"Ein und dasselbe Chamäleon" - Netzwerk EBD
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
„Ein und dasselbe Chamäleon“ Zivilgesellschaft und Lobbyismus im europäischen Mehrebenensystem EU-in-BRIEF | Ausgabe 01-2019 Von Bernd Hüttemann „Zivilgesellschaft“ und „Lobbyismus“ wird landläufig mit gemeinwohlorientierter bzw. interessengeleiteter Einflussnahme auf Gesetzgebung und Politik verbunden. Beide Begriffe werden aber je nach Diskurs unterschiedlich genutzt. Während der Begriff der Zivilgesellschaft zumeist positiv konnotiert ist, wird Lobbyismus oft als demokratiegefährdend beschrieben. Was schon auf rein nationaler Ebene unklar erscheint, führt im Zuge der Europäisierung nationaler Politik und in der Europäischen Union zu einer Verklärung bzw. einem schlechten Image von Europapolitik. Der vorliegende Artikel behandelt ausgehend von der intermediären Sphäre zwischen Staat und Bürgern Träger, Ursprung, Semantik und normativem Gebrauch der Begriffe im deutschen und europäischen Kontext. Vor dem Hintergrund verschiedener demokratietheoretischer wie europawissenschaftlicher Ansätze werden die Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Lobbyismus“ auf pluralistische, korporatistische und etatistische Gesellschaftsmodelle der Mitgliedstaaten und der EU bezogen. Der Autor schlägt im Ergebnis einen sorgsamen Gebrauch der Begriffe „Lobbyismus“ und „Zivilgesellschaft“ vor. Lobbyismus sollte wertneutral genutzt werden und „organisierte Zivilgesellschaft“ auch marktorientierte Gruppen umfassen. „Interessengruppe“ oder „Interessenvertretung“ sind im Zweifel vorzuziehen. „Zivilgesellschaft ist oft in aller Munde, aber was Effizienz, Einflussnahme, Bürgernähe und genau Zivilgesellschaft ist, bleibt oft im Demokratie immer wieder auf der Unklaren.“1 Wunschliste für die EU. Zwei auf den ersten „Politik braucht einen Ansprechpartner in der Blick gegensätzliche Begriffe treten in diesem Gesellschaft. Zusammenhang auf: Zivilgesellschaft und Man kann ja nicht mit jedem Einzelnen reden“2 Lobbyismus. Die Europäische Union wandelt sich Nur über die Einbindung breiter Schichten permanent und ist mit dem und der Zivilgesellschaft, glauben die einen, nationalstaatlichen politischen System noch lässt sich europäische Demokratie immer schwer vergleichbar. Dennoch stehen verwirklichen. Anderen erscheint Brüssel fest 1 2 Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der Müller, Edda zitiert nach Borstel, S.v./Wetzel, D. europäischen Zivilgesellschaft, in: Kohler-Koch, (2010): Informationslieferanten. Vom großen Nutzen Beate/Quittkat, Christine (Hrsg.) (2011): Die der Lobbyisten für die Demokratie, 28.09.2010, Entzauberung partizipativer Demokratie, Zur Rolle der https://www.welt.de/politik/deutschland/article99346 Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU- 10/Vom-grossen-Nutzen-der-Lobbyisten-fuer-die- Governance. Frankfurt am Main, S. 48–73, hier S. 48. Demokratie.html (letzter Zugriff 02.11.2016). „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 1/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
in der Hand von Lobbyisten. Sie sehen dies Bundesregierung, verzeichnet auf 134 Seiten als die größte Gefahr für eben jene den Begriff Zivilgesellschaft 25 mal. Wer die Demokratie an. Je mehr Legitimität für die EU Textstellen auf den Begriffsinhalt analysiert, ersehnt oder in Frage gestellt wird, desto kann leicht den Eindruck erhalten, derselbe stärker scheinen Begriffe wie Zivilgesellschaft Begriff beschreibt ganz unterschiedliche und Lobbyismus in den Diskurs zu geraten. Sachverhalte und Akteure. Ein Blick selbst in Bemüht man sich hingegen um eine klare das Grundgesetz hilft nicht. Zivilgesellschaft Definition, erschlägt die Fülle der gehört keineswegs zum Interpretationen. Dies liegt an den bundesrepublikanischen Grundvokabular. unterschiedlichen politischen Der Koalitionsvertrag wiederum schlägt den Grundbedingungen in den 28 EU- Bogen zurück zur EU: „Die Herausbildung Mitgliedstaaten und im engeren politischen einer europäischen Zivilgesellschaft ist eine System Europäische Union. Die EU essentielle Voraussetzung für eine lebendige konstituiert sich nicht nur aus ihren europäische Demokratie.“3 Gleichzeitig Mitgliedern, sondern hat auch ein eigenes kennen der erst 2009 in Kraft getretene supranationales Rechtsregime mit „Vertrag über die Europäische Union“ und der entsprechenden Institutionen geschaffen. „Vertrag über die Arbeitsweise der Um die Begriffsklärung noch komplizierter zu Europäischen Union“ sehr wohl den Begriff machen, führen Übersetzungen und vor Zivilgesellschaft.4 allem Rückübersetzungen zu noch größerer In keinem der eben genannten Dokumente Konfusion. Als Beispiel mag hier die ohne wird von Lobbyismus gesprochen. Ganz Aufhebens viel genutzte Internet- anders steht es um den öffentlichen Diskurs. Enzyklopädie Wikipedia dienen, deren „Schluss mit Lobbyimus!“5, „Lobby-Republik“6 Autoren bei Begriffen wie Bürgergesellschaft, und „Lobbyplanet“7 sind nur einige Beispiele, Interessenvertretung, Zivilgesellschaft oder die einen schlechten Ruf bescheinigen. Lobbyismus wiederholt zu Begriffsklärungen aufrufen. Diese Darstellung versucht, gängige Die Wissenschaft tut sich gleichfalls schwer. Demokratie- und europawissenschaftliche Soziologen, Politologen, Volkswirtschaftler Großtheorien sowie Theorien mittlerer und auch Juristen suchen zu klären, welche Reichweite auf Wirkungen in den Vor- und Kräfte in der intermediären Sphäre der EU Zwischenräumen des politischen EU-Systems wirken. Wenn hier politikwissenschaftliche zu untersuchen. In einem ersten Schritt wird Antworten im Vordergrund stehen, so dieser intermediäre Raum auf Akteure und werden auch Nachbarwissenschaften Organisationsformen hin analysiert. Im Lichte einbezogen. Sehr komplexe formale Theorien von Theorie und Akteuren werden gängige und Netzwerktheorien können freilich nur und mögliche Interpretationen von eingeschränkt hinzugezogen werden. Zivilgesellschaft und Lobbyismus dargestellt. Der inflationäre und unreflektierte Gebrauch Der langläufige und strategische (Nicht- der Begriffe Zivilgesellschaft und Lobbyismus )Gebrauch der Begriffe schließt dann mit ist auch ein deutsches Phänomen. Der aktuell einer normativen Vorstellung einer gültige Koalitionsvertrag der demokratischen europäischen Gesellschaft 3 5 CDU, CSU, SPD (2013): Deutschlands Zukunft Pohl, Ines (Hrsg.) (2012): Schluss mit Lobbyismus! 50 gestalten. Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und einfache Fragen, auf die es nur eine Antwort gibt. SPD. 18. Legislaturperiode, 14.12.2013, S. 109, Frankfurt am Main. 6 http://www.cdu.de/artikel/der-koalitionsvertrag-von- Tillack, Hans-Martin (2015): Die Lobby-Republik. Wer cdu-csu-und-spd (letzter Zugriff 27.12.2013). in Deutschland die Strippen zieht. München: Hanser 4 Königreich Belgien et. al (2016): Konsolidierte Berlin. 7 Fassungen des Vertrags über die Europäische Union LobbyControl (Hrsg.) (2015): LobbyPlanet Berlin. Der und des Vertrags über die Arbeitsweise der Reiseführer durch den Lobbydschungel. 4. Auflage. Europäischen Union. ABl. C 202 vom 07.06.2016. Köln. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 2/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
ab. Der Versuch einer Begriffs- muss,10 betrifft vor allem den intermediären Gebrauchsanweisung schließt die Arbeit. Bereich. Bewusst wird hier eine deutsche Perspektive eingenommen. Eine Ausweitung auf andere Sprachen und Traditionen würde diese Demokratietheoretische Darstellung sprengen. Ansätze Der intermediäre Bereich Demokratie kann in empirischen, normativen und formalen Theorien erfasst werden. in der Europapolitik Während die Empirie die Ergebnisse vorhandener demokratischer Prozesse Zivilgesellschaft und Lobbyismus sind beleuchtet, zielen die normativen Begriffe, die nicht nur im öffentlichen Erklärungsansätze auf die für Demokratie Diskurs, sondern auch in der Wissenschaft besten Organisationsprinzipien. Formale dem intermediären Bereich zwischen Bürger Erklärungsansätze von und Staat zugeordnet werden. Die Interaktion Entscheidungsprozessen beschreiben eine zwischen diesen beiden Polen verläuft dritte Theorie.11 selbstverständlich nicht einheitlich und Empirisch erhobene Demokratietheorien umfasst neben Parteien zumal im deutschen konzentrieren sich auf Voraussetzung, Form, Diskurs auch Verbände. Sie agieren im Umsetzung und Gefahrenpotentiale für gegenseitigen Wettbewerb mit dem Staat Demokratie. Ein wichtiger und dem Bürger. Sie streben nach Untersuchungsschwerpunkt ist die Mehrheiten und Einfluss. Der intermediäre Einschätzung, inwiefern innerhalb einer Bereich wird mithin als ein wichtiger entwickelten politischen Kultur noch ein Gradmesser für Demokratie in einer Wettbewerb besteht, der Machtressourcen staatlichen Demokratie gewertet. Eine zwischen Wirtschaft und Gesellschaft gerecht besondere Herausforderung bildet er im verteilen kann. Ein Ergebnis ist, dass Systeme politischen System der Europäischen Union, mit starkem Mehrheitsprinzip, wie der eine zusätzliche Dimension der Zweiparteiensysteme oder Präsidentialismus, Interaktion zwischen den Ebenen eröffnet. Konsensmodellen mit einem hohen Maß an Wenn in dieser Darstellung vom Verhandlungsdemokratie keinesfalls intermediären Bereich gesprochen wird, so überlegen sind.12 In auf Repräsentativität werden Parteien bewusst ausgespart,8 denn aufgebauten Systemen stehe das Vermeiden ihre von den meisten demokratischen von Konflikten im Vordergrund,13 was zu Verfassungen zugesprochene Rolle ist für Pfadabhängigkeiten führe und Misstrauen den Staat konstituierend.9 gegen die etablierten Akteure hervorrufe. Das von Giovanni Sartori beschriebene Empirische Untersuchungen verweisen in der Paradoxon, nach dem Demokratie zwar auf positiven Lesart darauf, dass immer neu sich Kompliziertheit angelegt ist, aber gleichzeitig selbst aushandelnde Demokratien über eine für den Bürger noch übersetzbar bleiben längere Lebenszeit verfügen als 8 11 Schendelen, Rinus van (2014): Politische Parteien Buchstein, Hubertus (2013): Moderne und Interessengruppen auf der nationalen Ebene und Demokratietheorien, in: Schmidt, Manfred G./Wolf, in der EU: umgekehrte demokratische Verhältnisse?, Frieder/Wurster, Stefan (Hrsg.) (2013): Studienbuch in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 3/2014, S. Politikwissenschaft. Wiesbaden, S. 103–130. 12 669–692, hier S. 673. Lijphart, Arend (2008): Thinking about democracy. 9 Parteien können sich allerdings der Methodik von Power sharing and majority rule in theory and Interessengruppen bedienen. practice. London: Routledge. 10 13 Sartori, Giovanni (1997): Demokratietheorie. Fenichel Pitkin, Hanna (1967): The concept of Darmstadt: WBG, S. 23. representation. Berkeley, Calif., S. 209. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 3/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
autokratische Systeme. Die pessimistische die Spieltheorie. Das rationale Agieren wird Sichtweise, etwa der „Post-Demokratie“, sieht durch Abwägung dienlicher Mittel in einem durch die Zersplitterung der Akteure auch möglichst breiten Informationsmanagement auf internationaler Ebene, dass sich erreicht. Mit der Tauschtheorie wird ein klassische repräsentative und vor allem ähnlich rationaler Ansatz verfolgt. In einem nationale Modelle nicht mehr auf die Vertrag zwischen den Tauschpartnern vielfältigen Herausforderungen einstellen „Interessensakteure“ und können.14 „Entscheidungsträger“ werden die jeweiligen Dem gegenüber lösen sich die formalen Interessen in einem Kompromiss abgewogen. Demokratietheorien vom üblichen In einer Variante werden in diesen „Handel“ Beschreibungsmuster klassischer neben Interessengruppen, Parteien und Demokratiesysteme. Sie betonen die Administration sogar Gerichte einbezogen, rationalen Zusammenhänge zwischen die sich zwar in einem Regelwerk bewegen, Akteuren und Systemen. Zwei Spielarten aber dennoch rational agieren.18 lassen sich hier unterscheiden: die Theorie Eine rationale Herangehensweise bietet auch der rationalen Entscheidung („rational der Soziologe Niklas Luhmann. Für ihn ist bei choice“) und die „Systemtheorie“. Wichtige seiner Betrachtung sozialer Systeme die Vertreter formaler Demokratietheorien sind Kommunikation entscheidend. Durch Mancur Olson (1932-1998) und Niklas „Autopoiesis“ erschaffe und reproduziere sich Luhmann (1927-1998). ein System quasi wie ein natürlicher Der Wirtschaftsökonom Olson widerlegte in Organismus selbst. Innerhalb eines seiner „Logik des kollektiven Handels“ einen demokratischen Systems gebe es zwar Macht automatisch ausgleichenden und Ohnmacht als natürlichen „politischen („countervailing“) Wettbewerb, wie er durch Code“19, doch zeichne sich eine Demokratie Pluralismus im Wechselspiel von Akteuren durch die „Spaltung der Spitze des vermutet werde.15 Anstelle dessen träten in ausdifferenzierten politischen Systems durch einer „rent-seeking society“ sogenannte die Unterscheidung von Regierung und „closed shops“ auf, die nur noch auf Opposition“20 aus, die während der gesamten Maximierung eigener Interessen ausgerichtet Kommunikation im demokratischen System seien.16 Das relativ rücksichtslose aber an seiner Spitze Alternativen produziert. Eigeninteresse mit negativen Auswirkungen Konsequenterweise ist für Luhmann ein auf das, obwohl selbst gewünschte, Mangel an Opposition gleichbedeutend mit Allgemeinwohl von Gruppen werde auch von Demokratiemangel und Diktatur.21 politischen und administrativen Eliten Demgegenüber stehen normative betrieben.17 Demokratietheorien im Spannungsverhältnis Ein ebenso auf Strategie rationaler zu den empirischen und formalen Ansätzen. Entscheidungen angelegtes Verhalten bietet Normative Theorien stehen im Ruf, 14 Vgl. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. 1. Aufl. der Macht, in: Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hrsg.) Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2006): Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland. 15 Olson, Mancur (2004):Die Logik des kollektiven Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 7–21. 18 Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU. Gruppen. (Die Einheit der (Europa kompakt). 1. Aufl. Stuttgart: UTB GmbH, S. Gesellschaftswissenschaften, Bd. 10). 5. Aufl. 39f. 19 Tübingen: Mohr Siebeck. Buchstein, Hubertus (2013): Moderne 16 Olson, Mancur (1991): Aufstieg und Niedergang von Demokratietheorien. a.a.O., S. 115. 20 Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und Luhmann, Niklas (1986): Die Zukunft der soziale Starrheit. (Die Einheit der Demokratie. In: Eine Veranstaltung der Akademie der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 42). 2. Aufl. Künste Berlin, Zweite Folge: Der Traum der Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck. vom Elend der Aufklärung. Berlin, S. 207–217. 17 21 Leif, Thomas/Speth, Rudolf (2006): Anatomie des Buchstein, Hubertus (2013): Moderne Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre Demokratietheorien, a.a.O., S. 114. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 4/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
expansionistisch politisch nach „mehr gewisse künstliche Trennung hingewiesen, Demokratie“ zu rufen und damit denn was „Demokratie ist, läßt sich nicht „unwissenschaftlich“ zu sein. davon trennen, was Demokratie sein sollte.“25 Normative Vorstellungen für den Die der politischen Ökonomie zuzuordnende Anwendungsbereich reichen vielfach über Theorie der rationalen Entscheidung trifft in der den rein staatlichen Geltungsbereich hinaus Soziologie und in der Politikwissenschaft auf und fordern mitunter Partizipation in allen eher verhaltene Zustimmung. Sie hat aber gesellschaftlichen Bereichen. Eine Form auf deliberative Demokratievorstellungen betont die größtmögliche direkte und insofern Einfluss genommen, als indirekte Beteiligung von Bürgern durch kommunikative und effizienzorientierte partizipative Demokratie. Demokratische Vorstellungen Verhandlungsdemokratie und Beteiligung betrifft mithin nur partizipative Demokratieansätze zunehmend unterschiedliche Spielarten der verdrängen. Bürgerbeteiligung. Selbst in autoritären Vorstellungen von Demokratie lassen sich in Machtvorstellungen sind plebiszitäre ein Input- bzw. Output-Raster übertragen.26 Beteiligungsformen attraktiv, um die eigene Input-Vorstellungen eines offenen Systems, Handlung zu legitimieren.22 in dem über direkte Kanäle repräsentativ Demokratie wird zu einer aber auch pluralistisch demokratische gesamtgesellschaftlichen Aufgabe im Entscheidungswege gestärkt werden. Output- intermediären Bereich, von Vereinen über Vorstellungen verlangen von gesetzgebenden Hochschulen und Verbände bis hin zu Institutionen demokratische Legitimität, wirtschaftlichen Einheiten. Die maßgeblich Rechtstaatlichkeit und Rechenschaftspflicht. durch Jürgen Habermas beschriebene Das im Wettbewerb stehende Ausverhandeln deliberative Demokratietheorie geht davon aus, und partizipative Demokratievorstellungen dass durch Kommunikation werden von Verfechtern von deliberativer Entscheidungsprozesse im Sinne des Demokratiemodelle zunehmend als Last Gemeinwohls verändert werden können. Sie empfunden.27 Kehrseite dieser auf Output wird zum Teil der partizipativen Demokratie angelegten Vorstellung ist, dass sie zugerechnet.23 Im intermediären Raum, den tatsächlich und auch in Krisenzeiten liefern er als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet, treffen muss, damit bei ausbleibender Leistung nicht „mehr oder weniger spontan entstandene das gesamte demokratische System in Frage Vereinigungen, Organisationen und gestellt wird. Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Europawissenschaftliche Lebensbereichen finden, aufnehmen, Theorien kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten“.24 Zeigen schon auf nationaler Ebene Beim Verhältnis von empirischer und Demokratievorstellungen eine große Vielfalt, normativer Demokratietheorie wird auf eine so gilt dies auch für das System der 22 Vgl. Schmitt, Carl (1928): Verfassungslehre. 6. Aufl. demokratischen Rechtsstaats. 4. Aufl. Frankfurt am Berlin, S. 243ff. Main: Suhrkamp, S. 443. 23 25 Fuchs, Dieter (2004): Modelle der Demokratie: Sartori, Giovanni (1997): Demokratietheorie. Partizipatorische, Liberale und Elektronische Darmstadt: WBG S. 16f. 26 Demokratie, in: Kaiser, André/Zittel, Thomas (Hrsg.) Vgl. Schendelen, Rinus van (2013): The Art of (2004): Demokratietheorie und Lobbying the EU. More Machiavelli in Brussels. S. Demokratieentwicklung. Festschrift für Peter Graf 327ff. 27 Kielmansegg, Wiesbaden, S. 19–54. Buchstein, Hubertus (2013): Moderne 24 Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung. Demokratietheorien, a.a.O., S. 120. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 5/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Europäischen Union. Die europäische sondern gesellschaftliche, politische Integration unterliegt einer Dynamik, die und/oder wirtschaftliche Akteure. nicht nur in der Politik, sondern auch in ihrer Das neofunktionalistische Politikverständnis Verfasstheit ein immer breiter und dichter ist aber auch von einer „grundlegenden werdendes Beziehungsgeflecht aufweist, Skepsis gegenüber dem konstruktiven trotz früherer und aktueller Rückschritte. Potential der Öffentlichkeit“ 31 geprägt. Europawissenschaftliche Theorien suchen Nicht weit vom Neo-Funktionalismus entfernt diese Integrationsdynamik, weniger eine wird eine rationalistische Version des mögliche Finalität, zu erklären.28 Eher selten Neoinstitutionalismus diskutiert, die in der und in sehr unterschiedlicher Ausformung internationalen Politik nicht nur Staaten, erklären sie auch die Rolle von sondern auch gesellschaftlichen Gruppen interessengeleiteter Einflussnahme auf eine sich gegenseitig bedingende Rolle staatliches und institutionelles Handeln.29 zuweist. Sie geht davon aus, dass sich Der maßgeblich von Ernst Haas30 begründete Akteure an vorliegenden institutionellen Neo-Funktionalismus orientierte sich am Begebenheiten orientieren.32 Zusammenwirken von nationalen und Gerade in Fragen des Beitrags von europäischen Akteuren in Sachfragen. In Interessengruppen steht der Sektoren fand eine so tiefgehende Intergouvernementalismus im Gegensatz zum Integration statt, dass ein „Überschwappen“, Neo-Funktionalismus. Der vor allem von etwa von Wirtschaftspolitik auf Umweltpolitik Stanley Hoffmann33 (1928-2015) begründete entstand. Dieser „Spill-Over Effekt“ ist nur Ansatz lässt nicht nur supranationalen denkbar durch supranationale Akteure, allen Institutionen weniger Raum für eigene voran die Europäische Kommission, aber Gestaltungsmacht, sondern auch europäischen Interessengruppen konsequenterweise auch den im Neo- („Eurogruppen“). Auf Grund der zunächst auf Funktionalismus noch gestärkten wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Interessengruppen, zumal auf europäischer Grundlagen der Europäischen Ebene. Auch der von Andrew Moravcsik Gemeinschaften waren wirtschaftliche geprägte Ansatz des liberalen Interessengruppen naturgemäß im Vorteil. Intergouvernementalismus34 lässt den Der Neo-Funktionalismus bietet den größten Nationalstaaten den entscheidenden Raum von nichtstaatlicher Einflussnahme auf Gestaltungsspielraum.35 den politischen Prozess. Nicht Regierungen Beiden Theorien ist gemein, dass sie vor sind der maßgebliche Integrationsmotor, allem die europäische Ebene im Fokus haben. Beim Neo-Funktionalismus wird die 28 32 Auf die Darstellung euroföderalistischer Vgl. Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU. Vorstellungen wurde hier deshalb bewusst verzichtet. (Europa kompakt). S. 37ff. 29 33 Klüver, Heike/Mahoney, Christine/Opper, Marc Hoffmann, Stanley (Hrsg.) (1965): Contemporary (2015): Framing in context. How interest groups theory in international relations. Englewood Cliffs, N.J. 34 employ framing to lobby the European Commission, Vgl. Moravcsik, Andrew (2006): Preferences and in: Journal of European Public Policy 22/2015, S. 447– power in the European community. A liberal 461, http://docweb.rz.uni- intergovernmentalist approach, in: Debates on passau.de:3013/doi/pdf/10.1080/13501763.2015.1008 European integration: a reader. Basingstoke, 550?needAccess=true (letzter Zugriff 11.10.2016). Hampshire [u.a.], S. 264–303. 30 35 Haas, Ernst B. (1958): The uniting of Europe. Hüttemann, Bernd (2015a): Das „Schwarze Loch“ Political, social and economical forces 1950 - 1957. der deutschen Europapolitik - Lobbyismus und London: Stevens. europapolitische Koordinierung in Deutschland, in: 31 Neyer, Jürgen (2013): Die europäische Demokratie Göler, Daniel/Schmid, Alexandra/Zech, Lukas (Hrsg.) und die deliberative Integrationstheorie, in: Beichelt, (2015): Europäische Integration: Beiträge zur Timm/Chołuj, Bożena/Rowe, Gerard C./Wagener, Europaforschung aus multidimensionaler Hans-Jürgen (Hrsg.) (2013): Europa-Studien. Eine Analyseperspektive. Baden-Baden, S. 175–195. Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 135–147. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 6/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Bedeutung von Interessengruppen bei der war zunächst Robert Ladrech, der Stärkung der Supranationalität betont. Doch vornehmlich von der Europäisierung beide Theorien lassen nur wenig Raum für nationaler politischer Systeme ausging, um Interessengruppen als konstitutiver Teil einer eine Passgenauigkeit mit den demokratischen Gesellschaft. europapolitischen Rahmenbedingungen zu Demgegenüber steht der Theorienansatz, der erreichen.40 Darüber hinaus hat Claudio M. mit „Multilevel-Governance“ ein in sich Radaelli in einem umfassenden Ansatz auch verschachteltes politisches System die Politikformulierung „von unten nach beschreibt, das die nationale Ebene mit der oben“ als Europäisierung eingeordnet.41 supranationalen Ebene verbindet. Die Dieser Ansatz ist für die intermediäre Politik Europäische Union wird so zu einem insofern wichtig, als sich Akteure im „Politischen System“36, das mit den gleichen Mehrebenensystem gegenseitig und in Problemen des Regierens konfrontiert wird verschiedenen Richtungen europäisieren. Die wie ihre Mitgliedstaaten.37 Wenn nun aber so entstehenden vielfältigen Vektoren der die nationalen Demokratiemodelle mit ihren Europäisierung nicht nur zwischen unterschiedlichen Rollen für institutionellen Akteuren sind für die Interessengruppen in ein Mehrebenensystem praktische, vielfach unkonventionelle und einbezogen werden, so entstehen zwischen indirekte Einflussnahme durch sektoreller und territorialer Interessengruppen von großer Bedeutung.42 Interessenvertretung weitere Brüche, die zu Die Großtheorien europäischer Unübersichtlichkeit führen. Integrationsforschung bieten auf Grund ihres Für Interessengruppen ist dies Chance und Prozesscharakters nur eingeschränkt Herausforderung zugleich. In einem Erklärungen für den intermediären Bereich Mehrebenensystem entstehen Freiräume für im politischen System der EU. Immerhin ist die Einflussnahme. „Institutional isolation“38 der Neo-Funktionalismus offen für die und Vielstimmigkeit verlangen danach, dass Bedeutung sektorieller Einflussnahme. die Polity des Systems in einen klaren Weiterhin besteht auf Grund der demokratischen institutionellen Rahmen unterschiedlich vertieften Integration eine überführt wird.39 starke territoriale Einflussnahme, Einen weiteren Ansatz bildet die Theorie der vornehmlich durch die Mitgliedstaaten. Europäisierung. Mit ihr wird die Anpassung Nationalstaatliche politische Systeme spielen des nationalen politischen Handelns durch im europäisierten Mehrebenensystem weiter das Entstehen von europäischer Politik und eine starke Rolle, wenn auch mit großen europäischen Impulse bezeichnet. Die Unterschieden je nach Territorium und Theorie lässt nicht nur Veränderungen von Politiksektor und über die Vektoren der oben nach unten, sondern auch von unten Europäisierung mitunter kaum sichtbar. nach oben zu. Hauptverfechter der Theorie 36 39 Hix, Simon/Høyland, Bjørn (2011): The political Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die system of the European Union. (The European Union Europäisierung des politischen Systems. 1. Aufl. series). 3. Aufl. Basingstoke, Hampshire. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss., S. 331. 37 40 Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der Ladrech, Robert (1994): Europeanization of europäischen Zivilgesellschaft, in: Kohler-Koch, Domestic Politics and Institutions:. The Case of Beate/Quittkat, Christine (Hrsg.) (2011): Die France, in: JCMS: Journal of Common Market Studies Entzauberung partizipativer Demokratie, Zur Rolle der 32/1994, S. 69–88. 41 Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU- Radaelli, Claudio Maria (2003): The Europeanization Governance. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. of Public Policy, in: Radaelli, Claudio 48–73, hier S. 64. Maria/Featherstone, Kevin (Hrsg.) (2003): The politics 38 Greenwood, Justin (2011): Interest representation in of Europeanization. Oxford, S. 27–56. 42 the European Union. (The European Union series). 3. Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying Aufl. Basingstoke, Hampshire, S. 4. the EU. More Machiavelli in Brussels. S. 45ff. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 7/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Theorien mittlerer bewahren. Etatismus wird im wissenschaftlichen Diskurs zur intermediären Reichweite Politik kaum erwähnt. Grundannahme ist schließlich, dass es in etatistischen Systemen Bieten Großtheorien nur beschränkte kaum Raum für interessengeleitete Erklärungsansätze für Interessenvermittlung Organisationen geben kann. Im europäischen in der EU, so lohnt es sich, zur Einordung im Mehrebenensystem hingegen kann es, zumal politischen System EU auch Theorien bei supranationalen Entscheidungswegen, mittlerer Reichweite einzubeziehen. selbst für Interessengruppen in etatistischen Pluralismus, Korporatismus, Etatismus und Staaten über die Europäisierung ihrer Arbeit Politiknetzwerke sind Theorien, die politische zu Einflussmöglichkeiten kommen.45 Entscheidungsprozesse und Akteure auch im Mit Pluralismus geht eine gleichberechtigte Zusammenhang von Eigeninteressen und Koexistenz von verschiedenen Auffassungen, Wertvorstellungen beschreiben und Ordnungen, Anschauungen einher. Eine einordnen können.43 Die meisten Modelle neutrale Rolle des Staates ist erst dank der orientieren sich hier an nationalstaatlichen Existenz von Interessen und Gegeninteressen Rahmenbedingungen. Das möglich.46 Ansonsten herrsche eine Mehrebenensystem EU muss aber nicht nur „Despotie der Mehrheit“ im Sinne von wegen der weiter bestehenden Bedeutung Tocqueville. Dabei ist auch die nur nationalstaatlicher politischer Systeme kurzfristige Verfolgung von Eigeninteressen Theorien zur Einordnung des intermediären Teil des Systems. Als Ernst Fraenkel 196447 Bereiches einbeziehen. das bundesrepublikanische System in Diejenige politische Vorstellung, die dem Deutschland beschrieb, stand er unter dem Staat in einem Gemeinwesen sowohl Eindruck der US-amerikanischen Spielart des wirtschaftlich, als auch sozial eine Pluralismus mit Rückgriffen auf Tocqueville. überragende Rolle einräumt, ist der Im Gegensatz zum etatistischen Modell Etatismus. Das nationale Interesse wird kommen nicht-territoriale gesellschaftliche vornehmlich von staatlichen Akteuren Interessen in den Entscheidungsprozessen geprägt und in den Mittelpunkt gestellt.44 zum Tragen.48 Der Staat nimmt – analog zur Normative Demokratievorstellungen können Sozialen Marktwirtschaft oder zum eine Rolle spielen, müssen es aber nicht. Ordoliberalismus in der Wirtschaftstheorie – Partizipative und repräsentative Demokratie eine den freien Wettbewerb wahrende Rolle sind mit dem Etatismus vereinbar, wenn sich ein. Es müssen auch beim Pluralismus dadurch die Mehrheitsmeinung Verfahrensregeln gelten, die eine widerspiegelt. Föderale Systeme sind demokratische Rolle ermöglichen.49 Fehlen insofern leicht mit dem Etatismus vereinbar, diese demokratisch legitimierten Verfahren als sie die territoriale Interessenartikulation oder sind sie nicht effizient genug, gerät der 43 46 Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (2005): Truman, David B. (1955): The governmental process. Interessenpolitik im europäischen New York: Alfred A. Knopf (Borzoi Books in Political Mehrebenensystem, in: Eising, Rainer/Kohler-Koch, Science). 47 Beate (Hrsg.) (2005): Interessenpolitik in Europa. Fraenkel, Ernst (1964): Deutschland und die Baden-Baden: Nomos, S. 11–78. westlichen Demokratien. (Politische Paperbacks). 44 Ebd., S. 41. Stuttgart: Kohlhammer (Geschichte und Gegenwart). 45 48 Klüver, Heike/Braun, Caelesta/Beyers, Jan (2015): Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die Legislative lobbying in context: towards a conceptual Europäisierung des politischen Systems. Wiesbaden: framework of interest group lobbying in the European VS Verl. für Sozialwissenschaften, S.169 49 Union, in: Journal of European Public Policy 22/2015, Leif, Thomas/Speth, Rudolf (2006): Anatomie des S. 447–461, hier S. 455. Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre der Macht. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 7-21. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 8/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Pluralismus automatisch in die Kritik. Die Demokratietheorie von Olson. Korporatismus demokratisch legitimierte Rolle des Staates führt so gesehen zu „closed shops“. werde durch ein Ungleichgewicht bei der Politiknetzwerke werden als weitere Theorie Einflussnahme in Gefahr gebracht.50 Die mit mittlerer Reichweite genannt, aber sind in Generalkritik an der Pluralismusthese ihrer Vielfalt zugleich umstritten.52 Im erwächst in der „Logik des kollektiven Vordergrund für den Netzwerkansatz steht Handelns“, das auch den behaupteten eine umfassende Methodik zur Messung von Demokratiegewinn verneint. Einflussnahmen im Politikprozess.53 Für die Als Spielart der Theorie der rationalen interessengeleitete Einflussnahme im Entscheidung hat die Logik des rationalen Politischen System der EU besonders Handelns dem Pluralismus vorgeworfen, dass interessant sind die informellen gerade diejenigen Organisationen, die das Handlungsarenen unterschiedlichster Allgemeinwohl propagieren, Leidtragende staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und eines Trittbrettfahrersystems sind: Akteure sozialer Akteure, die von pluralistischen und handeln rational und nicht normativ und korporatistischen Erklärungsansätzen nicht warten lediglich darauf, dass Bürger sich für erfasst werden können. In der gemeinsame Ziele einsetzen. Politiknetzwerkanalyse wird nicht mehr von Sieht man von der möglichen Form eines Staat und Interessenvertretung gesprochen. autoritären Korporatismus ab, so beinhaltet Eine intermediäre Ebene gibt es in der liberale oder Neo-Korporatismus eine Politiknetzwerken nicht mehr. Vielmehr ist etatistische und pluralistische Note. der Staat im Plural genannt. Er wird - zumal Vorherrschend ist allerdings in dieser Form im Mehrebenensystem - zum Akteur unter die Konsensdemokratie. Der Staat und von vielen.54 ihm mit-/bestimmte und möglichst Vor allem der Erklärungsansatz repräsentative Vereinigungen bündeln und Politiknetzwerke läuft Gefahr, die Bedeutung filtern Interessen im des Etatismus besonders einfach zu Entscheidungsfindungsprozess oder gar verwischen. Pluralismus und Korporatismus Gesetzgebungsprozess des Staates. werden hierbei ausgehebelt. Korporatismus in einer Demokratie hat Politiknetzwerke, Pluralismus und durchaus Anleihen an den Ständestaat, der Korporatismus werden Zweifeln55 zum Trotz die sektorelle Interessenvertretung durch als theoretischer Analyserahmen für den Monopole von Interessengruppen organisiert intermediären Bereich herangezogen. Die und mehr darstellen kann als nur eine Interessengruppenforschung berücksichtigt Ergänzung zur territorialen zunehmend die „Theorie der rationalen Interessenvertretung. Vertreter des Neo- Entscheidung“. Weiterhin werden Korporatismus sind u.a. Philippe C. Schmitter, Demokratietheorien als Gerhard Lehmbruch und Ulrich von Handlungserklärungen herangezogen. Alemann.51 Größte Kritik am Korporatismus erwächst auch hier in der rationalen 50 53 Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die Schneider, Volker/Janning, Frank (Hrsg.) (2009): Europäisierung des politischen Systems. Wiesbaden: Politiknetzwerke. Modelle, Anwendungen und VS Verl. für Sozialwissenschaften, S.167 Visualisierungen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 51 54 Alemann, Ulrich von/Heinze, Rolf G. (Hrsg.) (1979): Bazant, Ursula/Schubert, Klaus (2007): Verbände in Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Politiknetzwerken, in: Winter, Thomas von/Willems, Korporatismus; Analysen, Positionen, Dokumente. Ulrich (Hrsg.) (2007): Interessenverbände in Opladen. Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für 52 Börzel, Tanja (1997): What's So Special About Policy Sozialwissenschaften, S. 413–438. 55 Networks? An Exploration of the Concept and Its Michalowitz, Irina (2007): Lobbying in der EU. Usefulness in Studying European Governance, in: (Europa kompakt). S. 37. European Integration online Papers (EIoP), 16/1997. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 9/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Organisationen und gesellschaftliches Potential miteinander verbinden.62 Schließlich fand eine Interessengruppen Renaissance einflusstheoretischer Ansätze statt, die unter dem Begriff des „Lobbyismus“ Zumindest in deutscher und englischer neue Handlungsstrategien und Akteure im Sprache wird die Organisation von Interessen Bereich der funktionalen wertneutral genutzt.56 Interessengruppen Interessenvertretung subsumieren.63 unterscheiden sich zunächst vom Im innerstaatlichen Bereich geht man individuellen Bürger. Interessenverbände gemeinhin von öffentlichen und privaten sind nur eine weitergehende Form von Interessen aus.64 Selbstverständlich Interessengruppen, die meist ihrerseits aus entstehen rechtlich und politisch sich Unter- bzw. ihrerseits vernetzten Verbänden ändernde Grauzonen zwischen diesen bestehen. Der Begriff Organisation ist Teil der beiden Polen. Je umfassender ein Organisationssoziologie57, hat aber auch Gemeinwesen strukturiert ist, desto starke Anleihen an die betriebswirtschaftliche vielfältiger werden die Formen der Organisationslehre. Interessenorganisation. Am deutlichsten wird Interessengruppenforschung ist in dies in den Staaten, die einen hohen Grad an Deutschland vor allem durch den Begriff der Interdependenz zwischen öffentlicher und „Verbändeforschung“ geprägt. Nach ersten privater Organisationsform aufweisen. In gruppentheoretischen Ansätzen im frühen pluralistischen und korporatistisch 20. Jahrhundert58 sah zunächst die organisierten Staaten, oft verstärkt durch Pluralismus-Forschung in der Nachkriegszeit Föderalismus, wird dies besonders klar. Interessengruppen als wichtigen Bestandteil Organisationen, die staatliche Aufgaben der liberalen Demokratie, in der die übernehmen, aber dennoch, zumindest Gesellschaft nicht nur individuell, sondern rechtlich, unabhängig vom Staat agieren, sind aus Gruppen gebildet wird.59 Der hier exemplarisch. Staaten mit starker Korporatismus hat das ideale pluralistische Interaktion zwischen öffentlich-rechtlichen Gesellschaftsmodell dahingehend korrigiert, und privaten Akteuren bilden Mischsysteme. dass eine in Teilen „etatistische“ Staats- Auch öffentlich/private Organisationen /Interessegruppentrennung durch können als Interessengruppen bezeichnet Mitwirkung von Interessengruppen an werden. staatlichen Entscheidungen relativiert wird.60 Sicherlich im Sinne eines normativen In den 1990er Jahren haben sich Demokratiebegriffes hat sich im öffentlichen Wissenschaftler zunehmend mit sozialem Diskurs eingebürgert, selbst die mit dem Kapital in einer „assoziativen Demokratie“ öffentlichen Sektor „vermischten“ auseinandergesetzt.61 Vereins- und Interessengruppen von Regierungen oder Stiftungswesen sollte ökonomisches und Staatlichkeit zu trennen. An 56 61 Anders etwa der französische Begriff „groupe Zimmer, Annette (1996): Vereine - Basiselement der d'intérêt“, der gleichbedeutend mit Lobbygruppe Demokratie. Eine Analyse aus der Dritte-Sektor- aufgefasst wird. Perspektive. (Grundwissen Politik, 16). Opladen. 57 62 Endruweit, Günter (2004): Organisationssoziologie. Anheier, Helmut K. (Hrsg.) (1997): Der dritte Sektor (UTB, 2515). 2. Aufl. Stuttgart. in Deutschland. Organisationen zwischen Staat und 58 Insbesondere Bentley, Arthur (1908): The process of Markt im gesellschaftlichen Wandel. Berlin 1997. 63 government : a study of social pressures. Chicago. Reutter, Werner (2012): Einleitung: Vergleichende 59 Fraenkel, Ernst (1964): Deutschland und die Interessengruppen- und Verbändeforschung, in: westlichen Demokratien. Stuttgart: Kohlhammer Reutter, Werner (Hrsg.) (2012): Verbände und (Geschichte und Gegenwart). Interessengruppen in den Ländern der Europäischen 60 Reutter, Werner (1991): Korporatismustheorien: Union. Wiesbaden: VS Verlag für Kritik, Vergleich, Perspektiven. (Europäische Sozialwissenschaften, hier S. 13. 64 Hochschulschriften. Reihe XXXI). Frankfurt am Main, Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying Bern, New York, Paris. the EU. More Machiavelli in Brussels, S. 40ff. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 10/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
„Mittlerorganisationen“ wie Goethe-Institut, Demokratievorstellung durchgesetzt, dass Europäischer Bewegung Deutschland, Wirtschaftsverbände nicht zu NROs zählen. Wohlfahrtsverbänden, öffentlich-rechtlichem Ein durchaus ernstgemeinter Versuch, die Rundfunk oder Verbraucherschutzverbänden unterschiedlichen NROs (eigentlich „NSOs“) wird deutlich, wie stark auch Vereine nicht auf ihren öffentlichen und privaten Gehalt zu nur auf Grund der Finanzierung vom gliedern, macht die gesamte Bandbreite des Regierungshandeln abhängig sind. Diese gemischten Interesses deutlich: GINGO: auf Mischformen sind im weitesten Sinne im staatliche Entscheidungen fixierte NRO; Korporatismus erklärbar und können objektiv BINGO: NRO mit Wirtschaftsinteressen; betrachtet sogar zur deliberativen BONGO Wirtschaftlich organisierte NGO; Demokratie gezählt werden. GONGO: Regierungsorganisierte NRO; Verbraucherschutzverbände werden zur QUANGO: Quasi NRO staatlich geförderten Stimme der („Mittlerorganisation“).66 Verbraucher bisweilen gegen Ein weiterer Begriff kommt in diesem Regierungshandeln. Zusammenhang auf. Mit Stakeholdern wird Die umfassendste Definition von zunehmend die Gesamtheit von Interessengruppen ist die Vorstellung, dass Organisationen beschrieben, die auch solche auch staatliche Akteure „öffentlichen mit einem öffentlichen Auftrag umfassen. Interessengruppen“ bilden, mit so Der deutsche Begriff „Teilhaber“ wird selten unbestimmten Begriffen wie genutzt.67 „Regierungseliten“ oder „Regierungskreisen“ Vertritt man die Auffassung, dass sektorale beschrieben. Informellen „Staatslobbyisten“ und territoriale Interessenvertretung wird eine hohe Einflussnahme gleichermaßen Teil einer Einflussnahme zugesprochen.65 sind,68 so müsste man alle organisiert Die wertneutral verständlichen Mischformen auftretenden Interessen in einer solchen werden in ihrer Ambivalenz deutlich in der Matrix zusammenfassen können. Die Bezeichnung „Nichtregierungsorganisation“ Gruppierung in sektorale (Wirtschafts- und (NRO), die ursprünglich aus dem englischen Berufsverbände, Arbeitnehmerinteressen, „non-governmental organization“ (NGO) sonstige bürgerschaftliche Interessen) und stammt und im eigentlichen Wortsinne mit territoriale Interessen69 kann nur eine Spalte „Nichtstaatliche Organisation“ (NSO) einer Matrix bilden. Die oben beschriebene übersetzt werden müsste. Aufteilung in öffentlich und privat macht dies Nichtregierungsorganisationen wurden durch deutlich. Interessengruppen können im die Vereinten Nationen gefördert. Die UN- Mehrebenensystem wechselnde Rollen als Charta sah 1945 im Art. 71 des Kapitel 10 territoriale und sektorale Interessengruppen eine konsultative Rolle für Organisationen übernehmen. Auch der Wechsel von vor, die weder Regierungen noch Staaten Gemeinwohl zu Wohlfahrts- und zu sind. In der Logik der UN zählen auch Unternehmensinteressen ist über die Wirtschaftsverbände zu den NRO. In Europa Gruppierung hinweg möglich. Zwölf hat sich hingegen im Sinne einer normativen „Vektoren der Europäisierung“70 zwischen national, europäisch, öffentlich und privat 65 68 Schendelen, Rinus van (2006): Brüssel: Die Beichelt, Timm (2015): Deutschland und Europa. Die Champions League des Lobbying, in: Leif, Europäisierung des politischen Systems. 2. Aufl. Thomas/Späth, Lothar (Hrsg.): Die fünfte Gewalt. Wiesbaden, S. 199. 69 Lobbyismus in Deutschland. Wiesbaden. S. 132-164. Greenwood, Justin (2011): Interest representation in 66 Schendelen, Rinus van (2012): Die Kunst des EU- the European Union. (The European Union series). S. Lobbyings. Erfolgreiches Public Affairs Management 4f. 70 im Labyrinth Brüssels. 1. Aufl. Berlin, S. 24f. Schendelen, Rinus van (2013): The Art of Lobbying 67 Die Europäische Kommission übersetzt den Begriff the EU. More Machiavelli in Brussels. S. 45ff. mit „Interessenträger“. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 11/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
lassen Interessengruppen im den Mitgliedstaaten und bei Mehrebenensystem je nach Zusammenhang Europaabgeordneten vor Ort und in den in unterschiedlich erscheinen. Je nach nationalen Hauptstädten.72 Umgebung passen sie sich dem Chamäleon gleich der Umgebung an. Auf rein europäischer Ebene, ohne Bezug Zivilgesellschaft zum nationalen Rahmen, erleichtert derzeit Neben der vermehrt rationalen Einordnung ein Projekt die Einordnung von von Interessengruppen in den politischen Interessengruppen. Eingeordnet werden Prozess wird weiterhin der Stärkung der nicht nur Eurogruppen, von lokalen bis Zivilgesellschaft das Wort geredet. nationalen Interessengruppen ist alles Wer im landläufigen Sprachgebrauch den vertreten. Bei aller Kritik am noch freiwilligen Begriff Zivilgesellschaft durch Gesellschaft „Transparenzregister“ von Europäischer ersetzt, könnte versucht sein, auf das Präfix Kommission und Parlament lassen sich aber „Zivil-“ gänzlich verzichten zu wollen. Eine Rückschlüsse auf den Charakter von kurze Begriffsgeschichte soll deshalb den möglichen Interessengruppen ziehen (mit unterschiedlichen Sprachgebrauch im Laufe Aufteilung der registrierten Organisationen, der Zeit anreißen.73 Stand 2. November 2016):71 In der Athener Polis ist erstmals der Beratungsfirmen, Anwaltskanzleien, selbständige Berater (1.182) Aristoteles (384-322 v. Chr.) zugeschriebene In-House-Lobbyisten, Gewerbe- Begriff einer „““ (politiké /Wirtschaftsverbände, koinonia) nachzuweisen, eine weitgefasste Gewerkschaften/Berufsverbände (5.260) Gemeinschaft der politischen Nichtregierungsorganisationen, Entscheidungsfindung, im Gegensatz zum Plattformen und Ähnliches (2.605) privaten familiären Haushalt.74 Denkfabriken, Forschungs- und Erst die lateinische Übersetzung in „societas Hochschuleinrichtungen (734) civilis“, u.a. durch Marcus Tullius Cicero (106- Organisationen, die Kirchen und 43 v. Chr.) führte zum heutige Gebrauch des Religionsgemeinschaften vertreten (47) Begriffes, der sich in den unterschiedlichen Organisationen, die lokale, regionale Sprachen etwa durch society, società, société und kommunale Behörden, andere fortschrieb. Von einer Zivilgesellschaft im öffentliche oder gemischte westeuropäischen/nordamerikanischen Einrichtungen vertreten (471) Sprachgebrauch ist man im Griechischen Naturgemäß werden nur Interessengruppen noch heute weit entfernt. Das Griechische aufgenommen, die ihre Interessen im kennt übrigens keine Rückübersetzung in Europäischen Parlament und in der „Zivilgesellschaft“.75 Europäischen Kommission vertreten. Es fehlt Die Frühe Neuzeit hat sich vor allem über die Interessenvertretung beim Rat der EU, bei Gesellschaftsvertragstheoretiker Thomas 71 74 Europäische Kommission: Transparenzregister, Kopp, Johannes/Steinbach, Anja (Hrsg.) (2016): http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/hom Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag ePage.do?locale=de (letzter Zugriff 02.11.2016). für Sozialwissenschaften. 72 75 Zur Bedeutung von Interessengurppen in der Zur Implikation für das krisengeschüttelte nationalen europapolitischen Koordinierung vgl. Griechenland Vgl. Hüttemann, Bernd/Sahl, Daniel: Hüttemann, Bernd (2015): Das „Schwarze Loch“ der Griechische Transformationstragödie. Von Stolz, deutschen Europapolitik - Lobbyismus und Sündenböcken und technokratischer Blindheit, europapolitische Koordinierung in Deutschland. S. 16.03.2013, http://b-b- 175-195. e.de/themen/europa1/einzelmeldung/20253-bernd- 73 Einen von vielen Überblicken bietet Klein, Ansgar huettemann-daniel-sahl-griechische- (2001): Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Wiesbaden. transformationstragoedie-von-stolz-suendenboecken- und-technokratischer-blindheit/2/ (letzter Zugriff 07.10.2014). „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 12/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Hobbes (1588-1667) des Begriffs der Eine weitere Dimension des Diskurses „societas civilis“ wieder angenommen, eröffnete Alexis de Tocqueville (1805-1849), nachdem das Mittelalter wenig Anlass für der vielfach als eigentlicher Vater des Bezüge zum antiken Ursprung bot. Eine modernen Verständnisses von Interpretation ist, dass Hobbes im vom Zivilgesellschaft gilt. Für ihn stand ein Bürgerkrieg geschüttelten England durchaus Vereinswesen im Vordergrund.77 Die selbst von einer im heutigen landläufigen Sinne „zivilen“, also nicht militärischen Gesellschaft bestimmte vielfältige Selbstorganisation und sprach. Aber das eigentlich „Zivile“ findet hier damit Interessenvertretung des ansonsten in der Privatheit statt, die im Leviathan die lediglich Handel treibenden Bürgers Einheit eines absoluten Fürsten mit den gegenüber dem Staat steht im Zentrum gesellschaftlichen Gliedern eingeht. Eine seines pluralistischen Demokratiemodells. Trennung zwischen Zivilgesellschaft und Seine Vorstellung einer „Assoziativen Staat findet analog zur Antike nicht statt. Erst Demokratie“ ist seither Gegenstand John Locke (1632–1704) begründet eine sozialwissenschaftlicher Reflexion.78 Dualität zwischen bürgerlicher Gesellschaft Für den marxistische Theoretiker Antonio und Staat.76 Gramsci (1891-1937) war Zivilgesellschaft Im Übergang zwischen Barock und eine der Voraussetzungen, dass im Westen Aufklärung lässt sich beobachten, dass die societas civilis als Begriff weiterhin auf die Europas der Sozialismus keine sozialistischen römische Antike zurückgreift, ohne genaue Umwälzungen hervorrufen konnte wie in Abgrenzungen vorzunehmen, was sie denn Ländern ohne ausgewiesenes Vereinswesen. nun wirklich erfasst. Vor allem aber mit Jean Zivilgesellschaft im Gramscischen Sinne Jacques Rousseau (1712-1778) wird Staat und konnte durchaus den bürgerlichen Gesellschaft stark vom Gegensatz der volonté autoritären Staat stützen. Bei Gramsci muss générale und der volonté particulière Demokratie nicht automatisch mit beeinflusst. Für Rousseau steht der einzelne Zivilgesellschaft in Verbindung stehen. „von Natur aus gute“ Bürger, der „Citoyen“, Überhaupt hat das 20. Jahrhundert den im Zentrum einer neuen Begriff der Zivilgesellschaft selten genutzt. Gesellschaftsordnung, die anders als bei Hobbes das Volk zum Souverän macht. Für Dies liegt weniger an den autoritären und den Begriff der Zivilgesellschaft bedeutet dies zunehmend totalitären Staatsmodellen. eine erste Abgrenzung zwischen Staatlichkeit Vielmehr haben die parlamentarischen und Bürgerwillen. Demokratien mit einem ausgesprochen Im Zuge der Industrialisierung stellte sich korporatistisch-pluralistischen eine andere Frage, nämlich die, wie sich die Gesellschaftsmodell die Begrifflichkeit selbst privat gesteuerte Wirtschaft in die die neue nicht gebraucht. Gesellschaftsordnung einfügt und damit In der Nachkriegszeit ist es vor allem Jürgen selbst das staatliche Handeln entscheidend Habermas, der in seinen normativen prägt. Nur in der Rückschau ist es Vorstellungen einer deliberativen Demokratie bemerkenswert, dass ausgerechnet der wieder den Begriff einer Zivilgesellschaft Wirtschaftsphilosoph Adam Smith (1723- 1790) und der Sozialist Karl Marx (1818-1883) verstärkt nutzt, diesmal aber mit einem offensichtlich darin übereinstimmten, dass entscheidenden Unterschied: den Kern der wirtschaftliche Vereinigungen sehr wohl zur Zivilgesellschaft bildet nach Habermas – hier Zivilgesellschaft zu rechnen seien. durchaus im Sinne von Tocqueville – ein mehr oder weniger spontanes und organisiertes 76 77 Gellner, Wienand/Glatzmeier, Armin: Die Suche Tocqueville, Alexis de (1835): De la démocratie en nach der europäischen Zivilgesellschaft, 29.08.2005, Amérique. 2. Aufl. Paris. 78 http://www.bpb.de/apuz/28879/die-suche-nach-der- Reutter, Werner (Hrsg.) (2012): Verbände und europaeischen-zivilgesellschaft?p=all (letzter Zugriff Interessengruppen in den Ländern der Europäischen 23.04.2016). Union. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 13/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Assoziationswesen, das problemlösende Modernisierung sozialdemokratischer Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Programmatik, die ausdrücklich Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten zivilgesellschaftlicher Wortwahl institutionalisiert.79 Für Habermas gilt mithin manifestierte.83 Bezeichnenderweise kam ein normatives Demokratiemodell, das aber Willy Brandt bei seiner Rede zu „Mehr allgemeinwohlorientierte Demokratie“ noch ganz ohne den Begriff „zivilgesellschaftliche Gruppen“ von Zivilgesellschaft aus.84 Aber der Begriff Interessengruppen unterscheidet, die machte Schule. Er findet sich mittlerweile lediglich für die materiellen selbst in der Programmatik der CDU, die Mitgliederinteressen wirken.80 Damit verneint ausdrücklich zu bürgerschaftlichem Habermas kategorisch, dass wirtschaftliche Engagement und zivilgesellschaftlicher Assoziationen zur Zivilgesellschaft zu zählen Teilhabe auffordert,85 während sie sich sind. vehement gegen partizipative direkte Eine weitere Renaissance bildeten in den Demokratie auf Bundesebene ausspricht. Für 1970er Jahren soziale Bewegungen gegen beide Parteien ist aber gleichermaßen Diktatur, insbesondere in den deliberative Demokratie ein Mittel zur kommunistischen Ländern.81 Mit der Stärkung des demokratischen Systems. abrupten Demokratisierung von ehemaligen Nicht erst im Zuge der EU- Ostblockstaaten nach dem Fall des „Eisernen Beitrittsverhandlungen ost- und Vorhangs“ bekam der Begriff einer „zivilen“ mitteleuropäischer Staaten und den damit demokratischen Gesellschaft einen einhergehenden demokratischen zusätzlichen Motivationsschub und man Bestandteilen der „Kopenhagener Kriterien“ begann auch in westlichen Demokratien den machte der Zivilgesellschaftsbegriff eine Begriff Zivilgesellschaft neu zu propagieren. europäische Karriere. Die Maßnahmen zur In der Bundesrepublik suchte zumal die Förderung von Demokratie in den Sozialdemokratie ein neues Narrativ. Die Beitrittskandidatenländern decken sich bis durchaus propagandistische Schrift „Die zivile heute mit Programmen für [sic!] Bürgergesellschaft“ von Bundeskanzler „zivilgesellschaftliches Engagement“. Dies Gerhard Schröder sprach gar davon, dass ein wird auch bei vielfältigen „verantwortungsimperialistischer" Staat zivilgesellschaftlichen Maßnahmen etwa von Verantwortung an die Zivilgesellschaft Unternehmensstiftungen deutlich, die eine zurückgeben müsse.82 Der Ansatz war Teil einer international angelegten 79 Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung. Weltwirtschaft, 01.06.2000, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des http://www.tagesspiegel.de/politik/konferenz- demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: modernes-regieren-vierzehn-gegen-die-gefahren-der- Suhrkamp, S. 443. weltwirtschaft/144968.html (letzter Zugriff 80 Kohler-Koch, Beate (2011): Die vielen Gesichter der 30.10.2016). 84 europäischen Zivilgesellschaft. Frankfurt am Main: Brandt, Willy (1969): Regierungserklärung vor dem Campus-Verlag, S. 54. Deutschen Bundestag in Bonn am 28.10.1969, 81 Gosewinkel, Dieter /Kocka, Jürgen (2007): Editor's http://www.willy- Preface, in: Trägårdh, Lars (Hrsg.) (2007): State and brandt.de/fileadmin/brandt/Downloads/Regierungser civil society in Northern Europe. The Swedish model klaerung_Willy_Brandt_1969.pdf (letzter Zugriff reconsidered. (European civil society, 3) New York, NY, 02.02.2017). 85 xii–xiv. Vgl. Christdemokratische Union Deutschlands 82 Schröder, Gerhard (2000): Die zivile (2015): Zusammenhalt stärken - Zukunft der Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Bürgergesellschaft gestalten. Beschluss 28. Parteitag Neubestimmung der Aufgaben von Staat und der CDU Deutschlands, 14.-15.12.2015, Gesellschaft, in: Frankfurter Hefte/Die neue https://www.cdu.de/system/tdf/media/images/780x43 Gesellschaft 47/2000, S. 200–207. 9_artikel_slider/151215-flugblatt-zusammenhalt- 83 Vgl. Bruns, Tissy (2016): Konferenz "Modernes staerken.pdf?file=1&type=field_collection_item&id=39 Regieren": Vierzehn gegen die Gefahren der 20 (letzter Zugriff 02.02.2017). „Ein und dasselbe Chamäleon“ Seite 14/29 EU-in-BRIEF | Ausgabe 05-20189 5. Februar 2019
Sie können auch lesen