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„Ein und dasselbe Chamäleon“
Zivilgesellschaft und Lobbyismus im europäischen Mehrebenensystem

EU-in-BRIEF | Ausgabe 01-2019
Von Bernd Hüttemann

„Zivilgesellschaft“ und „Lobbyismus“ wird landläufig mit gemeinwohlorientierter bzw.
interessengeleiteter Einflussnahme auf Gesetzgebung und Politik verbunden. Beide Begriffe
werden aber je nach Diskurs unterschiedlich genutzt. Während der Begriff der
Zivilgesellschaft zumeist positiv konnotiert ist, wird Lobbyismus oft als
demokratiegefährdend beschrieben. Was schon auf rein nationaler Ebene unklar erscheint,
führt im Zuge der Europäisierung nationaler Politik und in der Europäischen Union zu einer
Verklärung bzw. einem schlechten Image von Europapolitik. Der vorliegende Artikel
behandelt ausgehend von der intermediären Sphäre zwischen Staat und Bürgern Träger,
Ursprung, Semantik und normativem Gebrauch der Begriffe im deutschen und europäischen
Kontext. Vor dem Hintergrund verschiedener demokratietheoretischer wie
europawissenschaftlicher Ansätze werden die Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Lobbyismus“
auf pluralistische, korporatistische und etatistische Gesellschaftsmodelle der
Mitgliedstaaten und der EU bezogen. Der Autor schlägt im Ergebnis einen sorgsamen
Gebrauch der Begriffe „Lobbyismus“ und „Zivilgesellschaft“ vor. Lobbyismus sollte
wertneutral genutzt werden und „organisierte Zivilgesellschaft“ auch marktorientierte
Gruppen umfassen. „Interessengruppe“ oder „Interessenvertretung“ sind im Zweifel
vorzuziehen.

„Zivilgesellschaft ist oft in aller Munde, aber was     Effizienz, Einflussnahme, Bürgernähe und
genau Zivilgesellschaft ist, bleibt oft im              Demokratie immer wieder auf der
Unklaren.“1                                             Wunschliste für die EU. Zwei auf den ersten
„Politik braucht einen Ansprechpartner in der           Blick gegensätzliche Begriffe treten in diesem
Gesellschaft.                                           Zusammenhang auf: Zivilgesellschaft und
Man kann ja nicht mit jedem Einzelnen reden“2           Lobbyismus.
Die Europäische Union wandelt sich                      Nur über die Einbindung breiter Schichten
permanent und ist mit dem                               und der Zivilgesellschaft, glauben die einen,
nationalstaatlichen politischen System noch             lässt sich europäische Demokratie
immer schwer vergleichbar. Dennoch stehen               verwirklichen. Anderen erscheint Brüssel fest

1                                                       2
 Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der      Müller, Edda zitiert nach Borstel, S.v./Wetzel, D.
europäischen Zivilgesellschaft, in: Kohler-Koch,        (2010): Informationslieferanten. Vom großen Nutzen
Beate/Quittkat, Christine (Hrsg.) (2011): Die           der Lobbyisten für die Demokratie, 28.09.2010,
Entzauberung partizipativer Demokratie, Zur Rolle der   https://www.welt.de/politik/deutschland/article99346
Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-      10/Vom-grossen-Nutzen-der-Lobbyisten-fuer-die-
Governance. Frankfurt am Main, S. 48–73, hier S. 48.    Demokratie.html (letzter Zugriff 02.11.2016).

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                               Seite 1/29
EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189                                                             5. Februar 2019
in der Hand von Lobbyisten. Sie sehen dies             Bundesregierung, verzeichnet auf 134 Seiten
als die größte Gefahr für eben jene                    den Begriff Zivilgesellschaft 25 mal. Wer die
Demokratie an. Je mehr Legitimität für die EU          Textstellen auf den Begriffsinhalt analysiert,
ersehnt oder in Frage gestellt wird, desto             kann leicht den Eindruck erhalten, derselbe
stärker scheinen Begriffe wie Zivilgesellschaft        Begriff beschreibt ganz unterschiedliche
und Lobbyismus in den Diskurs zu geraten.              Sachverhalte und Akteure. Ein Blick selbst in
Bemüht man sich hingegen um eine klare                 das Grundgesetz hilft nicht. Zivilgesellschaft
Definition, erschlägt die Fülle der                    gehört keineswegs zum
Interpretationen. Dies liegt an den                    bundesrepublikanischen Grundvokabular.
unterschiedlichen politischen                          Der Koalitionsvertrag wiederum schlägt den
Grundbedingungen in den 28 EU-                         Bogen zurück zur EU: „Die Herausbildung
Mitgliedstaaten und im engeren politischen             einer europäischen Zivilgesellschaft ist eine
System Europäische Union. Die EU                       essentielle Voraussetzung für eine lebendige
konstituiert sich nicht nur aus ihren                  europäische Demokratie.“3 Gleichzeitig
Mitgliedern, sondern hat auch ein eigenes              kennen der erst 2009 in Kraft getretene
supranationales Rechtsregime mit                       „Vertrag über die Europäische Union“ und der
entsprechenden Institutionen geschaffen.               „Vertrag über die Arbeitsweise der
Um die Begriffsklärung noch komplizierter zu           Europäischen Union“ sehr wohl den Begriff
machen, führen Übersetzungen und vor                   Zivilgesellschaft.4
allem Rückübersetzungen zu noch größerer               In keinem der eben genannten Dokumente
Konfusion. Als Beispiel mag hier die ohne              wird von Lobbyismus gesprochen. Ganz
Aufhebens viel genutzte Internet-                      anders steht es um den öffentlichen Diskurs.
Enzyklopädie Wikipedia dienen, deren                   „Schluss mit Lobbyimus!“5, „Lobby-Republik“6
Autoren bei Begriffen wie Bürgergesellschaft,          und „Lobbyplanet“7 sind nur einige Beispiele,
Interessenvertretung, Zivilgesellschaft oder           die einen schlechten Ruf bescheinigen.
Lobbyismus wiederholt zu Begriffsklärungen
aufrufen.                                              Diese Darstellung versucht, gängige
Die Wissenschaft tut sich gleichfalls schwer.          Demokratie- und europawissenschaftliche
Soziologen, Politologen, Volkswirtschaftler            Großtheorien sowie Theorien mittlerer
und auch Juristen suchen zu klären, welche             Reichweite auf Wirkungen in den Vor- und
Kräfte in der intermediären Sphäre der EU              Zwischenräumen des politischen EU-Systems
wirken. Wenn hier politikwissenschaftliche             zu untersuchen. In einem ersten Schritt wird
Antworten im Vordergrund stehen, so                    dieser intermediäre Raum auf Akteure und
werden auch Nachbarwissenschaften                      Organisationsformen hin analysiert. Im Lichte
einbezogen. Sehr komplexe formale Theorien             von Theorie und Akteuren werden gängige
und Netzwerktheorien können freilich nur               und mögliche Interpretationen von
eingeschränkt hinzugezogen werden.                     Zivilgesellschaft und Lobbyismus dargestellt.
Der inflationäre und unreflektierte Gebrauch           Der langläufige und strategische (Nicht-
der Begriffe Zivilgesellschaft und Lobbyismus          )Gebrauch der Begriffe schließt dann mit
ist auch ein deutsches Phänomen. Der aktuell           einer normativen Vorstellung einer
gültige Koalitionsvertrag der                          demokratischen europäischen Gesellschaft

3                                                      5
  CDU, CSU, SPD (2013): Deutschlands Zukunft             Pohl, Ines (Hrsg.) (2012): Schluss mit Lobbyismus! 50
gestalten. Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und      einfache Fragen, auf die es nur eine Antwort gibt.
SPD. 18. Legislaturperiode, 14.12.2013, S. 109,        Frankfurt am Main.
                                                       6
http://www.cdu.de/artikel/der-koalitionsvertrag-von-     Tillack, Hans-Martin (2015): Die Lobby-Republik. Wer
cdu-csu-und-spd (letzter Zugriff 27.12.2013).          in Deutschland die Strippen zieht. München: Hanser
4
  Königreich Belgien et. al (2016): Konsolidierte      Berlin.
                                                       7
Fassungen des Vertrags über die Europäische Union        LobbyControl (Hrsg.) (2015): LobbyPlanet Berlin. Der
und des Vertrags über die Arbeitsweise der             Reiseführer durch den Lobbydschungel. 4. Auflage.
Europäischen Union. ABl. C 202 vom 07.06.2016.         Köln.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                Seite 2/29
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ab. Der Versuch einer Begriffs-                            muss,10 betrifft vor allem den intermediären
Gebrauchsanweisung schließt die Arbeit.                    Bereich.
Bewusst wird hier eine deutsche Perspektive
eingenommen. Eine Ausweitung auf andere
Sprachen und Traditionen würde diese
                                                           Demokratietheoretische
Darstellung sprengen.                                      Ansätze
Der intermediäre Bereich                                   Demokratie kann in empirischen, normativen
                                                           und formalen Theorien erfasst werden.
in der Europapolitik                                       Während die Empirie die Ergebnisse
                                                           vorhandener demokratischer Prozesse
Zivilgesellschaft und Lobbyismus sind                      beleuchtet, zielen die normativen
Begriffe, die nicht nur im öffentlichen                    Erklärungsansätze auf die für Demokratie
Diskurs, sondern auch in der Wissenschaft                  besten Organisationsprinzipien. Formale
dem intermediären Bereich zwischen Bürger                  Erklärungsansätze von
und Staat zugeordnet werden. Die Interaktion               Entscheidungsprozessen beschreiben eine
zwischen diesen beiden Polen verläuft                      dritte Theorie.11
selbstverständlich nicht einheitlich und                   Empirisch erhobene Demokratietheorien
umfasst neben Parteien zumal im deutschen                  konzentrieren sich auf Voraussetzung, Form,
Diskurs auch Verbände. Sie agieren im                      Umsetzung und Gefahrenpotentiale für
gegenseitigen Wettbewerb mit dem Staat                     Demokratie. Ein wichtiger
und dem Bürger. Sie streben nach                           Untersuchungsschwerpunkt ist die
Mehrheiten und Einfluss. Der intermediäre                  Einschätzung, inwiefern innerhalb einer
Bereich wird mithin als ein wichtiger                      entwickelten politischen Kultur noch ein
Gradmesser für Demokratie in einer                         Wettbewerb besteht, der Machtressourcen
staatlichen Demokratie gewertet. Eine                      zwischen Wirtschaft und Gesellschaft gerecht
besondere Herausforderung bildet er im                     verteilen kann. Ein Ergebnis ist, dass Systeme
politischen System der Europäischen Union,                 mit starkem Mehrheitsprinzip, wie
der eine zusätzliche Dimension der                         Zweiparteiensysteme oder Präsidentialismus,
Interaktion zwischen den Ebenen eröffnet.                  Konsensmodellen mit einem hohen Maß an
Wenn in dieser Darstellung vom                             Verhandlungsdemokratie keinesfalls
intermediären Bereich gesprochen wird, so                  überlegen sind.12 In auf Repräsentativität
werden Parteien bewusst ausgespart,8 denn                  aufgebauten Systemen stehe das Vermeiden
ihre von den meisten demokratischen                        von Konflikten im Vordergrund,13 was zu
Verfassungen zugesprochene Rolle ist für                   Pfadabhängigkeiten führe und Misstrauen
den Staat konstituierend.9                                 gegen die etablierten Akteure hervorrufe.
Das von Giovanni Sartori beschriebene                      Empirische Untersuchungen verweisen in der
Paradoxon, nach dem Demokratie zwar auf                    positiven Lesart darauf, dass immer neu sich
Kompliziertheit angelegt ist, aber gleichzeitig            selbst aushandelnde Demokratien über eine
für den Bürger noch übersetzbar bleiben                    längere Lebenszeit verfügen als

8                                                          11
  Schendelen, Rinus van (2014): Politische Parteien           Buchstein, Hubertus (2013): Moderne
und Interessengruppen auf der nationalen Ebene und         Demokratietheorien, in: Schmidt, Manfred G./Wolf,
in der EU: umgekehrte demokratische Verhältnisse?,         Frieder/Wurster, Stefan (Hrsg.) (2013): Studienbuch
in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 3/2014, S.   Politikwissenschaft. Wiesbaden, S. 103–130.
                                                           12
669–692, hier S. 673.                                         Lijphart, Arend (2008): Thinking about democracy.
9
  Parteien können sich allerdings der Methodik von         Power sharing and majority rule in theory and
Interessengruppen bedienen.                                practice. London: Routledge.
10                                                         13
   Sartori, Giovanni (1997): Demokratietheorie.               Fenichel Pitkin, Hanna (1967): The concept of
Darmstadt: WBG, S. 23.                                     representation. Berkeley, Calif., S. 209.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                   Seite 3/29
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autokratische Systeme. Die pessimistische                die Spieltheorie. Das rationale Agieren wird
Sichtweise, etwa der „Post-Demokratie“, sieht            durch Abwägung dienlicher Mittel in einem
durch die Zersplitterung der Akteure auch                möglichst breiten Informationsmanagement
auf internationaler Ebene, dass sich                     erreicht. Mit der Tauschtheorie wird ein
klassische repräsentative und vor allem                  ähnlich rationaler Ansatz verfolgt. In einem
nationale Modelle nicht mehr auf die                     Vertrag zwischen den Tauschpartnern
vielfältigen Herausforderungen einstellen                „Interessensakteure“ und
können.14                                                „Entscheidungsträger“ werden die jeweiligen
Dem gegenüber lösen sich die formalen                    Interessen in einem Kompromiss abgewogen.
Demokratietheorien vom üblichen                          In einer Variante werden in diesen „Handel“
Beschreibungsmuster klassischer                          neben Interessengruppen, Parteien und
Demokratiesysteme. Sie betonen die                       Administration sogar Gerichte einbezogen,
rationalen Zusammenhänge zwischen                        die sich zwar in einem Regelwerk bewegen,
Akteuren und Systemen. Zwei Spielarten                   aber dennoch rational agieren.18
lassen sich hier unterscheiden: die Theorie              Eine rationale Herangehensweise bietet auch
der rationalen Entscheidung („rational                   der Soziologe Niklas Luhmann. Für ihn ist bei
choice“) und die „Systemtheorie“. Wichtige               seiner Betrachtung sozialer Systeme die
Vertreter formaler Demokratietheorien sind               Kommunikation entscheidend. Durch
Mancur Olson (1932-1998) und Niklas                      „Autopoiesis“ erschaffe und reproduziere sich
Luhmann (1927-1998).                                     ein System quasi wie ein natürlicher
Der Wirtschaftsökonom Olson widerlegte in                Organismus selbst. Innerhalb eines
seiner „Logik des kollektiven Handels“ einen             demokratischen Systems gebe es zwar Macht
automatisch ausgleichenden                               und Ohnmacht als natürlichen „politischen
(„countervailing“) Wettbewerb, wie er durch              Code“19, doch zeichne sich eine Demokratie
Pluralismus im Wechselspiel von Akteuren                 durch die „Spaltung der Spitze des
vermutet werde.15 Anstelle dessen träten in              ausdifferenzierten politischen Systems durch
einer „rent-seeking society“ sogenannte                  die Unterscheidung von Regierung und
„closed shops“ auf, die nur noch auf                     Opposition“20 aus, die während der gesamten
Maximierung eigener Interessen ausgerichtet              Kommunikation im demokratischen System
seien.16 Das relativ rücksichtslose                      aber an seiner Spitze Alternativen produziert.
Eigeninteresse mit negativen Auswirkungen                Konsequenterweise ist für Luhmann ein
auf das, obwohl selbst gewünschte,                       Mangel an Opposition gleichbedeutend mit
Allgemeinwohl von Gruppen werde auch von                 Demokratiemangel und Diktatur.21
politischen und administrativen Eliten                   Demgegenüber stehen normative
betrieben.17                                             Demokratietheorien im Spannungsverhältnis
Ein ebenso auf Strategie rationaler                      zu den empirischen und formalen Ansätzen.
Entscheidungen angelegtes Verhalten bietet               Normative Theorien stehen im Ruf,

14
   Vgl. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. 1. Aufl.   der Macht, in: Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hrsg.)
Frankfurt am Main: Suhrkamp.                             (2006): Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland.
15
   Olson, Mancur (2004):Die Logik des kollektiven        Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 7–21.
                                                         18
Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der                Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU.
Gruppen. (Die Einheit der                                (Europa kompakt). 1. Aufl. Stuttgart: UTB GmbH, S.
Gesellschaftswissenschaften, Bd. 10). 5. Aufl.           39f.
                                                         19
Tübingen: Mohr Siebeck.                                     Buchstein, Hubertus (2013): Moderne
16
   Olson, Mancur (1991): Aufstieg und Niedergang von     Demokratietheorien. a.a.O., S. 115.
                                                         20
Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und            Luhmann, Niklas (1986): Die Zukunft der
soziale Starrheit. (Die Einheit der                      Demokratie. In: Eine Veranstaltung der Akademie der
Gesellschaftswissenschaften, Bd. 42). 2. Aufl.           Künste Berlin, Zweite Folge: Der Traum der Vernunft,
Tübingen: Mohr Siebeck.                                  vom Elend der Aufklärung. Berlin, S. 207–217.
17                                                       21
   Leif, Thomas/Speth, Rudolf (2006): Anatomie des          Buchstein, Hubertus (2013): Moderne
Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre         Demokratietheorien, a.a.O., S. 114.

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EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189                                                               5. Februar 2019
expansionistisch politisch nach „mehr                      gewisse künstliche Trennung hingewiesen,
Demokratie“ zu rufen und damit                             denn was „Demokratie ist, läßt sich nicht
„unwissenschaftlich“ zu sein.                              davon trennen, was Demokratie sein sollte.“25
Normative Vorstellungen für den                            Die der politischen Ökonomie zuzuordnende
Anwendungsbereich reichen vielfach über                    Theorie der rationalen Entscheidung trifft in der
den rein staatlichen Geltungsbereich hinaus                Soziologie und in der Politikwissenschaft auf
und fordern mitunter Partizipation in allen                eher verhaltene Zustimmung. Sie hat aber
gesellschaftlichen Bereichen. Eine Form                    auf deliberative Demokratievorstellungen
betont die größtmögliche direkte und                       insofern Einfluss genommen, als
indirekte Beteiligung von Bürgern durch                    kommunikative und effizienzorientierte
partizipative Demokratie. Demokratische                    Vorstellungen Verhandlungsdemokratie und
Beteiligung betrifft mithin nur                            partizipative Demokratieansätze zunehmend
unterschiedliche Spielarten der                            verdrängen.
Bürgerbeteiligung. Selbst in autoritären                   Vorstellungen von Demokratie lassen sich in
Machtvorstellungen sind plebiszitäre                       ein Input- bzw. Output-Raster übertragen.26
Beteiligungsformen attraktiv, um die eigene                Input-Vorstellungen eines offenen Systems,
Handlung zu legitimieren.22                                in dem über direkte Kanäle repräsentativ
Demokratie wird zu einer                                   aber auch pluralistisch demokratische
gesamtgesellschaftlichen Aufgabe im                        Entscheidungswege gestärkt werden. Output-
intermediären Bereich, von Vereinen über                   Vorstellungen verlangen von gesetzgebenden
Hochschulen und Verbände bis hin zu                        Institutionen demokratische Legitimität,
wirtschaftlichen Einheiten. Die maßgeblich                 Rechtstaatlichkeit und Rechenschaftspflicht.
durch Jürgen Habermas beschriebene                         Das im Wettbewerb stehende Ausverhandeln
deliberative Demokratietheorie geht davon aus,             und partizipative Demokratievorstellungen
dass durch Kommunikation                                   werden von Verfechtern von deliberativer
Entscheidungsprozesse im Sinne des                         Demokratiemodelle zunehmend als Last
Gemeinwohls verändert werden können. Sie                   empfunden.27 Kehrseite dieser auf Output
wird zum Teil der partizipativen Demokratie                angelegten Vorstellung ist, dass sie
zugerechnet.23 Im intermediären Raum, den                  tatsächlich und auch in Krisenzeiten liefern
er als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet, treffen             muss, damit bei ausbleibender Leistung nicht
„mehr oder weniger spontan entstandene                     das gesamte demokratische System in Frage
Vereinigungen, Organisationen und                          gestellt wird.
Bewegungen zusammen, welche die
Resonanz, die die gesellschaftlichen
Problemlagen in den privaten
                                                           Europawissenschaftliche
Lebensbereichen finden, aufnehmen,                         Theorien
kondensieren und lautverstärkend an die
politische Öffentlichkeit weiterleiten“.24                 Zeigen schon auf nationaler Ebene
Beim Verhältnis von empirischer und                        Demokratievorstellungen eine große Vielfalt,
normativer Demokratietheorie wird auf eine                 so gilt dies auch für das System der

22
   Vgl. Schmitt, Carl (1928): Verfassungslehre. 6. Aufl.   demokratischen Rechtsstaats. 4. Aufl. Frankfurt am
Berlin, S. 243ff.                                          Main: Suhrkamp, S. 443.
23                                                         25
   Fuchs, Dieter (2004): Modelle der Demokratie:              Sartori, Giovanni (1997): Demokratietheorie.
Partizipatorische, Liberale und Elektronische              Darmstadt: WBG S. 16f.
                                                           26
Demokratie, in: Kaiser, André/Zittel, Thomas (Hrsg.)          Vgl. Schendelen, Rinus van (2013): The Art of
(2004): Demokratietheorie und                              Lobbying the EU. More Machiavelli in Brussels. S.
Demokratieentwicklung. Festschrift für Peter Graf          327ff.
                                                           27
Kielmansegg, Wiesbaden, S. 19–54.                             Buchstein, Hubertus (2013): Moderne
24
   Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung.        Demokratietheorien, a.a.O., S. 120.
Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                  Seite 5/29
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Europäischen Union. Die europäische                       sondern gesellschaftliche, politische
Integration unterliegt einer Dynamik, die                 und/oder wirtschaftliche Akteure.
nicht nur in der Politik, sondern auch in ihrer           Das neofunktionalistische Politikverständnis
Verfasstheit ein immer breiter und dichter                ist aber auch von einer „grundlegenden
werdendes Beziehungsgeflecht aufweist,                    Skepsis gegenüber dem konstruktiven
trotz früherer und aktueller Rückschritte.                Potential der Öffentlichkeit“ 31 geprägt.
Europawissenschaftliche Theorien suchen                   Nicht weit vom Neo-Funktionalismus entfernt
diese Integrationsdynamik, weniger eine                   wird eine rationalistische Version des
mögliche Finalität, zu erklären.28 Eher selten            Neoinstitutionalismus diskutiert, die in der
und in sehr unterschiedlicher Ausformung                  internationalen Politik nicht nur Staaten,
erklären sie auch die Rolle von                           sondern auch gesellschaftlichen Gruppen
interessengeleiteter Einflussnahme auf                    eine sich gegenseitig bedingende Rolle
staatliches und institutionelles Handeln.29               zuweist. Sie geht davon aus, dass sich
Der maßgeblich von Ernst Haas30 begründete                Akteure an vorliegenden institutionellen
Neo-Funktionalismus orientierte sich am                   Begebenheiten orientieren.32
Zusammenwirken von nationalen und                         Gerade in Fragen des Beitrags von
europäischen Akteuren in Sachfragen. In                   Interessengruppen steht der
Sektoren fand eine so tiefgehende                         Intergouvernementalismus im Gegensatz zum
Integration statt, dass ein „Überschwappen“,              Neo-Funktionalismus. Der vor allem von
etwa von Wirtschaftspolitik auf Umweltpolitik             Stanley Hoffmann33 (1928-2015) begründete
entstand. Dieser „Spill-Over Effekt“ ist nur              Ansatz lässt nicht nur supranationalen
denkbar durch supranationale Akteure, allen               Institutionen weniger Raum für eigene
voran die Europäische Kommission, aber                    Gestaltungsmacht, sondern
auch europäischen Interessengruppen                       konsequenterweise auch den im Neo-
(„Eurogruppen“). Auf Grund der zunächst auf               Funktionalismus noch gestärkten
wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten                Interessengruppen, zumal auf europäischer
Grundlagen der Europäischen                               Ebene. Auch der von Andrew Moravcsik
Gemeinschaften waren wirtschaftliche                      geprägte Ansatz des liberalen
Interessengruppen naturgemäß im Vorteil.                  Intergouvernementalismus34 lässt den
Der Neo-Funktionalismus bietet den größten                Nationalstaaten den entscheidenden
Raum von nichtstaatlicher Einflussnahme auf               Gestaltungsspielraum.35
den politischen Prozess. Nicht Regierungen                Beiden Theorien ist gemein, dass sie vor
sind der maßgebliche Integrationsmotor,                   allem die europäische Ebene im Fokus
                                                          haben. Beim Neo-Funktionalismus wird die

28                                                        32
   Auf die Darstellung euroföderalistischer                  Vgl. Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU.
Vorstellungen wurde hier deshalb bewusst verzichtet.      (Europa kompakt). S. 37ff.
29                                                        33
   Klüver, Heike/Mahoney, Christine/Opper, Marc              Hoffmann, Stanley (Hrsg.) (1965): Contemporary
(2015): Framing in context. How interest groups           theory in international relations. Englewood Cliffs, N.J.
                                                          34
employ framing to lobby the European Commission,             Vgl. Moravcsik, Andrew (2006): Preferences and
in: Journal of European Public Policy 22/2015, S. 447–    power in the European community. A liberal
461, http://docweb.rz.uni-                                intergovernmentalist approach, in: Debates on
passau.de:3013/doi/pdf/10.1080/13501763.2015.1008         European integration: a reader. Basingstoke,
550?needAccess=true (letzter Zugriff 11.10.2016).         Hampshire [u.a.], S. 264–303.
30                                                        35
   Haas, Ernst B. (1958): The uniting of Europe.             Hüttemann, Bernd (2015a): Das „Schwarze Loch“
Political, social and economical forces 1950 - 1957.      der deutschen Europapolitik - Lobbyismus und
London: Stevens.                                          europapolitische Koordinierung in Deutschland, in:
31
   Neyer, Jürgen (2013): Die europäische Demokratie       Göler, Daniel/Schmid, Alexandra/Zech, Lukas (Hrsg.)
und die deliberative Integrationstheorie, in: Beichelt,   (2015): Europäische Integration: Beiträge zur
Timm/Chołuj, Bożena/Rowe, Gerard C./Wagener,              Europaforschung aus multidimensionaler
Hans-Jürgen (Hrsg.) (2013): Europa-Studien. Eine          Analyseperspektive. Baden-Baden, S. 175–195.
Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 135–147.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                    Seite 6/29
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Bedeutung von Interessengruppen bei der                   war zunächst Robert Ladrech, der
Stärkung der Supranationalität betont. Doch               vornehmlich von der Europäisierung
beide Theorien lassen nur wenig Raum für                  nationaler politischer Systeme ausging, um
Interessengruppen als konstitutiver Teil einer            eine Passgenauigkeit mit den
demokratischen Gesellschaft.                              europapolitischen Rahmenbedingungen zu
Demgegenüber steht der Theorienansatz, der                erreichen.40 Darüber hinaus hat Claudio M.
mit „Multilevel-Governance“ ein in sich                   Radaelli in einem umfassenden Ansatz auch
verschachteltes politisches System                        die Politikformulierung „von unten nach
beschreibt, das die nationale Ebene mit der               oben“ als Europäisierung eingeordnet.41
supranationalen Ebene verbindet. Die                      Dieser Ansatz ist für die intermediäre Politik
Europäische Union wird so zu einem                        insofern wichtig, als sich Akteure im
„Politischen System“36, das mit den gleichen              Mehrebenensystem gegenseitig und in
Problemen des Regierens konfrontiert wird                 verschiedenen Richtungen europäisieren. Die
wie ihre Mitgliedstaaten.37 Wenn nun aber                 so entstehenden vielfältigen Vektoren der
die nationalen Demokratiemodelle mit ihren                Europäisierung nicht nur zwischen
unterschiedlichen Rollen für                              institutionellen Akteuren sind für die
Interessengruppen in ein Mehrebenensystem                 praktische, vielfach unkonventionelle und
einbezogen werden, so entstehen zwischen                  indirekte Einflussnahme durch
sektoreller und territorialer                             Interessengruppen von großer Bedeutung.42
Interessenvertretung weitere Brüche, die zu               Die Großtheorien europäischer
Unübersichtlichkeit führen.                               Integrationsforschung bieten auf Grund ihres
Für Interessengruppen ist dies Chance und                 Prozesscharakters nur eingeschränkt
Herausforderung zugleich. In einem                        Erklärungen für den intermediären Bereich
Mehrebenensystem entstehen Freiräume für                  im politischen System der EU. Immerhin ist
die Einflussnahme. „Institutional isolation“38            der Neo-Funktionalismus offen für die
und Vielstimmigkeit verlangen danach, dass                Bedeutung sektorieller Einflussnahme.
die Polity des Systems in einen klaren                    Weiterhin besteht auf Grund der
demokratischen institutionellen Rahmen                    unterschiedlich vertieften Integration eine
überführt wird.39                                         starke territoriale Einflussnahme,
Einen weiteren Ansatz bildet die Theorie der              vornehmlich durch die Mitgliedstaaten.
Europäisierung. Mit ihr wird die Anpassung                Nationalstaatliche politische Systeme spielen
des nationalen politischen Handelns durch                 im europäisierten Mehrebenensystem weiter
das Entstehen von europäischer Politik und                eine starke Rolle, wenn auch mit großen
europäischen Impulse bezeichnet. Die                      Unterschieden je nach Territorium und
Theorie lässt nicht nur Veränderungen von                 Politiksektor und über die Vektoren der
oben nach unten, sondern auch von unten                   Europäisierung mitunter kaum sichtbar.
nach oben zu. Hauptverfechter der Theorie

36                                                        39
   Hix, Simon/Høyland, Bjørn (2011): The political           Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die
system of the European Union. (The European Union         Europäisierung des politischen Systems. 1. Aufl.
series). 3. Aufl. Basingstoke, Hampshire.                 Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss., S. 331.
37                                                        40
   Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der       Ladrech, Robert (1994): Europeanization of
europäischen Zivilgesellschaft, in: Kohler-Koch,          Domestic Politics and Institutions:. The Case of
Beate/Quittkat, Christine (Hrsg.) (2011): Die             France, in: JCMS: Journal of Common Market Studies
Entzauberung partizipativer Demokratie, Zur Rolle der     32/1994, S. 69–88.
                                                          41
Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-           Radaelli, Claudio Maria (2003): The Europeanization
Governance. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S.          of Public Policy, in: Radaelli, Claudio
48–73, hier S. 64.                                        Maria/Featherstone, Kevin (Hrsg.) (2003): The politics
38
   Greenwood, Justin (2011): Interest representation in   of Europeanization. Oxford, S. 27–56.
                                                          42
the European Union. (The European Union series). 3.          Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying
Aufl. Basingstoke, Hampshire, S. 4.                       the EU. More Machiavelli in Brussels. S. 45ff.

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Theorien mittlerer                                      bewahren. Etatismus wird im
                                                        wissenschaftlichen Diskurs zur intermediären
Reichweite                                              Politik kaum erwähnt. Grundannahme ist
                                                        schließlich, dass es in etatistischen Systemen
Bieten Großtheorien nur beschränkte                     kaum Raum für interessengeleitete
Erklärungsansätze für Interessenvermittlung             Organisationen geben kann. Im europäischen
in der EU, so lohnt es sich, zur Einordung im           Mehrebenensystem hingegen kann es, zumal
politischen System EU auch Theorien                     bei supranationalen Entscheidungswegen,
mittlerer Reichweite einzubeziehen.                     selbst für Interessengruppen in etatistischen
Pluralismus, Korporatismus, Etatismus und               Staaten über die Europäisierung ihrer Arbeit
Politiknetzwerke sind Theorien, die politische          zu Einflussmöglichkeiten kommen.45
Entscheidungsprozesse und Akteure auch im               Mit Pluralismus geht eine gleichberechtigte
Zusammenhang von Eigeninteressen und                    Koexistenz von verschiedenen Auffassungen,
Wertvorstellungen beschreiben und                       Ordnungen, Anschauungen einher. Eine
einordnen können.43 Die meisten Modelle                 neutrale Rolle des Staates ist erst dank der
orientieren sich hier an nationalstaatlichen            Existenz von Interessen und Gegeninteressen
Rahmenbedingungen. Das                                  möglich.46 Ansonsten herrsche eine
Mehrebenensystem EU muss aber nicht nur                 „Despotie der Mehrheit“ im Sinne von
wegen der weiter bestehenden Bedeutung                  Tocqueville. Dabei ist auch die nur
nationalstaatlicher politischer Systeme                 kurzfristige Verfolgung von Eigeninteressen
Theorien zur Einordnung des intermediären               Teil des Systems. Als Ernst Fraenkel 196447
Bereiches einbeziehen.                                  das bundesrepublikanische System in
Diejenige politische Vorstellung, die dem               Deutschland beschrieb, stand er unter dem
Staat in einem Gemeinwesen sowohl                       Eindruck der US-amerikanischen Spielart des
wirtschaftlich, als auch sozial eine                    Pluralismus mit Rückgriffen auf Tocqueville.
überragende Rolle einräumt, ist der                     Im Gegensatz zum etatistischen Modell
Etatismus. Das nationale Interesse wird                 kommen nicht-territoriale gesellschaftliche
vornehmlich von staatlichen Akteuren                    Interessen in den Entscheidungsprozessen
geprägt und in den Mittelpunkt gestellt.44              zum Tragen.48 Der Staat nimmt – analog zur
Normative Demokratievorstellungen können                Sozialen Marktwirtschaft oder zum
eine Rolle spielen, müssen es aber nicht.               Ordoliberalismus in der Wirtschaftstheorie –
Partizipative und repräsentative Demokratie             eine den freien Wettbewerb wahrende Rolle
sind mit dem Etatismus vereinbar, wenn sich             ein. Es müssen auch beim Pluralismus
dadurch die Mehrheitsmeinung                            Verfahrensregeln gelten, die eine
widerspiegelt. Föderale Systeme sind                    demokratische Rolle ermöglichen.49 Fehlen
insofern leicht mit dem Etatismus vereinbar,            diese demokratisch legitimierten Verfahren
als sie die territoriale Interessenartikulation         oder sind sie nicht effizient genug, gerät der

43                                                      46
   Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (2005):               Truman, David B. (1955): The governmental process.
Interessenpolitik im europäischen                       New York: Alfred A. Knopf (Borzoi Books in Political
Mehrebenensystem, in: Eising, Rainer/Kohler-Koch,       Science).
                                                        47
Beate (Hrsg.) (2005): Interessenpolitik in Europa.         Fraenkel, Ernst (1964): Deutschland und die
Baden-Baden: Nomos, S. 11–78.                           westlichen Demokratien. (Politische Paperbacks).
44
   Ebd., S. 41.                                         Stuttgart: Kohlhammer (Geschichte und Gegenwart).
45                                                      48
   Klüver, Heike/Braun, Caelesta/Beyers, Jan (2015):       Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die
Legislative lobbying in context: towards a conceptual   Europäisierung des politischen Systems. Wiesbaden:
framework of interest group lobbying in the European    VS Verl. für Sozialwissenschaften, S.169
                                                        49
Union, in: Journal of European Public Policy 22/2015,      Leif, Thomas/Speth, Rudolf (2006): Anatomie des
S. 447–461, hier S. 455.                                Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre
                                                        der Macht. Wiesbaden: VS Verl. für
                                                        Sozialwissenschaften, S. 7-21.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                               Seite 8/29
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Pluralismus automatisch in die Kritik. Die                Demokratietheorie von Olson. Korporatismus
demokratisch legitimierte Rolle des Staates               führt so gesehen zu „closed shops“.
werde durch ein Ungleichgewicht bei der                   Politiknetzwerke werden als weitere Theorie
Einflussnahme in Gefahr gebracht.50 Die                   mit mittlerer Reichweite genannt, aber sind in
Generalkritik an der Pluralismusthese                     ihrer Vielfalt zugleich umstritten.52 Im
erwächst in der „Logik des kollektiven                    Vordergrund für den Netzwerkansatz steht
Handelns“, das auch den behaupteten                       eine umfassende Methodik zur Messung von
Demokratiegewinn verneint.                                Einflussnahmen im Politikprozess.53 Für die
Als Spielart der Theorie der rationalen                   interessengeleitete Einflussnahme im
Entscheidung hat die Logik des rationalen                 Politischen System der EU besonders
Handelns dem Pluralismus vorgeworfen, dass                interessant sind die informellen
gerade diejenigen Organisationen, die das                 Handlungsarenen unterschiedlichster
Allgemeinwohl propagieren, Leidtragende                   staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und
eines Trittbrettfahrersystems sind: Akteure               sozialer Akteure, die von pluralistischen und
handeln rational und nicht normativ und                   korporatistischen Erklärungsansätzen nicht
warten lediglich darauf, dass Bürger sich für             erfasst werden können. In der
gemeinsame Ziele einsetzen.                               Politiknetzwerkanalyse wird nicht mehr von
Sieht man von der möglichen Form eines                    Staat und Interessenvertretung gesprochen.
autoritären Korporatismus ab, so beinhaltet               Eine intermediäre Ebene gibt es in
der liberale oder Neo-Korporatismus eine                  Politiknetzwerken nicht mehr. Vielmehr ist
etatistische und pluralistische Note.                     der Staat im Plural genannt. Er wird - zumal
Vorherrschend ist allerdings in dieser Form               im Mehrebenensystem - zum Akteur unter
die Konsensdemokratie. Der Staat und von                  vielen.54
ihm mit-/bestimmte und möglichst                          Vor allem der Erklärungsansatz
repräsentative Vereinigungen bündeln und                  Politiknetzwerke läuft Gefahr, die Bedeutung
filtern Interessen im                                     des Etatismus besonders einfach zu
Entscheidungsfindungsprozess oder gar                     verwischen. Pluralismus und Korporatismus
Gesetzgebungsprozess des Staates.                         werden hierbei ausgehebelt.
Korporatismus in einer Demokratie hat                     Politiknetzwerke, Pluralismus und
durchaus Anleihen an den Ständestaat, der                 Korporatismus werden Zweifeln55 zum Trotz
die sektorelle Interessenvertretung durch                 als theoretischer Analyserahmen für den
Monopole von Interessengruppen organisiert                intermediären Bereich herangezogen. Die
und mehr darstellen kann als nur eine                     Interessengruppenforschung berücksichtigt
Ergänzung zur territorialen                               zunehmend die „Theorie der rationalen
Interessenvertretung. Vertreter des Neo-                  Entscheidung“. Weiterhin werden
Korporatismus sind u.a. Philippe C. Schmitter,            Demokratietheorien als
Gerhard Lehmbruch und Ulrich von                          Handlungserklärungen herangezogen.
Alemann.51 Größte Kritik am Korporatismus
erwächst auch hier in der rationalen

50                                                        53
   Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die        Schneider, Volker/Janning, Frank (Hrsg.) (2009):
Europäisierung des politischen Systems. Wiesbaden:        Politiknetzwerke. Modelle, Anwendungen und
VS Verl. für Sozialwissenschaften, S.167                  Visualisierungen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
51                                                        54
   Alemann, Ulrich von/Heinze, Rolf G. (Hrsg.) (1979):       Bazant, Ursula/Schubert, Klaus (2007): Verbände in
Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum                   Politiknetzwerken, in: Winter, Thomas von/Willems,
Korporatismus; Analysen, Positionen, Dokumente.           Ulrich (Hrsg.) (2007): Interessenverbände in
Opladen.                                                  Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für
52
   Börzel, Tanja (1997): What's So Special About Policy   Sozialwissenschaften, S. 413–438.
                                                          55
Networks? An Exploration of the Concept and Its              Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU.
Usefulness in Studying European Governance, in:           (Europa kompakt). S. 37.
European Integration online Papers (EIoP), 16/1997.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                  Seite 9/29
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Organisationen und                                       gesellschaftliches Potential miteinander
                                                         verbinden.62 Schließlich fand eine
Interessengruppen                                        Renaissance einflusstheoretischer Ansätze
                                                         statt, die unter dem Begriff des „Lobbyismus“
Zumindest in deutscher und englischer                    neue Handlungsstrategien und Akteure im
Sprache wird die Organisation von Interessen             Bereich der funktionalen
wertneutral genutzt.56 Interessengruppen                 Interessenvertretung subsumieren.63
unterscheiden sich zunächst vom                          Im innerstaatlichen Bereich geht man
individuellen Bürger. Interessenverbände                 gemeinhin von öffentlichen und privaten
sind nur eine weitergehende Form von                     Interessen aus.64 Selbstverständlich
Interessengruppen, die meist ihrerseits aus              entstehen rechtlich und politisch sich
Unter- bzw. ihrerseits vernetzten Verbänden              ändernde Grauzonen zwischen diesen
bestehen. Der Begriff Organisation ist Teil der          beiden Polen. Je umfassender ein
Organisationssoziologie57, hat aber auch                 Gemeinwesen strukturiert ist, desto
starke Anleihen an die betriebswirtschaftliche           vielfältiger werden die Formen der
Organisationslehre.                                      Interessenorganisation. Am deutlichsten wird
Interessengruppenforschung ist in                        dies in den Staaten, die einen hohen Grad an
Deutschland vor allem durch den Begriff der              Interdependenz zwischen öffentlicher und
„Verbändeforschung“ geprägt. Nach ersten                 privater Organisationsform aufweisen. In
gruppentheoretischen Ansätzen im frühen                  pluralistischen und korporatistisch
20. Jahrhundert58 sah zunächst die                       organisierten Staaten, oft verstärkt durch
Pluralismus-Forschung in der Nachkriegszeit              Föderalismus, wird dies besonders klar.
Interessengruppen als wichtigen Bestandteil              Organisationen, die staatliche Aufgaben
der liberalen Demokratie, in der die                     übernehmen, aber dennoch, zumindest
Gesellschaft nicht nur individuell, sondern              rechtlich, unabhängig vom Staat agieren, sind
aus Gruppen gebildet wird.59 Der                         hier exemplarisch. Staaten mit starker
Korporatismus hat das ideale pluralistische              Interaktion zwischen öffentlich-rechtlichen
Gesellschaftsmodell dahingehend korrigiert,              und privaten Akteuren bilden Mischsysteme.
dass eine in Teilen „etatistische“ Staats-               Auch öffentlich/private Organisationen
/Interessegruppentrennung durch                          können als Interessengruppen bezeichnet
Mitwirkung von Interessengruppen an                      werden.
staatlichen Entscheidungen relativiert wird.60           Sicherlich im Sinne eines normativen
In den 1990er Jahren haben sich                          Demokratiebegriffes hat sich im öffentlichen
Wissenschaftler zunehmend mit sozialem                   Diskurs eingebürgert, selbst die mit dem
Kapital in einer „assoziativen Demokratie“               öffentlichen Sektor „vermischten“
auseinandergesetzt.61 Vereins- und                       Interessengruppen von Regierungen oder
Stiftungswesen sollte ökonomisches und                   Staatlichkeit zu trennen. An

56                                                       61
   Anders etwa der französische Begriff „groupe             Zimmer, Annette (1996): Vereine - Basiselement der
d'intérêt“, der gleichbedeutend mit Lobbygruppe          Demokratie. Eine Analyse aus der Dritte-Sektor-
aufgefasst wird.                                         Perspektive. (Grundwissen Politik, 16). Opladen.
57                                                       62
   Endruweit, Günter (2004): Organisationssoziologie.       Anheier, Helmut K. (Hrsg.) (1997): Der dritte Sektor
(UTB, 2515). 2. Aufl. Stuttgart.                         in Deutschland. Organisationen zwischen Staat und
58
   Insbesondere Bentley, Arthur (1908): The process of   Markt im gesellschaftlichen Wandel. Berlin 1997.
                                                         63
government : a study of social pressures. Chicago.          Reutter, Werner (2012): Einleitung: Vergleichende
59
   Fraenkel, Ernst (1964): Deutschland und die           Interessengruppen- und Verbändeforschung, in:
westlichen Demokratien. Stuttgart: Kohlhammer            Reutter, Werner (Hrsg.) (2012): Verbände und
(Geschichte und Gegenwart).                              Interessengruppen in den Ländern der Europäischen
60
   Reutter, Werner (1991): Korporatismustheorien:        Union. Wiesbaden: VS Verlag für
Kritik, Vergleich, Perspektiven. (Europäische            Sozialwissenschaften, hier S. 13.
                                                         64
Hochschulschriften. Reihe XXXI). Frankfurt am Main,         Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying
Bern, New York, Paris.                                   the EU. More Machiavelli in Brussels, S. 40ff.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                  Seite 10/29
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„Mittlerorganisationen“ wie Goethe-Institut,          Demokratievorstellung durchgesetzt, dass
Europäischer Bewegung Deutschland,                    Wirtschaftsverbände nicht zu NROs zählen.
Wohlfahrtsverbänden, öffentlich-rechtlichem           Ein durchaus ernstgemeinter Versuch, die
Rundfunk oder Verbraucherschutzverbänden              unterschiedlichen NROs (eigentlich „NSOs“)
wird deutlich, wie stark auch Vereine nicht           auf ihren öffentlichen und privaten Gehalt zu
nur auf Grund der Finanzierung vom                    gliedern, macht die gesamte Bandbreite des
Regierungshandeln abhängig sind. Diese                gemischten Interesses deutlich: GINGO: auf
Mischformen sind im weitesten Sinne im                staatliche Entscheidungen fixierte NRO;
Korporatismus erklärbar und können objektiv           BINGO: NRO mit Wirtschaftsinteressen;
betrachtet sogar zur deliberativen                    BONGO Wirtschaftlich organisierte NGO;
Demokratie gezählt werden.                            GONGO: Regierungsorganisierte NRO;
Verbraucherschutzverbände werden zur                  QUANGO: Quasi NRO
staatlich geförderten Stimme der                      („Mittlerorganisation“).66
Verbraucher bisweilen gegen                           Ein weiterer Begriff kommt in diesem
Regierungshandeln.                                    Zusammenhang auf. Mit Stakeholdern wird
Die umfassendste Definition von                       zunehmend die Gesamtheit von
Interessengruppen ist die Vorstellung, dass           Organisationen beschrieben, die auch solche
auch staatliche Akteure „öffentlichen                 mit einem öffentlichen Auftrag umfassen.
Interessengruppen“ bilden, mit so                     Der deutsche Begriff „Teilhaber“ wird selten
unbestimmten Begriffen wie                            genutzt.67
„Regierungseliten“ oder „Regierungskreisen“           Vertritt man die Auffassung, dass sektorale
beschrieben. Informellen „Staatslobbyisten“           und territoriale Interessenvertretung
wird eine hohe Einflussnahme                          gleichermaßen Teil einer Einflussnahme
zugesprochen.65                                       sind,68 so müsste man alle organisiert
Die wertneutral verständlichen Mischformen            auftretenden Interessen in einer solchen
werden in ihrer Ambivalenz deutlich in der            Matrix zusammenfassen können. Die
Bezeichnung „Nichtregierungsorganisation“             Gruppierung in sektorale (Wirtschafts- und
(NRO), die ursprünglich aus dem englischen            Berufsverbände, Arbeitnehmerinteressen,
„non-governmental organization“ (NGO)                 sonstige bürgerschaftliche Interessen) und
stammt und im eigentlichen Wortsinne mit              territoriale Interessen69 kann nur eine Spalte
„Nichtstaatliche Organisation“ (NSO)                  einer Matrix bilden. Die oben beschriebene
übersetzt werden müsste.                              Aufteilung in öffentlich und privat macht dies
Nichtregierungsorganisationen wurden durch            deutlich. Interessengruppen können im
die Vereinten Nationen gefördert. Die UN-             Mehrebenensystem wechselnde Rollen als
Charta sah 1945 im Art. 71 des Kapitel 10             territoriale und sektorale Interessengruppen
eine konsultative Rolle für Organisationen            übernehmen. Auch der Wechsel von
vor, die weder Regierungen noch Staaten               Gemeinwohl zu Wohlfahrts- und zu
sind. In der Logik der UN zählen auch                 Unternehmensinteressen ist über die
Wirtschaftsverbände zu den NRO. In Europa             Gruppierung hinweg möglich. Zwölf
hat sich hingegen im Sinne einer normativen           „Vektoren der Europäisierung“70 zwischen
                                                      national, europäisch, öffentlich und privat

65                                                    68
   Schendelen, Rinus van (2006): Brüssel: Die            Beichelt, Timm (2015): Deutschland und Europa. Die
Champions League des Lobbying, in: Leif,              Europäisierung des politischen Systems. 2. Aufl.
Thomas/Späth, Lothar (Hrsg.): Die fünfte Gewalt.      Wiesbaden, S. 199.
                                                      69
Lobbyismus in Deutschland. Wiesbaden. S. 132-164.        Greenwood, Justin (2011): Interest representation in
66
   Schendelen, Rinus van (2012): Die Kunst des EU-    the European Union. (The European Union series). S.
Lobbyings. Erfolgreiches Public Affairs Management    4f.
                                                      70
im Labyrinth Brüssels. 1. Aufl. Berlin, S. 24f.          Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying
67
   Die Europäische Kommission übersetzt den Begriff   the EU. More Machiavelli in Brussels. S. 45ff.
mit „Interessenträger“.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                              Seite 11/29
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lassen Interessengruppen im                             den Mitgliedstaaten und bei
Mehrebenensystem je nach Zusammenhang                   Europaabgeordneten vor Ort und in den
in unterschiedlich erscheinen. Je nach                  nationalen Hauptstädten.72
Umgebung passen sie sich dem Chamäleon
gleich der Umgebung an.
Auf rein europäischer Ebene, ohne Bezug
                                                        Zivilgesellschaft
zum nationalen Rahmen, erleichtert derzeit
                                                        Neben der vermehrt rationalen Einordnung
ein Projekt die Einordnung von
                                                        von Interessengruppen in den politischen
Interessengruppen. Eingeordnet werden
                                                        Prozess wird weiterhin der Stärkung der
nicht nur Eurogruppen, von lokalen bis
                                                        Zivilgesellschaft das Wort geredet.
nationalen Interessengruppen ist alles
                                                        Wer im landläufigen Sprachgebrauch den
vertreten. Bei aller Kritik am noch freiwilligen
                                                        Begriff Zivilgesellschaft durch Gesellschaft
„Transparenzregister“ von Europäischer
                                                        ersetzt, könnte versucht sein, auf das Präfix
Kommission und Parlament lassen sich aber
                                                        „Zivil-“ gänzlich verzichten zu wollen. Eine
Rückschlüsse auf den Charakter von
                                                        kurze Begriffsgeschichte soll deshalb den
möglichen Interessengruppen ziehen (mit
                                                        unterschiedlichen Sprachgebrauch im Laufe
Aufteilung der registrierten Organisationen,
                                                        der Zeit anreißen.73
Stand 2. November 2016):71
                                                        In der Athener Polis ist erstmals der
   Beratungsfirmen, Anwaltskanzleien,
     selbständige Berater (1.182)                       Aristoteles (384-322 v. Chr.) zugeschriebene
   In-House-Lobbyisten, Gewerbe-                       Begriff einer „““ (politiké
     /Wirtschaftsverbände,                              koinonia) nachzuweisen, eine weitgefasste
     Gewerkschaften/Berufsverbände (5.260)              Gemeinschaft der politischen
   Nichtregierungsorganisationen,                      Entscheidungsfindung, im Gegensatz zum
     Plattformen und Ähnliches (2.605)                  privaten familiären Haushalt.74
   Denkfabriken, Forschungs- und                       Erst die lateinische Übersetzung in „societas
     Hochschuleinrichtungen (734)                       civilis“, u.a. durch Marcus Tullius Cicero (106-
   Organisationen, die Kirchen und                     43 v. Chr.) führte zum heutige Gebrauch des
     Religionsgemeinschaften vertreten (47)             Begriffes, der sich in den unterschiedlichen
   Organisationen, die lokale, regionale               Sprachen etwa durch society, società, société
     und kommunale Behörden, andere
                                                        fortschrieb. Von einer Zivilgesellschaft im
     öffentliche oder gemischte
                                                        westeuropäischen/nordamerikanischen
     Einrichtungen vertreten (471)
                                                        Sprachgebrauch ist man im Griechischen
Naturgemäß werden nur Interessengruppen                 noch heute weit entfernt. Das Griechische
aufgenommen, die ihre Interessen im                     kennt übrigens keine Rückübersetzung in
Europäischen Parlament und in der                       „Zivilgesellschaft“.75
Europäischen Kommission vertreten. Es fehlt                Die Frühe Neuzeit hat sich vor allem über
die Interessenvertretung beim Rat der EU, bei           Gesellschaftsvertragstheoretiker Thomas

71                                                      74
   Europäische Kommission: Transparenzregister,            Kopp, Johannes/Steinbach, Anja (Hrsg.) (2016):
http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/hom     Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag
ePage.do?locale=de (letzter Zugriff 02.11.2016).        für Sozialwissenschaften.
72                                                      75
   Zur Bedeutung von Interessengurppen in der              Zur Implikation für das krisengeschüttelte
nationalen europapolitischen Koordinierung vgl.         Griechenland Vgl. Hüttemann, Bernd/Sahl, Daniel:
Hüttemann, Bernd (2015): Das „Schwarze Loch“ der        Griechische Transformationstragödie. Von Stolz,
deutschen Europapolitik - Lobbyismus und                Sündenböcken und technokratischer Blindheit,
europapolitische Koordinierung in Deutschland. S.       16.03.2013, http://b-b-
175-195.                                                e.de/themen/europa1/einzelmeldung/20253-bernd-
73
   Einen von vielen Überblicken bietet Klein, Ansgar    huettemann-daniel-sahl-griechische-
(2001): Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Wiesbaden.   transformationstragoedie-von-stolz-suendenboecken-
                                                        und-technokratischer-blindheit/2/ (letzter Zugriff
                                                        07.10.2014).

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                             Seite 12/29
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Hobbes (1588-1667) des Begriffs der                      Eine weitere Dimension des Diskurses
„societas civilis“ wieder angenommen,                    eröffnete Alexis de Tocqueville (1805-1849),
nachdem das Mittelalter wenig Anlass für                 der vielfach als eigentlicher Vater des
Bezüge zum antiken Ursprung bot. Eine                    modernen Verständnisses von
Interpretation ist, dass Hobbes im vom
                                                         Zivilgesellschaft gilt. Für ihn stand ein
Bürgerkrieg geschüttelten England durchaus
                                                         Vereinswesen im Vordergrund.77 Die selbst
von einer im heutigen landläufigen Sinne
„zivilen“, also nicht militärischen Gesellschaft         bestimmte vielfältige Selbstorganisation und
sprach. Aber das eigentlich „Zivile“ findet hier         damit Interessenvertretung des ansonsten
in der Privatheit statt, die im Leviathan die            lediglich Handel treibenden Bürgers
Einheit eines absoluten Fürsten mit den                  gegenüber dem Staat steht im Zentrum
gesellschaftlichen Gliedern eingeht. Eine                seines pluralistischen Demokratiemodells.
Trennung zwischen Zivilgesellschaft und                  Seine Vorstellung einer „Assoziativen
Staat findet analog zur Antike nicht statt. Erst         Demokratie“ ist seither Gegenstand
John Locke (1632–1704) begründet eine                    sozialwissenschaftlicher Reflexion.78
Dualität zwischen bürgerlicher Gesellschaft
                                                         Für den marxistische Theoretiker Antonio
und Staat.76
                                                         Gramsci (1891-1937) war Zivilgesellschaft
   Im Übergang zwischen Barock und
                                                         eine der Voraussetzungen, dass im Westen
Aufklärung lässt sich beobachten, dass die
societas civilis als Begriff weiterhin auf die           Europas der Sozialismus keine sozialistischen
römische Antike zurückgreift, ohne genaue                Umwälzungen hervorrufen konnte wie in
Abgrenzungen vorzunehmen, was sie denn                   Ländern ohne ausgewiesenes Vereinswesen.
nun wirklich erfasst. Vor allem aber mit Jean            Zivilgesellschaft im Gramscischen Sinne
Jacques Rousseau (1712-1778) wird Staat und              konnte durchaus den bürgerlichen
Gesellschaft stark vom Gegensatz der volonté             autoritären Staat stützen. Bei Gramsci muss
générale und der volonté particulière                    Demokratie nicht automatisch mit
beeinflusst. Für Rousseau steht der einzelne             Zivilgesellschaft in Verbindung stehen.
„von Natur aus gute“ Bürger, der „Citoyen“,
                                                         Überhaupt hat das 20. Jahrhundert den
im Zentrum einer neuen
                                                         Begriff der Zivilgesellschaft selten genutzt.
Gesellschaftsordnung, die anders als bei
Hobbes das Volk zum Souverän macht. Für                  Dies liegt weniger an den autoritären und
den Begriff der Zivilgesellschaft bedeutet dies          zunehmend totalitären Staatsmodellen.
eine erste Abgrenzung zwischen Staatlichkeit             Vielmehr haben die parlamentarischen
und Bürgerwillen.                                        Demokratien mit einem ausgesprochen
   Im Zuge der Industrialisierung stellte sich           korporatistisch-pluralistischen
eine andere Frage, nämlich die, wie sich die             Gesellschaftsmodell die Begrifflichkeit selbst
privat gesteuerte Wirtschaft in die die neue             nicht gebraucht.
Gesellschaftsordnung einfügt und damit                   In der Nachkriegszeit ist es vor allem Jürgen
selbst das staatliche Handeln entscheidend
                                                         Habermas, der in seinen normativen
prägt. Nur in der Rückschau ist es
                                                         Vorstellungen einer deliberativen Demokratie
bemerkenswert, dass ausgerechnet der
                                                         wieder den Begriff einer Zivilgesellschaft
Wirtschaftsphilosoph Adam Smith (1723-
1790) und der Sozialist Karl Marx (1818-1883)            verstärkt nutzt, diesmal aber mit einem
offensichtlich darin übereinstimmten, dass               entscheidenden Unterschied: den Kern der
wirtschaftliche Vereinigungen sehr wohl zur              Zivilgesellschaft bildet nach Habermas – hier
Zivilgesellschaft zu rechnen seien.                      durchaus im Sinne von Tocqueville – ein mehr
                                                         oder weniger spontanes und organisiertes

76                                                       77
  Gellner, Wienand/Glatzmeier, Armin: Die Suche             Tocqueville, Alexis de (1835): De la démocratie en
nach der europäischen Zivilgesellschaft, 29.08.2005,     Amérique. 2. Aufl. Paris.
                                                         78
http://www.bpb.de/apuz/28879/die-suche-nach-der-            Reutter, Werner (Hrsg.) (2012): Verbände und
europaeischen-zivilgesellschaft?p=all (letzter Zugriff   Interessengruppen in den Ländern der Europäischen
23.04.2016).                                             Union. Wiesbaden: VS Verlag für
                                                         Sozialwissenschaften.

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                 Seite 13/29
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Assoziationswesen, das problemlösende                     Modernisierung sozialdemokratischer
Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im              Programmatik, die ausdrücklich
Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten                    zivilgesellschaftlicher Wortwahl
institutionalisiert.79 Für Habermas gilt mithin           manifestierte.83 Bezeichnenderweise kam
ein normatives Demokratiemodell, das aber                 Willy Brandt bei seiner Rede zu „Mehr
allgemeinwohlorientierte                                  Demokratie“ noch ganz ohne den Begriff
„zivilgesellschaftliche Gruppen“ von                      Zivilgesellschaft aus.84 Aber der Begriff
Interessengruppen unterscheidet, die                      machte Schule. Er findet sich mittlerweile
lediglich für die materiellen                             selbst in der Programmatik der CDU, die
Mitgliederinteressen wirken.80 Damit verneint             ausdrücklich zu bürgerschaftlichem
Habermas kategorisch, dass wirtschaftliche                Engagement und zivilgesellschaftlicher
Assoziationen zur Zivilgesellschaft zu zählen             Teilhabe auffordert,85 während sie sich
sind.                                                     vehement gegen partizipative direkte
Eine weitere Renaissance bildeten in den                  Demokratie auf Bundesebene ausspricht. Für
1970er Jahren soziale Bewegungen gegen                    beide Parteien ist aber gleichermaßen
Diktatur, insbesondere in den                             deliberative Demokratie ein Mittel zur
kommunistischen Ländern.81 Mit der                        Stärkung des demokratischen Systems.
abrupten Demokratisierung von ehemaligen                  Nicht erst im Zuge der EU-
Ostblockstaaten nach dem Fall des „Eisernen               Beitrittsverhandlungen ost- und
Vorhangs“ bekam der Begriff einer „zivilen“               mitteleuropäischer Staaten und den damit
demokratischen Gesellschaft einen                         einhergehenden demokratischen
zusätzlichen Motivationsschub und man                     Bestandteilen der „Kopenhagener Kriterien“
begann auch in westlichen Demokratien den                 machte der Zivilgesellschaftsbegriff eine
Begriff Zivilgesellschaft neu zu propagieren.             europäische Karriere. Die Maßnahmen zur
In der Bundesrepublik suchte zumal die                    Förderung von Demokratie in den
Sozialdemokratie ein neues Narrativ. Die                  Beitrittskandidatenländern decken sich bis
durchaus propagandistische Schrift „Die zivile            heute mit Programmen für
[sic!] Bürgergesellschaft“ von Bundeskanzler              „zivilgesellschaftliches Engagement“. Dies
Gerhard Schröder sprach gar davon, dass ein               wird auch bei vielfältigen
„verantwortungsimperialistischer" Staat                   zivilgesellschaftlichen Maßnahmen etwa von
Verantwortung an die Zivilgesellschaft                    Unternehmensstiftungen deutlich, die eine
zurückgeben müsse.82 Der Ansatz war Teil
einer international angelegten

79
   Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung.       Weltwirtschaft, 01.06.2000,
Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des            http://www.tagesspiegel.de/politik/konferenz-
demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main:           modernes-regieren-vierzehn-gegen-die-gefahren-der-
Suhrkamp, S. 443.                                         weltwirtschaft/144968.html (letzter Zugriff
80
   Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der    30.10.2016).
                                                          84
europäischen Zivilgesellschaft. Frankfurt am Main:           Brandt, Willy (1969): Regierungserklärung vor dem
Campus-Verlag, S. 54.                                     Deutschen Bundestag in Bonn am 28.10.1969,
81
   Gosewinkel, Dieter /Kocka, Jürgen (2007): Editor's     http://www.willy-
Preface, in: Trägårdh, Lars (Hrsg.) (2007): State and     brandt.de/fileadmin/brandt/Downloads/Regierungser
civil society in Northern Europe. The Swedish model       klaerung_Willy_Brandt_1969.pdf (letzter Zugriff
reconsidered. (European civil society, 3) New York, NY,   02.02.2017).
                                                          85
xii–xiv.                                                     Vgl. Christdemokratische Union Deutschlands
82
   Schröder, Gerhard (2000): Die zivile                   (2015): Zusammenhalt stärken - Zukunft der
Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer                   Bürgergesellschaft gestalten. Beschluss 28. Parteitag
Neubestimmung der Aufgaben von Staat und                  der CDU Deutschlands, 14.-15.12.2015,
Gesellschaft, in: Frankfurter Hefte/Die neue              https://www.cdu.de/system/tdf/media/images/780x43
Gesellschaft 47/2000, S. 200–207.                         9_artikel_slider/151215-flugblatt-zusammenhalt-
83
   Vgl. Bruns, Tissy (2016): Konferenz "Modernes          staerken.pdf?file=1&type=field_collection_item&id=39
Regieren": Vierzehn gegen die Gefahren der                20 (letzter Zugriff 02.02.2017).

„Ein und dasselbe Chamäleon“                                                                 Seite 14/29
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