EINFLUSS DES LOCKDOWNS AUF PSYCHE UND MEDIENGEBRAUCH IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE
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Fortbildung EINFLUSS DES LOCKDOWNS AUF PSYCHE UND MEDIENGEBRAUCH IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE Anna Maria Werling, Susanne Walitza, Renate Drechsler Die COVID-19-Pandemie stellte alle Familien vor noch nalisierenden (Erregbarkeit, Reizbarkeit, Hyperaktivi- Anna Maria Werling nie dagewesene Herausforderungen: Kontaktverbote tät sowie Aggressivität) als auch internalisierenden und das Fehlen von Alternativen der Freizeitgestal- Verhaltensauffälligkeiten (emotionaler Stress, Unauf- tung führten dazu, dass digitale Medien einen grösse- merksamkeit, Traurigkeit, Schlafstörungen). Vor allem https://doi.org/ ren Stellenwert erhielten als je zuvor. Kinder und Ju- jüngere Kinder machten sich Sorgen, dass Familien- 10.35190/d2021.2.5 gendliche mit psychischen Vorerkrankungen waren angehörige durch COVID-19 infiziert werden könnten, von den Auswirkungen der Pandemie in ganz beson- zeigten sich verunsichert und wiesen Symptome von derer Weise betroffen und es bestand die Sorge, es Trennungsangst auf. Auch kämpften Jugendliche wäh- könne gerade in einer Population mit Risiko für Sucht rend der Pandemie mit Sorgen und Ungewissheit be- oder dysfunktionalem Verhalten zu einem Anstieg von züglich ihrer akademischen und persönlichen Zukunft problematischem Internetgebrauch kommen. und zeigten vermehrt depressive Symptome. Einfluss des COVID-19 Lockdowns auf die Allgemein berichteten Kinder und Jugendliche von psychische Gesundheit von Kindern und einer deutlich eingeschränkten Lebensqualität, ver- Jugendlichen stärkter psychischer Belastung und Ängsten. Kinder Auch wenn die Infektion mit COVID-19 für Kinder und und Jugendlichen mit niedrigerem sozioökonomi- Jugendliche selbst vergleichsweise ein eher geringe- schem Status, niedrigerem elterlichen Bildungsniveau res gesundheitliches Risiko darstellt, wurde die Pan- sowie Migrationshintergrund waren besonders betrof- demie besonders für sie nachweislich zu einer gros- fen, da sie in ihrem familiären Umfeld weniger Unter- sen psychischen Belastung. Durch umfassende Ein- stützung und Anregung erhielten1). Gerade in Fami- schränkungen (u.a. Schliessung von Bildungs-, lien mit stärkerer sozialer Belastung, z.B. durch Ar- Betreuungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Kon- beitsplatzverlust, nahmen Gewalterfahrungen der taktbeschränkungen oder -verbote), konnten sie ih- Kinder zu. rem gewohnten Alltag nicht mehr nachgehen. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf das psychoso- Auswirkung des Lockdowns auf Kinder und ziale und emotionale Befinden von Kindern und Jugendliche mit psychischer Vorerkrankung Jugendlichen. Die Auswirkungen des Lockdowns und der Pandemie auf Kinder und Jugendliche mit psychischen Vorer- Im internationalen Vergleich waren die getroffenen krankungen waren vielfältig. Bei einigen Störungsbil- Massnahmen und auch Konsequenzen der Pandemie dern zeigte sich der Einfluss der Pandemie vermut- gerade für Kinder unterschiedlich. Einen kompletten lich besonders stark: Kinder mit Zwangsstörungen Lockdown mit Aussetzung des Präsenzunterrichts an oder hypochondrischen Ängsten waren aufgrund ih- allen Schultypen gab es – bislang – in der Schweiz le- rer Symptome wie Kontaminationsangst und Beschäf- diglich im Frühjahr 2020. Dies war in vielen Ländern tigung mit dem Körper in der Pandemiesituation ver- in Europa anders, in denen die zweite Welle der Pan- mehrtem Stress ausgesetzt, und gerade jüngere Kin- demie seit Herbst 2020 mit oft monatelangen Schul- der mit emotionalen Störungen reagierten verstärkt schliessungen und strengen Ausgangssperren einher- auf die Bedrohung der Familienmitglieder durch ging. In anderen Ländern, vor allem Süd- und Mittel- Krankheit oder Tod. Depressionen und Ängste wur- amerika, fand von März 2020 bis März 2021 zum Teil den durch die Pandemie-Situation verstärkt1). Kinder gar kein Schulunterricht mehr statt. Allen gemeinsam und Jugendliche mit ADHS oder Lernstörungen haben war dagegen die Situation der sozialen physischen Iso- besondere Mühe, selbstorganisiert zu arbeiten oder lation in der Freizeit, die verstärkte Konzentration auf online Unterricht zu verfolgen; längere Zeiten ohne die Kernfamilie, oft in räumlicher Enge, sowie Bewe- Präsenzunterricht führen dann zu stärkeren Lernrück- gungsmangel aufgrund von Schliessung von Sport- ständen. Für kleinere Kinder mit besonderem Förder- und Freizeitmöglichkeiten oder Ausgangssperren. bedarf konnte der Wegfall der spezialisierten Betreu- ung und die veränderte Tagesroutine zu Rückschrit- Viele Studien beschreiben bislang Auswirkungen, ten und verstärkten Verhaltensproblemen führen. welche sich primär auf die Konsequenzen des ersten Korrespondenz: Lockdowns im Frühjahr 2020 beziehen. Dabei zeigte Während die meisten Eltern von Verschlechterun- anna.werling sich in vielen Studien sowohl eine Zunahme von exter- gen oder stabilen psychopathologischen Störungs- @pukzh.ch Vol. 32 | 2-2021 27
Fortbildung symptomen während des Lockdowns berichteten, gab sächlichen Nutzung bei Kindern und Jugendlichen zum es teilweise und insbesondere im ersten Lockdown Teil deutlich auseinander (siehe Tabelle 1). auch Verbesserungen. Eine kanadische Studie fand zwei bis vier Monate nach Beginn des Lockdowns in Die aktuellsten Zahlen zur durchschnittlichen Nut- etwa 16% aller Fälle Verbesserung depressiver Sym- zung digitaler Medien von Jugendlichen (12-19 Jahre) ptome bei Jugendlichen mit psychischen Vorerkran- in der Schweiz wurden online erhoben anhand von kungen, keine Veränderungen bei 52% und eine Ver- Selbstangaben im Mai/Juni 2020, und damit zu einer schlechterung bei 35% (Elternurteil). Im Selbsturteil Zeit zunehmender Lockerungen nach dem Lockdown4). fielen die Verbesserungen von depressiven Sympto- Berichtet werden Internetzeiten wochentags von 2 men mit 20% leicht höher aus, aber auch die Angabe Stunden 44 Minuten, am Wochenende von 3 Stunden von Verschlechterungen mit 47%. Reizbarkeit und Auf- 59 Minuten, und Handy-Nutzungszeiten wochentags merksamkeitsprobleme wurden ebenfalls häufig von von 3 Stunden und 47 Minuten, am Wochenende von Eltern als verschlechtert beschrieben. Eine französi- 5 Stunden und 16 Minuten (jeweils Mittelwerte). Nie- sche Befragung während des ersten Lockdowns von driger sozioökonomischer Status und Migrationshin- Eltern von Patienten mit ADHS kam zu dem Ergebnis, tergrund waren mit längeren Medienzeiten assoziiert. dass etwa ein Drittel der Kinder eine Verbesserung, Mädchen nutzten das Handy mehr als Knaben; diese ein Drittel eine Verschlechterung und ein Drittel keine spielten dafür häufiger Videospiele als Mädchen (93% Veränderung des Verhaltens und Befindens zeigte. Je vs. 54%). Inwiefern die Pandemie die Ergebnisse der günstiger die Bedingungen (Garten, ausreichend Studie beeinflusst hat, die eigentlich auch längs- Platz), desto weniger belastend waren die ADHS Sym- schnittliche Fragen beantworten soll, ist schwer zu ptome2). Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung sagen; zumindest lässt sich eine gewisse, wenn auch zeigten eher eine Verbesserung von Symptomen wäh- niedrige Zunahme seit der Umfrage von 2018 verzeich- rend des Lockdowns als eine Verschlechterung. Mög- nen (2018 wochentags: Internetzeit 2 Stunden 30 Min., licherweise stellten der erzwungene soziale Rückzug Handyzeit 3 Stunden 18 Min.). und der Wegfall des Präsenzunterrichts für einige Kin- der und Jugendliche mit psychischer Vorerkrankung Von sehr viel massiveren Zunahmen der On- eine deutliche Entlastung dar. line-Nutzung berichtet dagegen eine Studie aus Deutschland, deren explizites Ziel es war, den verän- Es ist sicher relevant, zwischen Befunden, die sich derten Medien- und Internetgebrauch bei Kindern und auf den Lockdown im Frühjahr 2020 beziehen, und Jugendlichen (10-17 Jahre) während des Lockdowns Berichten aus späteren Pandemiephasen zu differen- im Frühjahr 2020 im Vergleich zu September 2019 zu zieren. Stärker noch als während des ersten Lock- erfassen. Demnach kam es bei Kindern und Jugend- downs machte sich auch in der Schweiz während der lichen während des Lockdowns wochentags zu einer zweiten Welle der Pandemie ab Herbst 20/Winter 21 Zunahme der Gaming-Zeiten von 75% und der Social ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen in Notfallambu- media-Zeit um 66%9). Häufiger als noch vor dem Lock- lanzen der Kinder- und Jugendpsychiatrie bemerkbar. down wurde als Motivation für Mediennutzung der In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Wunsch genannt, mit anderen in Kontakt zu bleiben: Psychotherapie der Universität Zürich zeigte sich im Mädchen äusserten dies in Bezug auf soziale Medien, letzten Quartal 2020 eine Zunahme um 50%, die im Jungen in Bezug auf Gaming (Jungen gamen häufiger ersten Quartal 2021 noch weiter anstieg. mit- oder gegeneinander als Mädchen). Einen beson- deren Anstieg im Nutzungsverhalten gab es bei den- In einer britischen Umfrage im Januar/Februar jenigen, die bereits vorher eine risikoreiche oder pa- 2021 bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit thologische Nutzung gezeigt hatten. Risikoreiches psychischen Vorerkrankungen (13 bis 25 Jahre) be- Nutzungsverhalten wurde 2019 bei 10% der 10 bis richteten 75%, dass sie die aktuelle Situation während 17-jährigen in Bezug auf Gaming und 8.2% für soziale des erneuten Lockdowns schwieriger zu bewältigen Medien gefunden, pathologische Nutzung bei 2.5% fanden als beim ersten Lockdown; 44% fanden es so- für Gaming und 3.2% für soziale Medien. gar viel schwieriger3). 67% Prozent rechneten mit län- gerfristigen Auswirkungen der Pandemie auf ihre psy- Trotzdem ist der Anstieg des Mediengebrauchs chische Gesundheit, zugleich erwarteten aber 79% während des Lockdowns nicht per se als negativ an- eine Besserung ihrer psychischen Probleme nach der zusehen. In kürzlich veröffentlichten Empfehlungen Aufhebung der Einschränkungen. von der WHO wurde dazu aufgerufen, dass Kinder und Jugendliche in Pandemiezeiten über digitale Foren Mediengebrauch vor und während der (unter Supervision der Eltern) Kontakt pflegen sollen. Pandemie bei Kindern und Jugendlichen Schliesslich wurde nicht nur Schulunterricht, sofern ohne psychische Vorerkrankung die Voraussetzungen vorhanden waren, digital auf- Die Grenze zwischen adaptiven zu maladaptiven Me- rechterhalten, sondern auch zunehmend Konsultati- dienverhalten ist fliessend – nicht nur zu Zeiten einer onen über Telepsychiatrie durchgeführt. In vielen Fa- Pandemie. Frühzeitig den Unterschied zwischen ge- milien wurden digitale Medien als angemessenes Mit- sunder und problematischer bzw. pathologischer Me- tel zur Bewältigung der COVID-19 bedingten Ein- diennutzung zu erkennen, stellt Eltern und Fachper- schränkungen eingesetzt, um Kontakte aufrecht zu sonen vor Herausforderungen. Dabei liegen die Emp- erhalten, Langeweile zu entgehen und Stress abzu- fehlungen von kinderpsychiatrischen Gremien für den bauen. Kinder und Jugendliche haben digitale Medien Umgang mit digitalen Medien und die Zahlen der tat- während des Lockdowns zur Stimmungsregulierung 28 Vol. 32 | 2-2021
Fortbildung Kinder- und Jugendpsychiatrische Medienverhalten gemäss Umfragen (Schweiz) Empfehlungen für Mediengebrauch5) Vor Schulbeginn nur analog spielen und lernen 4- bis 6-jährige: 29% spielen regelmässig Videogames, 25% nie6) Eigenes Smartphone: nicht vor der 5. Klasse (7H), ca. 25% der 6-9jährigen und ca. 60% danach Nutzung unter elterlicher Steuerung der 10-11jährigen haben ein eigenes Handy7) Maximale Medienzeit pro Tag (insgesamt Handy, Primarschulalter7): im Internet Surfen pro Tag: Nutzer: Internet, PC etc.): 16 Minuten, nie: 57% Gamen pro Tag: Nutzer: - 7-10 Jahre: 45 Minuten 24 Minuten, nie: 43% - 11-13 Jahre: 1 Stunde Jugendliche8): Handynutzung pro Tag: 4 Stunden - ab 14 Jahre: 1.5 Stunden 29 Minuten (Wochenende) PC im eigenen Zimmer: frühestens ab 12 Jahren 16% der 10-/11-Jährigen haben einen PC (mit Regeln) im eigenen Zimmer7) Internetzugang: 29% der 8-/9-jährigen haben Internetzugang ab 8 Jahren unter Aufsicht im eigenen Zimmer7) ab 12 Jahren auch alleine Chatten: Primarschulalter: Messenger Apps: Nutzer 15 Min. ab 8 Jahren unter Aufsicht pro Tag; nie: 72%7) Soziale Medien: Nutzer 21 Min. ab 11 Jahren mit Regeln, Kontrolle pro Tag; nie: 91%7) 5) Empfehlungen der gemeinsame Suchtkommission der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaft. 6) ADELE+ Studie 2020 (Elternangaben), 7) MIKE-Studie 2019 (Elternangaben), 8) JAMES-Studie 2018 (Selbstangaben). Das BAG (2021) nennt die 3-6-9-12 Regel als Richtlinie: Kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet nach 9 und soziale Netzwerke nach 12. Tabelle 1. Gegenüberstellung von Kinder- und Jugendpsychiatrischen Empfehlungen zum Mediengebrauch und Medienverhalten in der Schweiz (vor der Pandemie) (u.a. Ablenkung, Bekämpfung von Langeweile, Bewäl- sexuellen Absichten), Sexting (Versenden freizügiger tigung von Frustration, Flucht aus der Realität), für In- Bilder der eigenen Person nach Aufforderung) mit po- formationszwecke oder als Kommunikationsmöglich- tentiell schädlichen Auswirkungen auf die psychische keit mit Gleichaltrigen genutzt. Dies führte unweiger- Gesundheit10). lich zu einer gesteigerten Mediennutzung, mit den damit einhergehenden Risiken. Auch von den Eltern Eine allgemein gültige Definition und Nomenklatur wurden digitale Medien als Mittel eingesetzt, Kinder gibt es bisher noch nicht und man findet viele ähnli- während ihrer eigenen Arbeitszeit im Homeoffice zu che Begriffe in der Literatur wie «Mediensucht», «In- beschäftigen. ternetabhängigkeit», «Internetsucht», «Medienabhän- gigkeit», «Computerabhängigkeit», «Computerspiel- Definition von problematischem sucht», «Internetbezogene Störungen». Die Pionierin Internetgebrauch auf diesem Gebiet, Kimberly Young, hat bereits früh Problematischer Internet- oder Mediengebrauch, häu- gefordert, dass es sich bei PUI um eine eigenständige fig auch «pathologischer Internetgebrauch» (aus dem Störung im Sinne einer Verhaltenssucht handelt und Englischen «problematic use of the internet, PUI»), sie hat die Kriterien für einen pathologischen Internet- wird als Oberbegriff für dysfunktionale Verhaltens- gebrauch an die DSM-IV-Kriterien des pathologischen weisen verwendet, die im Internet ausgeübt werden Spielens («Glücksspielsucht») angelehnt und ein brei- bzw. mit dem Gebrauch von digitalen Medien einher- tes Spektrum von Verhaltensweisen und Impulskon- gehen, und die zu einer funktionalen Beeinträchti- trollproblemen eingeschlossen (exzessives Chatten, gung im Alltag, etwa im Umgang mit Freunden, Fami- Spielen und Handeln im Internet, zwanghafte Informa- lie, Schule oder Ausbildung führen. Zu den problema- tionssuche und Erstellen von Datenbanken, exzessive tischen Verhaltensweisen werden unkontrolliertes Cybersexseiten-Nutzung)11). Gamen (auch auf Videokonsole, nicht nur online) und die exzessive Nutzung von unterschiedlichsten im In- PUI und substanzgebundene Abhängigkeitsstö- ternet verfügbaren Angeboten gezählt, die einen sucht- rungen weisen ebenfalls Gemeinsamkeiten auf, wie artigen Charakter haben können, wie soziale Medien, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Toleranzent- Videofilme oder Clips, Online-Shopping, Cyberporno- wicklung, negative Auswirkungen auf soziale Bezie- graphie. Daneben gibt es problematische oder risiko- hungen, Schule, Arbeit und Leistung. Bislang wurde reiche Verhaltensweisen im Internet wie Cybermob- lediglich die «Internetspielsucht» (Internet Gaming bing, oder Cybergrooming (unerwünschte Kontakt- Disorder, IGD) im DSM-5 als klinische Diagnose auf- aufnahme mit einem Kind durch Erwachsene mit genommen12), deren Kriterien sich an substanzgebun- Vol. 32 | 2-2021 29
Fortbildung denen Abhängigkeitsstörungen orientieren. Im ICD- Man kann dabei mindestens drei mögliche Mecha- 11 ist «Gaming Disorder», als eine Verhaltenssucht nismen annehmen: mit etwas weniger strengen Kriterien im Vergleich zu IGD, enthalten13). «Hazardous Gaming» ist eine wei- 1. PUI und verschiedene psychopathologische Stö- tere Kategorie im ICD-11, die den Gesundheitsrisiken rungen haben ähnliche Ursachen und teilen Merk- zugeordnet ist. Die bisherige Beschränkung auf das male, sodass das Auftreten der einen Störung mit Gamen bei der Definition von internetbezogenen Stö- einem erhöhten Risiko für die andere Störung ver- rungen ist vielfach kritisiert worden9). Prävalenzan- knüpft ist. So findet man etwa häufig PUI, vor al- gaben für problematisches Internetverhalten, meist lem problematisches Gamen, bei Kindern und Ju- auf pathologisches Gamen bezogen, schwanken in gendlichen mit einer beeinträchtigten Impulskon- epidemiologischen Studien stark: Zwischen 0.21% in trolle und Störungen des Belohnungssystems, z. europäischen bis zu 57% in asiatischen Ländern. B. im Rahmen von Aufmerksamkeitsdefizit/Hype- raktivitätsstörung (ADHS) oder allgemein bei ex- Problematischer Internetgebrauch ternalisierenden Störungen. Auch können Zwangs- bei Kindern und Jugendlichen mit störungen mit PUI assoziiert sein. psychopathologischen Störungen Populationsbasierte Studien legen nahe, dass sich ein 2. Manche PUI-Verhaltensweisen scheinen die Folge problematischer Medienkonsum negativ auf die psy- oder ein maladaptiver Lösungsversuch eines psy- chische Gesundheit auswirkt. Wenig gut untersucht chischen Problems zu sein, z. B. die Vermeidung ist der genaue Zusammenhang von problematischer direkter Kontakte bei sozialphobischen oder autis- Internetnutzung und psychischen Störungen im Kin- tischen PatientInnen. Bei Autismus-Spektrum-Stö- des- und Jugendalter. Ganz generell zeigen Untersu- rung und bei Angststörungen geht man daher von chungen, dass PUI oder PUI-Subtypen häufiger bei Pa- erhöhten PUI-Raten aus. Es kann online gelingen tienten mit psychopathologischen Störungen auftre- Kontakte herzustellen, die im analogen Leben, z.B. ten als in der allgemeinen Bevölkerung. Auch wenn aufgrund eingeschränkter sozialer Fertigkeiten, nicht geklärt ist, ob es eine «reine» Internetabhängig- nicht möglich wären. Auch bei niedrigem Selbst- keit gibt oder sich PUI auf der Basis einer anderen wert kann man sich im Netz gut hinter einem vir- grundlegenden psychiatrischen Störung entwickelt, tuellen Ego verstecken. zeigt PUI eine hohe Komorbidität mit anderen psy- chiatrischen Störungen10). 3. Andere Störungen scheinen sich bei exzessiver/ri- sikoreicher Mediennutzung zu verstärken, wie Ess- Internet Gaming Disorder Gaming Disorder Hazardous Gaming (Internetspielsucht) (Videospielabhängigkeit) (eigene Übersetzung: riskoreiches Videospielen) DSM-512) ICD-1113 ICD-1113) - Gedankliche Eingenommenheit - Kontrollverlust über die Verhal- - Videospielverhalten (online oder - Entzugssymptomatik bei tensausführung offline) erhöht eigene Gesund- Konsumverhinderung - Priorisierung der Videospiele, d.h. heitsrisiken - Toleranzentwicklung andere Lebensbereiche, Inter- - Beeinträchtigung des Individu- - Kontrollverlust, erfolglose essensfelder und Alltagsaktivitä- ums oder Personen aus dem Abstinenzversuche ten werden vernachlässigt oder Umfeld - Computerspielnutzung als verdrängt - Erhöhtes Risiko aufgrund von: dominierende Beschäftigung - Fortführung der Nutzung von - Häufigkeit und Zeitumfangs von und Interessensverlust bei Videospielen trotz negativer Kon- Gaming Hobbys und anderen Aktivitäten sequenzen - Vernachlässigung anderer - Fortführung der exzessiven - Zusätzlich: Verhalten führt zu Aktivitäten, riskantem Verhalten Nutzung trotz negativer psycho- einer schweren Beeinträchtigung im Zusammenhang mit Gaming sozialer Konsequenzen des psychosozialen Funktionsni- - negativen Konsequenzen - Verheimlichung des Nutzungs- veaus (Familie, Ausbildung, Beruf, - Fortführung des Spielens trotz ausmasses Freizeit) bekannter Risiken - Spielen als Emotionsregulation - Gefährdung zwischenmenschli- cher Beziehung oder Lebens- bereiche Für die Diagnose müssen alle drei Für die Diagnose müssen 5 oder und Zusatzkriterium erfüllt sein, mehr der 9 Kriterien erfüllt sein, mind. 12 Monate lang. Bei starker mind. 12 Monate lang. Ausprägung auch kürzer. Tabelle 2. Gegenüberstellung der Diagnosekriterien von «Internet Gaming Disorder» (Internetspielsucht), «Gaming Disorder» (Videospielabhängigkeit) und «Hazardous Gaming» 30 Vol. 32 | 2-2021
Fortbildung störungen oder Depression; andere entstehen ves Gaming wurde bei nur drei Patienten als Zuwei- möglicherweise sogar neu, z. B. Probleme in der sungsgrund an die KJPP genannt. Was den Einfluss Folge von Schlafmangel, Aufmerksamkeitspro- des Lockdowns auf die Störung anging, gab die Mehr- bleme, Leistungsprobleme, Lernprobleme, Adipo- heit (41%) der Eltern an, dass es während des Lock- sitas, Kopfschmerzen. Cybermobbing trifft beson- downs keine Veränderung des psychopathologischen ders oft Aussenseiter oder Angehörige von sexu- Hauptproblems gegeben habe, 21% gaben eine Ver- ellen oder anderen Minderheiten und kann das schlechterung an und 38% eine Verbesserung. Unter Entstehen psychischer Störungen begünstigen, bis den Patienten mit internalisierenden Störungen war hin zu Suizidalität. die Anzahl der Verbesserungen am höchsten (44%). Dies deckt sich mit anderen Studien, die bei einem Nutzung digitaler Medien bei Kindern und Teil der Patienten mit Ängsten und sozialen Proble- Jugendlichen mit psychischer Erkrankung men von einer Entlastung während des Lockdowns während des Lockdowns – Umfrage bei berichten. Patienten der KJPP Zürich Um zu untersuchen, wie sich in der Schweiz der Lock- Beim Medienkonsum fand sich während des Lock- down auf das Medienverhalten und Befinden von Kin- downs eine Zunahme der täglichen Medienzeit – dern und Jugendlichen mit psychopathologischen Stö- Handy, PC, Tablet, Videokonsole und Fernsehen – um rungen auswirkt, wurde im Frühsommer 2020 an der 59 Prozent. Bei Jungen betraf dies vor allem die mit KJPP Zürich eine Online-Befragung von Patienten und Gamen verbrachte Zeit, bei Mädchen die Zeit in den deren Eltern durchgeführt14). Dabei wurden Patienten sozialen Medien. Generell war die Medienzeit bei Ju- (Alter 10-18 Jahre) angefragt, die im Laufe der letzten gendlichen sehr viel höher als bei Kindern. Nur bei zwei Jahre in einem der acht Ambulatorien der Klinik den Kindern, nicht aber bei den Jugendlichen, gab es für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothera- einen Zusammenhang zwischen Medienzeit und Ver- pie, Universität Zürich, oder in der Spezialambulanz schlechterung der jeweiligen Störung. Betrachtete für Autismus eine Behandlung begonnen hatten. Die man dagegen nicht die Gesamtgruppe, sondern nur Befragung fand anonym statt und die Patienten bzw. die Kinder und Jugendlichen mit ADHS, zeigte sich bei deren Eltern wurden per Email zur Teilnahme einge- beiden ein Zusammenhang zwischen Medienzeit, ver- laden. Es handelt sich dabei um eine Stichprobe, die minderter Konzentrationsfähigkeit und erhöhter keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Auf- Reizbarkeit15). grund der Rekrutierungswege (Voraussetzung von In- ternetzugang sowie Deutsch als Fragebogensprache) Eltern berichteten auch über eine leicht erhöhte und der demographischen Daten wird davon ausge- Besorgnis während des Lockdowns hinsichtlich gangen, dass Familien mit niedrigem sozioökonomi- suchtähnlicher Verhaltensweisen, wie aggressive und schem Status unterrepräsentiert sind. Die Erhebung wütende Reaktionen, wenn die Medienzeit durch die fand überwiegend im Juni 2020 statt und fiel somit Eltern eingeschränkt wurde. Das weist auf die gestei- in die Zeit, als noch Einschränkungen in Kraft, aber gerte Bedeutung hin, die digitale Medien für die Kin- die Schulen meist wieder geöffnet waren. der und Jugendlichen während dieser Phase hatten, möglicherweise aber auch auf die stärkere Aufmerk- Die Befragung hatte zwei Schwerpunkte: samkeit der Eltern auf den Medienkonsum ihrer Kin- der. Praktisch keine Veränderungen während des Lock- 1. Fragen zu Medienkonsum und problematischem In- downs gaben die Eltern an bei digitalem Problem- und ternetverhalten. Hierbei stützen wir uns auf ein Risikoverhalten, wie dem sorglosen Umgang mit eige- Verfahren aus Fragen zu problematischem Medien- nen Daten oder Cybermobbing. Die Eltern wurden auch und Internetverhalten, das an unserer Klinik zum befragt, ob sie während des Lockdowns Medienregeln routinemässigen Screening in der Kinder- und Ju- – sofern in der Familie vorhanden – geändert und ih- gendpsychiatrie entwickelt wurde. rem Kind mehr Zugang zu Medien erlaubt hätten. Dies wurde von einer deutlichen Mehrheit bejaht und nur 2. Fragen zur allgemeinen Befindlichkeit, emotionalen von 18% verneint. Etwa weitere 20% der Befragten und Verhaltenssymptomen während des Lock- gaben an, dass ihr Kind über die Mediennutzung selbst downs. Dazu wurde im Rahmen eines europäischen entscheiden würde. Kooperationsprojekts zusätzlich auf einen Frage- bogen zurückgegriffen (CRISIS) (Coghill et al. un- Zusammenfassung und Ausblick veröffentlicht). Da die Umfrage vollständig anonym Für Kinder und Jugendliche stellte die COVID-19 Pan- durchgeführt wurde, beruhten alle demographi- demie und der Lockdown im Frühjahr 2020 eine Zeit schen und Störungsangaben auf den Antworten besonderer psychischer Belastung dar, die mit einer der Eltern. Erhöhung psychischer Störungen einherzugehen scheint. Dies trifft im Prinzip noch stärker auf Kinder Von den 477 Elternantworten bezogen sich etwa und Jugendliche mit psychischen Vorerkrankungen ein Drittel auf Patienten mit internalisierenden Stö- zu. Allerdings findet sich hier auch eine Untergruppe, rungen (Depression und Ängste), ein Drittel auf Pati- für die der erzwungene soziale Rückzug mit Entlas- enten mit externalisierenden Störungen (ADHS und tung und Stressreduktion einhergeht. Aggressivität) und ein Drittel auf sonstige Störungen (Autismus-Spektrum-Störung, Psychose, Genderdys- Die meisten Untersuchungen zeigen generell ei- phorie, Essstörungen, Zwänge und anderes). Exzessi- nen massiv erhöhten Medienkonsum während des Vol. 32 | 2-2021 31
Fortbildung Lockdowns unter Kindern und Jugendlichen mit und 5) Paschke K, Thomasius R, Holtmann M, Klein M, Melchers P, Schimansky G et al. Medienkonsum bei Kindern und ohne psychische Vorerkrankungen. Dabei ist davon aus- Jugendlichen-Positionspapier der Gemeinsamen zugehen, dass ein Teil dieses Medienkonsums in der Suchtkommission der kinder-und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und Verbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP). Pandemie-Situation durchaus situativ funktional war Suchttherapie 2019;20: S14-02. und dass es nun vor allem bei den bereits vorher ge- 6) Bernath J, Waller G, Meider U. ADELE+: der Medienumgang von fährdeten Kindern und Jugendlichen zu einem patho- Kindern im Vorschulalter (4-6 Jahre)-Chancen und Risiken für die Gesundheit. 2020. logischen Gebrauch kam. Inwieweit Kinder und Jugend- 7) Süss D, Waller G, Suter L, Bernath J, Külling C, Willemse et al. liche durch die Pandemie auch nachhaltig beeinträch- Ergebnisbericht zur MIKE-Studie 2019. MIKE. 2019. tigt wurden – was psychopathologische Störungen und 8) Suter L, Waller G, Bernath J, Külling C, Willemse I, and Süss D. das Medienverhalten angeht –, lässt sich derzeit noch JAMES: Jugend, Aktivitäten, Medien-Erhebung Schweiz. 2018. nicht abschliessend klären und muss durch Längs- 9) DAK-Studie. DAK-Studie: Gaming, Social-Media & Corona. https://www.dak.de/dak/gesundheit/dak-studie-gaming-social- schnittstudien genauer untersucht werden. media-und-corona-2295548.html. 2020. 10) Fineberg NA, Demetrovics Z, Stein DJ, Ioannidis K, Potenza MN, Danksagung Grunblatt E, et al. Manifesto for a European research network into Problematic Usage of the Internet. Eur Die Autorinnen bedanken sich für die Unterstützung Neuropsychopharmacol. 2018;28:1232-46. und Zusammenarbeit des Europäischen Netzwerks 11) Young KS. Internet addiction: The emergence of a new clinical für Problematische Nutzung des Internets der disorder. Cyberpsychology & behavior. 1998;1:237-44. COST-Aktion CA16207 (Europäische Zusammenarbeit 12) APA (American Psychological Association). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5). 2013. in Wissenschaft und Technologie). 13) WHO (World Health Organization). 6C51 Gaming disorder. ICD-11 Beta Draft. 2018. https://icd.who.int/dev11/l-m/en#/http://id. Referenzen who.int/icd/entity/1448597234 (Retrieved April 7, 2018). 1) Ravens-Sieberer U, Kaman A, Erhart M, Devine J, Schlack R, and 14) Werling AM, Walitza S, Grünblatt E, Drechsler R. eingereicht. Otto C. Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and Media use before, during and after COVID-19 lockdown in a mental health in children and adolescents in Germany. European clinically referred sample in child and adolescent psychiatry: child & adolescent psychiatry.2021;1-11. Results of an online survey in Switzerland. 2) Bobo E, Lin L, Acquaviva E, Caci H, Franc N, Gamon L, et al. How 15) Werling AM, Walitza S, Drechsler R. Impact of the COVID-19 do children and adolescents with Attention Deficit Hyperactivity lockdown on screen media use in patients referred for ADHD to Disorder (ADHD) experience lockdown during the COVID-19 child and adolescent psychiatry. An introduction to problematic outbreak? Líencephale. 2020;46(3S):S85-S92. use of the internet in ADHD and results of a survey. Journal of 3) YoungMinds. Coronavirus: Impact on young people with mental Neutransmission. 2021. DOI 10.1007/s00702-021-02332-0 health needs. 2021 4) Bernath J, Suter L, Waller G, Külling C, Willemse I, and Süss D. JAMES: Jugend, Aktivitäten, Medien-Erhebung Schweiz. 2020. Autorinnen Dr. med. Anna Maria Werling, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Universität Zürich Prof. Dr. med. Susanne Walitza, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Universität Zürich & Zentrum für Neurowissenschaften Zürich, Universität und ETH Zürich Prof. Dr. phil. Renate Drechsler, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Universität Zürich Die Autorinnen haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Weltstillwoche 2021: MATERIAL FÜR AKTIVITÄTEN Planen Sie in Ihrem Verband, Unternehmen oder in Ihrem persönlichen Umfeld eine Veranstaltung zur Weltstillwoche? Stillförderung Schweiz stellt kostenlos Material zur Verfügung, bestellbar ab sofort: www.stillfoerderung.ch 32 Vol. 32 | 2-2021
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