EIN HAUS FÜR IMMER Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien - BBSR
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EIN HAUS FÜR IMMER Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien Wie kann Heimat entstehen, wenn eine Verwurzelung an einem für die eigene Lebensgeschichte wichtigen Ort aufgrund der politischen oder sozioökonomischen Bedingungen schwierig oder unmöglich ist? In weiten Teilen Lateinamerikas müssen sich Menschen ihre Heimat hart erkämpfen. Ein Blick nach Kolumbien soll die nach dem Ende des Bürgerkriegs ver- bundenen Herausforderungen damit aufzeigen. Prof. Dipl.-Ing. Martin Hoelscher ist Stadtplaner und Architekt, lehrt Städtebau, Stadt- und Regionalentwicklung im Bachelor-Studiengang Stadtplanung an der Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur der Hochschule Ostwestfalen-Lippe (HS OWL), im Master Städtebau NRW und als Gastprofessor an der Universidad de La Salle in Bogotá. Er forscht im urbanLab der HS OWL zur informellen Stadt in Lateinamerika und Europa und ist freiberuflich als Planer und Gutachter tätig. martin.hoelscher@hs-owl.de Foto: Martin Hoelscher
Das Observatorio Urbano (OU) an der Facultad Ciencias del Im Rahmen von Praktika, Studien- und Abschlussarbeiten in Habitat, Universidad de La Salle Bogotá, beschäftigt sich seit den Studiengängen Architektur und Stadtplanung, in Kon- etwa zehn Jahren mit der Rolle von Planung, Architektur und ferenzen und Workshops mit internationaler Beteiligung Bauen im Kontext informeller Siedlungen. Mit dieser thema- und in Kooperation mit Kommunen, der Zivilgesellschaft tischen Ausrichtung ist die Fakultät der wichtigste Partner und Stiftungen sind am OU in vielen kolumbianischen Re- der Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur gionen Projekte entstanden, die mit der Expertise aus den an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe (HS OWL), was die Planungswissenschaften die Lebensbedingungen der Men- akademische Zusammenarbeit mit Lateinamerika betrifft. schen in kleinen Schritten verbessern konnten. Kontext Lateinamerika Architektur und Stadt entstehen im Spannungsfeld indivi- Gini-Koeffizienten, der weltweit die Ungleichheit zwischen dueller und kollektiver Ansprüche an den Raum. Sie rich- den wohlhabendsten und den ärmsten Gruppen der Bevöl- ten sich normalerweise stark nach räumlichen Parametern kerung beschreibt, befinden sich auf den ersten 30 Positio- – etwa den Begabungen und Charakteristiken des Ortes nen größter Ungleichheit 16 afrikanische und 14 lateiname- und den daraus abzuleitenden Chancen und Restriktionen rikanische Länder – andere Kontinente sind erst ab Position für eine bauliche Entwicklung. Sie reagieren aber auch auf 31 vertreten (Indexmundi 2018a). Während die im Ranking gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie Sozioökonomie, aufgelisteten afrikanischen Volkswirtschaften mit Ausnah- Gleichheit und Möglichkeiten zur Partizipation. me von Südafrika (Gini Rang 1) im globalen Maßstab kaum wahrgenommen werden, zählen zu den 30 extrem unglei- In vielen lateinamerikanischen Gesellschaften sind diese chen Ländern mit Brasilien (Gini Rang 10), Kolumbien (11), Rahmenbedingungen radikal anders als in den Ländern der Mexico (19), Chile (23) und Venezuela (26) fünf der sechs nördlichen Hemisphäre. Sie sind von sozialen und ökono- stärksten Volkswirtschaften Lateinamerikas (Indexmun- mischen Disparitäten geprägt, die an das Europa der zwei- di 2018b). Brasilien (207,4 Mio. EW), Mexico (124,6 Mio.), ten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnern. Im Ranking des Kolumbien (47,7 Mio.) und Venezuela (31,3 Mio.) gehören Fotos: Martin Hoelscher Räumliche Ungleichheit: Wohlhabendes Quartier in La Paz, informelles Quartier in Lima 88 Martin Hoelscher n Ein Haus für immer: Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien
zugleich zu den fünf bevölkerungsreichsten Länder Latein- se Eliten leben in modernen, gut durchgrünten und mit al- amerikas (Indexmundi 2018c) – hier leben zusammen rund len Infrastrukturen ausgestatteten Quartieren. 66 Prozent der gesamten lateinamerikanischen Bevölkerung. Auf der anderen Seite verbinden die ärmeren Teile der Be- Auf dem zu etwa 80 Prozent urbanisierten lateinamerika- völkerung seit etwa 50 Jahren Städte jeder Größe mit der nischen Subkontinent sind Städte für einen Großteil der Hoffnung auf physische Unversehrtheit, bessere Einkom- Bevölkerung heute das bevorzugte Lebensumfeld. Mit den men, besseren Zugang zu sozialen Angeboten und Per sozioökonomischen Disparitäten sind meistens auch spezi- spektiven für die individuelle Zukunft. Auch wenn die von fische räumliche Eigenschaften verbunden, die das Leben ihnen bewohnten Quartiere von fehlenden Freiraum- und der Menschen und ihre Chancen zur gesellschaftlichen Teil- Infrastrukturangeboten geprägt, sozial benachteiligt und habe direkt beeinflussen. Bilder aus São Paulo und Mexi- häufig in Risikolagen verortet sind, sind Städte immer noch ko-Stadt, Lima und vielen weiteren Großstädten zeigen die ein das Engagement und die Lebensentwürfe vieler Men- räumlichen Erscheinungsformen der sozialen Ungleichheit. schen bestimmendes Glücksversprechen – Doug Saunders Besonders die Metropolen sind einerseits der Wohn- und Le- beschreibt das Vertrauen der Menschen auf eine bessere bensort der wohlhabenden urbanen Eliten, die Politik und Zukunft in der Stadt unter anderem anhand eines Viertels in Wirtschaft, Bildung und Kultur der Städte – manchmal eines São Paulo (Saunders 2011: 436 ff.). ganzen Landes – prägen und maßgeblich beeinflussen. Die- Kontext Kolumbien Seit Mitte der 1960er-Jahre prägt militärische Gewalt die ge- Zentren gezogen sind und ein auch im räumlichen Sinn sellschaftliche Situation in Kolumbien. In einem über 50-jäh- randständiges Leben begonnen haben. Die „desplazados“, rigen Bürgerkrieg, dem „conflicto armado“, dem bewaffne- die Binnenvertriebenen, versuchen, dort eine neue Heimat ten Konflikt, kamen seit 1985 etwa 270.000 Menschen ums zu finden – ein schwieriges, von zahlreichen Widerständen Leben (Unidadvictimas 2018), in der Mehrzahl Zivilisten. begleitetes Unterfangen. In der Folge haben Großstädte Die wesentlichen Akteure waren ursprünglich der kolumbi- und regionale Zentren ein beschleunigtes Stadtwachstum anische Staat mit Militär, Polizei und Geheimdiensten, an- erfahren, das sich vielfach in informellen Siedlungen, un- dererseits mehrere in den 1960er-Jahren gegründete linke zureichender Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur und Guerillagruppen, die sich für eine bessere gesellschaftliche Umweltproblemen bemerkbar macht. Die in den Herkunfts- Teilhabe der Land- und Stadtbevölkerung einsetzten. Dazu regionen zurückgelassenen Dörfer und kleine Farmen verfie- kamen die überaus grausamen, paramilitärisch organisier- len oder wurden illegal in landwirtschaftliche Großbetriebe ten und zwischen 1996 und 2006 unter dem Akronym AUC integriert. Zu den „desplazados“ kommen seit etwa zwei (Autodefensas Unidas de Colombia) zusammengeschlosse- Jahren eine unbekannte, laut kolumbianischer Tagespresse nen „Selbstverteidigungsgruppen“ der Großgrundbesitzer aber sicher sechsstellige Zahl Geflüchteter aus Venezuela sowie, vor allem in den 1980er-Jahren, mehrere extrem ge- dazu, die in Kolumbien eine Überlebensperspektive suchen. walttätige Drogenkartelle. Im Lauf des Konflikts sind diese Akteure unterschiedliche, ihren Interessen dienende Koaliti- 2016 hat der kolumbianische Staat mit der FARC (Fuerzas onen eingegangen, die eine klare Zuschreibung der Urhe- Armadas Revolucionarias de Colombia), der größten Gue- berschaft der Gewalt schwer machen. rillagruppe, einen Friedensvertrag geschlossen. Er sichert deren Mitgliedern im Gegenzug für die Niederlegung der Kolumbien ist heute weltweit, noch vor Syrien, das Land mit Waffen weitgehende Hilfen bei der gesellschaftlichen Wie- den meisten Binnenvertriebenen. Das UN-Hochkommissari- dereingliederung zu. Ein Frieden mit anderen Guerillagrup- at für Flüchtlinge geht davon aus, dass in der Folge des be- pen und ein wirksames Vorgehen des Staates gegen die waffneten Konflikts seit 1985 etwa 7,7 Millionen Menschen Nachfolger der AUC stehen noch aus. Obwohl der Vertrag (UNHCR 2018: 33 ff.) ihre ursprünglichen Lebensmittelpunk- seitens des Staates nie engagiert umgesetzt wurde und von te in meist ländlichen Regionen verlassen haben, in urbane der seit wenigen Monaten amtierenden rechtskonservati- Informationen zur Raumentwicklung n Heft 2/2019 89
Foto: US Department of State – public domain Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC durch Präsident Santos 2016 ven Regierung sogar in Frage gestellt wird, verbinden viele bau und Ölförderung haben nicht nur die Dörfer und Far- „desplazados“ damit die vage Hoffnung, in ihre Heimatregi- men verändert, sondern auch Wälder und Gewässersysteme, onen zurückkehren zu können. Die imaginierte Heimat gibt Landschaften und Erinnerungsorte. es jedoch nicht mehr: industrialisierte Landwirtschaft, Berg- Stadtentwicklung in Kolumbien Stadtentwicklung in Lateinamerika wird häufig als „ciudad Lebensgeschichte wird; aber auch im Sinn der zwei- und emergente“ bezeichnet, als entstehende Stadt. Sie ist in viel- dreidimensionalen Ausdehnung der gebauten Umwelt über facher Hinsicht entstehend: im Sinn der Konstitution und bestehende Siedlungsränder, administrative Grenzen und Organisation sozialer Gemeinschaften, die sich finden und geologische Risiken hinaus. In diesem Prozess spielt das Bau- gemeinsam eine Zukunft gestalten; im Sinn der schrittwei- en eine bedeutende Rolle als Initialzündung für die Aneig- sen Identifikation der Menschen mit einem zunächst frem- nung von Raum durch die in ihm lebenden Menschen und den Lebensumfeld, das so zu einem Ort ihrer individuellen damit für das Entstehen von Stadt: „Ein Haus für immer“ ist 90 Martin Hoelscher n Ein Haus für immer: Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien
das erklärte Ziel und faktische Realität der Menschen, die in lada“ in Medellín, emblematische Infrastrukturen, Gebäude der „ciudad emergente“ die Wurzeln für ihre Zukunft legen und Freianlagen, die in den letzten rund 15 Jahren unter der (Camargo Sierra 2015: 191). Ägide mehrerer sozial engagierter Bürgermeister in den lan- ge vernachlässigten Quartieren der zweitgrößten Stadt Ko- Die „ciudad emergente“ entsteht, von wenigen formellen lumbiens errichtet wurden und weltweit Beachtung finden Bauvorhaben abgesehen, in weitgehender Abwesenheit (vgl. Hoelscher 2013: 333 ff.). von Planung: weder folgt die städtebauliche Struktur einer über die Verwertbarkeit des Bodens hinausgehenden Lo- Als räumliche Konsequenz der vom bewaffneten Konflikt gik noch erfüllen die Gebäude Normen und Standards oder ausgelösten Bevölkerungsbewegungen ist die informel- folgen gar einem gestalterischen Konzept. Ein wesentlicher le Stadtentwicklung heute überall in Kolumbien sichtbare Grund für Stadtentwicklung und Bauen ohne Planung liegt Wirklichkeit. In Bogotá leben etwa 27 Prozent der Bevölke- unter anderem darin, dass die formelle Produktion von Stadt rung in ursprünglich informellen Quartieren mit erheblichen dem Wachstumsdruck der Bevölkerung keine ökonomisch qualitativen und quantitativen Defiziten (Banco Mundial/ erreichbare Perspektive entgegenhalten kann (Fernandes DNP 2012: 13 f.). Administrative Grenzen spielen räumlich 2011: 14): So weist der Stadtentwicklungsplan für Bogotá keine Rolle – Bogotá ist längst mit seinen unmittelbaren für 2009 bis 2012 Stadterweiterungsflächen für den sozialen Nachbarstädten im Norden, Westen und Süden zusammen- Wohnungsbau im Umfang von 2.058 Hektar aus – nur einen gewachsen und bildet mit ihnen einen Siedlungsraum mit Bruchteil des prognostizierten Bedarfs von 6.229 Hektar bis etwa 10 Millionen Einwohnern. Informelle Quartiere ent- 2020 (Banco Mundial/DNP 2012: 17). stehen aus der Initiative der dort lebenden Menschen nach zwei Prinzipien (Camargo Sierra 2015: 186 ff.): Während „bar- Stadtplaner, Architekten und Landschaftsarchitekten sind an rios de invasión“ durch illegale Besetzung und Nutzung öf- der Entstehung der informellen Quartiere der „ciudad emer- fentlicher oder privater Flächen entstehen, werden „barrios gente“ nicht beteiligt und lediglich im günstigsten Fall für piratas“ von ihren Eigentümern oder Investoren jenseits al- nachträglich zu errichtende graue und grüne Infrastrukturen ler Normen und Satzungen als Bauland parzelliert und ver- zuständig. Herausragende Beispiele dafür sind die ins Metro- marktet. In ihrer räumlichen und funktionalen Qualität un- system integrierten Seilbahnlinien und die Stadtteilzentren terscheiden sie sich kaum. der „Parques Bibliotecas“ und der „Unidades de Vida Articu- Foto: Martin Hoelscher Foto: Sebastián Sanchez, OU „Ciudad emergente“ – Ein Haus für immer in der grenzenlosen Stadt Informationen zur Raumentwicklung n Heft 2/2019 91
Casa Raíz – wer verwurzelt ist, der bleibt Eines der wichtigsten Projekte des Observatorio Urbano (OU) len Akteuren (und umgekehrt), handwerkliche Qualifizie- der Universidad de La Salle steht unter dem Titel „Casa Raíz – rung der Bewohner für einige Baugewerke und die Stärkung quién tiene raíz permanece“ (wer verwurzelt ist, der bleibt). der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Quartier. Es entsteht unter Beteiligung von Bürgerinitiativen, Stiftun- gen, Architekten und mehrerer Hochschulen und reiht sich Jairo Nieto Morales (2015: 71) beschreibt Kommunen als ein in viele Strategien und Projekte, die die Lebensbedin- die wichtigsten territorialen Einheiten für die Umsetzung gungen im Post-Konflikt-Kolumbien mithilfe der Planungs- des Friedensprozesses. Seit 2017 ist das OU mit dem Projekt wissenschaften verbessern (vgl. Sanabria/Hoelscher 2018). Casa Raíz im Quartier Altos de Pino in Soacha tätig, einer Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohnern (infor- Casa Raíz steht programmatisch für eine Strategie, die nicht melle Zählungen gehen von ca. 1,2 Millionen aus) unmittel- nur die räumliche Umwelt der informellen Quartiere, son- bar außerhalb der südlichen Stadtgrenze Bogotás. Die meis- dern die Verwurzelung der Menschen in dieser Umwelt ten Bewohner sind während der vergangenen rund 25 Jahre verändern und verbessern möchte. Im Sinn von Michel aus den vom Bürgerkrieg betroffenen Teilen Kolumbiens Foucault und Giorgio Agamben (2008: 8 f.) versteht sie Ar- nach Soacha gekommen. Sie leben in den fast ausschließlich chitektur als Dispositiv für die Konstruktion von Frieden, für informell entstandenen Quartieren in Communities zusam- die Transformation der kolumbianischen Gesellschaft hin zu men, die die Herkunftsregionen abbilden und in denen sie gerechten, gewaltfreien und friedvollen Möglichkeiten des auch über längere Zeiträume nur unzureichende territoriale Zusammenlebens. Handlungsfelder sind unter anderem die Bindungen zum Ort entwickeln konnten. Ihre Lebensbedin- Verbesserung der physischen und sozialen Lebensbedin- gungen mit der Projektarbeit zu verbessern, ist ein wesent gungen im Rahmen der integrierten Quartiersentwicklung, licher Beitrag zur Post-Konflikt-Gesellschaft in Kolumbien. Wissenstransfer aus dem akademischen Raum zu den loka- 1 Architektur als Dispositiv Quelle: Prof. Laura Sanabria, OU 92 Martin Hoelscher n Ein Haus für immer: Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien
Altos del Pino liegt beiderseits einer unbefestigten Haupt erschließungsstraße an einem stark geneigten Südhang. An mehreren davon abzweigenden Erschließungsstraßen reihen sich etwa 75 Quadratmeter große Parzellen (häufig 6x12 m, erfahrungsgemäß ein übliches Maß in „barrios pi- rata“). Sie sind meistens eingeschossig und fast vollständig überbaut. Die einzig mögliche Belichtung der Häuser erfolgt zur Straße oder zu äußerst knappen Innenhöfen. In der Mit- te des Quartiers befinden sich mehrere öffentliche Flächen, die teilweise temporär bebaut sind und als Treffpunkt der Bewohner dienen. Proyecto Escape, eine im Quartier ge- gründete Bürgerinitiative, organisiert hier kulturelle Events und Aktivitäten der Nachbarn (vgl. Zambrano 2018). Sie ist ein zentraler Akteur im Programm Casa Raíz. Bis heute sind Foto: Sebastián Sanchez, OU aus der Initiative von Proyecto Escape heraus die „Casa de Quartier Altos del Pino mit öffentlichen Einrichtungen Botellas“ als ein aus PET-Flaschen gebautes Gemeinschafts- im Zentrum haus, eine kleine selbstverwaltete Bibliothek sowie die „Aula Abiental“ als ein temporäres Tragwerk für Projekte der Um- weltbildung und die Anzucht von Saatgut entstanden. Zu- dem konnte die „Biblio-Huerta“ als Terrassengarten zum Anbau von Gemüse und Kräutern angelegt werden. Letztere waren die ersten beiden vom OU begleiteten Maßnahmen. In Zukunft wird das Ensemble durch ein größeres Gemein- schaftshaus und eine gemeinschaftlich betriebene Kantine für Kinder und bedürftige Erwachsene aus dem Stadtteil ergänzt. Die bauliche Realisierung des Zentrums entsteht im Dialog der Bewohner mit Planern und Architekten. Dies geschieht nicht im Sinn eines abzuarbeitenden Programms, sondern als iterativer Prozess des gemeinsamen Lernens und Entscheidens. Foto: Prof. Laura Sanabria, OU Im Mittelpunkt des Projekts Casa Raíz steht jedoch die bau- Aula Ambiental vor dem Hintergrund liche Inwertsetzung von informell errichteten Wohnhäusern der Nachbarquartiere im Stadtteil. Dafür hat das OU 2017 und 2018 zwei zehn tägige Workshops durchgeführt, bei denen jeweils etwa 30 kolumbianische, 15 deutsche und 5 italienische Studierende gemeinsam mit etwa 30 Bewohnern des Quartiers an deren Häusern gearbeitet haben. Die Bewohner bewerben sich einige Wochen vorher und treffen, sofern sie zur Teilnahme ausgewählt werden, eine Vereinbarung mit dem OU über Art und Umfang der Bauarbeiten und des eigenen Arbeits- einsatzes. Im Programm geht es zunächst weniger um das äußere Er- scheinungsbild der Häuser als um ihre technische und funk- tionale Qualifizierung. Hintergrund ist die Notwendigkeit einer strukturellen Sicherheit im Sinn der kolumbianischen Baunormen, ohne die selbst eine nachträgliche Legalisie- Foto: Martin Hoelscher rung der Häuser unmöglich ist. Wichtigstes Kriterium für Planung für das Zentrum Informationen zur Raumentwicklung n Heft 2/2019 93
die Auswahl der zu bearbeitenden Häuser ist deshalb ein den, Materialspenden lokaler Unternehmen und der öffent- Nicht-Risiko-Standort, der langfristige Standsicherheit ver- lichen Verwaltung sowie aus finanzieller Unterstützung der spricht. Nur solche Häuser können am Tragwerk und am beteiligten Hochschulen. Aufwändige Baumaßnahmen wie Dach im Sinn der Erdbebensicherheit strukturell verbessert der Umbau von Sanitärinstallationen oder neue Dachkon- werden. Das gilt auch für technische Verbesserungen wie die struktionen finden hier ihre wirtschaftlichen Grenzen und Isolation gegen Bodenfeuchtigkeit, den Verputz, die Belich- müssen in der Regel auf einen späteren Zeitpunkt verscho- tung, Installationen und Eingangszonen, die vor eindringen- ben werden. Insgesamt wurden bis heute rund 45 Häuser in dem Wasser schützen. Erst wenn die technische Sicherheit Altos del Pino umgebaut. des Hauses gewährleistet ist, werden weitergehende Maß- nahmen wie Fußböden, Trennwände, Möbel, Fassadenge- Das Konzept der Casa-Raíz-Workshops richtet sich bisher staltung und die Anlage von Gemüsegärten realisiert, die ausschließlich an engagierte Menschen in einem einzigen die Nutzungsqualität für die Bewohner verbessert. informellen Quartier. Es mobilisiert deren Energie, die ei- gene Zukunft aktiv zu gestalten, indem sie gemeinsam mit Zweites Kriterium für die Auswahl der Häuser ist die Be- den externen Helfern und mit der materiellen Unterstützung reitschaft der Bewohner, nicht nur an ihrem eigenen Haus durch das OU an ihren Häusern einige der Voraussetzungen mitzuarbeiten, sondern das eigene Engagement auch für für eine spätere Legalisierung schaffen, die außerhalb ihrer die Gemeinschaft einzubringen – durch Mitwirkung an den eigenen physischen und ökonomischen Möglichkeiten lie- anderen Bauprojekten, für die Verpflegung während der gen. Dabei kommt es, neben vielen wunderbaren Erlebnis- Workshops, für den Schutz der Gruppe in einem nach wie sen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und kulturel- vor nicht gewaltfreien sozialen Umfeld. Diese Form der Ge- ler Hintergründe, leider auch zu Enttäuschungen und Neid meinwohlarbeit geht auf den „trueque“ zurück, eine aus der bei den Menschen, denen das Programm aus unterschiedli- vorspanischen Geschichte Lateinamerikas stammende Form chen Gründen nicht helfen kann. Die gemeinsame Arbeit im des geldlosen und arbeitsteiligen Tauschs von Gütern und Stadtteil ließe sich auch auf andere Akteurskonstellationen Dienstleistungen, der in den Mangelökonomien der „ciu- übertragen (zum Beispiel auf die Arbeit mit Stiftungen, Ju- dades emergentes“, unter anderem in Bogotás südlichstem gendgruppen etc.) – das OU experimentiert damit seit Jah- Stadtteil Ciudad Bolivar, auch heute noch Anwendung findet ren. Trotzdem ist sie wohl kein Modell für die großflächige (Rottenfußer 2011: 41). Schließlich spielt auch das zur Verfü- Inwertsetzung ganzer Stadtteile, an dem ein Großteil der gung stehende Budget eine Rolle bei der Auswahl der Bau- Bewohner partizipieren könnte. Der Arbeitsaufwand und projekte. Casa Raíz finanziert die Baumaßnahmen aus den die Kosten würden jeden Maßstab sprengen, und nicht alle Teilnahmebeiträgen der Studierenden, externen Geldspen- Menschen sind zur aktiven Mitwirkung bereit oder in der Fotos: Martin Hoelscher Arbeiten an der Außenwand und dem privaten Vorbereich (links) sowie an der inneren Verbindung zweier Häuser 94 Martin Hoelscher n Ein Haus für immer: Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien
Foto: Svenja Christin Voss, HS OWL Bewohner, Studierende und Hochschullehrer beim Workshop Casa Raíz 2017 Lage. Die gemeinsame Arbeit kann deshalb glücklicherwei- die Verwurzelung der Menschen in ihrem derzeitigen Le- se nicht politisch instrumentalisiert werden, sondern ist ein bensumfeld – und damit auch zum Gelingen des Frieden- persönlicher Beitrag der Lehrenden und Studierenden des prozesses. OU und der im Proyecto Escape engagierten Nachbarn für Heimat in Altos del Pino Die politische und soziale Situation in Kolumbien hat in den etwa das Centro Nacional de Memoria Histórica von der letzten Dekaden Millionen physisch und psychisch verletz- „Territorialisierung“ des menschlichen Körpers (CNMH 2017: ter Menschen hinterlassen. Sie haben, nachdem sie ihre ur- 51). Heimat zu schaffen bedeutet für sie, den Blick über das sprünglichen Lebensräume verlassen mussten, in den gro- psychische Territorium ihrer eigenen Verletzungen hinaus ßen Städten nach Orten gesucht, an denen sie weiter leben auf das geografische Territorium ihres räumlichen Umfelds und arbeiten können – unter anderem in Quartieren wie zu lenken. So gedenkt eine sechsköpfige Familie mit sieben Altos del Pino. Diese Orte können die Wunden nicht heilen, Vogelmotiven auf ihrem im Rahmen des Programms Casa die der bewaffnete Konflikt an Körper und Seele der Men- Raíz neu verputzten Haus auch ihres vor einigen Jahren er- schen hinterlassen hat. In diesem Zusammenhang spricht mordeten ältesten Kindes. Informationen zur Raumentwicklung n Heft 2/2019 95
Statements der Bewohner von Altos del Pino M., sozialer Aktivist: Die Arbeit in unserem Quartier ist ein Prozess der Konstruktion von Gemeinschaft für uns alle. Wir durch brechen damit auch das Stigma der Gewalt und Kriminalität, das Menschen von außerhalb mit Altos del Pino verbinden. I., Anwohner: Wir leben hier auf der „dunklen Seite von Bogotá“ [...] Die Veränderungen, die wir gemeinsam geschafft haben, geben mir die Hoffnung und die Energie, unser Viertel weiter zu verbessern. N., soziale Aktivistin: Wenn wir uns für unseren Stadtteil engagieren, engagieren wir uns für unsere Familien. Und wenn ich mich mit Liebe und Energie für Altos del Pino einsetzen, bereichert das unser aller Zusammenleben. C., Lokalpolitiker: Mit der Arbeit an den Häusern können wir unser soziales Netz weben. Wir verbessern also nicht nur die Situation für jeden einzelnen von uns, sondern auch für die Gemeinschaft in Altos del Pino und für ganz Kolumbien. Die unvollkommenen, fragmentarischen, heterogenen Orte seits die sozialen Bindungen in den neuen Nachbarschaften, der „ciudades emergentes“, Orte wie Altos del Pino, die die wirtschaftlichen Anstrengungen zum Bau des eigenen Gemeinwohlarbeit im „trueque“, die Übernahme von Ver- Hauses, die mit der Zeit gefestigten Wurzeln am neuen Le- antwortung für die individuelle und gemeinsame Zukunft bensmittelpunkt, andererseits die zu erwartenden Gefahren können jedoch dazu beitragen, dass die Menschen mit der und Enttäuschungen bei einer Rückkehr an den ursprüng- Einbindung in das solidarische soziale Gefüge des Quartiers, lichen Heimatort. Die provisorisch erscheinenden Häuser in mit der Verbesserung ihrer Wohnsituation und der Beseiti- Altos del Pino sind deshalb zu Orten geworden, mit denen gung räumlicher Defizite ihre eigene Mitte finden und aus sich ihre Bewohner identifizieren wollen, weil sie hier die ihren Behausungen Heimat wird. Statements der Bewohner Sicherheit finden, die ihnen an anderen Orten genommen von Altos del Pino (ihre Namen sind aus Gründen der per- wurde. Es sind, faktisch und unabhängig von ihrem tech- sönlichen Sicherheit anonymisiert), die im Projekt Casa Raíz nischen Zustand und ihrem rechtlichen Status, Häuser für aufgezeichnet wurden (keine wörtlichen Zitate, sondern Zu- immer. Sie verändern sich, wachsen, werden bunter, vielfälti- sammenfassungen aus längeren Interviews), zeigen, in wel- ger, werden zu individuellen Zeugnissen ihrer Bewohner, zu chem Maß das Projekt dazu beiträgt (vgl. Infobox). deren Heimat. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen... Für die meisten Menschen ist Altos del Pino inzwischen der „Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod“, sagt ein türki- langfristige Lebensmittelpunkt geworden. Für sie bleibt sches Sprichwort: Altos del Pino ist, wie viele Quartiere in auch nach dem Friedensvertrag ein Umzug zurück an den den „ciudades emergentes“ in Kolumbien, eine Liebeserklä- eigenen Ursprungsort eine Utopie – zu vielfältig sind einer- rung an das Leben. Fotos: Martin Hoelscher Heimat in Altos del Pino – wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod... 96 Martin Hoelscher n Ein Haus für immer: Heimat in informellen Quartieren in Kolumbien
Literatur Agamben, Giorgio, 2008: Was ist ein Dispositiv? Zürich-Berlin. Indexmundi, 2018b: Adjusted net national income – Country Ranking. Zugriff: https://www.indexmundi.com/facts/indicators/ Banco Mundial; DNP – Departamento Nacional de Planeación NY.ADJ.NNTY.CD/rankings [abgerufen am 19.02.2019]. (Hrsg.), 2012: Sistema de Ciudades. Una aproximación visual al caso colombiano. Bogotá. Indexmundi, 2018c: Country Comparison Population. Zugriff: https://www.indexmundi.com/g/r.aspx?v=21 Camargo Sierra, Angélica, 2015: Hacia un nuevo enfoque de [abgerufen am 19.02.2019]. intervención en la ciudad construida informalmente en Bogotá. In: Ward, Peter et al. (Hrsg.): Politicas de Vivienda en Ciudades Morales Nieto, Jairo, 2015: Qué es el Postconflicto? Colombia Latinoamericanas. Bogotá: 185–214. despues de la Guerra. Bogotá. CNMH – Centro Nacional de Memoria Histórica (Hrsg.), 2017: La Rottenfußer, Roland, 2011: Die Wohltätigkeitsfalle. In: Zeitpunkt guerra inscrita en el cuerpo: informe nacional sobre violencia 116: 36–43. sexual en el conflicto armado. Bogotá. Sanabria, Laura; Hoelscher, Martin, 2018: Casa Raíz – quien tiene Fernandes, Edésio, 2011: Regularization of Informal Settlements in raíces permanece. In: urbanLab Magazin #4: 68–71. Latin America. Cambridge MA. Saunders, Doug, 2011: Arrival City. München. Hoelscher, Martin, 2013: Stadt und Zivilgesellschaft – das Konzept der integrierten sozialen Entwicklung in Medellín. In: Altrock, UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees (Hrsg), Uwe et al. (Hrsg.), 2013: Jahrbuch Stadterneuerung 2013. 2018: Global trends forced displacement 2017. Geneva 2018. Berlin: 329–341. Unidadvictimas, 2018: Victimas del conflicto armado – Reporte Indexmundi, 2018a: GINI index (World Bank estimate) – Country General. Zugriff: https://www.unidadvictimas.gov.co/es/registro- Ranking. Zugriff: https://www.indexmundi.com/facts/indicators/ unico-de-victimas-ruv/37394 [abgerufen am 19.02.2019]. SI.POV.GINI/rankings [abgerufen am 19.02.2019]. Zambrano, Miguel, 2018: Gesellschaft bauen – Gemeinsschafts- prozesse in Soacha. In: urbanLab Magazin #4: 38–40. Informationen zur Raumentwicklung n Heft 2/2019 97
Sie können auch lesen