlichen Renten-
Seite 24   Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

                            versicherung sowie der gesetzlichen        Werden die Ergebnisse der Rechnun-
                            Krankenversicherung weitestgehend gen zusammengeführt und gleichzeitig
                            den Resultaten der Projektionen für um den so genannten Verrechnungsver-
                            den Zweiten Tragfähigkeitsbericht.      kehr – also Zahlungen zwischen den Teil-
                                                                    budgets – bereinigt, so nimmt die Ent-
                            > Im Bereich der Beamtenversor- wicklung der demografieabhängigen
                            gung und der sozialen Pflegeversi- Ausgaben in der Summe den in Abbildung
                            cherung führen zwischenzeitliche 5 dargestellten Verlauf: Die von der demo-
                            Rechtsänderungen, die bei den frühe- grafischen Entwicklung besonders abhän-
                            ren Projektionen im Rahmen der Basis- gigen Ausgaben belaufen sich danach im
                            varianten noch nicht berücksichtigt Basisjahr (2010) in allen hier erfassten Be-
                            wurden, bei den Ausgaben jeweils zu reichen auf 28,5 % des BIP und entspre-
                            einer verringerten langfristigen Auf- chen damit rund 61 % aller öffentlichen
                            wärtsdynamik. Besonders ausgeprägt Ausgaben. Es wird erwartet, dass diese
                            sind diese Effekte bei der Pflegeversi- Quote – nach ihrem deutlichen Anstieg im
                            cherung. Sie sind langfristig aber auch Zuge der jüngsten Finanzmarkt- und
                            mit einer deutlichen Reduktion des Wirtschaftskrise – im Zeithorizont der
                            Sicherungsniveaus dieses Systems ver- hier berücksichtigten Mittelfristprojek-
                            bunden.                                 tion der Bundesregierung bis 2015 auf
                                                                    rund 27,6 % zurückgeht. In der pessimisti-
                            > Bei den Leistungen der Arbeitslo- scheren Basisvariante „T–“ beginnt die
                            senversicherung und der Grundsi- Ausgabenquote danach allerdings rasch
                            cherung für Arbeitsuchende machen wieder zu steigen, und zwar insbesondere
                            sich kurz- bis mittelfristig noch die im Zeitraum bis 2035, mit verringertem
                            Auswirkungen der Krise auf die Tempo jedoch weiter bis 2060. Sie erreicht
                            Arbeitsmarktentwicklung bemerkbar. bis zum Ende des Projektionszeitraums
                            Langfristig wirken sich zudem die ge- dann 34,5 %. In der optimistischeren Basis-
                            änderten Regelungen zur Anpassung variante „T+“ ergibt sich eine deutlich ge-
                            der Leistungen der Grundsicherung ringere, langfristige Dynamik der Ausga-
                            aus.                                    benquote, durch die sie in dieser Variante
                                                                    bis 2060 lediglich auf 30,3 % steigt. Die
                            > Die projizierten Verläufe der öffent- projizierte Zunahme der Ausgabenquote
                            lichen Ausgaben für Bildung und Kin- gegenüber 2010 beläuft sich je nach Vari-
                            derbetreuung sowie für den Famili- ante somit auf 1,8 bis 6,0 Prozentpunkte,
                            enleistungsausgleich erhöhen sich gegenüber 2015 sogar auf 2,7 bis 6,9 Pro-
                            gegenüber den Projektionen zum zentpunkte. Hält man rechnerisch alle an-
                            Zweiten Tragfähigkeitsbericht eben- deren öffentlichen Ausgaben in Relation
                            falls jeweils leicht. Im Falle der Bil- zum laufenden BIP konstant, würde sich
                            dungsausgaben liegt dies vor allem an daraus ein langfristiger Anstieg der ge-
                            einer Berücksichtigung aktualisierter samtstaatlichen Ausgabenquote von zu-
                            Daten am aktuellen Rand, nach denen letzt (2010) ca. 46,7 % auf Werte von 48,5 %
                            diese zuletzt schon stärker gestiegen bis 52,7 % des BIP ergeben.
                            sind als zuvor unterstellt wurde. Auch
                            die Ausgaben für den Familienleis-
                            tungsausgleich sind zwischenzeitlich
                            gezielt erhöht worden.
Sie können auch lesen