KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Euroraum im Herbst 2020

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KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Euroraum im Herbst 2020
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

KIELER
KONJUNKTUR-
BERICHTE
Euroraum
im Herbst 2020

Abgeschlossen am 16. September 2020

                                          © Daniel Wolcke / IfW Kiel

                                                                       Nr. 70 (2020|Q3)
Jens Boysen-Hogrefe, Salomon Fiedler,
Dominik Groll, Stefan Kooths und Ulrich
Stolzenburg

                                                                          Prognosezentrum
                                                                                     1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      INHALTSVERZEICHNIS

      Euroraum: Mühsam zurück zur Normalität

      Zur Lage in den Mitgliedsländern ........................................................................................... 7

      Produktionskapazitäten liegen brach ..................................................................................... 9

      Corona-Krise wirft Arbeitsmarkt deutlich zurück................................................................... 11

      Das Finanzierungsumfeld bleibt ausgesprochen günstig ..................................................... 12

      Öffentliche Budgets im freien Fall ........................................................................................ 14

      Ausblick: Mühsame Erholung nach kräftigem Rückpralleffekt .............................................. 16

      Literatur ............................................................................................................................... 24

              Kasten 1:

              Abschätzung des Rückpralleffekts für das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum ............ 18

                                                                                                                                                     2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      EURORAUM: MÜHSAM ZURÜCK ZUR NORMALITÄT

      Jens Boysen-Hogrefe, Salomon Fiedler, Dominik Groll, Stefan
      Kooths und Ulrich Stolzenburg

      Nach dem historisch einmaligen Rückgang der ge-           Die gesamtwirtschaftliche Produktion im Eu-
      samtwirtschaftlichen Produktion um 15 Prozent im ers-     roraum ist im ersten Halbjahr in nie dagewe-
      ten Halbjahr wurde die Wirtschaft in den Mitgliedslän-    senem Tempo eingebrochen. Seit Ende Feb-
      dern der Währungsunion schrittweise wieder hochge-        ruar hat sich das Coronavirus rasch in Europa
      fahren. Der monatliche Verlauf einiger harter Indikato-   ausgebreitet, sodass sich die Regierungen ge-
      ren bis zum Sommer lässt einen kräftigen Rückprallef-     zwungen sahen, weitgehende Einschränkungen
      fekt für das dritte Quartal erwarten, mit dem wohl        des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Le-
      knapp zwei Drittel des Rückgangs im Produktionsni-        bens zu beschließen, um die Ausbreitung des
      veau aufgeholt werden. Die weitere Erholung in den        neuartigen Virus zu verlangsamen bzw. einzu-
      bevorstehenden Quartalen dürfte allerdings weitaus        dämmen. Der Produktionsrückgang im ersten
      schleppender verlaufen: Angesichts stark steigender       Quartal belief sich auf 3,7 Prozent, obwohl die
      Infektionszahlen in einigen Mitgliedsländern besteht      seuchenpolitischen Maßnahmen fast aus-
      große Unsicherheit über den Fortgang der Pandemie,        schließlich erst im dritten Quartalsmonat wirk-
      insbesondere für das bevorstehende Winterhalbjahr.        sam wurden. Im Frühjahr folgte dann der stärkste
      Direkte Einschränkungen bleiben wohl vorerst überall      Quartalsrückgang seit Beginn der Aufzeichnun-
      dort ein bedeutender Belastungsfaktor, wo das Infek-      gen. Die Wirtschaftsleistung der Währungsunion
      tionsgeschehen vergleichsweise aktiv ist sowie in         brach um weitere 11,8 Prozent ein (Abbildung 1).
      Wirtschaftsbereichen, in denen direkte soziale Interak-
      tion auf engem Raum unvermeidlich ist. Zudem dro-         Abbildung 1:
      hen Nach- und Folgewirkungen der drastischen Um-          Bruttoinlandsprodukt im Euroraum 2018 - 2022
      satz- und Einkommensverluste aus dem bisherigen                   Kettenindex (2010 = 100)                          Prozent
      Krisenverlauf nach und nach sichtbar zu werden. So
                                                                                                                 Veränderung
      stiegen die Arbeitslosenzahlen zuletzt wieder in prak-      115                                            Niveau               10
      tisch allen Mitgliedsländern an, und dieser Trend
      dürfte sich vorerst fortsetzen. Insgesamt dürfte das
                                                                  110                                                                 5
      Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr um 7,1 Pro-
      zent zurückgehen. Im kommenden Jahr erwarten wir
      einen Zuwachs um 5,3 Prozent und im Jahr 2022 von           105                                                                 0
      2,6 Prozent. Damit wird das Vorkrisenniveau wohl erst
      im Verlauf des Jahres 2022 wieder überschritten.
                                                                  100                                                                 -5

                                                                   95                                                                 -10

                                                                           1,8         1,3        -7,1         5,3         2,6
                                                                   90                                                                 -15
                                                                        I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV
                                                                          2018        2019        2020        2021         2022

                                                                 Quartalsdaten,  preis-,   kalender-  und   saisonbereinigt,
                                                                 Veränderung gegenüber dem Vorquartal (rechte Skala).
                                                                 Gerahmt: Jahresdaten, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in
                                                                 Prozent.

                                                                 Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechungen. grau
                                                                 hinterlegt: Prognose des IfW Kiel.

                                                                                                                                            3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Über das erste Halbjahr insgesamt belief sich                der Lockdown auch den Bausektor in Mitleiden-
      der Rückgang der Wirtschaftsleistung auf                     schaft gezogen hat, also insbesondere in Frank-
      15,1 Prozent, dabei gingen Außenhandel und                   reich, Italien und Spanien. Hier waren die Bauin-
      Anlageinvestitionen überproportional zu-                     vestitionen als größtes Teilaggregat der Brutto-
      rück. Im Ländervergleich lassen sich einige Un-              anlageinvestitionen zwischen 24 Prozent (Ita-
      terschiede, aber auch Gemeinsamkeiten hin-                   lien) und 32 Prozent (Frankreich) geringer als im
      sichtlich des Produktionseinbruchs im ersten                 vierten Quartal 2019, während sie in Deutsch-
      Halbjahr feststellen. In der Währungsunion ins-              land und den Niederlanden in etwa das Vorkri-
      gesamt ist verwendungsseitig der private Ver-                senniveau hielten. Demgegenüber sind die Aus-
      brauch geringfügig mehr eingebrochen als die                 rüstungsinvestitionen in allen fünf größten Volks-
      Wirtschaftsleistung (Abbildung 2). Der Staatsver-            wirtschaften des Euroraums stark gefallen und
      brauch war demgegenüber relativ stabil, der                  lagen im zweiten Quartal zwischen 26 Prozent
      Rückgang belief sich hier lediglich auf 3,3 Pro-             (Deutschland) und 33 Prozent (Frankreich, Spa-
      zent. In der Länderabgrenzung zeigten sich bei               nien) unter dem Wert des Schlussquartals 2019.
      Frankreich und Belgien gleichwohl auch hier                  Schließlich ging der Außenhandel – Exporte
      zweistellige Rückgänge im Vergleich zum vierten              ebenso wie Importe – stärker zurück als die Wirt-
      Quartal des Vorjahres, und dort insbesondere                 schaftsleistung. In der Länderabgrenzung sind
      beim individuell zurechenbaren Staatskonsum.                 die Exporte in Frankreich, Italien und Spanien
      Hintergrund dürften auch Unterschiede zwischen               besonders stark – um 30-40 Prozent – eingebro-
      nationalen Statistikämtern in der Bewertung kri-             chen, wobei die Dienstleistungsexporte (Touris-
      senbedingter Aktivitätsänderungen im Staats-                 mus) in Italien und Spanien sogar um mehr als
      sektor sein (Stolzenburg 2020). Die Bruttoanla-              die Hälfte fielen.
      geinvestitionen sind überall dort besonders stark
                                                                   Der Exportrückgang verlief zwar heftiger und
      – um mehr als 20 Prozent – eingebrochen, wo
                                                                   schneller als während der Weltfinanzkrise,
                                                                   doch es deutet sich auch eine raschere Erho-
       Abbildung 2:
                                                                   lung an als damals. Bei der Betrachtung der Ex-
       Bruttoinlandsprodukt und Verwendungsaggregate,
                                                                   portvolumen des Euroraums auf Quartalsebene,
       erste Jahreshälfte 2020
                                                                   die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-
             Prozent
                                                                   gen ausgewiesen werden, scheint der Export-
         0
                                                                   rückgang in der gegenwärtigen Corona-Krise
                                                                   merklich heftiger zu verlaufen als während der
        -5                                                         Weltfinanzkrise der Jahre 2008 und 2009, wenn
                                                                   das jeweils letzte Vorkrisenquartal auf den Index-
                                                                   wert 100 normiert wird (Abbildung 3). Auf Basis
       -10
                                                                   der monatlichen Warenexportvolumina, die vom
                                                                   niederländischen CPB auch für die Währungs-
       -15                                                         union als Teilkomponente des Welthandels ver-
                                                                   öffentlicht werden, zeichnet sich jedoch ein opti-
       -20                                                         mistischeres Bild ab (Abbildung 4). Denn der
                                                                   Rückgang im März und April war zwar drasti-
                                                                   scher als im Herbst 2008, doch im Mai und Juni
       -25
                                                                   folgte eine ebenso rasche Erholung, die an einen
                                                                   V-förmigen Verlauf erinnert und die dynamischer
                                                                   zu verlaufen scheint als während der Weltfinanz-
                                                                   krise (Felbermayr und Stamer 2020). Die weitere
                                                                   Entwicklung wird zeigen, inwieweit Optimismus
       Quartalsdaten;    preis-   kalender- und saisonbereinigt.   bezüglich einer dynamischen Erholung des
       Veränderung zwischen dem vierten Quartal 2019 und en        grenzüberschreitenden Handels gerechtfertigt
       zweiten Quartal 2020 in Prozent.
                                                                   ist.
       Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen.

                                                                                                                        4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

       Abbildung 3:                                                    Die Wertschöpfungsverluste waren im Pro-
       Exporte des Euroraums, Quartale, 2009 vs. 2020                  duzierenden Gewerbe, in den Bereichen Han-
        Index (Vorkrisen-            Weltfinanzkrise (2008 Q2=100)     del, Verkehr und Gastgewerbe sowie bei
        quartal = 100)               Corona-Krise (2019 Q4 = 100)      sonstigen Dienstleistern besonders hoch.
                                                                       Die Wirtschaftsbereiche Handel, Verkehr und
       100                                                             Gastwirtschaft sowie sonstige Dienstleister, die
                                                                       den Kultur-, Veranstaltungs- und Eventbereich
                                                                       umfassen, hatten im ersten Halbjahr besonders
                                                                       große Rückgänge der Wertschöpfung zu bekla-
                                                                       gen (Abbildung 5). Auch die Wertschöpfung von
        90
                                                                       Unternehmensdienstleistern sowie im Verarbei-
                                                                       tenden Gewerbe ging in der Krise überproportio-
                                                                       nal zurück. Die Entwicklung im Baugewerbe fiel
                                                                       im Durchschnitt der Währungsunion in etwa so
        80                                                             stark wie die Wirtschaftsleistung insgesamt. Nur
                                                                       wenig betroffen von den Corona-bedingten Ein-
                                                                       schränkungen waren die Bereiche Land- und
                                                                       Forstwirtschaft, Information und Kommunikation,
                                                                       Finanz- und Versicherungsdienstleistungen so-
        70                                                             wie Grundstücks- und Wohnungswesen.
               -4Q    -2     t*    +2      +4     +6     +8    +10Q

       Quartalsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt. Gesetzte    Abbildung 5:
       Markierung beim ersten Krisenquartal.
                                                                        Entwicklung der Bruttowertschöpfung nach Wirt-
       Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche    Gesamtrechnungen;      schaftsbereichen, erste Jahreshälfte 2020
       Eigene Berechnungen.
                                                                                                                             Prozent
                                                                                                      -30   -20        -10             0

       Abbildung 4:                                                                Landwirtschaft
       Exporte des Euroraums, monatlich, 2009 vs. 2020
        Index (Vorkrisen-                                                Prod. Gewerbe ohne Bau
                                  Weltfinanzkrise (Sept. 2008 = 100)
        monat = 100)
                                  Corona-Krise (Feb. 2020 = 100)
                                                                                     Baugewerbe

       100                                                                       Handel, Verkehr,
                                                                                  Gastwirtschaft

                                                                                  Information und
                                                                                  Kommunikation

                                                                                Finanz- und
         90                                                                 Versicherungsdienstl.

                                                                                Grundstücks- und
                                                                                Wohnungswesen

                                                                        Unternehmensdienstleister
         80
                                                                          Öff. Dienstl., Erziehung,
                                                                                  Gesundh.

                                                                                 Sonstige Dienstl.

         70
              -12M   -6M    t*    +6M +12M +18M +24M +30M
                                                                        Quartalsdaten;    preis-   kalender- und saisonbereinigt.
                                                                        Veränderung zwischen dem vierten Quartal 2019 und en
       Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. Gesetzte Markierung     zweiten Quartal 2020 in Prozent.
       beim ersten Krisenmonat.
                                                                        Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen.
       Quelle: CPB; Eigene Berechnungen.

                                                                                                                                           5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

        Abbildung 6:
        Umsatzverlust privater Dienstleistungsbereiche, im April und Juni 2020
                       Rückgang April (vs. Feb. 2020)                                                                                         Prozent
                       Rückgang Juni (vs. Feb. 2020)                                   -100         -80      -60          -40          -20          0

                                                                            Gesamt
                                    Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen
                                                                           Luftfahrt
                                   Lagerei / sonst. Dienstleistungen für den Verkehr
                                                                     Beherbergung
                                                                       Gastronomie
                                                    Information und Kommunikation
                                   Freiberufliche, wiss. und techn. Dienstleistungen
          Rechts- und Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung; PR- und Unt.-beratung
           Architektur- und Ingenieurbüros; techn., phys. und chem. Untersuchung
                                                      Werbung und Marktforschung
              Sonstige freiberufliche, wissenschaftliche und technische Tätigkeiten
                                           Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen
                                    Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften
              Reisebüros, Reiseveranstalter, sonst.Reservierungsdienstleistungen
                                    Wach- und Sicherheitsdienste sowie Detekteien
                                  Gebäudebetreuung; Garten- und Landschaftsbau

          Monatsdaten; kalender- und saisonbereinigt. Umsatzrückgang gegenüber Februar in Prozent.

          Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik.

      Dienstleister mit Bezug zu Reisen und Touris-                               Die Verbraucherpreise lagen zuletzt 0,2 Pro-
      mus kamen im Frühjahr besonders unter die                                   zent unter ihren Vorjahreswerten. Nachdem
      Räder. Die monatlichen Umsätze von Dienstleis-                              die Verbraucherpreisinflation Anfang des Jahres
      tungsunternehmen im Euroraum sind im April um
      rund 30 Prozent unter ihr Vorkrisenniveau ge-                                Abbildung 7:
                                                                                   Verbraucherpreise 2014-2020
      sunken und lagen im Juni noch 10 Prozent da-
      runter (Abbildung 6). Die disaggregierte Betrach-                                       Prozent                                        Kernrate
                                                                                                                                             Gesamtindex
      tung zeigt, dass die Umsätze in einigen Bran-
      chen in der Spitze um 80 Prozent oder mehr ein-                                   2
      gebrochen sind und sich auch nicht rasch erholt
      haben, namentlich Luftfahrt, Beherbergung,
      Gastronomie sowie Reiseveranstalter und -ver-
      mittler. Bis zum Juni – jüngere Daten liegen noch                                 1
      nicht vor – hatte sich der Umsatz lediglich bei
      den Gastronomen etwas erholt, lag aber auch
      dort immer noch 40 Prozent unter dem gewohn-
      ten Niveau. Bei Luftfahrt, Beherbergung und den                                   0
      Reiseveranstaltern und -vermittlern dürfte sich
      die Lage gleichwohl ab dem Monat Juli etwas
      verbessert haben, als der innereuropäische Tou-
      rismus zunächst wieder in der Breite geöffnet                                     -1
                                                                                             2014   2015   2016    2017         2018    2019      2020
      wurde. In mehreren Bereichen lagen die Um-
      sätze im Juni noch substanziell unter ihren Vor-                                 Monatsdaten; Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Kernndex:
                                                                                       Gesamtindex ohne Energie und unverarbeitete Lebensmittel.
      krisenniveaus, und im Bereich Arbeitsvermittlung
      war der Umsatzverlust im Juni sogar größer als                                   Quelle: Europäische Zentralbank, Monatsbericht.

      im April.

                                                                                                                                                           6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      noch bei knapp eineinhalb Prozent gelegen                        Überproproportional stark war der Rückgang in
      hatte, ist der Preisanstieg nun erstmals seit 2016               Spanien (22,1 Prozent), Frankreich (18,9 Pro-
      wieder in den negativen Bereich gefallen (Abbil-                 zent) und Italien (17,7 Prozent). In Deutschland
      dung 7). Eine Ursache des Rückgangs war ein-                     betrug der Rückgang dagegen lediglich 11,3 Pro-
      mal mehr der Ölpreis, der zwar inzwischen wie-                   zent, in den Niederlanden 9,2 Prozent. Ver-
      der über 40 Dollar für ein Fass der Sorte Brent                  gleichsweise mild war der Produktionsrückgang
      geklettert ist, aber immer noch deutlich unterhalb               in Irland, Finnland und den baltischen Staaten.
      seines Vorjahreswertes liegt. Weitere Einfluss-                  Im Durchschnitt der Währungsunion betrug der
      faktoren sind der Außenwert des Euro, der zu-                    Rückgang 14,7 Prozent. Maßgeblich für die Un-
      letzt merklich aufgewertet hat, und die Mehrwert-                terschiede ist neben dem variierenden Infekti-
      steuersenkung in Deutschland. Die Kernrate der                   onsgeschehen und der jeweiligen Wirtschafts-
      Inflation, in der Preisänderungen von Energie                    struktur (z. B. Tourismus- oder Exportabhängig-
      und unverarbeiteten Lebensmitteln ausgeblen-                     keit) auch der Grad der seuchenpolitischen Ein-
      det werden, ist im August ebenfalls deutlich ge-                 griffe (Härte und Dauer des Lockdowns).
      fallen und lag bei nur noch 0,6 Prozent, nachdem
                                                                       Weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung
      sie zuvor über etwa drei Jahre stabil bei knapp
                                                                       des Virus wurden nahezu parallel in allen gro-
      über einem Prozent gelegen hatte.
                                                                       ßen Mitgliedsländern ergriffen. Der „Lockdown
                                                                       stringency index“ bewertet die Härte der Ein-
                                                                       schränkungen des gesellschaftlichen Lebens an-
      Zur Lage in den Mitgliedsländern
                                                                       hand verschiedener Kategorien – etwa Schul-
      Der Produktionsrückgang in Frankreich, Ita-                      schließungen, Arbeitsplatzschließungen, Veran-
      lien und Spanien war besonders drastisch. Im                     staltungsverbote, Kontakt- und Reisebeschrän-
      Vergleich zum Vorjahresquartal ist die Produk-                   kungen – und überführt diese (ordinal skalierten)
      tion in ausnahmslos allen Mitgliedsländern ge-                   Teilbewertungen in einen täglichen ausgewiese-
      schrumpft (Abbildung 8).                                         nen Indexwert zwischen 0 und 100. Der Index
                                                                       misst damit die Härte der bestehenden Lock-
                                                                       down-Maßnahmen, wenngleich die darin erfass-
       Abbildung 8:
       Veränderung des Bruttoinlandsprodukts im Vorjah-
                                                                       ten Teilbereiche nicht im selben Maße dämpfend
       resvergleich                                                    auf die wirtschaftliche Aktivität wirken dürften. Im
             Prozent
                                                                       zeitlichen Profil haben die großen Mitgliedslän-
         0                                                             der der Währungsunion nahezu gleichzeitig in
                                                                       der ersten Hälfte des März einen Großteil der
        -5                                                             seuchenpolitischen Maßnahmen ergriffen (Abbil-
                                                                       dung 9). Lediglich in Italien wurden die Maßnah-
                                                                       men bereits in der zweiten Hälfte des Februars
       -10
                                                                       wirksam – und damit etwas früher als anderswo.
                                                                       Im Mai und Juni wurden einige dieser Maßnah-
       -15
                                                                       men dann schrittweise wieder zurückgenom-
                                                                       men, je nach Land etwas zeitversetzt. Mit den
       -20                                                             Lockerungen konnte auch wirtschaftliche Aktivi-
                                                                       tät teilweise wieder zurückkehren, die im April
       -25
                                                                       unter den damals geltenden, härteren Eindäm-
                                                                       mungsmaßnahmen unterblieben war.
                  MAL
                 GRE

                  LUX

                   FIN
                    LIT
                  ESP

                   ITA

                  BEL

                  EST
                  FRA

             Euroraum

                  CYP
                 POR

                  AUT

                  NED
                  SLV
                  SLK

                 GER

                   IRE
                  LAT

        Quartalsdaten;     preis-, kalender   und   saisonbereinigt.
        Veränderung des zweiten Quartalswertes 2020 gegenüber dem
        Vorjahresquartal.. Luxemburg: Geschätzt.

        Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche   Gesamtrechnungen;
        eigene Berechnungen.

                                                                                                                              7
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Abbildung 9:
      Lockdown stringency index, 2020

                Index
         100
                                                                                                      GER
                                                                                                      FRA
                                                                                                      ITA
                                                                                                      ESP
                                                                                                      NED
                                                                                                      BEL

          50

           0
               1.1           1.2      1.3   1.4      1.5     1.6            1.7             1.8           1.9

        Tagesdaten.

        Quelle: Hale et al. (2020).

      Im Monatsprofil hatte die industrielle Aktivität     Abbildung 10:
      bereits im April ihren Tiefpunkt. Besonders          Industrieproduktion (ohne Bau), 2020
      stark war der Rückgang des Produktionsvolu-           Januar 2020 = 100                             GER           FRA
                                                                                                          ITA           ESP
      mens im März und April in Italien. Doch auch in        100                                          NED           BEL
      Deutschland, Frankreich und Spanien war das
      Produktionsniveau im Produzierenden Gewerbe
      (ohne Bau) im April um rund 30 Prozent niedriger        90

      als noch im Februar (Abbildung 10). Seit dem
      Monat Mai lief die Produktion schrittweise wieder       80
      an und hat bis zum Juli ein Niveau von rund 90
      Prozent erreicht bzw. überschritten. In Belgien
      und den Niederlanden war der Produktionsrück-           70

      gang im Frühjahr vergleichsweise moderat. Un-
      ter den übrigen Mitgliedsländern waren die Slo-         60
      wakei und Slowenien stark betroffen; überall
      sonst war die Produktion in geringerem Maße
      rückläufig als in den großen vier Volkswirtschaf-       50
                                                                     1.1     1.2     1.3     1.4    1.5     1.6   1.7
      ten.
                                                           Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt.

                                                           Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik.

                                                                                                                              8
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Die Bauproduktion ist in Frankeich und Ita-                     Vorkrisenniveau wurde bereits wieder übertrof-
      lien am stärksten eingebrochen. Wiederum im                     fen, während in Italien und Spanien dieses Ni-
      April hatte auch das Produktionsniveau im Bau-                  veau auch im Juli noch nicht erreicht wurde. Der
      gewerbe seinen Tiefpunkt, und der Rückgang                      Umsatzrückgang in Belgien lag mit 15-20 Pro-
      war mit mehr als zwei Dritteln in Frankreich und                zent im Durchschnitt der Währungsunion, ähn-
      Italien besonders drastisch, wobei in Frankreich                lich wie in Österreich und einigen mittel- und ost-
      bis zum Juli wieder rund 95 Prozent des Aus-                    europäischen Ländern. Ein Viertel oder mehr be-
      gangsniveaus erreicht wurden (Abbildung 11). In                 trug der maximale Rückgang zudem in Irland,
                                                                      Portugal, Griechenland, Luxemburg und Zypern,
      Spanien und Belgien war der Rückgang mit etwa
                                                                      während es in Finnland keinerlei sichtbare Delle
      20-25 Prozent ebenfalls erheblich, und auch hier
                                                                      in den Einzelhandelsumsätzen gab.
      wurde Produktion im Juni wieder auf 90 Prozent
      des Ausgangsniveaus ausgeweitet. Kaum be-
                                                                      Abbildung 12:
      troffen war die Bauproduktion dagegen in
                                                                      Einzelhandelsumsatz, 2020
      Deutschland und den Niederlanden. Unter den                                                               GER          FRA
      übrigen Mitgliedsländern ist die Bauproduktion                         Prozent
                                                                                                                ITA          ESP
                                                                                                                NED          BEL
      zudem in Irland, Österreich und Luxemburg                        110

      merklich zurückgegangen, während das Produk-
      tionsniveau in den übrigen Ländern, für die be-                  100
      reits Daten vorliegen, vergleichsweise stabil
      blieb.
                                                                        90
       Abbildung 11:
       Bauproduktion, 2020
                                                                        80
           Januar 2020 = 100                          GER       FRA
                                                      ITA       ESP
                                                      NED       BEL
         100                                                            70

                                                                        60
          80
                                                                               1.1     1.2     1.3      1.4     1.5   1.6   1.7
                                                                       Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt.

                                                                       Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik.
          60

          40                                                          Produktionskapazitäten liegen
                                                                      brach
          20
                 1.1     1.2     1.3     1.4    1.5     1.6   1.7
                                                                      Im laufenden Jahr sind die Produktionskapa-
       Monatsdaten; preis- kalender- und saisonbereinigt.             zitäten im Euroraum weit unter normal ausge-
       Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik.
                                                                      lastet. Nach jüngsten Schätzungen der Europäi-
                                                                      schen Kommission aus dem Mai (Frühjahrsprog-
                                                                      nose) liegt die Produktionslücke im laufenden
      Der April als Tiefpunkt der wirtschaftlichen                    Jahr bei minus 7,2 Prozent, nachdem sie im Vor-
      Aktivität zeigt sich auch im Einzelhandel. In                   jahr leicht im positiven Bereich gelegen hatte.
      Deutschland und den Niederlanden war der                        Dieser historisch einmalige Grad der Unteraus-
      Rückgang der realen Einzelhandelsumsätze mit
                                                                      lastung ist bei unterjähriger Betrachtung im Früh-
      weniger als 10 Prozent über alle Branchen (aus-
                                                                      jahr 2020 letztlich noch ausgeprägter gewesen
      genommen Fahrzeuge) allerdings weitaus milder
                                                                      und letztlich durch die bewusste Stilllegung vieler
      als in Frankreich, Italien und Spanien, wo der
                                                                      Wirtschaftsbereiche bedingt. Offen ist, inwieweit
      Rückgang im Durchschnitt des Monats April rund
                                                                      die brach liegenden gesamtwirtschaftlichen Pro-
      30 Prozent betrug (Abbildung 12). Auch konnten
      in Deutschland und den Niederlanden bereits im                  duktionskapazitäten in der Folgezeit des Lock-
      Mai Aufholeffekte beobachtet werden, und das                    downs schrittweise wieder aktiviert werden konn-
                                                                      ten bzw. können. Gemäß der Kommissions-

                                                                                                                                   9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      prognose aus dem Frühjahr wird die Produkti-                      Dienstleistern wird die Kapazitätsauslastung erst
      onslücke im Durchschnitt der Währungsunion                        seit 2011 erfasst und war geringer als jemals zu-
      auch im kommenden Jahr mit -2,6 Prozent noch                      vor, mithin auch merklich niedriger als während
      klar im negativen Bereich bleiben. Bei den in der                 der Euro-Schuldenkrise etwa im Jahr 2012. Ins-
      hier vorgelegten Konjunkturprognose unterstell-                   gesamt bestätigen die Unternehmensbefragun-
      ten Expansionsraten für die Jahre 2021 und                        gen das Bild einer spürbaren Unterauslastung im
      2022 wird sich die Produktionslücke auch bis                      Durchschnitt des Jahres 2020, die gerade im
      zum Ende des Jahres 2022 noch nicht vollstän-                     Dienstleistungssektor ungewöhnlich stark aus-
      dig schießen.                                                     geprägt ist.

                                                                        Abbildung 14:
       Abbildung 13:
                                                                        Limitierender Faktor Arbeitskräfte 1999-2020
       Limitierender Faktor Nachfrage 1999-2020
                                                                               Prozent                         Industrie
            Prozent                   Industrie                          25                                    Dienstleistungen
                                      Dienstleistungen
       70

       60                                                                20

       50
                                                                         15

       40
                                                                         10
       30

       20                                                                 5

       10                                                                 0
                                                                           1999     2002    2005   2008    2011    2014    2017     2020
        0
         1999   2002    2005   2008    2011   2014    2017   2020        Quartalsdaten, saisonbereinigt. Anteil der Unternehmen, die
                                                                         fehlende Arbeitskräfte als Hemmnis für die eigene Produktion
       Quartalsdaten, saisonbereinigt. Anteil der Unternehmen, die       ansehen. Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999.
       mangelnde Nachfrage als Hemmnis für die eigene Produktion         Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services
       ansehen. Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999 bzw. 2003.    Survey; eigene Berechnungen.
       Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services
       Survey; eigene Berechnungen.

                                                                         Abbildung 15:
                                                                         Kapazitätsauslastung 1999-2020
      Unternehmensbefragungen bestätigen das                                                                       Industrie
                                                                               Prozent
      Bild einer deutlichen Unterauslastung. So lag                       95                                       Dienstleister
      der Anteil der Industrieunternehmen, deren Pro-
      duktion nach eigenen Angaben durch einen                            90
      Nachfragemangel – zum Zeitpunkt der jüngsten
      Befragung im Juli 2020 – beschränkt war, deut-                      85
      lich über dem langjährigen Durchschnitt (Abbil-
      dung 13). Auch der entsprechende Anteil bei                         80
      Dienstleistungsunternehmen lag auf einem sehr
      hohen Niveau. Gleichzeitig ist der Anteil der Un-                   75
      ternehmen, deren Produktion durch einen Man-
      gel an geeigneten Arbeitskräften beschränkt                         70
      wird, sowohl bei Unternehmen des Verarbeiten-
      den Gewerbes als auch bei Dienstleistern dras-                      65
      tisch zurückgegangen (Abbildung 14). Die Kapa-                        1999     2002   2005    2008    2011    2014     2017      2020
      zitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe                          Quartalsdaten: Gestrichelte Linien: Mittelwerte seit 1999.
      war ebenfalls stark rückläufig und lag zur Jahres-                  Quelle: Europäische Kommission, Industry Survey und Services
      mitte deutlich unter dem langjährigen Durch-                        Survey; eigene Berechnungen.

      schnittswert (Abbildung 15). Bei den privaten

                                                                                                                                              10
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Corona-Krise wirft Arbeitsmarkt                                         nationalen statistischen Ämtern zum Teil bereits
      deutlich zurück                                                         für das zweite Quartal vorliegen, weisen mitunter
                                                                              zweistellige prozentuale Rückgänge der gesamt-
      Der langjährige Rückgang der Arbeitslosig-                              wirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden aus.
      keit fand ein jähes Ende, und die Beschäfti-                            Kurzarbeitsprogramme wurden in vielen Mit-
      gung fällt rasch. Ausgehend vom langjährigen                            gliedsländern aufgelegt und breit genutzt, und
      Tiefpunkt von 7,3 Prozent im Februar des laufen-                        die EU-Kommission unterstützt diese nationalen
      den Jahres ist die Erwerbslosenquote im Euro-                           Programme auf Antrag durch zinsgünstige Dar-
      raum bis zum Juli auf 7,9 Prozent (ohne                                 lehen über das SURE-Programm.
      Deutschland: 9,5 Prozent) gestiegen (Abbil-
                                                                              In praktisch allen Mitgliedsländern zog die
      dung 16). Gleichzeitig ging die Beschäftigtenzahl
                                                                              Arbeitslosenquote zuletzt an. Im Vergleich
      bereits im ersten Quartal erstmals seit 2013
                                                                              zum Januar ist die Erwerbslosenquote in 18 von
      leicht zurück, im zweiten Quartal betrug der
                                                                              19 Mitgliedsländern gestiegen, mit Ausnahme
      Rückgang 2,9 Prozent. Damit ist das Beschäfti-
                                                                              von Frankreich (Abbildung 17). In Deutschland
      gungsniveau schlagartig auf den Stand von Mitte
                                                                              ist die Erwerbslosenquote bereits seit Mitte 2019
      2017 zurückgefallen.
                                                                              – von sehr niedrigem Niveau — leicht gestiegen,
                                                                              und dieser Trend hat sich zuletzt verstärkt. In
       Abbildung 16:                                                          Frankreich und auch in Italien ist sie seit Beginn
       Erwerbslosenquote und Beschäftigung 2006-2020                          der Pandemie dagegen zwischenzeitlich gefal-
             Prozent                                      Millionen
                                                                              len, obwohl viele Wirtschaftsbereiche stillgelegt
       16                                                               162   worden waren. Gründe dürften einerseits tempo-
                            Euroraum ohne Deutschland                         räre regulatorische Änderungen sein, wonach
                                                                              etwa Entlassungen während des Lockdowns in
       14                                                                     Italien gesetzlich untersagt wurden, andererseits
                                                                        158
                                                                              die Tatsache, dass die Erwerbslosenquote er-
                                                                              fasst, welcher Anteil der Erwerbsfähigen tatsäch-
                                        Euroraum
       12

                                                                        154
                                                                               Abbildung 17:
                                                                               Erwerbslosenquote nach Ländern 2008-2020
       10

                                                                                      Prozent
                                                                        150
        8                                                                      25

                             Beschäftigung Euroraum
                                 (rechte Skala)

        6                                                               146    20
            2006   2008   2010   2012     2014     2016   2018   2020
                                                                                                                                            GRE
        Monatsdaten, saisonbereinigt.
                                                                                                                                            ESP
                                                                               15
        Quelle: Eurostat, Arbeitsmarktstatistik; Europäische Zentral-
        bank, Monatsbericht; eigene Berechnungen.

                                                                               10                                                           ITA
                                                                                                                                            FRA
      Durch Kurzarbeit schlägt sich die Krise bis-                                                                                          POR
                                                                                                                                            FIN
      lang nur teilweise in den Arbeitslosenzahlen                                                                                          BEL
                                                                                5                                                           IRE
      nieder. Der Beschäftigungsrückgang nach Köp-                                                                                          AUT
                                                                                                                                            NED
      fen unterzeichnet das Ausmaß des geringeren                                                                                           GER
      Arbeitskräftebedarfs während der Krise erheb-                             0
      lich, da viele Arbeitskräfte über Kurzarbeitspro-                             2008   2010    2012    2014     2016    2018     2020
      gramme ihren Arbeitsplatz bei deutlich reduzier-                         Monatsdaten; Arbeitslosenquote (ILO-Definition), saisonbereinigt.
      ter Stundenzahl halten konnten. Beschäftigungs-                          Quelle: Eurostat, Arbeitskräftebefragung.
      zahlen nach dem Stundenkonzept, die von

                                                                                                                                                   11
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      lich eine Arbeitsstelle sucht – dies taten viele       Das Finanzierungsumfeld bleibt
      Menschen in der Frühphase der Pandemie offen-          ausgesprochen günstig
      bar nicht. In Italien ist das Vorkrisenniveau aller-
      dings inzwischen wieder überschritten und dies         Die Leitzinsen bleiben auf absehbare Zeit
      dürfte zeitnah auch in Frankreich der Fall sein. In    sehr niedrig. Sie betragen zurzeit 0,25 Prozent
      Spanien ist die Erwerbslosenquote seit dem Feb-        (Spitzenrefinanzierungssatz), 0 Prozent (Haupt-
      ruar bereits um zwei Prozentpunkte, in den Nie-        refinanzierungssatz) und -0,5 Prozent (Einlage-
      derlanden um 1,6 Prozentpunkte gestiegen.              satz) und sollen solange auf ihrem gegenwärti-
      Auch im Baltikum ist die Erwerbslosigkeit bereits      gen oder einem niedrigeren Niveau verharren,
      erkennbar höher als vor der Krise, anderswo sind       bis eine „robuste Konvergenz“ der Verbraucher-
      die Anstiege bislang noch moderat.                     preisinflation zum Zentralbankziel sichtbar wird
                                                             (unter, aber nahe zwei Prozent im Projektions-
      Die Arbeitslosigkeit dürfte weiter steigen,
                                                             zeitraum der EZB). Zudem kommunizierte die
      selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt wie-
                                                             EZB seit Ausbruch der Corona-Krise, dass sie
      der zulegt. Die Arbeitslosenstatistik ist ein nach-
                                                             sich bezüglich ihres Inflationsziels der Symmet-
      laufender Indikator, in dem sich Rückgänge der
                                                             rie verpflichtet fühle, was darauf hindeutet, dass
      gesamtwirtschaftlichen Produktion erst mit zeitli-
                                                             sie zeitweilig auch Inflationsraten oberhalb ihre
      cher Verzögerung niederschlagen. So dürfte sich
                                                             Zielmarke in Kauf nehmen wird. Wir rechnen da-
      der Anstieg der Erwerbslosenquote in vielen
                                                             her nicht mit einer Zinsanhebung vor Ablauf des
      Ländern fortsetzen, selbst wenn das Bruttoin-
                                                             Jahres 2022.
      landsprodukt im dritten Quartal erwartungsge-
      mäß wieder merklich zunimmt. Denn für die Ar-          Die außergewöhnlichen geldpolitischen Maß-
      beitsmarkteffekte ist letztlich entscheidend, wie      nahmen der Europäischen Zentralbank (EZB)
      schnell die wirtschaftliche Aktivität auf die alten    werden für den gesamten Prognosezeitraum
      Umsatz- und Produktionspfade zurückkehrt.              Bestand haben. Die bereits laufenden Wertpa-
      Werden die Vorkrisenniveaus dagegen über län-          pierkaufprogramme werden unverändert fortge-
      gere Zeit und spürbar unterschritten, dürfte die       führt werden. Im Rahmen des Pandemie-Notfall-
      Arbeitslosigkeit vorerst weiter zunehmen.              programms (PEPP) sollen bis Mitte kommenden
                                                             Jahres Käufe erfolgen, deren Allokation sich
      Die allgemeine Lohndynamik im Euroraum
                                                             zwar am Kapitalschlüssel orientieren soll, aber in
      erhält durch die Krise einen kräftigen Dämp-
                                                             der Umsetzung Flexibilität bezüglich der Vertei-
      fer. Die Lohnzuwächse im Durchschnitt der
                                                             lung zwischen Ländern und Anlageklassen über
      Währungsunion hatten sich seit dem Jahr 2018
                                                             die Zeit bestehen wird. Der im Juni auf 1,35 Billi-
      zwar etwas belebt. So zogen die Tarifverdienste
                                                             onen Euro aufgestockte maximale Gesamtrah-
      im zweiten Quartal 2020 immerhin noch mit 1,7
                                                             men für dieses Programm wird wohl voll ausge-
      Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal an.
                                                             schöpft werden und auch nach Ende der Net-
      Die effektiv gezahlten Arbeitnehmerentgelte je
                                                             tokäufe sollen Rückzahlungen aus fällig werden-
      Beschäftigten gingen im zweiten Quartal 2020 je-
                                                             den Anleihen bis mindestens Ende 2022 reinves-
      doch um 4,6 Prozent gegenüber dem Vorjahres-
                                                             tiert werden. Parallel finden weiterhin Nettokäufe
      quartal zurück, was auf die umfangreiche Nut-
                                                             unter dem Programm zum Ankauf von Vermö-
      zung von Kurzarbeitsprogrammen in vielen Län-
                                                             genswerten (APP) statt, derzeit in Höhe von 20
      dern zurückzuführen ist. Denn dadurch sinken
                                                             Mrd. Euro im Monat, zuzüglich eines Zusatzrah-
      die von Unternehmen zu leistenden Lohnzahlun-
                                                             mens von 120 Mrd. Euro verteilt über das Jahr
      gen proportional zur verringerten Arbeitszeit,
                                                             2020. Die monatlichen Nettokäufe sollen erst
      ohne dass die Zahl der Beschäftigten im selben
                                                             kurz vor einer etwaigen Leitzinsanhebung einge-
      Maße zurückgeht. Mit der Rückführung der Kurz-
                                                             stellt werden und auch danach sollen Rückflüsse
      arbeit wird sich in den folgenden Quartalen ein
                                                             noch für einen langen Zeitraum reinvestiert wer-
      gegenläufiger Effekt einstellen. Gleichwohl
                                                             den. Schließlich gibt die EZB den Banken über
      dürfte die zugrunde liegende Lohndynamik im
                                                             ihre gezielten längerfristigen Refinanzierungsge-
      Euroraum angesichts der tiefen Wirtschaftskrise,
                                                             schäfte (TLTRO) weiterhin Kredit zu äußerst
      steigender Arbeitslosigkeit und einer vorerst
                                                             günstigen Konditionen.
      niedrigen Verbraucherpreisinflation in den kom-
      menden Quartalen sehr mäßig ausfallen.

                                                                                                                   12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Die Zinsen auf Staatsanleihen bleiben nied-                     Darlehenssumme in diesem Bereich nunmehr 7
      rig. Zwar war insbesondere in Italien und Gie-                  Prozent über ihrem Vorjahreswert. Kreditmotiv
      chenland von März bis Mai ein leicht erhöhtes                   dürfte hierbei nicht zuletzt die Überbrückung von
      Zinsniveau zu verzeichnen, dieses hat sich seit-                Einnahmeausfällen gewesen sein. Die Kredit-
      dem aber wieder vollständig zurückgebildet (Ab-                 vergabe an die privaten Haushalte, deren Kon-
      bildung 18). Hierzu dürften die zusätzlichen An-                summöglichkeiten durch die Krise eingeschränkt
      leihekäufe über das Eurosystem und die Fiskal-                  wurden, entwickelte sich im gleichen Zeitraum
                                                                      etwas schwächer als zuvor, wenngleich auch sie
      programme auf Ebene der Europäischen Union,
                                                                      zuletzt noch 3 Prozent über ihrem Vorjahresni-
      die eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahme
                                                                      veau lag (Abbildung 20).
      vorsehen und als Antwort auf die Corona-Krise
      beschlossen wurden, beigetragen haben. Insge-                    Abbildung 19:
      samt sind die Renditen zehnjähriger Staatspa-                    Kreditkosten 2004–2020
      piere in den meisten Ländern inzwischen wieder                         Prozent                            Wohnungsbaukredite an
                                                                        7                                       Haushalte
      negativ. Für die als Referenzwert geltenden Bun-                                                          Nichtfinanzielle
                                                                                                                Kapitalgesellschaften
      deswertpapiere gehen wir bis zum Ende des
                                                                        6
      Prognosezeitraums nur von einem leichten An-
      stieg der Verzinsung von derzeit -0,5 Prozent auf                 5
      dann -0,3 Prozent aus.
                                                                        4
       Abbildung 18:
       Zinsen auf Staatsanleihen 2014 - 2020                            3
             Prozent
                                                                        2
         5
                                                                        1

         4                                                              0
                                                                         2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020
                                                                       Monatsdaten; im Neugeschäft.
         3
                                                                       Quelle: Europäische Zentralbank, Composite Cost of Borrowing
                                                                       Indicators.

         2

                                                                GRE    Abbildung 20:
         1                                                             Kreditvergabe an den Privatsektor 2004-2020
                              IRE                 BEL           ITA
                                                                             Prozent                     Nichtfinanzielle
                                                                POR     15                               Kapitalgesellschaften
                                                                ESP                                      Haushalte
         0
                                                                FIN
                                                                FRA
                                                                AUT
                                                                NED     10
        -1                                                      GER
             2014   2015   2016     2017   2018   2019   2020
       Monatsdaten, Staatsanleihen mit 10-jähriger Restlaufzeit.
       Griechenland: Zum Teil außerhalb der gewählten Skala.             5

       Quelle: Thomson Reuters Eikon.

                                                                         0
      Die Kreditkosten für den Privatsektor sind an-
      haltend günstig. Der Kreditkostenindikator der
      EZB hielt zuletzt nahezu unverändert sein sehr                     -5
      niedriges Niveau. Für Wohnungsbaukredite                             2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020
      zeigte er im Juli 1,4 Prozent an und für nichtfi-                 Monatsdaten, Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat.
                                                                        Korrigiert um Kreditveräußerungen und Verbriefungen.
      nanzielle Unternehmen 1,5 Prozent (Abbil-
                                                                        Quelle: Europäische Zentralbank, BSI.
      dung 19). Im Zuge der Corona-Krise nahm die
      Kreditaufnahme der nichtfinanziellen Unterneh-
      men seit März sprunghaft zu. Im Juli lag die

                                                                                                                                        13
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Öffentliche Budgets im freien Fall                      zwar ab, doch dürfte die Finanzpolitik verglichen
                                                              zum Vorkrisenniveau weiterhin Impulse setzen.
      Die Corona-Pandemie belastet die öffentli-              In vielen Staaten des Euroraums wurden in der
      chen Haushalte in den Ländern des Eu-                   Krise Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirt-
      roraums schwer. Kassenzahlen der öffentli-              schaft ergriffen. Auch gibt es auf europäischer
      chen Haushalte legen nahe, dass die Verände-            Ebene Programme, die in der akuten Phase der
      rung des Budgetsaldos zumindest in allen gro-           Pandemie fiskalisch stützen sollen, wie zum Bei-
      ßen Ländern des Euroraums mit einer ähnlichen           spiel die Finanzierung von Kurzarbeitspro-
      Geschwindigkeit vor sich geht. In Deutschland,          gramme (SURE) der besonders betroffenen
      Frankreich, Italien und Spanien liegen die be-          Staaten mit Mitteln der EU, die allerdings später
      trachteten Salden zur Mitte des Jahres zwischen         zurückgezahlt werden müssen, so dass der Vor-
      2 bis 4 Prozentpunkte unter den jeweiligen Vor-         teil des Programms für die betroffenen Staaten
      jahreswerten (Abbildung 21). Die Verschlechte-          in den günstigeren Finanzierungskonditionen der
      rung des Saldos setzte jeweils im März ein. Un-         EU liegen.
      terschiede im Niveau zeigen sich vor allem we-
      gen der unterschiedlichen Ausgangssituationen.          Tabelle 1:
      Die Defizite dürften, anders als im Vorjahr, in der     Budgetsaldo des Staates im Euroraum 2019–2022
      zweiten Jahreshälfte jeweils weiter zunehmen.
                                                                                        2019    2020     2021   2022
                                                              Deutschland                1,4     -5,1    -3,1   -2,1
      Vor allem monetäre Transfers und Steueraus-             Frankreich                -3,0    -10,7    -6,5   -4,8
      fälle schlagen sich in den deutlichen Defizi-           Italien                   -1,6    -10,5    -6,2   -4,7
      ten nieder. Die Ausgaben für den öffentlichen           Spanien                   -2,8    -10,8    -6,4   -4,6
                                                              Niederlande                1,7     -7,1    -3,9   -2,6
      Konsum sind im ersten Halbjahr mit 3% hinge-            Belgien                   -1,9     -8,5    -4,0   -2,9
      gen nicht sonderlich stark gestiegen.1 Der indivi-      Österreich                 0,7     -7,1    -3,1   -1,9
                                                              Irland                     0,4     -8,3    -5,3   -3,1
      duell zurechenbare staatliche Konsum – unter            Finnland                  -1,1     -7,5    -5,4   -3,7
      den insbesondere medizinische Leistungen fal-           Portugal                   0,2     -7,9    -4,7   -2,8
      len – legte nominal im Euroraum im ersten Halb-         Griechenland               1,5     -7,7    -4,8   -2,8
                                                              Slowakei                  -1,3     -9,3    -6,2   -4,1
      jahr sogar nur um 1% zu. Zusätzlichen Gesund-           Luxemburg                  2,2     -5,8    -4,6   -2,8
      heitsausgaben in der Pandemie standen offen-            Slowenien                  0,5     -8,0    -5,7   -3,7
                                                              Litauen                    0,3     -9,8    -3,5   -1,6
      bar Einsparungen durch unterbliebene andere             Lettland                  -0,2     -5,9    -3,5   -1,7
      medizinische Leistungen gegenüber. Es zeigen            Estland                   -0,3     -7,9    -4,4   -2,8
                                                              Zypern                     1,7     -7,0    -2,1   -1,0
      sich allerdings auch deutliche Unterschiede zwi-
                                                              Malta                      0,5     -6,5    -2,8   -1,2
      schen den Ländern. Während die Konsumaus-
                                                              Euroraum                  -0,6     -8,8    -5,0   -3,3
      gaben in Spanien und Portugal für den individuell
      zurechenbaren und den gesamten öffentlichen             Euroraum ohne             -1,5     -9,6    -5,6   -4,0
                                                              Deutschland
      Konsum im ersten Halbjahr deutlich zulegten, 2
      sanken sie in Frankreich und besonders in Bel-          Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt.
      gien sogar. In Deutschland gab es zwar einen            Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen;
      merklichen Anstieg der Konsumausgaben insge-            eigene Berechnungen; grau hinterlegt: Prognose des IfW.
      samt. Beim individuell zurechenbaren Konsum
      war er allerdings verhalten, und im zweiten Quar-
      tal kam es sogar zu einem Rückgang.                     Über die akute Krisenreaktion hinaus haben
                                                              viele Länder fiskalische Programme aufge-
      Verglichen mit dem Jahr 2019 ist die Finanz-
                                                              legt, die ihre Wirkung erst in den kommenden
      politik im gesamten Prognosezeitraum deut-
                                                              Jahren entfalten sollen mit dem Ziel, den Auf-
      lich expansiv ausgerichtet. Der Impuls ist be-
                                                              schwung zu stabilisieren. So wird das Kon-
      sonders stark im Krisenjahr 2020 ausgeprägt. In
                                                              junkturpaket in Deutschland von einem mehrjäh-
      der Folgejahren nimmt der Expansionsgrad dann
                                                              rig angelegten „Zukunftspaket“ begleitet und

      1                                                       2
        An dieser Stelle betrachten wir nominale Größen, da    Der Anstieg war allerdings nicht so hoch wie in Groß-
      in dieser Krise der Vergleich preisbereinigter Größen   britannien.
      für den öffentlichen Konsum aufgrund methodischer
      Unterschiede in der Erfassung kaum gegeben ist.

                                                                                                                         14
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

      Frankreich ein zeitlich gestrecktes Paket über                         lich. Alles in allem rechnen wir für das laufende
      100 Mrd. Euro angekündigt, in dem auch Mittel                          Jahr mit einem Fehlbetrag von 8,3 Prozent in Re-
      aus dem Erholungsfonds der EU eingeplant sind.                         lation zum Bruttoinlandsprodukt im Euroraum
      Die Mittel Erholungsfonds werden in Form von                           insgesamt und mit 9,6 Prozent im Euroraum
      Zuschüssen und Darlehen bereitgestellt, die bis                        ohne Deutschland (Tabelle 1). Da die Wirt-
      zum Jahr 2029 für Reform- und Investitionspro-                         schaftsleistung nicht schnell auf den alten
      jekte genutzt werden können. Die Zuschüsse der                         Wachstumspfad zurückkehrt und umfangreiche
      EU werden zunächst die Budgets der Mitglieds-                          finanzpolitische Maßnahmen angekündigt sind,
      staaten entlasten, da der Fonds sich zunächst                          dürfte das Defizit mit der Erholung der Konjunk-
      am Kapitalmarkt verschuldet und die Rückzah-                           tur zwar sinken, doch nicht schnell zum Vorkri-
      lung der EU-Schulden erst in späteren Jahren                           senniveau zurückkehren. In den Jahren 2021
      anteilig über höhere Beitragszahlungen aller Mit-                      und 2022 dürfte das Defizit im Euroraum 4,9
      gliedsländer und das Ablösen der über den                              bzw. 3,5 Prozent in Relation zum Bruttoinlands-
      Fonds ausgereichten Darlehen erfolgen soll.                            produkt betragen (5,6 bzw. 4,0 Prozent in Rela-
                                                                             tion zum Bruttoinlandsprodukt im Euroraum
      Nach einem drastischen Anstieg im Jahr 2020
                                                                             ohne Deutschland).
      sinkt das Defizit in den Folgejahren allmäh-

       Abbildung 21:
       Finanzierungssalden in ausgewählten Ländern des Euroraums 2019 und 2020

             1    Prozent             Deutschland                      1   Prozent              Frankreich

             0                                                         0

             -1                                                       -1

             -2                                                       -2

             -3                                                       -3

             -4                                                       -4

             -5                                                       -5

             -6                                                       -6

             -7                                                       -7

             1    Prozent                                             1    Prozent
                                           Italien                                                  Spanien

             0                                                        0

             -1                                                       -1

             -2                                                       -2

             -3                                                       -3

             -4                                                       -4

             -5                                                       -5
                                                         2019
             -6                                          2020         -6

             -7                                                       -7

              Relativ zum Bruttoinlandsprodukt 2019. Kassenergebnisse. Deutschland: Bund, Länder und Bundesagentur für Arbeit.
              Frankreich: Zentralregierung. Italien: ohne Kommunen. Spanien: ohne Kommunen.

              Quelle: Nationale Finanzministerien via Thomsen Reuters Eikon, Bundesagentur für Arbeit, Berechnungen des IfW Kiel.

                                                                                                                                    15
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

                                                            Abbildung 22
                                                            Stimmungsindikatoren 2014 - 2020
      Ausblick: Mühsame Erholung nach                               Index
      kräftigem Rückpralleffekt                              2                            Unternehmen

      Stimmungsindikatoren liefern derzeit kein              1
      verlässliches Signal über die zu erwartende
      Produktionsausweitung. Kaum Aussagekraft
      hat derzeit der Markit-Einkaufsmanagerindex            0

      (PMI), in dessen Erhebung lediglich qualitative
      Veränderungen im Vergleich zum Vormonat ab-            -1
      gefragt werden. So wird unter Einkaufsmana-
      gern oder Geschäftsführern erhoben, ob eine
      Kennzahl – z.B. Auftragsbestand, Beschäftigung         -2

      oder Umsatz– gegenüber dem Vormonat besser,                                   Deutschland
                                                                                    Euroraum
      gleichbleibend oder schlechter eingeschätzt            -3                     Euroraum ohne Deutschland
      wird, und die daraus errechneten Saldenindizes
      werden gewichtet zu einem Gesamtindex zu-
      sammengefasst. In normalen Zeiten korrespon-           -4
                                                                  2014      2015   2016     2017   2018   2019   2020
      diert der Indexwert recht verlässlich mit der
      Stärke der Produktionsausweitung, in der gegen-               Index                 Verbraucher
                                                              2
      wärtigen Situation ist das jedoch nicht der Fall.
      Der Economic Sentiment Indicator (ESI) der Eu-
      ropäischen Kommission ist ebenfalls ein umfra-
                                                              1
      gebasierter Indikator, der in der gegenwärtigen
      Situation nur bedingt aussagekräftig ist. Er hat
      sich nach ihrem drastischen Einbruch aus dem            0
      Frühjahr zwar wieder erholt, liegt aber noch deut-
      lich unter dem Vorkrisenniveau (Abbildung 22).
      Dabei war die Stimmung bei deutschen Unter-            -1

      nehmen wie auch deutschen Verbrauchern zu-
      letzt wieder besser als im übrigen Euroraum. Un-
                                                             -2
      klar ist, wie von dem Indikatorwert (oder dessen
      Veränderung) in der gegenwärtigen Situation auf
      die Größe des Rückpralleffektes im dritten Quar-       -3
      tal geschlossen werden kann.                                2014      2015   2016     2017   2018   2019   2020

                                                            Monatsdaten; saisonbereinigt; standardisiert. Nullinie: Lang-
      Ein Anstieg der wirtschaftlichen Aktivität im         jähriges Mittel.
      dritten Quartal mit einer zweistelligen Rate ist      Quelle: Europäische Kommission, Business        and Consumer
      bereits durch den V-förmigen Verlauf bei mo-          Survey; eigene Berechnungen.

      natlich verfügbaren, harten Indikatoren ange-
      legt. Die Industrieproduktion bildet tatsächliche
                                                           keit aus der Lockdown-Phase einiger Länder in-
      Produktionsvolumina ab und ist nach einem Ein-
                                                           zwischen keinen Bestand mehr hat und der bis-
      bruch im April auf etwas mehr als 70 Prozent des
                                                           herige Monatsverlauf eine Steigerung um etwa
      Vorkrisenniveaus bis zum Juli wieder auf knapp
                                                           13 Prozent nahelegt. Die Einzelhandelsumsätze
      92 Prozent geklettert (Abbildung 23). Allein der
                                                           überschritten das Vorkrisenniveau bereits im
      statistische Überhang und der Wert des ersten
                                                           Juni wieder, fielen anschließend aber leicht zu-
      Quartalsmonats lassen auf einen Produktionszu-
                                                           rück – die Zunahme im Quartalsdurchschnitt des
      wachs von mindestens 15 Prozent im Durch-
                                                           dritten Quartals dürfte bei etwa 8-9 Prozent lie-
      schnitt des dritten Quartals schließen. Ähnlich
                                                           gen. Schließlich gingen die Umsätze von Dienst-
      stark dürfte der Rückpralleffekt bei der Baupro-
                                                           leistungsunternehmen (ohne Groß- und Einzel-
      duktion sein, da die Einschränkung der Bautätig-
                                                           handel) im April bis auf 70 Prozent des

                                                                                                                            16
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      Vorkrisenniveaus zurück und erreichten bereits      soziale Interaktion unvermeidlich ist. Globale
      im Juni wieder 90 Prozent, was für das dritte       Handelskonflikte und der weiter ungelöste Brexit
      Quartal auf ein Umsatzplus von wenigstens 15        belasten zusätzlich den Ausblick vieler Unter-
      Prozent schließen lässt, sofern die Umsätze im      nehmen, verblassen aber hinter der pandemie-
      Verlauf des Quartals geringfügig weiter zulegen.    bedingten Unsicherheit.
      Dagegen dürfte aus dem Bereich der öffentlichen
                                                          Wir rechnen damit, dass das Coronavirus im
      Dienstleistungen ein unterproportionaler Zu-
                                                          Verlauf des kommenden Jahres seinen
      wachs der Aktivität für den Euroraum ausgewie-
                                                          Schrecken verlieren wird. Weltweit wurden und
      sen werden, der allerdings immerhin in einer
                                                          werden Erfahrungen im Umgang mit der Krank-
      Größenordnung von rund 4 Prozent liegen wird;
                                                          heit gesammelt, die im Infektionsfall eine effekti-
      lediglich für Frankreich und Belgien sind höhere
                                                          vere Behandlung ermöglichen und die Gefahr
      Zuwächse zu erwarten, nachdem die dortigen
                                                          der Krankheit geringer erscheinen lassen. So
      statistischen Ämter für den öffentlichen Sektor
                                                          dürfte das Pendel der politischen Entscheidun-
      zuvor zweistellige Rückgänge der realen Aktivi-
                                                          gen in der Abwägung zwischen strikter Eindäm-
      tät im ersten Halbjahr ausgewiesen hatten. Ins-
                                                          mungsstrategie und der kontrollierten Inkauf-
      gesamt rechnen wir für das dritte Quartal mit ei-
                                                          nahme weiterer Infektionen („Mitigation“) tenden-
      nem Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Pro-
                                                          ziell immer mehr zu weiteren Lockerungen um-
      duktion in der Währungsunion um 11 Prozent
                                                          schwenken. Auch die Maßnahmen zur Vermei-
      (Kasten 1). Dieser direkte Rückpralleffekt macht
                                                          dung von Ansteckungsrisiken dürften immer ef-
      knapp zwei Drittel des Rückgangs der Wirt-
                                                          fektiver und damit wirtschaftlich weniger belas-
      schaftsleistung aus dem ersten Halbjahr wett.
                                                          tend werden – sei es durch schnellere und güns-
      Die wirtschaftliche Erholung in den bevorste-       tigere Testverfahren oder durch gewonnene Er-
      henden Quartalen dürfte weitaus schleppen-          kenntnisse aus der Analyse von Infektionsketten
      der verlaufen, denn es besteht große Unsi-          und Ausbruchsclustern, die ihren Weg in Emp-
      cherheit über den weiteren Verlauf der Pan-
      demie. Zunächst gelang es zwar, die Fallzahlen       Abbildung 23:
                                                           Konjunkturindikatoren, 2019-2020
      in ganz Europa durch seuchenpolitische Maß-
      nahmen zu reduzieren, allerdings unter extrem                                                 Neue Aufträge
                                                                 Index (2019 = 100)                 Industrieproduktion
                                                           110
      hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen                                                 Bauproduktion
                                                                                                    Einzelhandelsumsatz
      Kosten. In der Folgezeit wurden – je nach Infek-                                              Dienstleistungsumsatz
      tionsgeschehen national bzw. regional etwas
      zeitversetzt - Schritte zur Normalisierung und       100

      zum Hochfahren der Wirtschaft eingeleitet und
      umgesetzt. Doch im Verlauf des Sommers gab
      es in vielen Mitgliedsländern einen Wiederan-         90

      stieg der Zahl der Neuinfektionen – zuletzt be-
      sonders ausgeprägt in Spanien und Frankreich –
      und die Herbst- und Wintersaison steht vor der        80
      Tür, in der die Ausbreitung von Viren im Ver-
      gleich zu den Sommermonaten aus verschiede-
      nen Gründen begünstigt wird. Auch weltweit ist        70
      das Infektionsgeschehen keineswegs unter Kon-
      trolle. So dürfte die Zeit bis zu einer möglichen
      medizinischen Lösung der Pandemie geprägt             60
      sein von der Abwägung zwischen einer Aufrecht-              1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7

      erhaltung von Eindämmungsmaßnahmen und                                     2019                       2020

      dem Wunsch nach einer Normalisierung. Direkte
                                                           Monatsdaten, saisonbereinigt. Industrieproduktion: ohne Bau.
      Einschränkungen bleiben wohl vorerst überall         Einzelhandelsumsatz:   deflationiert;   Dienstleistungsumsatz:
                                                           nominal.
      dort ein bedeutender Belastungsfaktor, wo das
      Infektionsgeschehen vergleichsweise aktiv ist        Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik.

      sowie in all den Wirtschaftsbereichen, in denen

                                                                                                                            17
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        Kasten 1:
        Abschätzung des Rückpralleffekts für das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum
        Das teilweise Hochfahren der stillgelegten Wirtschaftsbereiche nach dem Lockdown im Frühjahr ist eine
        ungewöhnliche Situation. Quantitative Modelle, die sich als wesentliche erklärende Variable auf einen Stim-
        mungsindikator stützen, liefern derzeit womöglich keine verlässlichen Prognosen für die zu erwartende Pro-
        duktionsausweitung im dritten Quartal, denn der Zusammenhang der Zeitreihen wird auf Basis einer Ver-
        gangenheit geschätzt, die maßgeblich von der gegenwärtigen Situation abweicht.

        Eine alternative Abschätzung des Rückpralleffekts in Q3 wird im Folgenden vorgenommen, indem das ge-
        samtwirtschaftliche Produktionsniveau aus sechs Elementen zusammengesetzt wird:

              1.       Industrieproduktion (ohne Baugewerbe)
              2.       Bauproduktion
              3.       Einzelhandelsumsatz
              4.       Dienstleistungsumsatz
              5.       Staatsverbrauch
              6.       Produktion der Land- und Forstwirtschaft

        Für jedes dieser Elemente wird ein Produktionsindex auf Quartalsebene gebildet und anschließend in einen
        gesamtwirtschaftlichen Produktionsindex (BIP-Index) überführt. Für die ersten vier Elemente liegen monat-
        liche Zeitreihen vor, die bis zum Juni bzw. Juli reichen. Durch konservative Fortschreibung der monatlichen
        Entwicklung kann eine Zuwachsrate für das dritte Quartal abgeleitet werden, in der die jeweiligen Überhan-
        geffekte berücksichtigt werden.
        Abbildung K1-1 zeigt die Entwicklung der ersten zwei Zeitreihen bis zum aktuellen Rand zusammen mit
        einer Fortschreibung bis zum Jahresende. Die Industrieproduktion (ohne Bausektor) wird in einen Quartal-
        sindex umgewandelt, auf einen Wert von 100 im vierten Quartal 2019 normiert und geht gewichtet mit dem
        nominalen Wertschöpfungsanteil des Produzierenden Gewerbes ohne Bau im Euroraum des Jahres 2019
        in den BIP-Index ein. Die Bauproduktion wird ebenfalls fortgeschrieben, auf Quartalsebene normiert und
        geht gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil des Baugewerbes in den BIP-Index ein.

        Abbildung K1-1: Indikatoren des Produzierenden Gewerbes im Euroraum, fortgeschrieben
                         Industrieproduktion (ohne Bau)                                                       Bauproduktion

        110                                                                       120

                         -0,6
                                  -0,8
                                            -1,0                                                0,2
                                                                                  110                   -0,5      -0,7                            1,7
        100                                        -3,4                                                                                 13,7
                                                                                                                         -3,0
                                                                  15,1      1,2

                                                                                  100

         90                                                                                                                     -11,5

                                                                                  90
                                                          -15,8

         80
                                                                                  80

         70                                                                       70
              1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12                     1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
                   I      II          III   IV       I    II          III   IV            I     II          III   IV     I      II          III   IV
                               2019                            2020                                  2019                            2020

        Monatsdaten, preis-, kalender- und saisonbereinigt. Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik; Eigene Berechnungen.

                                                                                                                                                        18
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 70 (2020|Q3)

        Abbildung K1-2 zeigt die Entwicklung der dritten und vierten Zeitreihe mit der Fortschreibung bis zum Jah-
        resende. Die Umsätze im Einzelhandel werden gewichtet mit dem halben Wertschöpfungsanteil der Berei-
        che Handel, Verkehr und Gastgewerbe. Der Dienstleistungsumsatz fließt schließlich gewichtet mit dem
        Wertschöpfungsanteil der übrigen privaten Dienstleister ein.

        Abbildung K1-2: Indikatoren des Dienstleistungssektors im Euroraum, fortgeschrieben

                              Einzelhandelsumsatz                                                 Dienstleistungsumsatz

                                                                              130
                                                                        0,8                                   0,3
                      0,5      0,4       0,3                  8,5                          1,7      0,4
        110
                                               -2,6                           120
                                                                                                                    -5,3
                                                                                                                                              1,5
                                                                                                                                   15,6
                                                      -5,2
        100                                                                   110

                                                                              100
                                                                                                                           -16,6
         90

                                                                              90

         80
                                                                              80

         70                                                                   70
               1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112                    1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112
                 I     II          III   IV     I     II          III   IV            I     II          III   IV     I      II          III   IV
                            2019                           2020                                  2019                            2020

        Monatsdaten. Einzelhandelsumsätze: deflationiert, saisonbereingt. Dienstleistungsumsätze: nominal, saisonbereinigt.
        Quelle: Eurostat, Konjunkturstatistik; Eigene Berechnungen.

        Für die letzten zwei Elemente des Produktionsindex werden folgende Annahmen getroffen:
        •     Die Produktion der Land- und Forstwirtschaft, wie sie in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
              (Bereich A in der Industrieklassifikation NACE Rev. 2) ausgewiesen ist, bleibt bis zum Jahresende kon-
              stant auf dem Niveau des zweiten Quartals. Sie geht gewichtet mit dem Wertschöpfungsanteil der Land-
              und Forstwirtschaft in den BIP-Index ein.
        •     Der Staatsverbrauch erhält eine Gegenbuchung zu dem, was in den ersten zwei Quartalen als Zuwachs
              oder Schrumpfung in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zum preisbereinigten Staatsver-
              brauch ausgewiesen wurde – aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der Aktivitäten im öffentlichen
              Sektor während der Lockdownphase durch nationale statistische Ämter wurde für den Euroraum im ers-
              ten Halbjahr ein realer Rückgang um 3,3 Prozent ausgewiesen. Der Staatsverbrauch geht gewichtet mit
              dem Wertschöpfungsanteil der öffentlichen Dienstleister in den BIP-Index ein.

        So ergeben sich sechs sektorale Produktionsindizes in den Jahren 2019 und 2020 und ein abgeleiteter BIP-
        Index mit den zugehörigen Zuwachsraten (Tabelle K1-1). Dabei wird implizit unterstellt, dass sich Produktion
        und Umsätze proportional zu der Wertschöpfung in den jeweiligen Wirtschaftsbereichen entwickeln. Mit dem
        VGR-basierten Gewichtungsschema und dem bisherigen Verlauf der zugrunde liegenden Größen kann der
        Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion der ersten zwei Quartale im Euroraum recht genau repro-
        duziert werden. Unter den getroffenen Annahmen über den Verlauf der zugrunde liegenden Größen bis zum
        Jahresende ergibt sich im dritten Quartal ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Euroraum um 11,7
        Prozent.
        Dasselbe Verfahren kann auch für die großen vier größten Volkswirtschaften des Euroraums separat durch-
        geführt werden, wobei auch das Gewichtungsschema an die jeweiligen Wertschöpfungsanteile angepasst
        wird. Da die Dienstleistungsumsätze für Deutschland und Italien jedoch nur auf Quartalsebene vorliegen,

                                                                                                                                                    19
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