EHRBARER STAAT? WEGE UND IRRWEGE DER RENTENPOLITIK IM LICHTE DER GENERATIONENBILANZ - ARGUMENTE ZU MARKTWIRTSCHAFT UND POLITIK
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ehrbarer Staat? Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 148 | Februar 2020 Bernd Raffelhüschen Stefan Seuffert
Ehrbarer Staat? Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Bernd Raffelhüschen Stefan Seuffert Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 148 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 1 Einleitung 04 2 Methodik der Generationenbilanzierung 05 2.1 Methodische Grundlagen 05 2.2 Rahmenbedingungen für die öffentlichen Finanzen 05 2.3 Nachhaltigkeitsindikatoren 07 3 Sündenfälle der Rentenpolitik 08 3.1 Sündenfall 1 – Die „Rente mit 63“ 08 3.2 Sündenfall 2 – Der Grundrentenkompromiss 09 4 Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV 12 4.1 Entwicklung der Lebenserwartung 12 4.2 Der Lebenserwartungsfaktor 14 5 Was dann noch fehlt? Eine Einigung über die Aufteilung der verbleibenden Nachhaltigkeitslücke 17 Literatur 18 Executive Summary 20 © 2020 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 206057-0 Die Publikation ist auch über den QR-Code Telefax: +49 (0)30 206057-57 kostenlos abrufbar. info@stiftung-marktwirtschaft.de www.stiftung-marktwirtschaft.de Diese Studie wurde am Forschungszentrum Generationenverträge der Albert- ISSN: 1612 – 7072 Ludwigs-Universität Freiburg erstellt. Für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen Titelfoto: © Sergej Khackimullin – Fotolia.com + Roderick Eime danken die Autoren Lewe Bahnsen, Tobias Kohlstruck, Gerrit Manthei, Guido (Titanic II And Statue Of Liberty) – https://commons.wikimedia.org/ Raddatz, Florian Wimmesberger und Ann Zimmermann. Für mögliche Fehler zei- wiki/File:Titanic_II.jpg (Montage) gen sich die Autoren verantwortlich.
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Vorwort Vorwort Praktisch seit Bestehen der Bundesrepublik stehen renten- einkehrt und die Politik über den Tellerrand der nächsten Le- politische Entscheidungen immer wieder ganz oben auf der gislaturperiode hinausblickt. politischen Agenda. Ob zu Zeiten Konrad Adenauers, Willy Ob sich die von der Bundesregierung eingesetzte Ren- Brandts, Norbert Blüms oder Franz Münteferings – stets war tenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ auf sinn- die „Rente“ ein wichtiges und häufig auch umstrittenes The- volle Vorschläge einigen und nachhaltige Reformen anstoßen ma. Spätestens seit den 1980er Jahren, als die Vorboten eines kann, steht derzeit in den Sternen – zu groß scheinen die stärker werdenden demografischen Wandels bereits deutlich „politischen Gegensätze“ der Beteiligten und zu dominierend sichtbar waren und zudem die Hoffnung auf eine schnelle die Verbandsinteressen mancher Mitglieder. Dabei sind sich Rückkehr zur Vollbeschäftigung angesichts der zweiten Ölkri- so gut wie alle Experten darüber einig, dass eine weitere Ver- se in immer weitere Ferne rückte, wurde dabei der grundsätz- längerung der Lebensarbeitszeit in den kommenden Jahr- liche Konflikt zwischen großzügigen Rentenleistungen und zehnten ein zentrales Element jedes Reformkonzepts sein zunehmenden Finanzierungsrestriktionen deutlich. muss. Auch aus Sicht der Stiftung Marktwirtschaft darf sich Häufig zielte die Politik bei den umgesetzten Maßnah- der Anstieg der Lebenserwartung nicht eins zu eins in eine men auf den kurzfristigen Erfolg an den Wahlurnen mit der längere Rentenbezugszeit niederschlagen. Vielmehr sollte Folge, dass Sicherung und Ausweitung der Rentenzahlungen das Verhältnis aus Beitragsjahren und Rentenbezugsjahren politisch die Oberhand behielten. Daher kann es nicht ver- in etwa konstant bleiben. Mit dem in dieser Studie vorge- wundern, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung seit schlagenen „Lebenserwartungsfaktor“ erreicht man dieses Jahrzehnten eine signifikante implizite Verschuldung zu beob Ziel besonders elegant, da die Politik keine feste numerische achten ist, die vor allem die jüngeren und zukünftigen Gene- Altersgrenze für die kommenden Jahrzehnte vorgeben muss, rationen belasten wird. sondern das Renteneintrittsalter regelgebunden an die stei- Angesichts der absehbaren enormen demografischen gende Lebenserwartung angepasst würde. Klar ist aber auch, Verschiebungen konnte sich aber hin und wieder auch die dass bei der Frage, wie man ein späteres Renteneintrittsalter fiskal- und sozialpolitische Vernunft durchsetzen. In größerem erreicht, viele Wege nach Rom führen. Die Hauptsache ist, Stil war das zuletzt vor über einem Jahrzehnt der Fall. Mit die Politik macht sich endlich auf den Reformweg. Schon der im Jahr 2007 beschlossenen sukzessiven Anhebung des Laotse wusste, dass auch der längste Marsch mit dem ersten Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wurde eine damals längst Schritt beginnt. In Bezug auf eine nachhaltige Rentenreform überfällige Anpassung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist man allerdings geneigt hinzuzufügen, dass ein gewisses an die stetig steigende Lebenserwartung vorgenommen. politisches Durchhaltevermögen mindestens ebenso wichtig Seitdem haben sich allerdings zwei Große Koalitionen in ist, um das Ziel zu erreichen. Sachen Nachhaltigkeit nicht mit Ruhm bekleckert, sondern sind mit dem rentenpolitischen Füllhorn auf Stimmenfang Wir danken der informedia-Stiftung für die Förderung dieser gegangen – angesichts einer strukturellen Mehrheit der über Publikation. 55-Jährigen unter den Wählern eine taktisch nachvollzieh- bare Strategie. Die Quittung der großzügigen Leistungsver- sprechen wie „Mütterrente“, „Rente mit 63“ oder jetzt auch einer Grundrente ohne echte Bedürftigkeitsprüfung werden vor allem die Jüngeren in Form höherer Beitrags- und/oder Steuerbelastungen erhalten. Schließlich können die Grund- rechenarten der Mathematik auch durch eine politisch postu- Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen lierte „doppelte Haltelinie“ nicht ausgetrickst werden. Umso Vorstand Vorstand wichtiger ist es, dass endlich wieder rentenpolitische Vernunft der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft 03
Einleitung Ehrbarer Staat? 1 Einleitung Welchen Fokus die öffentliche Wahrnehmung der Renten- Auswirkungen des Übergangs von den geburtenstarken zu debatte in den vergangenen Jahren hatte, verdeutlichte den geburtenschwachen Jahrgängen deutlich zu spüren be- unlängst die Gesellschaft für deutsche Sprache eindrucks- kommen. Denn im Falle der Rentenversicherung ist der Eintritt voll. Bei der Wahl zum Wort des Jahres 2019 standen unter der Versicherten in den Ruhestand gleichbedeutend mit dem anderem die Begriffe „Fridays for Future“ und „Bienenster- schlagartigen Wechsel vom Beitragszahler zum Leistungs- ben“ in der engeren Auswahl. Schlussendlich wurde jedoch empfänger. Einige Jahre später werden auch die gesetzliche „Respektrente“ zum Wort des Jahres gewählt und damit der Krankenversicherung (GKV) und die soziale Pflegeversiche- Name eines umstrittenen Reformvorschlages zur Ausweitung rung deutliche Mehrausgaben für die alternden Babyboomer von Rentenleistungen, der sich in die lange Reihe fragwür- verzeichnen. Dennoch war das Jahr 2019 erneut von poli- diger „Wahlgeschenke“ einreiht und in seiner ursprünglichen tischen Diskussionen um Leistungsausweitungen in der GRV Form längst abgelehnt wurde. Ebenso ist der Grundrenten- geprägt. Nicht nur in Anbetracht der anstehenden, demogra- kompromiss des Koalitionsausschusses vom 10.11.2019 – fisch bedingten fiskalischen Zerreißprobe, ist die Sinnhaftigkeit auch in der Form des Referentenentwurfs aus dem BMAS solcher Maßnahmen fragwürdig. Vor diesem Hintergrund the- vom 16.01.2020 – weit davon entfernt, ein überzeugender matisiert die vorliegende Studie die fiskalische Nachhaltigkeit und zielgenauer Ansatz zur Bekämpfung von Altersarmut zu ausgewählter rentenpolitischer Maßnahmen, legt dabei gra- sein. vierende Mängel offen und zeigt erhebliches Verbesserungs- Diese Pläne zeigen darüber hinaus einmal mehr, dass potenzial hinsichtlich der finanziellen Nachhaltigkeit auf. das Thema Nachhaltigkeit weiterhin als zweitrangig betrachtet So stellt die „Rente mit 63“ keinesfalls eine Maßnahme für wird, sowohl aus ökologischer als auch aus fiskalischer Per- ausnehmend stark belastete Versicherte dar. Vielmehr bezie- spektive. Die eigentlich notwendigen Reformen in der gesetz- hen über 25 Prozent der Neurentner eine abschlagsfreie „Ren- lichen Rentenversicherung (GRV) wurden von der aktuellen te mit 63“. Diese ist darüber hinaus im Durchschnitt um mehr Regierungskoalition bislang jedenfalls nicht angegangen. Es als 40 Prozent höher als die Renten der sonstigen Altersrent- bleibt daher nur zu hoffen, dass die von der Bundesregierung ner. Die „Rente mit 63“ stellt somit eine Subventionierung des zu Beginn der Legislaturperiode eingesetzte Rentenkommissi- vorzeitigen Renteneintritts vergleichsweise gut versorgter Ver- on „Verlässlicher Generationenvertrag“ in ihrem anstehenden sicherter dar. Abschlussbericht einen stärkeren Fokus auf die fiskalische Bezüglich der Grundrentendiskussion wird deutlich, dass Nachhaltigkeit legt als die öffentliche und politische Diskussion die Kostenschätzung der Großen Koalition zu optimistisch ist. des letzten Jahres. So liegen die im Rahmen der vorliegenden Studie berechne- Die „Bilanz des ehrbaren Staates“ zeigt, aufbauend auf ten anfänglichen jährlichen Kosten des Grundrentenkonzepts, dem Instrument der Generationenbilanz, seit dem Jahr 2006 wie es im Koalitionsbeschluss vom 10.11.2019 dargestellt alljährlich den Stand der Nachhaltigkeit der deutschen Finanz- ist, bei ca. 2,3 Mrd. Euro und damit deutlich über den von politik auf und weist darauf hin, dass neben der vom Staat offizieller Seite verlautbarten Kosten von 1,5 Mrd. Euro. Von ausgegebenen expliziten Staatsverschuldung auch die impli- größerer Bedeutung ist jedoch die Tatsache, dass die Grund- zite Staatsverschuldung in Form ungedeckter Leistungsver- rente mit fundamentalen Prinzipien der Sozialpolitik bricht und sprechungen zu berücksichtigen ist.1 Die gesellschaftliche in Zukunft wohl eine andauernde Diskussion über die Berück- Alterung wird insbesondere in den Sozialversicherungen zu- sichtigung weiterer Partikularinteressen zur Folge haben wird. künftig Finanzierungslücken hervorrufen. Denn während im- Stattdessen plädieren wir für die Einführung eines Le- mer weniger junge potenzielle Beitragszahler nachrücken, benserwartungsfaktors zur Anpassung des Renteneintrittsal- bewirkt die steigende Lebenserwartung in den kommenden ters. Eine nachhaltige und damit intergenerativ gerechte Fi- Jahrzehnten einen Anstieg der Personen im Ruhestand und nanzierung der GRV setzt ein konstantes Verhältnis zwischen damit einen Anstieg der Leistungsempfängerzahl. In den kom- der Dauer der Beitragszahlungen und der Rentenbezugszeit menden zehn Jahren wird sich das Verhältnis zwischen Per- voraus. Der Lebenserwartungsfaktor zur automatischen An- sonen im Ruhestand und Erwerbspersonen besonders stark passung des Regelrenteneintrittsalters stellt ein Instrument zur verändern, da die geburtenstarken Jahrgänge in diesem Zeit- Gewährleistung dieser Voraussetzung dar. Er bewirkt, dass – raum das Regelrenteneintrittsalter erreichen werden. was die Zukunft auch bringen mag – alle Generationen so lan- Als erster Sozialversicherungszweig wird die GRV die ge Renten beziehen, wie es ihnen zusteht. 1 Eine ausführliche Darstellung der aktuellen Generationenbilanz findet sich in Bahnsen et al. (2019). 04
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Methodik der Generationenbilanzierung 2 Methodik der Generationenbilanzierung 2.1 Methodische Grundlagen 2.2 Rahmenbedingungen für die öffentlichen Finanzen Die Generationenbilanzierung wurde Anfang der 1990er Jah- re von den amerikanischen Ökonomen Alan J. Auerbach, Die Ergebnisse der Generationenbilanzierung beruhen, Jagadeesh Gokhale und Laurence J. Kotlikoff zur langfris ähnlich wie der Tragfähigkeitsbericht der Bundesregierung tigen Analyse der Fiskal- und Sozialpolitik entwickelt.2,3 Im (BMF, 2016) und die Tragfähigkeitsanalysen der Europä- Kern handelt es sich bei der Generationenbilanzierung um ischen Kommission (2019), auf einer langfristigen Projektion ein Instrument zur Projektion der langfristigen Entwicklung der Finanzentwicklung des öffentlichen Gesamthaushalts. der öffentlichen Finanzen. Hierzu liegen der Generationenbi- Ausgangsbasis der aktuellen Projektion bilden Daten der lanzierung Annahmen zu den wirtschaftlichen und fiskalpoli- Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistischen tischen Rahmenbedingungen in der Zukunft sowie der demo- Bundesamtes (2019a) zu den Einnahmen und Ausgaben grafischen Entwicklung zugrunde. Auf dieser Grundlage lässt des öffentlichen Gesamthaushalts der Jahre 2017 und 2018. sich das zukünftige Verhältnis zwischen der Einnahmen- und Die zukünftige Entwicklung wird – abgesehen von demogra- Ausgabenentwicklung der öffentlichen Haushalte ermitteln. fischen Veränderungen (siehe Box 1) – durch wirtschaftliche Sofern die zukünftigen Ausgaben die zukünftigen Einnahmen und fiskalpolitische Rahmenbedingungen in der mittleren und übersteigen, wird von einer impliziten Staatsverschuldung ge- langen Frist geprägt: sprochen. Sie spiegelt das Ausmaß wider, um das die explizi- te Staatsverschuldung rechnerisch zukünftig noch zunehmen Wirtschaftliche Rahmenbedingungen wird, sollte die heutige Politik auf Dauer fortgeführt werden. Neben der Berücksichtigung der impliziten Schulden- Für die Fortschreibung der alters- und geschlechtsspezi- last kann mittels der Generationenbilanzierung sowohl für fischen Pro-Kopf-Zahlungen des Basisjahres wird in der lan- die heute lebenden als auch die zukünftigen Generationen gen Frist eine einheitliche Trendwachstumsrate von 1,5 Pro- jeweils der Betrag ermittelt werden, mit dem diese zu den zent unterstellt. Für die Berechnung der Gegenwartswerte künftigen Einnahmen und Ausgaben des Staates beitragen. der zukünftigen Einnahmen- und Ausgabenströme wird ein Daher lassen sich auf dieser Basis nicht nur fundierte Aus- langfristiger realer Zinssatz von 3,0 Prozent zugrunde gelegt. sagen über die finanzielle Nachhaltigkeit einer bestimmten Für die Jahre bis 2023 basieren die Annahmen zur Entwick- Fiskal- und Sozialpolitik, sondern auch über deren intergene- lung der Steuereinnahmen auf den Ergebnissen des Arbeits- rativen Verteilungswirkungen treffen. kreises „Steuerschätzung“ (BMF, 2019). Fiskalpolitische Rahmenbedingungen Neben der gegenwärtigen Finanzlage der öffentlichen Hand berücksichtigt die vorliegende Generationenbilanz alle bis einschließlich Mai 2019 beschlossenen fiskalpolitischen Wei- chenstellungen. 2 Vgl. Auerbach et al. (1991, 1992, 1994). 3 Eine detaillierte Beschreibung der Methodik wie auch der Kritik an der Generationenbilanzierung findet sich in Raffelhüschen (1999), Bonin (2001), Bahnsen et al. (2016) und Hagist et al. (2006). 05
Methodik der Generationenbilanzierung Ehrbarer Staat? Die demografische Entwicklung Box 1 In Anlehnung an die Annahmen der „mittleren” Bevölkerung (G2-L2-W2) der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberech- nung des Statistischen Bundesamtes (2019b) unterstellt das Standardszenario der Generationenbilanz 2019, dass die Gebur- tenhäufigkeit auf dem heutigen Niveau von 1,55 Kindern pro Frau verharrt und die Lebenserwartung von Männern/Frauen von momentan 78,4/83,2 bis 2060 auf 84,4/88,1 Jahre ansteigt. Hinsichtlich der Außenwanderung wird ein langfristiger Wanderungsgewinn von jährlich 206.000 Personen unterstellt.* Auf dieser Grundlage ist bis zum Jahr 2060 mit einem Bevöl- kerungsrückgang von heute ca. 82 Millionen auf 78 Millionen Personen zu rechnen. Dieser Bevölkerungsrückgang ist an sich nicht dramatisch. Problematisch ist unter den heutigen Gegebenheiten vielmehr die gleichzeitige Alterung der Bevölkerung. Wie Abbildung 1 zeigt, wird sich der Altenquotient, d.h. die Anzahl der über 67-jährigen Personen pro 100 Personen im Alter zwischen 20 und 66 Jahren, bis zum Jahr 2060 deutlich erhöhen, wobei der Anstieg bis zum Jahr 2039 besonders stark aus- fallen wird. Kommen auf einen über 67-Jährigen gegenwärtig noch etwas mehr als drei Personen im erwerbsfähigen Alter, so werden dies im Jahr 2060 noch etwa zwei Erwerbsfähige sein. Auch nach dem Jahr 2039 wird sich der Alterungsprozess der Bevölkerung weiterhin fortsetzen, allerdings mit geringerer Geschwindigkeit. Die in Abbildung 1 blau dargestellte Fläche zeigt die Bandbreite der Entwicklung für alternative Bevölkerungsszenarien.** Abbildung 1: Entwicklung des Altenquotienten bis 2060 Quelle: Eigene Berechnungen. 60 Szenario „relativ alte“ Bevölkerung Projektion Altenquotient (über 67-Jährige / 20- bis 66-Jährige) 50 40 Szenario „relativ junge“ Bevölkerung 30 20 10 Standardszenario 0 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060 * Der Wanderungssaldo von 206.000 Personen entspricht der Annahme W2 der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung und berechnet sich als Durchschnitt der Jahre 1955 bis 2018. ** Als Bandbreite der möglichen Entwicklung wurden die Szenarien einer „relativ jungen” (G3-L1-W3) und einer „relativ alten” (G1-L3-W1) Bevölkerung der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde gelegt. Im Unterschied zum Standardszenario unterstellt das Szenario der „relativ jungen” Bevölkerung einen Anstieg der Geburtenziffer auf 1,7 Kinder je Frau, während sich bei der Lebenserwartung der verlangsamte Anstieg der letzten Jahre fortsetzt (Lebenserwartung bei Geburt steigt bis 2060 bei Männer/Frauen auf 82,5/86,4). Der jährliche Wanderungsüberschuss verbleibt auf einem hohen Niveau von 311.000 Personen. Hingegen geht das Szenario der „relativ alten” Bevölkerung davon aus, dass die Geburtenziffer auf 1,4 Kinder je Frau sinkt, die Lebenserwartung von Männern/Frauen auf 86,2/89,6 ansteigt und der Wanderungsüberschuss lediglich 147.000 Personen pro Jahr beträgt. 06
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Methodik der Generationenbilanzierung Pro-Kopf-Einnahmen und steigenden Pro-Kopf-Ausgaben 2.3 Nachhaltigkeitsindikatoren des Staates zu rechnen. Insbesondere der anstehende Ren- teneintritt der sogenannten Babyboomer-Generation wird sich dämpfend auf das durchschnittliche Erwerbseinkom- Nachhaltigkeitslücke men und dementsprechend auf die (Einkommen-)Steuer- und Sozialversicherungsbeitragseinnahmen auswirken. Die Im Sinne einer Schuldenquote entspricht die Nachhaltigkeits- GRV ist von dieser Entwicklung besonders stark betroffen. lücke der tatsächlichen Staatsverschuldung im Verhältnis Als ausgabenstärkster der deutschen Sozialversicherungs- zum heutigen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die tatsächliche zweige steuert sie mit 78,1 Prozent des BIP fast die Hälfte Staatsverschuldung setzt sich dabei aus der heute bereits der impliziten Gesamtstaatsschuld bei. Die Nachhaltigkeit der sichtbaren oder expliziten Staatsschuld und der heute noch öffentlichen Finanzen in Deutschland ist dementsprechend unsichtbaren oder impliziten Staatsschuld zusammen. Eine eng mit den anstehenden Entscheidungen bezüglich der zu- positive Nachhaltigkeitslücke zeigt an, dass die aktuelle Fis- künftigen Ausgestaltung der GRV verknüpft. kalpolitik auf Dauer nicht tragfähig ist und daher Steuer- und Abgabenerhöhungen oder Einsparungen zukünftig unum- gänglich sind. Abbildung 2: Implizite Schuld Implizite Schulden in Prozent des BIP 2018 (BIP 2018 = 3.386 Mrd. Euro) Während die explizite Schuld das Ausmaß vergangener Haus- Quellen: Eigene Berechnungen. haltsdefizite widerspiegelt, entspricht die implizite Schuld der Summe aller zukünftigen (Primär-)Defizite bzw. Überschüsse. 164,8 Wird in einem zukünftigen Jahr ein Überschuss erwartet, so reduziert dies die implizite Schuld, während ein Defizit diese erhöht. Die implizite Schuld spiegelt damit den Umfang wider, in dem sich zukünftige Defizite und Überschüsse (nicht) die Waage halten. 78,1 Die aktuelle Generationenbilanz mit dem Referenzjahr 2018 weist eine implizite Staatsschuld von 164,8 Prozent des BIP aus (Abbildung 2). In den kommenden Jahren und Jahrzehnten ist aufgrund des doppelten Alterungsprozesses in Form der steigenden Lebenserwartung bei Geburtenra- ten unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus mit sinkenden Gesamtstaat GRV 07
Sündenfälle der Rentenpolitik Ehrbarer Staat? 3 Sündenfälle der Rentenpolitik zeigt Tabelle 1, dass seit der Einführung der „Rente mit 63“ 3.1 Sündenfall 1 – Die „Rente mit 63“ der Anteil der Neurentner, die eine Rente abschlagsfrei vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch nehmen, stets deutlich über 25 Prozent lag. Mehr als jeder vierte Neurentner Das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz ist also „Rentner mit 63“. Nicht zuletzt aufgrund ihrer langen aus dem Jahr 2007 führte die Rente für besonders langjährig Erwerbshistorie beziehen die „Rentner mit 63“ dabei ver- Versicherte ein, die Versicherte mit einer Wartezeit von mindes gleichsweise hohe Renten. Diese sind im Durchschnitt um tens 45 Jahren von der Anhebung des Regelrenteneintritts mehr als 40 Prozent höher als jene sonstiger 63- oder 64-jäh- alters von 65 auf 67 Jahre ausnimmt. Im Rahmen des Renten- riger Altersrentner. versicherungs-Leistungsverbesserungsgesetzes 2014 wurde die Altersgrenze für besonders langjährig Versicherte von 65 Jahren auf 63 Jahre abgesenkt. Vor dem Jahr 1953 geborene Tabelle 1: besonders langjährig Versicherte konnten demzufolge bereits Anzahl der „Rentner mit 63“ im Alter von 63 Jahren eine abschlagsfreie Rente in Anspruch Quellen: Deutsche Rentenversicherung (2019), eigene Berechnungen. nehmen. Für die darauffolgenden Jahrgänge steigt diese Al- tersgrenze ähnlich wie die Regelaltersgrenze schrittweise um zwei Jahre auf 65 Jahre an. Besonders langjährig Versicherte Neurentner Neurentner Anteil Jahr „NR mit 63“ an können somit dauerhaft etwa zwei Jahre vor Erreichen der „Rente mit 63“ insgesamt NR insgesamt Regelaltersgrenze abschlagsfrei in die Rente eintreten. Diese 2015 246.861 888.521 27,8% Regelung wird gemeinhin als „Rente mit 63“ bezeichnet. In ihrem Gesetzentwurf zum Rentenversicherungs-Leistungs- 2016 206.662 783.718 26,4% verbesserungsgesetz formulierte die Bundesregierung, dass 2017 214.351 758.819 28,2% besonders langjährig Versicherte „ihren Beitrag zur Stabili- 2018 220.928 784.359 28,2% sierung der GRV [bereits] geleistet“ hätten (Deutscher Bun- destag 2014). In Anbetracht des Äquivalenzprinzips und der Gesamt 888.802 3.215.417 27,6% Umlagefinanzierung der GRV ist diese Argumentation nur schwer nachvollziehbar. Das (Teilhabe-)Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung stellt über das Entgeltpunktesystem si- Bei einem Renteneintritt zwei Jahre vor Erreichen der cher, dass Personen, die mehr zur Finanzierung der GRV bei- Regelaltersgrenze wird der Rentenzahlbetrag im Normalfall getragen haben, auch höhere Rentenzahlungen erhalten. Der um 7,2 Prozent reduziert. Das Entfallen der Abschläge für von den besonders langjährig Versicherten geleistete Beitrag eine Gruppe von Rentnern, die sowohl hinsichtlich ihrer An- zur Stabilisierung der Rentenversicherung wird dementspre- zahl als auch bezüglich der Höhe ihrer Rentenansprüche be- chend in Form höherer Rentenansprüche berücksichtigt. Die deutsam ist, schlägt sich folgerichtig in hohen Kosten für die Umlagefinanzierung hat in Verbindung mit dem demogra- Rentenversicherung nieder. Würden die besonders langjährig fischen Wandel darüber hinaus zur Folge, dass die Beiträge, Versicherten bei Renteneintritt vor Erreichen der Regelalters- die vor Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge geleis grenze zukünftig wieder mit den Abschlägen belegt, könnte tet wurden, vergleichsweise geringe relative Belastungen des dies die Nachhaltigkeitslücke des Gesamtstaats um 4,6 Pro- Arbeitseinkommens bedeuteten. zentpunkte des BIP bzw. 156,5 Mrd. Euro senken. Die Nach- Der Bezug einer Rente für besonders langjährig Versi- haltigkeitslücke der GRV könnte gar um 5,5 Prozentpunkte cherte ist dabei keineswegs ein seltener Ausnahmefall. So bzw. 185,7 Mrd. Euro gesenkt werden.4 4 Der unterschiedliche Einfluss auf die isolierte Nachhaltigkeitslücke der GRV im Vergleich zur Nachhaltigkeitslücke des Gesamtstaates beruht auf den finanziellen Verflechtungen der GRV mit anderen staatlichen Systemen, etwa dem Steuersystem oder den Zahlungen der GRV an die GKV. 08
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Sündenfälle der Rentenpolitik beschlossen. Die Grundrente soll ausschließlich Rentner mit 3.2 Sündenfall 2 – Einkommen unterhalb von 1.250 Euro im Falle von Alleinste- Der Grundrentenkompromiss henden und 1.950 Euro bei Paaren begünstigen. Dabei sollen auch alle Kapitalerträge und damit indirekt das zugrundelie- gende Vermögen berücksichtigt werden. Es ist zumindest 3.2.1 Die Grundrente gemäß Koalitionsbeschluss diskutabel, wie zielgenau diese indirekte Berücksichtigung vom 10.11.2019 von Vermögenswerten ist und wie nahe dementsprechend die Einkommensprüfung einer Bedürftigkeitsprüfung kommt. Die Diskussion um die Grundrente hat den politischen Dis- Hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit erscheint die kurs im Jahr 2019 geprägt. Das Bundesministerium für Ar- Berücksichtigung der Kapitalerträge aufgrund des Quellen- beit und Soziales (BMAS) veröffentlichte im Februar 2019 ein abzugsverfahrens der Abgeltungsteuer hingegen gänzlich „Eckpunktepapier“ und im Mai des gleichen Jahres ein „Fak- fragwürdig. tenpapier“, in denen eine Grundrente ohne Bedürftigkeits- Mittels zum damaligen Zeitpunkt nicht näher definierter prüfung, die sogenannte „Respekt-Rente“, in groben Zügen kurzer, wirksamer Gleitzonen soll verhindert werden, dass an vorgestellt wurde (BMAS 2019a, 2019b). Der zugehörige Re- den Grenzen des Einkommensfreibetrags und der für den ferentenentwurf für ein Grundrentengesetz vom 21.05.2019 Grundrentenbezug nötigen Beitragsjahre „harte Abbruch- scheiterte jedoch an der fehlenden Bedürftigkeitsprüfung. kanten“ entstehen. Dabei ist aus fiskalischer Sicht in erster Am 10.11.2019 veröffentlichte die Große Koalition schließlich Linie relevant, wie lang eine „kurze, wirksame Gleitzone“ ist einen Koalitionsbeschluss, der einen Kompromiss zwischen und ob sie zu einer Begünstigung von Personengruppen au- der „Respekt-Rente“ und der im Koalitionsvertrag vereinbar- ßerhalb der ursprünglich definierten Grenzen führt, was ge- ten bedürftigkeitsgeprüften Grundrente beinhaltet.5 Die im mäß dem neuen Referentenentwurf aus dem Januar 2020 Rahmen der vorliegenden Studie geschätzten anfänglichen offenbar der Fall sein soll. Eine solche Ausweitung des Be- jährlichen Kosten des Grundrentenkonzepts laut Koalitions- rechtigtenkreises könnte insbesondere beim Einkommens- beschluss vom 10.11.2019 liegen bei ca. 2,3 Mrd. Euro und freibetrag zu einer erheblichen Steigerung der Berechtigten- damit deutlich über den von offizieller Seite verlautbarten Ko- zahl und damit zu einem nicht unerheblichen Kostenanstieg sten von 1,5 Mrd. Euro. Dieser Unterschied spiegelt sich auch führen.6 Ohnehin dürfte sich in Zukunft eine dauerhafte Dis- in der Einschätzung der langfristigen Nachhaltigkeitswirkung kussion über die Höhe des Einkommensfreibetrags und die der Grundrente anhand der Erhöhung der Nachhaltigkeits- Anzahl der Mindestbeitragsjahre entfachen. lücke wider. Ausgehend von anfänglichen jährlichen Kosten Die Refinanzierung der Grundrente bleibt unklar. In den in Höhe von 2,3 (statt 1,5) Mrd. Euro, steigert die Grundren- ursprünglichen „Respekt-Renten“-Plänen des BMAS war un- te die Nachhaltigkeitslücke um 4,4 (statt 2,6) Prozentpunkte ter anderem eine intransparente Refinanzierung auf Kosten bzw. 149,3 (statt 88,2) Mrd. Euro. der GKV vorgesehen. Gemäß dem Koalitionsbeschluss vom Der Koalitionsbeschluss sieht eine Bezuschussung der 10.11.2019 soll die Grundrente ausschließlich aus Steuer- Renten von Rentnern mit mindestens 35 Beitragsjahren und mitteln finanziert werden. Dabei steht die Verwendung der durchschnittlich zwischen 0,3 und 0,8 Entgeltpunkten pro Mittel aus der geplanten Finanztransaktionssteuer im Raum. Beitragsjahr vor. Die entsprechenden Renten werden um den Mit den Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer kann Faktor 1,875 – maximal aber auf durchschnittlich rund 0,8 jedoch nicht seriös gerechnet werden, bevor die innereuro- Entgeltpunkte und beschränkt auf 35 Beitragsjahre angeho- päische Aufteilung der Einnahmen festgelegt ist, die genauen ben. Anstelle einer Bedürftigkeitsprüfung wurde eine „Fest- gesetzlichen Regelungen bekannt sind und sich die Verhal- stellung des Bedarfes“ anhand der Einkommensteuerdaten tensanpassungen der Finanzmarktakteure gezeigt haben. 5 Die nachfolgenden Ausführungen und Berechnungen beziehen sich – sofern nicht anders vermerkt – auf diesen Koalitionsbeschluss vom 10.11.2019. Jüngere Überlegungen, etwa der neue Referentenentwurf vom 16.01.2020, wurden nicht berücksichtigt. 6 Sowohl die Kostenschätzung als auch die Schätzung der Anspruchsberechtigtenzahl im Rahmen des Referentenentwurfs vom 16.01.2020 werfen in mehrerlei Hinsicht Fragen auf. Zum einen haben sich die Zahlen im Vergleich zu den Verlautbarungen bezüglich des Koalitionsbeschlusses kaum bzw. gar nicht verändert, obwohl die nun eingeführten Gleitzonen eine Ausweitung des Berechtigtenkreises zur Folge haben müssen. Und zum anderen ist fraglich, wie die Wirkung dieser Gleitzonen abgeschätzt wurde, da bisher die benötigte Datengrundlage mit detaillierten Informationen zu rentenrechtlichen Zeiten in Verbindung mit Individual- und Haushaltseinkommen nicht vorliegt. 09
Sündenfälle der Rentenpolitik Ehrbarer Staat? Der Koalitionsbeschluss umfasst auch Regelungen, die bricht die Grundrente im engeren Sinne mit mindestens zwei über die Einführung einer Grundrente im engeren Sinne hi- dieser drei Fundamentalprinzipien der Sozialpolitik.7 nausgehen. So soll ein Freibetrag in der Grundsicherung für Das grundlegende Prinzip der deutschen Rentenversi- langjährig Versicherte in der GRV eingeführt werden. Diese cherung ist das Lebensleistungsprinzip, das über das Ent- Maßnahme ist notwendig, um die Grundrente für Rentner geltpunktesystem der Rentenversicherung in Form einer so- wirksam zu machen, die Grundsicherung beziehen und de- genannten Teilhabeäquivalenz sichergestellt ist. Personen, ren Renten deutlich unter dem Grundsicherungsbedarf lie- die gemessen am Einkommen innerhalb eines Jahres mehr gen. Gerade für Rentner mit hohen Aufstockungsbeträgen im geleistet haben und dementsprechend auch stärker zur Fi- Rahmen der Grundrente könnte das verfügbare Einkommen nanzierung der GRV beigetragen haben, beziehen für dieses sonst unverändert bleiben, da die Grundrente vollständig Jahr höhere Renteneinkommen als Personen, die geringere auf die Grundsicherung im Alter angerechnet würde. Dem- Leistungen erbracht haben. Zum anderen bedeutet die Teil- entsprechend sieht der Koalitionsbeschluss einen Freibetrag habeäquivalenz, dass Personen, die über einen längeren Zeit- für „Rentnerinnen und Rentner, die […] Grundsicherung im raum gearbeitet haben und dementsprechend über die Jahre Alter beziehen“ vor. Die Regelungen laut Referentenentwurf hinweg einen größeren Beitrag zur Finanzierung der Ren- vom 16.01.2020 machen deutlich, dass auch Rentner, die tenversicherung geleistet haben, höhere Rentenleistungen bisher keine Grundsicherungsansprüche hatten, durch den beziehen als Personen, die bei gleichem Einkommen über Freibetrag zukünftig Ansprüche im Rahmen der Grundsiche- einen kürzeren Zeitraum gearbeitet haben. Somit bekommt rung im Alter hätten. Für Rentner mit mindestens 33 Jahren jeder Rentner in Abhängigkeit von seinem Einkommen in der an Grundrentenzeiten würde in Abhängigkeit ihres Rentenein- Erwerbsphase und den entsprechenden Beiträgen zur GRV kommens der Grundsicherungsbedarf de facto angehoben eine die monetäre Lebensleistung reflektierende Rente. Die und so das Gleichbehandlungsprinzip der Grundsicherung Grundrente bricht mit diesem Lebensleistungsprinzip der gebrochen. Andererseits hätte ein Freibetrag, der sich aus- Rentenversicherung. Zunächst mag das verwirrend klingen, schließlich auf bereits nach heutigen Regelungen bedürftige denn gerade die Honorierung der Lebensleistung ist ja das Rentner bezöge, eine absolute Schlechterstellung mancher ausgewiesene Ziel der sogenannten Grundrente. Im Rahmen Nicht-Grundsicherungsempfänger zur Folge. Einschließlich der Grundrente bemisst sich die Lebensleistung allerdings zu der nicht auf die Grundsicherungsleistungen angerechneten einem Gutteil daran, ob eine Beitragsdauer von 35 Jahren Rentenleistungen könnten die Bezüge von Grundsicherungs- erreicht wurde. Die Höhe der Beitragsleistungen in dieser empfängern dann die Bezüge von Rentnern kurz oberhalb Zeit und damit auch die Frage, ob die Beitragsjahre in Vollzeit der Bedürftigkeitsgrenze überschreiten. oder Teilzeit verbracht wurden, ist dabei nahezu irrelevant. Ei- gentlich besteht das Ziel der Grundrente in der Beseitigung 3.2.2 Die Grundrente und die Fundamentalprinzipien der teilweise auftretenden Kongruenz von Ansprüchen lang- der Sozialpolitik jährig versicherter Rentner mit dem Grundsicherungsniveau. Tatsächlich wird die Gleichbehandlung von Rentnern mit Die deutsche Sozialpolitik ist mit dem Lebensleistungsprinzip ungleicher Lebensleistung durch die Grundrente jedoch nur der Rentenversicherung und dem Gleichbehandlungsprinzip in etwas höhere Einkommensbereiche verschoben. Zukünf- sowie dem Subsidiaritätsprinzip der Grundsicherung von drei tig werden Rentner mit erarbeiteten Rentenansprüchen mit grundlegenden Prinzipien geprägt. Je nach Ausgestaltung Grundrentnern gleichgesetzt, die keine Ansprüche in dieser 7 Zur „Respekt-Rente“ im Lichte der Fundamentalprinzipien der Sozialpolitik siehe auch Raffelhüschen (2019). 10
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Sündenfälle der Rentenpolitik Höhe erarbeitet haben. Mit der Abkehr vom Lebensleistungs- gleichbehandlung hinsichtlich der Dauer der Beschäftigung prinzip im Sinne der Teilhabeäquivalenz in der Rentenver- als auch hinsichtlich der Art der Beschäftigung. Bedürftige sicherung wird folglich einer Spirale der Forderungen nach ehemalige Versicherte der GRV mit 35 Beitragsjahren wer- gegenleistungsfreien Rentenaufwertungen für immer neue den durch die Grundrente anders behandelt als solche mit Rentnergruppen Tür und Tor geöffnet. einer geringeren Beitragsdauer und als Versicherte sonstiger Das funktionierende Lebensleistungsprinzip der Ren- Versorgungswege der ersten Schicht, wie bspw. nicht ver- tenversicherung und die damit einhergehende Abbildung der sicherungspflichtige Selbstständige. Der Bruch des Gleich- Einkommensverteilung der Erwerbsphase während des Ren- behandlungsprinzips spiegelt sich zudem in der Feststel- tenbezugs ist außerdem im Hinblick auf die intergenerative lung des Bedarfs anhand des Einkommens wider, den der Gerechtigkeit bedeutsam. Rentner mit niedrigen Rentenein- Koalitionsbeschluss vorsieht. Der „Grundrentenbedarf“ liegt kommen waren zuvor Erwerbstätige mit geringen Erwerbs- für Alleinstehende pauschal bis zu einem Einkommen von einkommen. Die Verteilung der Renten spiegelt die Verteilung 1.250 Euro vor und orientiert sich damit nicht am Grundsi- der Einkommen und damit auch ungleich verteilte Chancen cherungsbedarf. Das Gleichbehandlungsprinzip wird also auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen vierzig bis fünf- auch hinsichtlich der Höhe des Bedarfs bzw. hinsichtlich der zig Jahren wider. Dadurch kommt die Grundrente insbeson- Bedürftigkeit gebrochen. Es ist Ausdruck einer funktionie- dere Frauen zugute. Der nachträgliche Ausgleich ungleicher renden Gemeinschaft, wenn sich die deutsche Gesellschaft Arbeitsmarktchancen und ungleicher Erwerbseinkommen als Wohlstandsgesellschaft in der Pflicht sieht, auf die Versor- im Alter ist durchaus ein hehres Ziel. Wird dieser Ausgleich gung der schwächsten Gesellschaftsmitglieder besonders zu jedoch nicht innerhalb einer Generation vorgenommen, son- achten. Dementsprechend ist eine Diskussion über die Höhe dern der unbeteiligten jungen Generation auferlegt, so mag des Grundsicherungsniveaus ein wichtiger Teil der politischen der intragenerativen Gerechtigkeit Genüge getan sein, im Willensbildung. Fällt nun aber der Entschluss, dass das Gegenzug wird jedoch das Gebot der intergenerativen Ge- Grundsicherungsniveau aufgestockt werden soll, dann sollte rechtigkeit gebrochen. diese Aufstockung für alle Bürger gleichermaßen gelten. Neben dem Lebensleistungsprinzip der Rentenversiche- Die „Respekt-Rente“ hätte aufgrund des gänzlichen rung wird durch die Grundrente auch das Gleichbehandlungs- Verzichts auf eine Bedürftigkeitsprüfung neben dem Gleich- prinzip der Grundsicherung als zweites Fundamentalprinzip behandlungsprinzip auch das Subsidiaritätsprinzip der der Sozialpolitik gebrochen. Dem Gleichbehandlungsprinzip Grundsicherung gebrochen. Die Einkommensprüfung des in der Grundsicherung folgend behandelt die staatlich finan- Grundrentenentwurfs laut Koalitionsbeschluss verhindert zierte Sozialhilfe bisher alle Bedürftigen gleich – unabhängig zumindest den Bruch der auf diesem Prinzip basierenden von Alter, Geschlecht oder regionaler Herkunft.8 Das erklärte Verpflichtung zur Selbsthilfe. Dabei ist allerdings zu betonen, Ziel der Grundrente ist jedoch die Aufwertung der Renten- dass die Einkommensprüfung nur unter Einbezug von Ka- ansprüche bestimmter Rentner über das Grundsicherungs- pitaleinkommen ein wirksames Instrument zur Vermeidung niveau hinaus.9 Das Ziel der Grundrente ist folglich die Un- des Bruchs des Subsidiaritätsprinzips ist. Angesichts der im gleichbehandlung von Personen, deren (Renten-)Einkommen Referentenentwurf vom 16.01.2020 vorgestellten Gleitzone unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegen. Langjährig in außerhalb der eigentlichen Einkommensgrenzen ist von ei- der GRV versicherte Bedürftige werden also anders behan- ner deutlichen Aufweichung des Subsidiaritätsprinzips in der delt als andere Bedürftige. Das bedeutet sowohl eine Un- Grundsicherung zu sprechen. 8 Die Unterscheidung zwischen Grundsicherung im Alter und Sozialgeld ist nicht Ausdruck einer bereits praktizierten altersspezifischen Unterscheidung des Grundsicherungsniveaus, sondern hauptsächlich durch Unterschiede in der Verbeitragung von Erwerbs- und Alterseinkommen in der Sozialversicherung be- dingt. 9 Vgl. Deutsche Bundesregierung (2020, S. 1f.). 11
Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV Ehrbarer Staat? 4 Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV amt (2017) stellt zwei verschiedene Trendvarianten für die 4.1 Entwicklung der Lebenserwartung zukünftige Entwicklung der Lebenserwartung zur Verfügung, die in Abbildung 3 dargestellt sind. Trendvariante 1 geht bis in die 2040er-Jahre von einem leicht nachlassenden Anstieg Zu Beginn des 20. Jahrhunderts rührte die steigende Lebens- der ferneren Lebenserwartung der 65-Jährigen aus und un- erwartung in erster Linie von einer sinkenden Kindersterblich- terstellt in der Folge, dass sie nicht weiter ansteigt. Die opti- keit her. In den vergangenen 60 Jahren ist die Lebenserwar- mistischere Trendvariante 2 bildet dagegen die Entwicklung tung dagegen auf den Anstieg der ferneren Lebenserwartung eines nahezu ungebremsten Anstiegs der ferneren Lebenser- in den hohen Altersjahren zurückzuführen. Die fernere Le- wartung der 65-Jährigen bis über das Jahr 2080 hinaus ab. benserwartung der 65-Jährigen ist seit den 1960er-Jahren Trendvariante 1 geht davon aus, dass die 65-Jährigen im Jahr kontinuierlich gestiegen und es ist davon auszugehen, dass 2080 im Durchschnitt 88,4 Jahre alt werden. Träfe Trendva- sich dieser Trend fortsetzen wird. Das Statistische Bundes- riante 2 zu, würden sie sogar durchschnittlich 93,0 Jahre alt. Abbildung 3: Fernere Lebenserwartung mit 65 Quellen: Statistisches Bundesamt (2017), eigene Berechnungen. 28 Jahre 26 24 22 20 18 16 Trendvariante 2 Mittlere Trendvariante 14 Trendvariante 1 12 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 12
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV Der Anstieg der ferneren Lebenserwartung der 65-Jäh- bezugsdauer. Zwischen 1962 und 2012 war diese um 6,7 rigen war bis zum Jahr 2012 mit der Entwicklung der Lebens- Jahre gestiegen. Die Beitragsdauer des Standardrentners erwartung bei (Regel-)Renteneintritt und dementsprechend blieb dagegen konstant. Dementsprechend sank die Zahl der mit der Entwicklung der durchschnittlichen (Standard-)Ren- Beitragsjahre je Rentenjahr. Mussten Versicherte 1962 im Re- tenbezugsdauer gleichzusetzen. Die schrittweise Einführung gelfall noch 3,3 Beitragsjahre je Rentenjahr leisten, waren es der Rente mit 67 beendet, wie in Abbildung 4 dargestellt, die 2012 nur noch 2,2 Jahre und damit ein Drittel weniger. seit den 1960er Jahren andauernde Zunahme der Renten- Abbildung 4: Fernere Lebenserwartung bei Renteneintritt bei mittlerer Trendvariante und Beitragsjahre je Rentenjahr Quellen: Statistisches Bundesamt (2017), eigene Berechnungen. 28 Jahre Fernere Lebenserwartung (Rentenbezugsdauer) 3,5 Jahre Beitragsjahre je Rentenjahr 26 3 24 2,5 22 20 2 18 1,5 16 1 14 Status quo Status quo Ohne Rente mit 67 0,5 Ohne Rente mit 67 12 10 0 1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 13
Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV Ehrbarer Staat? ordnet, welches diese Generation mit der Generation, die im 4.2 Der Lebenserwartungsfaktor Vorjahr der Einführung des Lebenserwartungsfaktors in die Rente eingetreten ist, gleichstellt. Die schrittweise Einführung der Rente mit 67 entspricht in ihrer Gesamtwirkung für den Eine nachhaltige und damit intergenerativ gerechte Finan- Zeitraum von 2012 bis 2031 in etwa der Einführung des Le- zierung der GRV setzt ein konstantes Verhältnis zwischen benserwartungsfaktors im Jahr 2012 (siehe Abbildung 5). Beitragsdauer und Rentenbezugszeit (RBZ) voraus, denn Allerdings wurde der Anstieg aus politischen Gründen nicht das Gebot der intergenerativen Gerechtigkeit oder Fairness gleichmäßig über die Jahre verteilt, sodass die Rentenbe- ist in seiner Substanz ein Gebot der Gleichbehandlung. Die zugszeit in der zweiten Hälfte des Zeitraums trotz voraus- durchschnittliche Rentenbezugszeit ist dabei die fernere Le- sichtlich steigender Lebenserwartung merklich absinkt. Die benserwartung im Renteneintrittsalter fLEW t REA . Der idealty- in der ersten Hälfte des Anpassungszeitraums in die Rente pische Einzahlungszeitraum umfasst die Beitragsjahre (BJ t ) eingetretenen Jahrgänge werden folglich bessergestellt als des Standardrentners, also die Altersjahre zwischen 20 und die nachfolgenden Jahrgänge. Auch eine solche übergangs- dem Renteneintrittsalter (REA). Um die Relation aus Ren- bedingte Ungleichbehandlung würde durch die endogene tenbezugszeit und Einzahlungszeitraum konstant zu halten, Anpassung des Renteneintrittsalters mittels Lebenserwar- müssen Veränderungen der ferneren Lebenserwartung im tungsfaktor zukünftig vermieden. Renteneintrittsalter (∆fLEW t REA ) von Jahrgang zu Jahrgang in eben diesem Verhältnis auf die Rentenbezugsdauer und die Beitragszahlungsdauer aufgeteilt werden. Die hierzu not- Abbildung 5: wendige Erhöhung (∆REA t ) des Renteneintrittsalters berech- Beitragsjahre je Rentenjahr mit Lebenserwartungsfaktor net sich folgendermaßen: Quellen: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen. ∆fLEW REA t-1 , t ∆REA t = BJ t-1 * (1) BJ t-1 + RBZ t-1 3,5 Jahre ∆fLEW REA t‑1, t 3 Der Term stellt den eigentlichen Lebens- BJt - 1 + RBZt-1 2,5 erwartungsfaktor dar. Dieser hat keinen fixen Wert, sondern verändert sich von Jahr zu Jahr in Abhängigkeit von der Ent- 2 wicklung der ferneren Lebenserwartung, sodass das Ver- hältnis zwischen Beitragsdauer und Rentenbezugszeit aus 1,5 dem Vorjahr der Einführung des Lebenserwartungsfaktors 1 konstant gehalten wird.10 Bei steigender fernerer Lebenser- Mit Lebenserwartungsfaktor Status quo wartung in den entsprechenden Altersjahren steigt folglich 0,5 Ohne Rente mit 67 das Renteneintrittsalter. Umgekehrt sinkt es für den Fall einer sinkenden Lebenserwartung. Jeder Generation wird durch 0 den Lebenserwartungsfaktor jenes Renteneintrittsalter zuge- 1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 10 Eine triviale Anhebung des Renteneintrittsalters anhand eines einheitlichen Anteils des Anstiegs der ferneren Lebenserwartung im Renteneintrittsalter eines bestimmten Ausgangsjahres führt nicht zum gleichen Ergebnis wie die in Formel (1) dargestellte Anpassung des Renteneintrittsalters. Durch die Anhebung des Renteneintrittsalters verändert sich auch die für die Rentenbezugsdauer ausschlaggebende fernere Lebenserwartung bei Renteneintritt. 14
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV Abbildung 6 zeigt die Entwicklungen des Rentenein- Wer aktuell berufstätig ist, muss dementsprechend auch bei trittsalters, die sich auf Grundlage der vom Statistischen Einführung des Lebenserwartungsfaktors nicht damit rech- Bundesamt in zwei Trendvarianten bereitgestellten ferneren nen, erst mit 70 Jahren in Rente gehen zu können. Selbst Lebenserwartung bei Einführung des Lebenserwartungsfak- für einen heute 13-Jährigen ist die „Rente mit 70“ eher ein tors nach Vollendung der Anhebung des Renteneintrittsalters Mythos, der nur im „schlechtestmöglichen“ Szenario Realität auf 67 Jahre im Jahr 2031 ergeben würden. Trendvariante 1 würde. Dabei ist die negative Bewertung eines hohen Ren- hätte ab 2053 ein gleichbleibendes Renteneintrittsalter von teneintrittsalters auf Grundlage des Lebenserwartungsfaktors 67 Jahren und 10 Monaten zur Folge. Mit der deutlich opti- ohnehin zu hinterfragen. Denn der Renteneintritt mit 70 ginge mistischeren Trendvariante 2 würde im Jahr 2076 das vieldis- mit der realistischen Erwartung einher, fast 93 Jahre alt zu kutierte Renteneintrittsalter von 70 Jahren erreicht. In der im werden – zumindest im geschlechterübergreifenden Durch- Rahmen dieser Studie für die Kostenschätzung unterstellten schnitt. Der Lebenserwartungsfaktor hat zur Folge, dass jede mittleren Trendvariante liegt das Renteneintrittsalter zu die- Anhebung des eigenen Renteneintrittsalters um einen Monat sem Zeitpunkt jedoch erst bei 68 Jahren und 11 Monaten. etwa anderthalb Monate mehr Lebenszeit bedeutet. Abbildung 6: Renteneintrittsalter mit Lebenserwartungsfaktor Quellen: Statistisches Bundesamt (2017), eigene Berechnungen. 71 Alter in Jahren 70 69 68 67 66 65 Trendvariante 2 Mittlere Trendvariante Trendvariante 1 64 63 2017 2022 2027 2032 2037 2042 2047 2052 2057 2062 2067 2072 2077 15
Vorschlag für eine zukunftsfeste GRV Ehrbarer Staat? Methodische Anmerkungen zur Berücksichtigung des Lebenserwartungsfaktors Box 2 in der GRV Modellierung des Lebenserwartungsfaktors Die Veränderung der ferneren Lebenserwartung im Renteneintrittsalter in Periode t berechnet sich folgendermaßen: ∆fLEW s,REA t‑1, t = fLEW s,REA t‑1, t ‑ fLEW s,REA t‑1, t‑1 (2) Wobei der erste Index das Lebensalter bei Renteneintritt und der zweite Index das Jahr des Renteneintritts angibt. Formel (2) bezieht sich bei beiden zu vergleichenden Jahrgängen, die in Periode t bzw. in Periode t-1 in Rente gehen, auf die fernere Lebenserwartung im Renteneintrittsalter der Periode t-1. Zur Sicherstellung von RBZt-1 RBZt A wäre eigentlich = t BJt-1 BJt für jede Periode eine iterative Anpassung des Regelrenteneintrittsalters notwendig. Dementsprechend kann Formel (1) keine mathematisch exakte Konstanz des Verhältnisses aus Rentenbezugszeit und Beitragszahlungsdauer gewährleisten. Da in der Praxis die kleinste sinnvolle Einheit zur Anpassung des Regelrenteneintrittsalters jedoch ganze Monate sind und die Ergebnisse der Anpassung dementsprechend ohnehin stark gerundet werden, genügt Formel (1) den praktischen Ansprüchen einer gesetzlichen Regelung vollkommen. Im Rahmen dieser Studie wird unterstellt, dass Rundungen nicht zu Ungunsten der Rentner ausfallen sollen. Daher wird ∆REA t stets auf ganze Monate abgerundet. Die monatsweise Anhebung des Regelrenteneintrittsalters hat zur Folge, dass die fernere Lebenserwartung für monats- genaue Lebensalter benötigt wird. Daher werden die jahrgangsspezifischen Werte der ferneren Lebenserwartung zwischen den vollen Altersjahren durch Interpolation bestimmt. Modellierung des Einflusses des Lebenserwartungsfaktors auf die fiskalische Nachhaltigkeit Die unterstellten zukünftigen Erwerbsquoten basieren auf den vom Statischen Bundesamt zur Verfügung gestellten empi- rischen Erwerbsquoten auf Basis des Mikrozensus. Dem Vorgehen von Ehing/Moog (2013) folgend werden diese Erwerbs- quoten der Anhebung des Regelrenteneintrittsalters entsprechend erhöht. Die Erwerbsquoten der rentennahen Jahrgänge werden so angehoben, dass das effektive Renteneintrittsalter annahmegemäß ansteigt. Die Projektion der Refinanzierung der Rentenversicherung wird anhand des von Seuffert (2020) beschriebenen Rentensimulationsmodells vorgenommen. Dabei werden die zukünftig erworbenen Ansprüche unter Verwendung der projizierten Erwerbsquoten und damit unter Berücksich- tigung der verlängerten Lebensarbeitszeit und veränderter Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt berechnet. Die Einführung des Lebenserwartungsfaktors könnte die implizite Schuld der GRV um 37,9 Prozentpunkte – also von Nachhaltigkeitslücke der Rentenversicherung deutlich redu- 78,1 Prozent auf 40,2 Prozent des BIP – sinken und damit zieren. Durch die geringeren Rentnerzahlen und die erhöhte fast halbiert. Das entspricht einer Reduktion der impliziten Anzahl an Beitragszahlern in den Jahren ab 2031 würde die Staatsverschuldung um rund 1.282 Mrd. Euro. 16
Wege und Irrwege der Rentenpolitik im Lichte der Generationenbilanz Was dann noch fehlt? 5 Was dann noch fehlt? Eine Einigung über die Aufteilung der verbleibenden Nachhaltigkeitslücke Die gesellschaftliche Alterung in Deutschland liegt in einer Ihr vorrangiges Interesse in Bezug auf die Rentenversiche- zunehmenden Lebenserwartung und einer Fertilität begrün- rung waren geringe Beitragssätze. Die Reformen von 2001 det, die mit etwa 1,5 Kindern je Frau deutlich unterhalb des und 2004 gewährleisteten für die Babyboomer gerade in den bestandserhaltenden Niveaus von etwa 2,1 Kindern je Frau besonders einkommensstarken Altersjahren zwischen 40 und liegt. Mithilfe des Lebenserwartungsfaktors können die Aus- 60 Jahren mehr oder weniger stabile Beitragssätze. Knapp 20 wirkungen einer weiter steigenden Lebenserwartung auf die Jahre später stehen die Babyboomer vor dem Renteneintritt implizite Verschuldung der Rentenversicherung neutralisiert und die Rentenversicherung vor massiven Veränderungen ih- werden. Die geringe Fertilität führt jedoch weiterhin zu einem rer Ausgaben- und Einnahmensituation. Die Politik folgt dem strukturellen Finanzierungsproblem – insbesondere infolge Ruf des Medianwählers und damit derzeit dem Ruf nach stei- des anstehenden Renteneintritts der geburtenstarken Jahr- genden Rentenleistungen. Für die Beitrags- und Steuerbelas gänge der 1960er Jahre. Die Formel zur Rentenwertanpas- tung der Kinder der Babyboomer bleibt nur zu hoffen, dass sung gemäß § 68 Abs. 5 SGB VI beinhaltet mit dem Parame- ihre Elterngeneration Einsicht zeigt und den Trend der letzten ter α ein Instrument zur Aufteilung der entstehenden Lasten Jahre wieder korrigiert. Das rentenpolitische Instrument zur zwischen der aktuellen Rentnerpopulation und der aktuellen Aufteilung der Lasten der gesellschaftlichen Alterung steht mit Beitrags- und Steuerzahlerpopulation. dem Parameter α bereit. Derzeit liegt α bei 0,25. Durch eine Anders als zu Beginn der 2000er Jahre stand in der jün- Anpassung dieses Parameters könnte der Anteil der Traglast geren Vergangenheit nicht mehr die nachhaltige Finanzierung der Rentner an den anstehenden demografiebedingten Belas der Rentenversicherung und dementsprechend die Lasten- tungen der Rentenversicherung erhöht und damit die noch verteilung des demografischen Wandels zwischen Rentnern verbleibende Nachhaltigkeitslücke geschlossen werden. und Beitragszahlern im Fokus. Im Gegenteil, mit der dop- Die rentenrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten für eine pelten Haltelinie wurde der Parameter α für die Jahre 2019 bis demografiefeste Rentenversicherung stehen also (noch) be- 2025 teilweise unwirksam und die Traglast der gesellschaft- reit. Inwiefern diese Möglichkeiten politisch umgesetzt wer- lichen Alterung für die entsprechenden Jahre gänzlich auf die den oder ob sich die Politik der Rentenausweitung fortsetzt, Beitrags- und Steuerzahler abgewälzt. Politökonomisch ist wird die nahe Zukunft zeigen. Zunächst einmal darf nun mit diese Entwicklung wenig verwunderlich. Die geburten- und Spannung erwartet werden, welchen Fokus die Rentenkom- wählerreichen Jahrgänge der Babyboomer waren um die mission „Verlässlicher Generationenvertrag“ in ihrem anste- Jahrtausendwende herum weit vom Renteneintritt entfernt. henden Abschlussbericht setzt. 17
Sie können auch lesen