KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Euroraum im Herbst 2020
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KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) KIELER KONJUNKTUR- BERICHTE Euroraum im Herbst 2020 Abgeschlossen am 16. September 2020 © Daniel Wolcke / IfW Kiel Nr. 70 (2020|Q3) Jens Boysen-Hogrefe, Salomon Fiedler, Dominik Groll, Stefan Kooths und Ulrich Stolzenburg Prognosezentrum 1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) INHALTSVERZEICHNIS Euroraum: Mühsam zurück zur Normalität Zur Lage in den Mitgliedsländern ........................................................................................... 7 Produktionskapazitäten liegen brach ..................................................................................... 9 Corona-Krise wirft Arbeitsmarkt deutlich zurück................................................................... 11 Das Finanzierungsumfeld bleibt ausgesprochen günstig ..................................................... 12 Öffentliche Budgets im freien Fall ........................................................................................ 14 Ausblick: Mühsame Erholung nach kräftigem Rückpralleffekt .............................................. 16 Literatur ............................................................................................................................... 24 Kasten 1: Abschätzung des Rückpralleffekts für das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum ............ 18 2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) EURORAUM: MÜHSAM ZURÜCK ZUR NORMALITÄT Jens Boysen-Hogrefe, Salomon Fiedler, Dominik Groll, Stefan Kooths und Ulrich Stolzenburg Nach dem historisch einmaligen Rückgang der ge- Die gesamtwirtschaftliche Produktion im Eu- samtwirtschaftlichen Produktion um 15 Prozent im ers- roraum ist im ersten Halbjahr in nie dagewe- ten Halbjahr wurde die Wirtschaft in den Mitgliedslän- senem Tempo eingebrochen. Seit Ende Feb- dern der Währungsunion schrittweise wieder hochge- ruar hat sich das Coronavirus rasch in Europa fahren. Der monatliche Verlauf einiger harter Indikato- ausgebreitet, sodass sich die Regierungen ge- ren bis zum Sommer lässt einen kräftigen Rückprallef- zwungen sahen, weitgehende Einschränkungen fekt für das dritte Quartal erwarten, mit dem wohl des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Le- knapp zwei Drittel des Rückgangs im Produktionsni- bens zu beschließen, um die Ausbreitung des veau aufgeholt werden. Die weitere Erholung in den neuartigen Virus zu verlangsamen bzw. einzu- bevorstehenden Quartalen dürfte allerdings weitaus dämmen. Der Produktionsrückgang im ersten schleppender verlaufen: Angesichts stark steigender Quartal belief sich auf 3,7 Prozent, obwohl die Infektionszahlen in einigen Mitgliedsländern besteht seuchenpolitischen Maßnahmen fast aus- große Unsicherheit über den Fortgang der Pandemie, schließlich erst im dritten Quartalsmonat wirk- insbesondere für das bevorstehende Winterhalbjahr. sam wurden. Im Frühjahr folgte dann der stärkste Direkte Einschränkungen bleiben wohl vorerst überall Quartalsrückgang seit Beginn der Aufzeichnun- dort ein bedeutender Belastungsfaktor, wo das Infek- gen. Die Wirtschaftsleistung der Währungsunion tionsgeschehen vergleichsweise aktiv ist sowie in brach um weitere 11,8 Prozent ein (Abbildung 1). Wirtschaftsbereichen, in denen direkte soziale Interak- tion auf engem Raum unvermeidlich ist. Zudem dro- Abbildung 1: hen Nach- und Folgewirkungen der drastischen Um- Bruttoinlandsprodukt im Euroraum 2018 - 2022 satz- und Einkommensverluste aus dem bisherigen Kettenindex (2010 = 100) Prozent Krisenverlauf nach und nach sichtbar zu werden. So Veränderung stiegen die Arbeitslosenzahlen zuletzt wieder in prak- 115 Niveau 10 tisch allen Mitgliedsländern an, und dieser Trend dürfte sich vorerst fortsetzen. Insgesamt dürfte das 110 5 Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr um 7,1 Pro- zent zurückgehen. Im kommenden Jahr erwarten wir einen Zuwachs um 5,3 Prozent und im Jahr 2022 von 105 0 2,6 Prozent. Damit wird das Vorkrisenniveau wohl erst im Verlauf des Jahres 2022 wieder überschritten. 100 -5 95 -10 1,8 1,3 -7,1 5,3 2,6 90 -15 I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV 2018 2019 2020 2021 2022 Quartalsdaten, preis-, kalender- und saisonbereinigt, Veränderung gegenüber dem Vorquartal (rechte Skala). Gerahmt: Jahresdaten, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent. Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechungen. grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel. 3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Über das erste Halbjahr insgesamt belief sich der Lockdown auch den Bausektor in Mitleiden- der Rückgang der Wirtschaftsleistung auf schaft gezogen hat, also insbesondere in Frank- 15,1 Prozent, dabei gingen Außenhandel und reich, Italien und Spanien. Hier waren die Bauin- Anlageinvestitionen überproportional zu- vestitionen als größtes Teilaggregat der Brutto- rück. Im Ländervergleich lassen sich einige Un- anlageinvestitionen zwischen 24 Prozent (Ita- terschiede, aber auch Gemeinsamkeiten hin- lien) und 32 Prozent (Frankreich) geringer als im sichtlich des Produktionseinbruchs im ersten vierten Quartal 2019, während sie in Deutsch- Halbjahr feststellen. In der Währungsunion ins- land und den Niederlanden in etwa das Vorkri- gesamt ist verwendungsseitig der private Ver- senniveau hielten. Demgegenüber sind die Aus- brauch geringfügig mehr eingebrochen als die rüstungsinvestitionen in allen fünf größten Volks- Wirtschaftsleistung (Abbildung 2). Der Staatsver- wirtschaften des Euroraums stark gefallen und brauch war demgegenüber relativ stabil, der lagen im zweiten Quartal zwischen 26 Prozent Rückgang belief sich hier lediglich auf 3,3 Pro- (Deutschland) und 33 Prozent (Frankreich, Spa- zent. In der Länderabgrenzung zeigten sich bei nien) unter dem Wert des Schlussquartals 2019. Frankreich und Belgien gleichwohl auch hier Schließlich ging der Außenhandel – Exporte zweistellige Rückgänge im Vergleich zum vierten ebenso wie Importe – stärker zurück als die Wirt- Quartal des Vorjahres, und dort insbesondere schaftsleistung. In der Länderabgrenzung sind beim individuell zurechenbaren Staatskonsum. die Exporte in Frankreich, Italien und Spanien Hintergrund dürften auch Unterschiede zwischen besonders stark – um 30-40 Prozent – eingebro- nationalen Statistikämtern in der Bewertung kri- chen, wobei die Dienstleistungsexporte (Touris- senbedingter Aktivitätsänderungen im Staats- mus) in Italien und Spanien sogar um mehr als sektor sein (Stolzenburg 2020). Die Bruttoanla- die Hälfte fielen. geinvestitionen sind überall dort besonders stark Der Exportrückgang verlief zwar heftiger und – um mehr als 20 Prozent – eingebrochen, wo schneller als während der Weltfinanzkrise, doch es deutet sich auch eine raschere Erho- Abbildung 2: lung an als damals. Bei der Betrachtung der Ex- Bruttoinlandsprodukt und Verwendungsaggregate, portvolumen des Euroraums auf Quartalsebene, erste Jahreshälfte 2020 die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun- Prozent gen ausgewiesen werden, scheint der Export- 0 rückgang in der gegenwärtigen Corona-Krise merklich heftiger zu verlaufen als während der -5 Weltfinanzkrise der Jahre 2008 und 2009, wenn das jeweils letzte Vorkrisenquartal auf den Index- wert 100 normiert wird (Abbildung 3). Auf Basis -10 der monatlichen Warenexportvolumina, die vom niederländischen CPB auch für die Währungs- -15 union als Teilkomponente des Welthandels ver- öffentlicht werden, zeichnet sich jedoch ein opti- -20 mistischeres Bild ab (Abbildung 4). Denn der Rückgang im März und April war zwar drasti- scher als im Herbst 2008, doch im Mai und Juni -25 folgte eine ebenso rasche Erholung, die an einen V-förmigen Verlauf erinnert und die dynamischer zu verlaufen scheint als während der Weltfinanz- krise (Felbermayr und Stamer 2020). Die weitere Entwicklung wird zeigen, inwieweit Optimismus Quartalsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. bezüglich einer dynamischen Erholung des Veränderung zwischen dem vierten Quartal 2019 und en grenzüberschreitenden Handels gerechtfertigt zweiten Quartal 2020 in Prozent. ist. Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. 4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Abbildung 3: Die Wertschöpfungsverluste waren im Pro- Exporte des Euroraums, Quartale, 2009 vs. 2020 duzierenden Gewerbe, in den Bereichen Han- Index (Vorkrisen- Weltfinanzkrise (2008 Q2=100) del, Verkehr und Gastgewerbe sowie bei quartal = 100) Corona-Krise (2019 Q4 = 100) sonstigen Dienstleistern besonders hoch. Die Wirtschaftsbereiche Handel, Verkehr und 100 Gastwirtschaft sowie sonstige Dienstleister, die den Kultur-, Veranstaltungs- und Eventbereich umfassen, hatten im ersten Halbjahr besonders große Rückgänge der Wertschöpfung zu bekla- gen (Abbildung 5). Auch die Wertschöpfung von 90 Unternehmensdienstleistern sowie im Verarbei- tenden Gewerbe ging in der Krise überproportio- nal zurück. Die Entwicklung im Baugewerbe fiel im Durchschnitt der Währungsunion in etwa so 80 stark wie die Wirtschaftsleistung insgesamt. Nur wenig betroffen von den Corona-bedingten Ein- schränkungen waren die Bereiche Land- und Forstwirtschaft, Information und Kommunikation, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen so- 70 wie Grundstücks- und Wohnungswesen. -4Q -2 t* +2 +4 +6 +8 +10Q Quartalsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. Gesetzte Abbildung 5: Markierung beim ersten Krisenquartal. Entwicklung der Bruttowertschöpfung nach Wirt- Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; schaftsbereichen, erste Jahreshälfte 2020 Eigene Berechnungen. Prozent -30 -20 -10 0 Abbildung 4: Landwirtschaft Exporte des Euroraums, monatlich, 2009 vs. 2020 Index (Vorkrisen- Prod. Gewerbe ohne Bau Weltfinanzkrise (Sept. 2008 = 100) monat = 100) Corona-Krise (Feb. 2020 = 100) Baugewerbe 100 Handel, Verkehr, Gastwirtschaft Information und Kommunikation Finanz- und 90 Versicherungsdienstl. Grundstücks- und Wohnungswesen Unternehmensdienstleister 80 Öff. Dienstl., Erziehung, Gesundh. Sonstige Dienstl. 70 -12M -6M t* +6M +12M +18M +24M +30M Quartalsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. Veränderung zwischen dem vierten Quartal 2019 und en Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. Gesetzte Markierung zweiten Quartal 2020 in Prozent. beim ersten Krisenmonat. Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Quelle: CPB; Eigene Berechnungen. 5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Abbildung 6: Umsatzverlust privater Dienstleistungsbereiche, im April und Juni 2020 Rückgang April (vs. Feb. 2020) Prozent Rückgang Juni (vs. Feb. 2020) -100 -80 -60 -40 -20 0 Gesamt Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen Luftfahrt Lagerei / sonst. Dienstleistungen für den Verkehr Beherbergung Gastronomie Information und Kommunikation Freiberufliche, wiss. und techn. Dienstleistungen Rechts- und Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung; PR- und Unt.-beratung Architektur- und Ingenieurbüros; techn., phys. und chem. Untersuchung Werbung und Marktforschung Sonstige freiberufliche, wissenschaftliche und technische Tätigkeiten Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften Reisebüros, Reiseveranstalter, sonst.Reservierungsdienstleistungen Wach- und Sicherheitsdienste sowie Detekteien Gebäudebetreuung; Garten- und Landschaftsbau Monatsdaten; kalender- und saisonbereinigt. Umsatzrückgang gegenüber Februar in Prozent. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik. Dienstleister mit Bezug zu Reisen und Touris- Die Verbraucherpreise lagen zuletzt 0,2 Pro- mus kamen im Frühjahr besonders unter die zent unter ihren Vorjahreswerten. Nachdem Räder. Die monatlichen Umsätze von Dienstleis- die Verbraucherpreisinflation Anfang des Jahres tungsunternehmen im Euroraum sind im April um rund 30 Prozent unter ihr Vorkrisenniveau ge- Abbildung 7: Verbraucherpreise 2014-2020 sunken und lagen im Juni noch 10 Prozent da- runter (Abbildung 6). Die disaggregierte Betrach- Prozent Kernrate Gesamtindex tung zeigt, dass die Umsätze in einigen Bran- chen in der Spitze um 80 Prozent oder mehr ein- 2 gebrochen sind und sich auch nicht rasch erholt haben, namentlich Luftfahrt, Beherbergung, Gastronomie sowie Reiseveranstalter und -ver- mittler. Bis zum Juni – jüngere Daten liegen noch 1 nicht vor – hatte sich der Umsatz lediglich bei den Gastronomen etwas erholt, lag aber auch dort immer noch 40 Prozent unter dem gewohn- ten Niveau. Bei Luftfahrt, Beherbergung und den 0 Reiseveranstaltern und -vermittlern dürfte sich die Lage gleichwohl ab dem Monat Juli etwas verbessert haben, als der innereuropäische Tou- rismus zunächst wieder in der Breite geöffnet -1 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 wurde. In mehreren Bereichen lagen die Um- sätze im Juni noch substanziell unter ihren Vor- Monatsdaten; Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Kernndex: Gesamtindex ohne Energie und unverarbeitete Lebensmittel. krisenniveaus, und im Bereich Arbeitsvermittlung war der Umsatzverlust im Juni sogar größer als Quelle: Europäische Zentralbank, Monatsbericht. im April. 6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) noch bei knapp eineinhalb Prozent gelegen Überproproportional stark war der Rückgang in hatte, ist der Preisanstieg nun erstmals seit 2016 Spanien (22,1 Prozent), Frankreich (18,9 Pro- wieder in den negativen Bereich gefallen (Abbil- zent) und Italien (17,7 Prozent). In Deutschland dung 7). Eine Ursache des Rückgangs war ein- betrug der Rückgang dagegen lediglich 11,3 Pro- mal mehr der Ölpreis, der zwar inzwischen wie- zent, in den Niederlanden 9,2 Prozent. Ver- der über 40 Dollar für ein Fass der Sorte Brent gleichsweise mild war der Produktionsrückgang geklettert ist, aber immer noch deutlich unterhalb in Irland, Finnland und den baltischen Staaten. seines Vorjahreswertes liegt. Weitere Einfluss- Im Durchschnitt der Währungsunion betrug der faktoren sind der Außenwert des Euro, der zu- Rückgang 14,7 Prozent. Maßgeblich für die Un- letzt merklich aufgewertet hat, und die Mehrwert- terschiede ist neben dem variierenden Infekti- steuersenkung in Deutschland. Die Kernrate der onsgeschehen und der jeweiligen Wirtschafts- Inflation, in der Preisänderungen von Energie struktur (z. B. Tourismus- oder Exportabhängig- und unverarbeiteten Lebensmitteln ausgeblen- keit) auch der Grad der seuchenpolitischen Ein- det werden, ist im August ebenfalls deutlich ge- griffe (Härte und Dauer des Lockdowns). fallen und lag bei nur noch 0,6 Prozent, nachdem Weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung sie zuvor über etwa drei Jahre stabil bei knapp des Virus wurden nahezu parallel in allen gro- über einem Prozent gelegen hatte. ßen Mitgliedsländern ergriffen. Der „Lockdown stringency index“ bewertet die Härte der Ein- schränkungen des gesellschaftlichen Lebens an- Zur Lage in den Mitgliedsländern hand verschiedener Kategorien – etwa Schul- Der Produktionsrückgang in Frankreich, Ita- schließungen, Arbeitsplatzschließungen, Veran- lien und Spanien war besonders drastisch. Im staltungsverbote, Kontakt- und Reisebeschrän- Vergleich zum Vorjahresquartal ist die Produk- kungen – und überführt diese (ordinal skalierten) tion in ausnahmslos allen Mitgliedsländern ge- Teilbewertungen in einen täglichen ausgewiese- schrumpft (Abbildung 8). nen Indexwert zwischen 0 und 100. Der Index misst damit die Härte der bestehenden Lock- down-Maßnahmen, wenngleich die darin erfass- Abbildung 8: Veränderung des Bruttoinlandsprodukts im Vorjah- ten Teilbereiche nicht im selben Maße dämpfend resvergleich auf die wirtschaftliche Aktivität wirken dürften. Im Prozent zeitlichen Profil haben die großen Mitgliedslän- 0 der der Währungsunion nahezu gleichzeitig in der ersten Hälfte des März einen Großteil der -5 seuchenpolitischen Maßnahmen ergriffen (Abbil- dung 9). Lediglich in Italien wurden die Maßnah- men bereits in der zweiten Hälfte des Februars -10 wirksam – und damit etwas früher als anderswo. Im Mai und Juni wurden einige dieser Maßnah- -15 men dann schrittweise wieder zurückgenom- men, je nach Land etwas zeitversetzt. Mit den -20 Lockerungen konnte auch wirtschaftliche Aktivi- tät teilweise wieder zurückkehren, die im April -25 unter den damals geltenden, härteren Eindäm- mungsmaßnahmen unterblieben war. MAL GRE LUX FIN LIT ESP ITA BEL EST FRA Euroraum CYP POR AUT NED SLV SLK GER IRE LAT Quartalsdaten; preis-, kalender und saisonbereinigt. Veränderung des zweiten Quartalswertes 2020 gegenüber dem Vorjahresquartal.. Luxemburg: Geschätzt. Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; eigene Berechnungen. 7
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Abbildung 9: Lockdown stringency index, 2020 Index 100 GER FRA ITA ESP NED BEL 50 0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 Tagesdaten. Quelle: Hale et al. (2020). Im Monatsprofil hatte die industrielle Aktivität Abbildung 10: bereits im April ihren Tiefpunkt. Besonders Industrieproduktion (ohne Bau), 2020 stark war der Rückgang des Produktionsvolu- Januar 2020 = 100 GER FRA ITA ESP mens im März und April in Italien. Doch auch in 100 NED BEL Deutschland, Frankreich und Spanien war das Produktionsniveau im Produzierenden Gewerbe (ohne Bau) im April um rund 30 Prozent niedriger 90 als noch im Februar (Abbildung 10). Seit dem Monat Mai lief die Produktion schrittweise wieder 80 an und hat bis zum Juli ein Niveau von rund 90 Prozent erreicht bzw. überschritten. In Belgien und den Niederlanden war der Produktionsrück- 70 gang im Frühjahr vergleichsweise moderat. Un- ter den übrigen Mitgliedsländern waren die Slo- 60 wakei und Slowenien stark betroffen; überall sonst war die Produktion in geringerem Maße rückläufig als in den großen vier Volkswirtschaf- 50 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 ten. Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik. 8
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Die Bauproduktion ist in Frankeich und Ita- Vorkrisenniveau wurde bereits wieder übertrof- lien am stärksten eingebrochen. Wiederum im fen, während in Italien und Spanien dieses Ni- April hatte auch das Produktionsniveau im Bau- veau auch im Juli noch nicht erreicht wurde. Der gewerbe seinen Tiefpunkt, und der Rückgang Umsatzrückgang in Belgien lag mit 15-20 Pro- war mit mehr als zwei Dritteln in Frankreich und zent im Durchschnitt der Währungsunion, ähn- Italien besonders drastisch, wobei in Frankreich lich wie in Österreich und einigen mittel- und ost- bis zum Juli wieder rund 95 Prozent des Aus- europäischen Ländern. Ein Viertel oder mehr be- gangsniveaus erreicht wurden (Abbildung 11). In trug der maximale Rückgang zudem in Irland, Portugal, Griechenland, Luxemburg und Zypern, Spanien und Belgien war der Rückgang mit etwa während es in Finnland keinerlei sichtbare Delle 20-25 Prozent ebenfalls erheblich, und auch hier in den Einzelhandelsumsätzen gab. wurde Produktion im Juni wieder auf 90 Prozent des Ausgangsniveaus ausgeweitet. Kaum be- Abbildung 12: troffen war die Bauproduktion dagegen in Einzelhandelsumsatz, 2020 Deutschland und den Niederlanden. Unter den GER FRA übrigen Mitgliedsländern ist die Bauproduktion Prozent ITA ESP NED BEL zudem in Irland, Österreich und Luxemburg 110 merklich zurückgegangen, während das Produk- tionsniveau in den übrigen Ländern, für die be- 100 reits Daten vorliegen, vergleichsweise stabil blieb. 90 Abbildung 11: Bauproduktion, 2020 80 Januar 2020 = 100 GER FRA ITA ESP NED BEL 100 70 60 80 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik. 60 40 Produktionskapazitäten liegen brach 20 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 Im laufenden Jahr sind die Produktionskapa- Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. zitäten im Euroraum weit unter normal ausge- Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik. lastet. Nach jüngsten Schätzungen der Europäi- schen Kommission aus dem Mai (Frühjahrsprog- nose) liegt die Produktionslücke im laufenden Der April als Tiefpunkt der wirtschaftlichen Jahr bei minus 7,2 Prozent, nachdem sie im Vor- Aktivität zeigt sich auch im Einzelhandel. In jahr leicht im positiven Bereich gelegen hatte. Deutschland und den Niederlanden war der Dieser historisch einmalige Grad der Unteraus- Rückgang der realen Einzelhandelsumsätze mit lastung ist bei unterjähriger Betrachtung im Früh- weniger als 10 Prozent über alle Branchen (aus- jahr 2020 letztlich noch ausgeprägter gewesen genommen Fahrzeuge) allerdings weitaus milder und letztlich durch die bewusste Stilllegung vieler als in Frankreich, Italien und Spanien, wo der Wirtschaftsbereiche bedingt. Offen ist, inwieweit Rückgang im Durchschnitt des Monats April rund die brach liegenden gesamtwirtschaftlichen Pro- 30 Prozent betrug (Abbildung 12). Auch konnten in Deutschland und den Niederlanden bereits im duktionskapazitäten in der Folgezeit des Lock- Mai Aufholeffekte beobachtet werden, und das downs schrittweise wieder aktiviert werden konn- ten bzw. können. Gemäß der Kommissions- 9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) prognose aus dem Frühjahr wird die Produkti- Dienstleistern wird die Kapazitätsauslastung erst onslücke im Durchschnitt der Währungsunion seit 2011 erfasst und war geringer als jemals zu- auch im kommenden Jahr mit -2,6 Prozent noch vor, mithin auch merklich niedriger als während klar im negativen Bereich bleiben. Bei den in der der Euro-Schuldenkrise etwa im Jahr 2012. Ins- hier vorgelegten Konjunkturprognose unterstell- gesamt bestätigen die Unternehmensbefragun- ten Expansionsraten für die Jahre 2021 und gen das Bild einer spürbaren Unterauslastung im 2022 wird sich die Produktionslücke auch bis Durchschnitt des Jahres 2020, die gerade im zum Ende des Jahres 2022 noch nicht vollstän- Dienstleistungssektor ungewöhnlich stark aus- dig schießen. geprägt ist. Abbildung 14: Abbildung 13: Limitierender Faktor Arbeitskräfte 1999-2020 Limitierender Faktor Nachfrage 1999-2020 Prozent Industrie Prozent Industrie 25 Dienstleistungen Dienstleistungen 70 60 20 50 15 40 10 30 20 5 10 0 1999 2002 2005 2008 2011 2014 2017 2020 0 1999 2002 2005 2008 2011 2014 2017 2020 Quartalsdaten, saisonbereinigt. Anteil der Unternehmen, die fehlende Arbeitskräfte als Hemmnis für die eigene Produktion Quartalsdaten, saisonbereinigt. Anteil der Unternehmen, die ansehen. Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999. mangelnde Nachfrage als Hemmnis für die eigene Produktion Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services ansehen. Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999 bzw. 2003. Survey; eigene Berechnungen. Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services Survey; eigene Berechnungen. Abbildung 15: Kapazitätsauslastung 1999-2020 Unternehmensbefragungen bestätigen das Industrie Prozent Bild einer deutlichen Unterauslastung. So lag 95 Dienstleister der Anteil der Industrieunternehmen, deren Pro- duktion nach eigenen Angaben durch einen 90 Nachfragemangel – zum Zeitpunkt der jüngsten Befragung im Juli 2020 – beschränkt war, deut- 85 lich über dem langjährigen Durchschnitt (Abbil- dung 13). Auch der entsprechende Anteil bei 80 Dienstleistungsunternehmen lag auf einem sehr hohen Niveau. Gleichzeitig ist der Anteil der Un- 75 ternehmen, deren Produktion durch einen Man- gel an geeigneten Arbeitskräften beschränkt 70 wird, sowohl bei Unternehmen des Verarbeiten- den Gewerbes als auch bei Dienstleistern dras- 65 tisch zurückgegangen (Abbildung 14). Die Kapa- 1999 2002 2005 2008 2011 2014 2017 2020 zitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe Quartalsdaten: Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999. war ebenfalls stark rückläufig und lag zur Jahres- Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services mitte deutlich unter dem langjährigen Durch- Survey; eigene Berechnungen. schnittswert (Abbildung 15). Bei den privaten 10
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Corona-Krise wirft Arbeitsmarkt nationalen statistischen Ämtern zum Teil bereits deutlich zurück für das zweite Quartal vorliegen, weisen mitunter zweistellige prozentuale Rückgänge der gesamt- Der langjährige Rückgang der Arbeitslosig- wirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden aus. keit fand ein jähes Ende, und die Beschäfti- Kurzarbeitsprogramme wurden in vielen Mit- gung fällt rasch. Ausgehend vom langjährigen gliedsländern aufgelegt und breit genutzt, und Tiefpunkt von 7,3 Prozent im Februar des laufen- die EU-Kommission unterstützt diese nationalen den Jahres ist die Erwerbslosenquote im Euro- Programme auf Antrag durch zinsgünstige Dar- raum bis zum Juli auf 7,9 Prozent (ohne lehen über das SURE-Programm. Deutschland: 9,5 Prozent) gestiegen (Abbil- In praktisch allen Mitgliedsländern zog die dung 16). Gleichzeitig ging die Beschäftigtenzahl Arbeitslosenquote zuletzt an. Im Vergleich bereits im ersten Quartal erstmals seit 2013 zum Januar ist die Erwerbslosenquote in 18 von leicht zurück, im zweiten Quartal betrug der 19 Mitgliedsländern gestiegen, mit Ausnahme Rückgang 2,9 Prozent. Damit ist das Beschäfti- von Frankreich (Abbildung 17). In Deutschland gungsniveau schlagartig auf den Stand von Mitte ist die Erwerbslosenquote bereits seit Mitte 2019 2017 zurückgefallen. – von sehr niedrigem Niveau — leicht gestiegen, und dieser Trend hat sich zuletzt verstärkt. In Abbildung 16: Frankreich und auch in Italien ist sie seit Beginn Erwerbslosenquote und Beschäftigung 2006-2020 der Pandemie dagegen zwischenzeitlich gefal- Prozent Millionen len, obwohl viele Wirtschaftsbereiche stillgelegt 16 162 worden waren. Gründe dürften einerseits tempo- Euroraum ohne Deutschland räre regulatorische Änderungen sein, wonach etwa Entlassungen während des Lockdowns in 14 Italien gesetzlich untersagt wurden, andererseits 158 die Tatsache, dass die Erwerbslosenquote er- fasst, welcher Anteil der Erwerbsfähigen tatsäch- Euroraum 12 154 Abbildung 17: Erwerbslosenquote nach Ländern 2008-2020 10 Prozent 150 8 25 Beschäftigung Euroraum (rechte Skala) 6 146 20 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 GRE Monatsdaten, saisonbereinigt. ESP 15 Quelle: Eurostat, Arbeitsmarktstatistik; Europäische Zentral- bank, Monatsbericht; eigene Berechnungen. 10 ITA FRA Durch Kurzarbeit schlägt sich die Krise bis- POR FIN lang nur teilweise in den Arbeitslosenzahlen BEL 5 IRE nieder. Der Beschäftigungsrückgang nach Köp- AUT NED fen unterzeichnet das Ausmaß des geringeren GER Arbeitskräftebedarfs während der Krise erheb- 0 lich, da viele Arbeitskräfte über Kurzarbeitspro- 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 gramme ihren Arbeitsplatz bei deutlich reduzier- Monatsdaten; Arbeitslosenquote (ILO-Definition), saisonbereinigt. ter Stundenzahl halten konnten. Beschäftigungs- Quelle: Eurostat, Arbeitskräftebefragung. zahlen nach dem Stundenkonzept, die von 11
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) lich eine Arbeitsstelle sucht – dies taten viele Das Finanzierungsumfeld bleibt Menschen in der Frühphase der Pandemie offen- ausgesprochen günstig bar nicht. In Italien ist das Vorkrisenniveau aller- dings inzwischen wieder überschritten und dies Die Leitzinsen bleiben auf absehbare Zeit dürfte zeitnah auch in Frankreich der Fall sein. In sehr niedrig. Sie betragen zurzeit 0,25 Prozent Spanien ist die Erwerbslosenquote seit dem Feb- (Spitzenrefinanzierungssatz), 0 Prozent (Haupt- ruar bereits um zwei Prozentpunkte, in den Nie- refinanzierungssatz) und -0,5 Prozent (Einlage- derlanden um 1,6 Prozentpunkte gestiegen. satz) und sollen solange auf ihrem gegenwärti- Auch im Baltikum ist die Erwerbslosigkeit bereits gen oder einem niedrigeren Niveau verharren, erkennbar höher als vor der Krise, anderswo sind bis eine „robuste Konvergenz“ der Verbraucher- die Anstiege bislang noch moderat. preisinflation zum Zentralbankziel sichtbar wird (unter, aber nahe zwei Prozent im Projektions- Die Arbeitslosigkeit dürfte weiter steigen, zeitraum der EZB). Zudem kommunizierte die selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt wie- EZB seit Ausbruch der Corona-Krise, dass sie der zulegt. Die Arbeitslosenstatistik ist ein nach- sich bezüglich ihres Inflationsziels der Symmet- laufender Indikator, in dem sich Rückgänge der rie verpflichtet fühle, was darauf hindeutet, dass gesamtwirtschaftlichen Produktion erst mit zeitli- sie zeitweilig auch Inflationsraten oberhalb ihre cher Verzögerung niederschlagen. So dürfte sich Zielmarke in Kauf nehmen wird. Wir rechnen da- der Anstieg der Erwerbslosenquote in vielen her nicht mit einer Zinsanhebung vor Ablauf des Ländern fortsetzen, selbst wenn das Bruttoin- Jahres 2022. landsprodukt im dritten Quartal erwartungsge- mäß wieder merklich zunimmt. Denn für die Ar- Die außergewöhnlichen geldpolitischen Maß- beitsmarkteffekte ist letztlich entscheidend, wie nahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) schnell die wirtschaftliche Aktivität auf die alten werden für den gesamten Prognosezeitraum Umsatz- und Produktionspfade zurückkehrt. Bestand haben. Die bereits laufenden Wertpa- Werden die Vorkrisenniveaus dagegen über län- pierkaufprogramme werden unverändert fortge- gere Zeit und spürbar unterschritten, dürfte die führt werden. Im Rahmen des Pandemie-Notfall- Arbeitslosigkeit vorerst weiter zunehmen. programms (PEPP) sollen bis Mitte kommenden Jahres Käufe erfolgen, deren Allokation sich Die allgemeine Lohndynamik im Euroraum zwar am Kapitalschlüssel orientieren soll, aber in erhält durch die Krise einen kräftigen Dämp- der Umsetzung Flexibilität bezüglich der Vertei- fer. Die Lohnzuwächse im Durchschnitt der lung zwischen Ländern und Anlageklassen über Währungsunion hatten sich seit dem Jahr 2018 die Zeit bestehen wird. Der im Juni auf 1,35 Billi- zwar etwas belebt. So zogen die Tarifverdienste onen Euro aufgestockte maximale Gesamtrah- im zweiten Quartal 2020 immerhin noch mit 1,7 men für dieses Programm wird wohl voll ausge- Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal an. schöpft werden und auch nach Ende der Net- Die effektiv gezahlten Arbeitnehmerentgelte je tokäufe sollen Rückzahlungen aus fällig werden- Beschäftigten gingen im zweiten Quartal 2020 je- den Anleihen bis mindestens Ende 2022 reinves- doch um 4,6 Prozent gegenüber dem Vorjahres- tiert werden. Parallel finden weiterhin Nettokäufe quartal zurück, was auf die umfangreiche Nut- unter dem Programm zum Ankauf von Vermö- zung von Kurzarbeitsprogrammen in vielen Län- genswerten (APP) statt, derzeit in Höhe von 20 dern zurückzuführen ist. Denn dadurch sinken Mrd. Euro im Monat, zuzüglich eines Zusatzrah- die von Unternehmen zu leistenden Lohnzahlun- mens von 120 Mrd. Euro verteilt über das Jahr gen proportional zur verringerten Arbeitszeit, 2020. Die monatlichen Nettokäufe sollen erst ohne dass die Zahl der Beschäftigten im selben kurz vor einer etwaigen Leitzinsanhebung einge- Maße zurückgeht. Mit der Rückführung der Kurz- stellt werden und auch danach sollen Rückflüsse arbeit wird sich in den folgenden Quartalen ein noch für einen langen Zeitraum reinvestiert wer- gegenläufiger Effekt einstellen. Gleichwohl den. Schließlich gibt die EZB den Banken über dürfte die zugrunde liegende Lohndynamik im ihre gezielten längerfristigen Refinanzierungsge- Euroraum angesichts der tiefen Wirtschaftskrise, schäfte (TLTRO) weiterhin Kredit zu äußerst steigender Arbeitslosigkeit und einer vorerst günstigen Konditionen. niedrigen Verbraucherpreisinflation in den kom- menden Quartalen sehr mäßig ausfallen. 12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Die Zinsen auf Staatsanleihen bleiben nied- Darlehenssumme in diesem Bereich nunmehr 7 rig. Zwar war insbesondere in Italien und Gie- Prozent über ihrem Vorjahreswert. Kreditmotiv chenland von März bis Mai ein leicht erhöhtes dürfte hierbei nicht zuletzt die Überbrückung von Zinsniveau zu verzeichnen, dieses hat sich seit- Einnahmeausfällen gewesen sein. Die Kredit- dem aber wieder vollständig zurückgebildet (Ab- vergabe an die privaten Haushalte, deren Kon- bildung 18). Hierzu dürften die zusätzlichen An- summöglichkeiten durch die Krise eingeschränkt leihekäufe über das Eurosystem und die Fiskal- wurden, entwickelte sich im gleichen Zeitraum etwas schwächer als zuvor, wenngleich auch sie programme auf Ebene der Europäischen Union, zuletzt noch 3 Prozent über ihrem Vorjahresni- die eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahme veau lag (Abbildung 20). vorsehen und als Antwort auf die Corona-Krise beschlossen wurden, beigetragen haben. Insge- Abbildung 19: samt sind die Renditen zehnjähriger Staatspa- Kreditkosten 2004–2020 piere in den meisten Ländern inzwischen wieder Prozent Wohnungsbaukredite an 7 Haushalte negativ. Für die als Referenzwert geltenden Bun- Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften deswertpapiere gehen wir bis zum Ende des 6 Prognosezeitraums nur von einem leichten An- stieg der Verzinsung von derzeit -0,5 Prozent auf 5 dann -0,3 Prozent aus. 4 Abbildung 18: Zinsen auf Staatsanleihen 2014 - 2020 3 Prozent 2 5 1 4 0 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 Monatsdaten; im Neugeschäft. 3 Quelle: Europäische Zentralbank, Composite Cost of Borrowing Indicators. 2 GRE Abbildung 20: 1 Kreditvergabe an den Privatsektor 2004-2020 IRE BEL ITA Prozent Nichtfinanzielle POR 15 Kapitalgesellschaften ESP Haushalte 0 FIN FRA AUT NED 10 -1 GER 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Monatsdaten, Staatsanleihen mit 10-jähriger Restlaufzeit. Griechenland: Zum Teil außerhalb der gewählten Skala. 5 Quelle: Thomson Reuters Eikon. 0 Die Kreditkosten für den Privatsektor sind an- haltend günstig. Der Kreditkostenindikator der EZB hielt zuletzt nahezu unverändert sein sehr -5 niedriges Niveau. Für Wohnungsbaukredite 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 zeigte er im Juli 1,4 Prozent an und für nichtfi- Monatsdaten, Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat. Korrigiert um Kreditveräußerungen und Verbriefungen. nanzielle Unternehmen 1,5 Prozent (Abbil- Quelle: Europäische Zentralbank, BSI. dung 19). Im Zuge der Corona-Krise nahm die Kreditaufnahme der nichtfinanziellen Unterneh- men seit März sprunghaft zu. Im Juli lag die 13
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Öffentliche Budgets im freien Fall zwar ab, doch dürfte die Finanzpolitik verglichen zum Vorkrisenniveau weiterhin Impulse setzen. Die Corona-Pandemie belastet die öffentli- In vielen Staaten des Euroraums wurden in der chen Haushalte in den Ländern des Eu- Krise Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirt- roraums schwer. Kassenzahlen der öffentli- schaft ergriffen. Auch gibt es auf europäischer chen Haushalte legen nahe, dass die Verände- Ebene Programme, die in der akuten Phase der rung des Budgetsaldos zumindest in allen gro- Pandemie fiskalisch stützen sollen, wie zum Bei- ßen Ländern des Euroraums mit einer ähnlichen spiel die Finanzierung von Kurzarbeitspro- Geschwindigkeit vor sich geht. In Deutschland, gramme (SURE) der besonders betroffenen Frankreich, Italien und Spanien liegen die be- Staaten mit Mitteln der EU, die allerdings später trachteten Salden zur Mitte des Jahres zwischen zurückgezahlt werden müssen, so dass der Vor- 2 bis 4 Prozentpunkte unter den jeweiligen Vor- teil des Programms für die betroffenen Staaten jahreswerten (Abbildung 21). Die Verschlechte- in den günstigeren Finanzierungskonditionen der rung des Saldos setzte jeweils im März ein. Un- EU liegen. terschiede im Niveau zeigen sich vor allem we- gen der unterschiedlichen Ausgangssituationen. Tabelle 1: Die Defizite dürften, anders als im Vorjahr, in der Budgetsaldo des Staates im Euroraum 2019–2022 zweiten Jahreshälfte jeweils weiter zunehmen. 2019 2020 2021 2022 Deutschland 1,4 -5,1 -3,1 -2,1 Vor allem monetäre Transfers und Steueraus- Frankreich -3,0 -10,7 -6,5 -4,8 fälle schlagen sich in den deutlichen Defizi- Italien -1,6 -10,5 -6,2 -4,7 ten nieder. Die Ausgaben für den öffentlichen Spanien -2,8 -10,8 -6,4 -4,6 Niederlande 1,7 -7,1 -3,9 -2,6 Konsum sind im ersten Halbjahr mit 3% hinge- Belgien -1,9 -8,5 -4,0 -2,9 gen nicht sonderlich stark gestiegen.1 Der indivi- Österreich 0,7 -7,1 -3,1 -1,9 Irland 0,4 -8,3 -5,3 -3,1 duell zurechenbare staatliche Konsum – unter Finnland -1,1 -7,5 -5,4 -3,7 den insbesondere medizinische Leistungen fal- Portugal 0,2 -7,9 -4,7 -2,8 len – legte nominal im Euroraum im ersten Halb- Griechenland 1,5 -7,7 -4,8 -2,8 Slowakei -1,3 -9,3 -6,2 -4,1 jahr sogar nur um 1% zu. Zusätzlichen Gesund- Luxemburg 2,2 -5,8 -4,6 -2,8 heitsausgaben in der Pandemie standen offen- Slowenien 0,5 -8,0 -5,7 -3,7 Litauen 0,3 -9,8 -3,5 -1,6 bar Einsparungen durch unterbliebene andere Lettland -0,2 -5,9 -3,5 -1,7 medizinische Leistungen gegenüber. Es zeigen Estland -0,3 -7,9 -4,4 -2,8 Zypern 1,7 -7,0 -2,1 -1,0 sich allerdings auch deutliche Unterschiede zwi- Malta 0,5 -6,5 -2,8 -1,2 schen den Ländern. Während die Konsumaus- Euroraum -0,6 -8,8 -5,0 -3,3 gaben in Spanien und Portugal für den individuell zurechenbaren und den gesamten öffentlichen Euroraum ohne -1,5 -9,6 -5,6 -4,0 Deutschland Konsum im ersten Halbjahr deutlich zulegten, 2 sanken sie in Frankreich und besonders in Bel- Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. gien sogar. In Deutschland gab es zwar einen Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; merklichen Anstieg der Konsumausgaben insge- eigene Berechnungen; grau hinterlegt: Prognose des IfW. samt. Beim individuell zurechenbaren Konsum war er allerdings verhalten, und im zweiten Quar- tal kam es sogar zu einem Rückgang. Über die akute Krisenreaktion hinaus haben viele Länder fiskalische Programme aufge- Verglichen mit dem Jahr 2019 ist die Finanz- legt, die ihre Wirkung erst in den kommenden politik im gesamten Prognosezeitraum deut- Jahren entfalten sollen mit dem Ziel, den Auf- lich expansiv ausgerichtet. Der Impuls ist be- schwung zu stabilisieren. So wird das Kon- sonders stark im Krisenjahr 2020 ausgeprägt. In junkturpaket in Deutschland von einem mehrjäh- der Folgejahren nimmt der Expansionsgrad dann rig angelegten „Zukunftspaket“ begleitet und 1 2 An dieser Stelle betrachten wir nominale Größen, da Der Anstieg war allerdings nicht so hoch wie in Groß- in dieser Krise der Vergleich preisbereinigter Größen britannien. für den öffentlichen Konsum aufgrund methodischer Unterschiede in der Erfassung kaum gegeben ist. 14
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Frankreich ein zeitlich gestrecktes Paket über lich. Alles in allem rechnen wir für das laufende 100 Mrd. Euro angekündigt, in dem auch Mittel Jahr mit einem Fehlbetrag von 8,3 Prozent in Re- aus dem Erholungsfonds der EU eingeplant sind. lation zum Bruttoinlandsprodukt im Euroraum Die Mittel Erholungsfonds werden in Form von insgesamt und mit 9,6 Prozent im Euroraum Zuschüssen und Darlehen bereitgestellt, die bis ohne Deutschland (Tabelle 1). Da die Wirt- zum Jahr 2029 für Reform- und Investitionspro- schaftsleistung nicht schnell auf den alten jekte genutzt werden können. Die Zuschüsse der Wachstumspfad zurückkehrt und umfangreiche EU werden zunächst die Budgets der Mitglieds- finanzpolitische Maßnahmen angekündigt sind, staaten entlasten, da der Fonds sich zunächst dürfte das Defizit mit der Erholung der Konjunk- am Kapitalmarkt verschuldet und die Rückzah- tur zwar sinken, doch nicht schnell zum Vorkri- lung der EU-Schulden erst in späteren Jahren senniveau zurückkehren. In den Jahren 2021 anteilig über höhere Beitragszahlungen aller Mit- und 2022 dürfte das Defizit im Euroraum 4,9 gliedsländer und das Ablösen der über den bzw. 3,5 Prozent in Relation zum Bruttoinlands- Fonds ausgereichten Darlehen erfolgen soll. produkt betragen (5,6 bzw. 4,0 Prozent in Rela- tion zum Bruttoinlandsprodukt im Euroraum Nach einem drastischen Anstieg im Jahr 2020 ohne Deutschland). sinkt das Defizit in den Folgejahren allmäh- Abbildung 21: Finanzierungssalden in ausgewählten Ländern des Euroraums 2019 und 2020 1 Prozent Deutschland 1 Prozent Frankreich 0 0 -1 -1 -2 -2 -3 -3 -4 -4 -5 -5 -6 -6 -7 -7 1 Prozent 1 Prozent Italien Spanien 0 0 -1 -1 -2 -2 -3 -3 -4 -4 -5 -5 2019 -6 2020 -6 -7 -7 Relativ zum Bruttoinlandsprodukt 2019. Kassenergebnisse. Deutschland: Bund, Länder und Bundesagentur für Arbeit. Frankreich: Zentralregierung. Italien: ohne Kommunen. Spanien: ohne Kommunen. Quelle: Nationale Finanzministerien via Thomsen Reuters Eikon, Bundesagentur für Arbeit, Berechnungen des IfW Kiel. 15
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Abbildung 22 Stimmungsindikatoren 2014 - 2020 Ausblick: Mühsame Erholung nach Index kräftigem Rückpralleffekt 2 Unternehmen Stimmungsindikatoren liefern derzeit kein 1 verlässliches Signal über die zu erwartende Produktionsausweitung. Kaum Aussagekraft hat derzeit der Markit-Einkaufsmanagerindex 0 (PMI), in dessen Erhebung lediglich qualitative Veränderungen im Vergleich zum Vormonat ab- -1 gefragt werden. So wird unter Einkaufsmana- gern oder Geschäftsführern erhoben, ob eine Kennzahl – z.B. Auftragsbestand, Beschäftigung -2 oder Umsatz– gegenüber dem Vormonat besser, Deutschland Euroraum gleichbleibend oder schlechter eingeschätzt -3 Euroraum ohne Deutschland wird, und die daraus errechneten Saldenindizes werden gewichtet zu einem Gesamtindex zu- sammengefasst. In normalen Zeiten korrespon- -4 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 diert der Indexwert recht verlässlich mit der Stärke der Produktionsausweitung, in der gegen- Index Verbraucher 2 wärtigen Situation ist das jedoch nicht der Fall. Der Economic Sentiment Indicator (ESI) der Eu- ropäischen Kommission ist ebenfalls ein umfra- 1 gebasierter Indikator, der in der gegenwärtigen Situation nur bedingt aussagekräftig ist. Er hat sich nach ihrem drastischen Einbruch aus dem 0 Frühjahr zwar wieder erholt, liegt aber noch deut- lich unter dem Vorkrisenniveau (Abbildung 22). Dabei war die Stimmung bei deutschen Unter- -1 nehmen wie auch deutschen Verbrauchern zu- letzt wieder besser als im übrigen Euroraum. Un- -2 klar ist, wie von dem Indikatorwert (oder dessen Veränderung) in der gegenwärtigen Situation auf die Größe des Rückpralleffektes im dritten Quar- -3 tal geschlossen werden kann. 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Monatsdaten; saisonbereinigt; standardisiert. Nullinie: Lang- Ein Anstieg der wirtschaftlichen Aktivität im jähriges Mittel. dritten Quartal mit einer zweistelligen Rate ist Quelle: Europäische Kommission, Business and Consumer bereits durch den V-förmigen Verlauf bei mo- Survey; eigene Berechnungen. natlich verfügbaren, harten Indikatoren ange- legt. Die Industrieproduktion bildet tatsächliche keit aus der Lockdown-Phase einiger Länder in- Produktionsvolumina ab und ist nach einem Ein- zwischen keinen Bestand mehr hat und der bis- bruch im April auf etwas mehr als 70 Prozent des herige Monatsverlauf eine Steigerung um etwa Vorkrisenniveaus bis zum Juli wieder auf knapp 13 Prozent nahelegt. Die Einzelhandelsumsätze 92 Prozent geklettert (Abbildung 23). Allein der überschritten das Vorkrisenniveau bereits im statistische Überhang und der Wert des ersten Juni wieder, fielen anschließend aber leicht zu- Quartalsmonats lassen auf einen Produktionszu- rück – die Zunahme im Quartalsdurchschnitt des wachs von mindestens 15 Prozent im Durch- dritten Quartals dürfte bei etwa 8-9 Prozent lie- schnitt des dritten Quartals schließen. Ähnlich gen. Schließlich gingen die Umsätze von Dienst- stark dürfte der Rückpralleffekt bei der Baupro- leistungsunternehmen (ohne Groß- und Einzel- duktion sein, da die Einschränkung der Bautätig- handel) im April bis auf 70 Prozent des 16
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Vorkrisenniveaus zurück und erreichten bereits soziale Interaktion unvermeidlich ist. Globale im Juni wieder 90 Prozent, was für das dritte Handelskonflikte und der weiter ungelöste Brexit Quartal auf ein Umsatzplus von wenigstens 15 belasten zusätzlich den Ausblick vieler Unter- Prozent schließen lässt, sofern die Umsätze im nehmen, verblassen aber hinter der pandemie- Verlauf des Quartals geringfügig weiter zulegen. bedingten Unsicherheit. Dagegen dürfte aus dem Bereich der öffentlichen Wir rechnen damit, dass das Coronavirus im Dienstleistungen ein unterproportionaler Zu- Verlauf des kommenden Jahres seinen wachs der Aktivität für den Euroraum ausgewie- Schrecken verlieren wird. Weltweit wurden und sen werden, der allerdings immerhin in einer werden Erfahrungen im Umgang mit der Krank- Größenordnung von rund 4 Prozent liegen wird; heit gesammelt, die im Infektionsfall eine effekti- lediglich für Frankreich und Belgien sind höhere vere Behandlung ermöglichen und die Gefahr Zuwächse zu erwarten, nachdem die dortigen der Krankheit geringer erscheinen lassen. So statistischen Ämter für den öffentlichen Sektor dürfte das Pendel der politischen Entscheidun- zuvor zweistellige Rückgänge der realen Aktivi- gen in der Abwägung zwischen strikter Eindäm- tät im ersten Halbjahr ausgewiesen hatten. Ins- mungsstrategie und der kontrollierten Inkauf- gesamt rechnen wir für das dritte Quartal mit ei- nahme weiterer Infektionen („Mitigation“) tenden- nem Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Pro- ziell immer mehr zu weiteren Lockerungen um- duktion in der Währungsunion um 11 Prozent schwenken. Auch die Maßnahmen zur Vermei- (Kasten 1). Dieser direkte Rückpralleffekt macht dung von Ansteckungsrisiken dürften immer ef- knapp zwei Drittel des Rückgangs der Wirt- fektiver und damit wirtschaftlich weniger belas- schaftsleistung aus dem ersten Halbjahr wett. tend werden – sei es durch schnellere und güns- Die wirtschaftliche Erholung in den bevorste- tigere Testverfahren oder durch gewonnene Er- henden Quartalen dürfte weitaus schleppen- kenntnisse aus der Analyse von Infektionsketten der verlaufen, denn es besteht große Unsi- und Ausbruchsclustern, die ihren Weg in Emp- cherheit über den weiteren Verlauf der Pan- demie. Zunächst gelang es zwar, die Fallzahlen Abbildung 23: Konjunkturindikatoren, 2019-2020 in ganz Europa durch seuchenpolitische Maß- nahmen zu reduzieren, allerdings unter extrem Neue Aufträge Index (2019 = 100) Industrieproduktion 110 hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bauproduktion Einzelhandelsumsatz Kosten. In der Folgezeit wurden – je nach Infek- Dienstleistungsumsatz tionsgeschehen national bzw. regional etwas zeitversetzt - Schritte zur Normalisierung und 100 zum Hochfahren der Wirtschaft eingeleitet und umgesetzt. Doch im Verlauf des Sommers gab es in vielen Mitgliedsländern einen Wiederan- 90 stieg der Zahl der Neuinfektionen – zuletzt be- sonders ausgeprägt in Spanien und Frankreich – und die Herbst- und Wintersaison steht vor der 80 Tür, in der die Ausbreitung von Viren im Ver- gleich zu den Sommermonaten aus verschiede- nen Gründen begünstigt wird. Auch weltweit ist 70 das Infektionsgeschehen keineswegs unter Kon- trolle. So dürfte die Zeit bis zu einer möglichen medizinischen Lösung der Pandemie geprägt 60 sein von der Abwägung zwischen einer Aufrecht- 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 erhaltung von Eindämmungsmaßnahmen und 2019 2020 dem Wunsch nach einer Normalisierung. Direkte Monatsdaten, saisonbereinigt. Industrieproduktion: ohne Bau. Einschränkungen bleiben wohl vorerst überall Einzelhandelsumsatz: deflationiert; Dienstleistungsumsatz: nominal. dort ein bedeutender Belastungsfaktor, wo das Infektionsgeschehen vergleichsweise aktiv ist Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik. sowie in all den Wirtschaftsbereichen, in denen 17
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Kasten 1: Abschätzung des Rückpralleffekts für das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum Das teilweise Hochfahren der stillgelegten Wirtschaftsbereiche nach dem Lockdown im Frühjahr ist eine ungewöhnliche Situation. Quantitative Modelle, die sich als wesentliche erklärende Variable auf einen Stim- mungsindikator stützen, liefern derzeit womöglich keine verlässlichen Prognosen für die zu erwartende Pro- duktionsausweitung im dritten Quartal, denn der Zusammenhang der Zeitreihen wird auf Basis einer Ver- gangenheit geschätzt, die maßgeblich von der gegenwärtigen Situation abweicht. Eine alternative Abschätzung des Rückpralleffekts in Q3 wird im Folgenden vorgenommen, indem das ge- samtwirtschaftliche Produktionsniveau aus sechs Elementen zusammengesetzt wird: 1. Industrieproduktion (ohne Baugewerbe) 2. Bauproduktion 3. Einzelhandelsumsatz 4. Dienstleistungsumsatz 5. Staatsverbrauch 6. Produktion der Land- und Forstwirtschaft Für jedes dieser Elemente wird ein Produktionsindex auf Quartalsebene gebildet und anschließend in einen gesamtwirtschaftlichen Produktionsindex (BIP-Index) überführt. Für die ersten vier Elemente liegen monat- liche Zeitreihen vor, die bis zum Juni bzw. Juli reichen. Durch konservative Fortschreibung der monatlichen Entwicklung kann eine Zuwachsrate für das dritte Quartal abgeleitet werden, in der die jeweiligen Überhan- geffekte berücksichtigt werden. Abbildung K1-1 zeigt die Entwicklung der ersten zwei Zeitreihen bis zum aktuellen Rand zusammen mit einer Fortschreibung bis zum Jahresende. Die Industrieproduktion (ohne Bausektor) wird in einen Quartal- sindex umgewandelt, auf einen Wert von 100 im vierten Quartal 2019 normiert und geht gewichtet mit dem nominalen Wertschöpfungsanteil des Produzierenden Gewerbes ohne Bau im Euroraum des Jahres 2019 in den BIP-Index ein. Die Bauproduktion wird ebenfalls fortgeschrieben, auf Quartalsebene normiert und geht gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil des Baugewerbes in den BIP-Index ein. Abbildung K1-1: Indikatoren des Produzierenden Gewerbes im Euroraum, fortgeschrieben Industrieproduktion (ohne Bau) Bauproduktion 110 120 -0,6 -0,8 -1,0 0,2 110 -0,5 -0,7 1,7 100 -3,4 13,7 -3,0 15,1 1,2 100 90 -11,5 90 -15,8 80 80 70 70 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV 2019 2020 2019 2020 Monatsdaten, preis-, kalender- und saisonbereinigt. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik; Eigene Berechnungen. 18
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3) Abbildung K1-2 zeigt die Entwicklung der dritten und vierten Zeitreihe mit der Fortschreibung bis zum Jah- resende. Die Umsätze im Einzelhandel werden gewichtet mit dem halben Wertschöpfungsanteil der Berei- che Handel, Verkehr und Gastgewerbe. Der Dienstleistungsumsatz fließt schließlich gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil der übrigen privaten Dienstleister ein. Abbildung K1-2: Indikatoren des Dienstleistungssektors im Euroraum, fortgeschrieben Einzelhandelsumsatz Dienstleistungsumsatz 130 0,8 0,3 0,5 0,4 0,3 8,5 1,7 0,4 110 -2,6 120 -5,3 1,5 15,6 -5,2 100 110 100 -16,6 90 90 80 80 70 70 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV 2019 2020 2019 2020 Monatsdaten. Einzelhandelsumsätze: deflationiert, saisonbereingt. Dienstleistungsumsätze: nominal, saisonbereinigt. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik; Eigene Berechnungen. Für die letzten zwei Elemente des Produktionsindex werden folgende Annahmen getroffen: • Die Produktion der Land- und Forstwirtschaft, wie sie in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (Bereich A in der Industrieklassifikation NACE Rev. 2) ausgewiesen ist, bleibt bis zum Jahresende kon- stant auf dem Niveau des zweiten Quartals. Sie geht gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil der Land- und Forstwirtschaft in den BIP-Index ein. • Der Staatsverbrauch erhält eine Gegenbuchung zu dem, was in den ersten zwei Quartalen als Zuwachs oder Schrumpfung in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zum preisbereinigten Staatsver- brauch ausgewiesen wurde – aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der Aktivitäten im öffentlichen Sektor während der Lockdownphase durch nationale statistische Ämter wurde für den Euroraum im ers- ten Halbjahr ein realer Rückgang um 3,3 Prozent ausgewiesen. Der Staatsverbrauch geht gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil der öffentlichen Dienstleister in den BIP-Index ein. So ergeben sich sechs sektorale Produktionsindizes in den Jahren 2019 und 2020 und ein abgeleiteter BIP- Index mit den zugehörigen Zuwachsraten (Tabelle K1-1). Dabei wird implizit unterstellt, dass sich Produktion und Umsätze proportional zu der Wertschöpfung in den jeweiligen Wirtschaftsbereichen entwickeln. Mit dem VGR-basierten Gewichtungsschema und dem bisherigen Verlauf der zugrunde liegenden Größen kann der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion der ersten zwei Quartale im Euroraum recht genau repro- duziert werden. Unter den getroffenen Annahmen über den Verlauf der zugrunde liegenden Größen bis zum Jahresende ergibt sich im dritten Quartal ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Euroraum um 11,7 Prozent. Dasselbe Verfahren kann auch für die großen vier größten Volkswirtschaften des Euroraums separat durch- geführt werden, wobei auch das Gewichtungsschema an die jeweiligen Wertschöpfungsanteile angepasst wird. Da die Dienstleistungsumsätze für Deutschland und Italien jedoch nur auf Quartalsebene vorliegen, 19
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