Eine 95%-Wirksamkeit be- deutet eigentlich recht wenig
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„Eine 95%-Wirksamkeit b deutet eigentlich recht we Im Titelinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ erklärt Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, der langjährige Vorsitzende der Arzneimit- telkommission der deutschen Ärzteschaft, sehr detailliert, auf welcher Studienbasis die vier bisher verfügbaren Covid-19-Vakzine zugelassen wurden und was eine 95 Prozent relative Wirksamkeit tatsächlich bedeutet – „eigentlich recht wenig“. Zudem war seiner Ansicht nach die „bisher Im Interview: Prof. erfolgte Kommunikation in der Öffentlichkeit zur Wirksamkeit und Sicher- Dr. med. Wolf-Dieter heit der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 unzureichend“, wie Ludwig im Ludwig, Vorsitzender Interview zu Protokoll gibt. Auch die ursprünglichen Preisvorstellungen der Arzneimittelkom- mission der deutschen von BioNTech/Pfizer hält er angesichts der Milliarden an zu impfenden Ärzteschaft (AkdÄ) Menschen für „unseriös“. 6 Monitor Versorgungsforschung 02/2021
Interview >> In nicht einmal einem Jahr seit Ausbruch der Corona-Pandemie in den Jahren verstärkt eingesetzt wird, weil man gelernt hat, dass dieses Europa und Deutschland sind inzwischen vier Impfstoffe – BioNTech/ Verfahren funktioniert? Pfizer, Moderna, AstraZeneca und ganz aktuell Johnson & Johnson – Im Rahmen der Zulassung von Impfstoffen in Krisensituationen zugelassen. Alle sollen sie in der Lage sein, schwere Krankheitsverläufe vermutlich ja. Doch kann man dieses Zulassungsverfahren nicht zu verhindern. Einerseits ist das sicher Grund zur Freude, aber auch zur ohne weiteres auf neue Arzneimittel übertragen. Es gibt für neue Vorsicht: Kann es in dieser doch sehr Arzneimittel in Europa bereits kurzen Zeit trotz des hier angewandten unterschiedliche beschleunigte Rolling-Review-Verfahrens schon genü- Zulassungsverfahren – neben gend und vor allem verlässliche Stu- „Ich rechne nicht mit einem verstärkten Einsatz der CMA eine Zulassung unter dienergebnisse geben? des „Rolling-Review“-Verfahrens in den außergewöhnlichen Umständen, In der Öffentlichkeit wird die nächsten Jahren.“ eine beschleunigte Beurteilung Sachlage häufig unvollständig dar- und das sogenannte „PRIORITY gestellt. Sowohl die in den letzten MEDICINES“-Verfahren (PRIME), Jahren entwickelten neuen Techno- die an unterschiedliche Bedin- logieplattformen für Impfstoffe als auch das „Rolling-Review“-Ver- gungen geknüpft sind. Wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass ein fahren, bei dem bereits vor Einreichen eines Zulassungsantrags durch ungedeckter medizinischer Bedarf („unmet medical need“) besteht den pharmazeutischen Hersteller von der Europäischen Arzneimittel- bzw. die neuen Arzneimittel eingesetzt werden sollen in Krisensitu- Agentur (EMA) die Ergebnisse der präklinischen Forschung sowie der ationen gegen eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. Diese drei Phasen der klinischen Prüfungen geprüft wurden, ermöglichen Anforderungen werden glücklicherweise eher selten erfüllt und ich beschleunigte Zulassungen. Außerdem sind mit der bisher für alle rechne deshalb nicht mit einem verstärkten Einsatz des „Rolling- Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 durch die EMA erteilten bedingten Zu- Review“-Verfahrens in den nächsten Jahren. lassungen („Conditional Marketing Authorization“ = CMA) spezifische Auflagen für den Zulassungsinhaber verbunden. Grundsätzlich muss Wie steht es um die Qualität der jeweiligen Studienlagen für die für den jeweiligen Impfstoff ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis bisher verfügbaren Impfstoffe? Zuerst: Mit welcher Alternative wurde nachgewiesen werden und umfangreiche Daten zur Wirksamkeit und verglichen? Sicherheit aus den meist bei Zulassung noch nicht abgeschlossenen Als Vergleichsarm wurden bei den beiden neuen mRNA-Impfstoffen klinischen Studien müssen später nach der Zulassung eingereicht wer- – sowohl bei BioNTech/Pfizer als auch bei Moderna – Placebos ge- den. Die CMA ist zunächst ein Jahr gültig und dann jährlich verlänger- wählt; der adenovirale Vektorimpfstoff von AstraZeneca wurde gegen bar. Bei Vorliegen ausreichender Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis einen bereits zugelassenen Meningokokken-Impfstoff getestet. Das kann dann eine Umstellung auf heißt, dass die Interventionsgruppe in unterschiedlichen zeitlichen eine Standardzulassung erfolgen. Abständen zweimal den Impfstoff bekommen hat, die Kontrollgruppe Die Kritik an der zu langsamen ein Placebo. Zudem steht hinter der Entwicklung des AstraZeneca- be- Zulassung der ersten beiden „mes- Impfstoffs eine andere Philosophie. Die klinischen Prüfungen wurden senger“ (m) RNA-Impfstoffe von bewusst in unterschiedlichen Regionen der Welt (Großbritannien, Seiten der Gesundheitspolitiker Südafrika, Brasilien) durchgeführt und die Ergebnisse dieser Studien in Deutschland halte ich nicht für sind auch aufgrund des Auftauchens stärker ansteckender Virusmu- berechtigt. Diese Zulassungen er- tationen in diesen Ländern nicht ohne weiteres mit den Ergebnissen enig“ folgten nur wenige Wochen nach zu den beiden mRNA-Impfstoffen vergleichbar. Außerdem wurde das den Notfallzulassungen dieser Design dieser Studien im akademischen Umfeld der Oxford University Impfstoffe zum Beispiel in Groß- entwickelt und das Behandlungsprotokoll der für die Zulassung rele- britannien, den USA und Kanada. vanten vier Studien des AstraZeneca-Impfstoffs war nicht einheitlich. Außerdem bewirken die bedingten Versehentlich hatte eine kleinere Gruppe von geimpften Probanden Zulassungen auch, dass der phar- eine geringere Erstdosis des Impfstoffs erhalten, die überraschen- mazeutische Hersteller – anders derweise zu einer besseren Wirksamkeit führte – möglicherweise, als bei der Notfallzulassung – nicht aus der administrativen und zivil- weil die Immunantwort gegen das bei diesem Impfstoff verwendete rechtlichen Haftung für seinen Impfstoff ausgeschlossen wird. Adenovirus schwächer war und dadurch der Effekt der zweiten Imp- fung verstärkt wurde. Warum das? Weil es sich bei den Ergebnissen aus der entscheidenden Zum zweiten: Wie beurteilen Sie die Studienlage nach der Anzahl Phase III der klinischen Prüfungen (Vergleich von Wirksamkeit und der Probanden? Sicherheit des Impfstoffs gegen Placebo bzw. gegen SARS-CoV-2 nicht Die Zahl der jeweils eingeschlossenen Probanden ist für Zulas- wirksamen Impfstoff) fast immer um Zwischenauswertungen handelt sungsstudien zu einem neuen Impfstoff sicher ausreichend. Das gilt und eine endgültige Bewertung deshalb noch nicht möglich ist. Das übrigens für alle, sowohl für die Vakzine von BioNTech/Pfizer, von von der EMA gewählte Verfahren einer „bedingten Zulassung“ ist ein Moderna als auch von AstraZeneca, obwohl in den vier klinischen Stu- durchaus übliches und reguläres Verfahren im Rahmen beschleunigter dien zum AstraZeneca-Impfstoff weniger Probanden (etwas mehr als Zulassungen, das in den letzten Jahren, beispielsweise in der Onko- 25.000) getestet wurden. Zweifelsfrei ist die rasche Entwicklung die- logie, sehr häufig zum Einsatz gekommen ist. ser Impfstoffe, für die früher 10-15 Jahre benötigt wurde, als großer Erfolg der Wissenschaft zu bezeichnen. Dass man überhaupt in der Erwarten Sie, dass das „Rolling-Review“-Verfahren in den kommen- Lage war, in derart kurzen Zeiträumen vor allem die mRNA-Impf- Monitor Versorgungsforschung 02/2021 7
Interview stoffe, die bisher noch nie zugelassen wurden, in klinischen Studien jedoch eine Impfempfehlung mit Altersbegrenzung. Das Vertrauen zu prüfen und dann auch noch relativ rasch und in großer Menge in diese Vakzine ist allerdings durch die Altersbegrenzung der STI- verfügbar zu machen, ist sehr erfreulich. Verantwortlich hierfür ist KO und aktuell auch durch die Meldungen zu Gerinnungsstörungen sicher auch, dass sich die Wissenschaft mit diesen neuen Impfstoff- (z. B. Thrombosen, Lungenembolien) beeinträchtigt worden. Natür- Generationen zur Behandlung viraler Infektionen bereits seit einigen lich müssen die aktuellen Sicherheitssignale nach Impfung mit der Jahren beschäftigt und für deren Herstellung neue Technologieplatt- AstraZeneca-Vakzine sorgfältig analysiert werden. Allerdings entspre- formen entwickelt hat. chen die bisher bekannten 22 Fälle mit thromboembolischen Kompli- kationen bei vielen Millionen mit der AstraZenca-Vakzine geimpften Wie steht es, zum dritten, um die bei den bisher zugelassenen Impf- Personen in etwa der Häufigkeit derartiger Komplikationen in der stoffen angewandten Studiendesigns? Gesamtbevölkerung und ein kausaler Zusammenhang ist nicht be- Alle oben genannten Impfstoffe wurden im Rahmen der Phase III wiesen. Ich selbst würde mich auch mit dem AstraZeneca-Impfstoff in randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Dies ist eine impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin. entscheidende Voraussetzung, um aussagekräftige Ergebnisse zum klinischen Nutzen und den Risiken dieser Impfstoffe zu erhalten. Mitte März hatten diverse Länder die Impfung mit AstraZeneca gestoppt. Der Grund dafür waren neue Meldungen über die Bildung Die Gründer von BioNTech wollten übrigens eigentlich einen Impf- von Blutgerinnseln in Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der stoff gegen Krebserkrankungen entwickeln. Impfung. Die Rede war Mitte März in Deutschland von 13 Fällen einer Was jedoch bisher nicht erfolgreich war. Dies war für mich als sehr seltenen Form der Hirnvenenthrombosen, der sogenannten Sinus- Hämatologen und Onkologen nicht überraschend. Wichtig im Zusam- venenthrombosen. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA empfieh- menhang mit der Entwicklung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 ist lt nach einer schnellen Überprüfung den AstraZeneca-Impfstoff trotz- vor allem, dass die Sequenzierung dem weiterhin. Wie sehen Sie diese des für die Infektion menschlicher neuerliche Entscheidung der EMA? Zellen entscheidenden Spike-Gly- Zeigt sich hier auch, dass die be- koproteins von SARS-CoV-2 so „Die in der Laienpresse häufig erwähnte und dingte Zulassung ganz richtig war? rasch, nämlich bereits Anfang 2020 leider nur selten erklärte Angabe zur Natürlich mussten diese in gelang, und die benötigten Tech- der EU aufgetretenen schweren Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig.“ nologieplattformen zur Verfügung Nebenwirkungen – sowohl die al- standen, um die oben genannten lerdings sehr seltenen und vorwie- mRNA- bzw. DNA-Impfstoffe zu gend bei Frauen im Alter zwischen entwickeln. Interessant wäre trotzdem gewesen, dass BioNTech in 20 und 50 Jahren aufgetretenen Blutgerinnsel im Gehirn (Sinus- diesem Zusammenhang die Gründe genannt hätte, weshalb die Ent- venenthrombose), teilweise verbunden mit einer Verminderung der wicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Krebserkrankungen bisher Blutplättchen (Thrombozytopenie), als auch die Thrombosen in den nicht erfolgreich war. Dies hätte auch Vertrauen der Öffentlichkeit in peripheren Venen, die vereinzelt zu Lungenembolien geführt hatten diese neue Technologie zur Herstellung von mRNA-Impfstoffen ge- – sehr gründlich vom Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der stärkt. Sicher ist die Herstellung eines mRNA-Impfstoffes gegen ein Pharmakovigilanz der EMA (PRAC) untersucht werden. Dies ist inzwi- molekular gut charakterisiertes Spike-Glykoprotein, das entschei- schen geschehen und der Ausschuss hat am 18.3.2021 erneut fest- dend ist für die Infektion humaner Zellen mit SARS-CoV-2, nicht ver- gestellt, dass der Nutzen des AstraZeneca-Impfstoffs das Risiko von gleichbar mit der komplexen Pathogenese von Krebserkrankungen, Nebenwirkungen überwiegt. Darüber hinaus wurde als Maßnahme die meist nicht eine, sondern multiple genetische Veränderungen der Risikominimierung beschlossen, entsprechende Warnhinweise in aufweisen. die Fach- und Gebrauchsinformation dieses Impfstoffs aufzunehmen. Überdies wurde gezielt auf bestimmte Symptome (z.B. Kopfschmer- Wie sehen die Zwischenergebnisse der Zulassungsstudien der bisher zen, Sehstörungen, Arm- oder Beinschwellungen, Kurzatmigkeit) zugelassenen Covid-19-Vakzine insgesamt aus? hingewiesen, die bei Auftreten in einem Zeitraum von etwa 7 bis 14 Alle bisher publizierten und für die Zulassung relevanten kli- Tagen nach der Impfung Personen veranlassen sollten, sich umge- nischen Studien der Phase III haben hinsichtlich Wirksamkeit der hend bei einer Ärztin oder Arzt vorzustellen. drei zuvor genannten Impfstoffe Ergebnisse erbracht, die man für Impfstoffe generell fordert: 50 Prozent Wirksamkeit und mehr. Dies Hat die Politik, hat Gesundheitsminister Spahn richtig gehandelt, gilt auch für die Vakzine von AstraZeneca. als er den vorsorglichen Impfstopp verkündete? Aus meiner Sicht wäre die Politik gut beraten gewesen, wenn sie Nun stehen Ärzte vor der Situation, ihre Patienten beraten zu müs- die Entscheidung der EMA abgewartet und die Öffentlichkeit dann sen, welchen von den zugelassenen Impfstoffen sie nehmen sollen, entsprechend informiert hätte. Angesichts der Zahl der inzwischen im wenn sie denn die Wahl haben. Europäischen Wirtschaftsraum mit AstraZeneca geimpften Personen Die Wahl war bekanntlich bis vor kurzem durch die „Empfehlungen (etwa 20 Mio.) handelt es sich um äußerst seltene Nebenwirkungen, zur Covid-19-Impfung“ der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim bei denen auch keine Hinweise auf Qualitätsmängel (z. B. Auftreten Robert Koch-Institut (RKI) eingeschränkt, da der AstraZeneca-Impf- nur bei bestimmten Chargen) festgestellt werden konnten. stoff zunächst nur für die Altersgruppe unter 65 Jahre empfohlen wurde. Dabei handelt es sich übrigens um einen sehr ungewöhn- Welcher der zugelassenen Impfstoffe ist aus Ihrer Sicht der lichen Vorgang: Von der EMA erhielt der AstraZeneca-Impfstoff eine geeignetste? Wohlwissend, dass sie nicht vergleichend untersucht bedingte Zulassung ohne Altersbegrenzung, von der STIKO beim RKI worden sind und auch die so oft im Fokus des medialen Interesses 8 Monitor Versorgungsforschung 02/2021
Interview stehende Wirksamkeit nur recht wenig aussagefähig ist. gelaufenen Impfkampagne. Es war seitens der Politik und der für Diese Frage ist aufgrund der o. g. Studiendesigns – es erfolgte Impfstoffe zuständigen Bundesoberbehörde (PEI) meines Erachtens kein direkter Vergleich der Impfstoffe – nicht sicher zu beantworten. unklug, so früh derart hohe Erwartungen mit der Impfkampagne zu Unbedingt sollte die zu impfende Person gründlich über Vor- und verknüpfen. Nachteile der bisher zugelassenen Impfstoffe informiert werden, um eine individuelle Entscheidung zu ermöglichen. Zurück zur bedingten Zulassung und dem angewandten „Rolling- Review“-Verfahren. Im Laufe der Zeit werden von den die Impfstoffe Was bedeutet denn 95 Prozent Wirksamkeit? in den Markt bringenden pharmazeutischen Unternehmen Zusatz- Diese in der Laienpresse häufig erwähnte und leider nur selten daten gefordert, bei denen es sich tatsächlich um Real-World-Data erklärte Angabe zur Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig. Es handelt, die Nebenwirkungen, Verträglichkeit und Wirkung beinhalten handelt sich hier um eine relative Wirksamkeit, die sich beispielswei- werden. se beim Impfstoff von BioNTech/Pfizer aus folgendem errechneten Natürlich brauchen wir solche „Real-World-Daten“ dringend. Zu- Vergleich ergibt: In der geimpften Interventionsgruppe wurden bei 8 nächst aber benötigen wir finale Auswertungen der randomisierten Probanden die vorher definierten Kriterien für Covid-19 erfüllt; hier- kontrollierten Studien. Alle bisherigen Aussagen zu Corona-Impf- zu zählen beispielsweise Fieber, Husten, Atemnot, Kopfschmerzen, stoffen beziehen sich auf Zwischenanalysen publizierter Studien, die Muskelschmerzen, Verlust des Geschmacks- oder Geruchssinns. In der auf einer medianen Nachbeobachtungzeit von wenigen Monaten nach nicht geimpften Kontrollgruppe gab es hingegen 162 Probanden, die der 2. Impfung beruhen. Diese Zeit ist zwar ausreichend, um ungefähr für Covid-19 charakteristische Symptome gezeigt haben. Aus dem zu sagen, wie viele Probanden die Kriterien für den primären Endpunkt Verhältnis von 8 zu 162 ergibt sich eine relative Wirksamkeit von – Wirksamkeit des Impfstoffes gegen eine bestätigte Erkrankung 95 Prozent. Wohlgemerkt: bei einer Gesamtzahl von etwa 36.500 (Covid-19) nach SARS-CoV-Infektion, die wenigstens 7 Tage nach Studienteilnehmern. Schon an die- der 2. Impfung begonnen hat- sem Wert sieht man, dass die Zahl te – erfüllt haben. Leider ist aber der erkrankten Studienteilnehmer in Deutschland versäumt worden, – das primäre Zielkriterium – in „Auf Basis der vorliegenden Daten kann während der jetzt begonnenen beiden Gruppen gering war. Man natürlich nichts zur Langzeitsicherheit Impfkampagne Kohortenstudien sollte deshalb immer die zugrunde- durchzuführen, um bei gewissen gesagt werden.“ liegenden Zahlen kommunizieren. Risikogruppen (z.B. alte Men- schen mit Begleiterkrankungen, Was sagen uns also die Ergeb- Menschen mit erhöhter Thrombo- nisse der Studien? segefährdung, Menschen mit das Immunsystem beeinträchtigenden Leider eher wenig. Sicher ist, dass die Impfungen nutzen, da Erkrankungen oder Medikamenten, Menschen mit Allergien) in Re- die Zahl der nach Infektion mit SARS-CoV-2 an Covid-19 erkrankten gistern systematisch „Real-World-Daten“ zu erfassen, um mehr Er- Personen reduziert werden konnte und auch schwere Verläufe von kenntnisse der Impfstoffe in Bezug auf Wirksamkeit, Sicherheit und Covid-19 verhindert wurden. Unklar bleibt jedoch – da eine syste- Immunogenität in den zuvor genannten Risikogruppen zu erhalten. matische Testung aller Probanden mittels PCR auf SARS-CoV-2 In- Dies wäre eine wichtige Aufgabe der Gesundheitspolitik gewesen, die fektion nicht erfolgte –, ob eventuell mit BioNTech/Pfizer geimpfte leider diesbezüglich untätig war. Probanden z. B. Fieber und/oder Muskelschmerzen seltener gemeldet haben, weil sie von ihnen als Nebenwirkungen der Impfung und nicht Heißt das: Achtung möglicher Bias? als Symptome von Covid-19 erachtet wurden. Dies könnte bedeuten, Ja! Ebenso wichtig ist, dass auf Basis der vorliegenden Daten na- dass die relative Wirksamkeit weniger als 95% beträgt. türlich nichts zur Langzeitsicherheit gesagt werden kann. Immerhin wissen wir, dass sich bei allen zugelassenen Impfstoffen eine recht Gilt dieser Einwand denn für alle zugelassenen Covid-19-Impfstoffe? gute Immunität entwickelt, was sowohl neutralisierende IgG Anti- Für die bisher zugelassenen Impfstoffe auf jeden Fall. Für den körper betrifft als auch die zelluläre – also durch T-Lymphozyten Impfstoff von AstraZeneca wurde ein kombiniertes Zwischenergeb- vermittelte – Immunität. Wir wissen aber nichts darüber, wie sich nis – basierend auf Zwischenergebnissen von 2 der 4 Studien, die in die Immunität nach sechs oder gar zwölf Monaten verhält. Großbritannien und Brasilien insgesamt 11.636 Probanden rekrutier- ten – errechnet. Abhängig vom Dosierungsschema ergab sich eine Es gibt in Medien berichtete Daten, die bezweifeln, dass eine Immu- relative Wirksamkeit von 70 bis 90 Prozent. Aus meiner Sicht sind nität sehr viel länger als sechs Monate dauern wird. indirekte Vergleiche der AstraZeneca-Vakzine mit den Ergebnissen Dies wissen wir nicht genau aufgrund der kurzen Nachbeobach- der mRNA-Impfstoffe jedoch unzulässig, weil die klinischen Studien tung in den klinischen Studien. Wir benötigen aber hierzu gesicherte Probanden in unterschiedlichen Regionen der Welt eingeschlossen Erkenntnisse, um eine sehr wahrscheinlich nötige zweite Impfkam- haben, in denen (z.B. Südafrika, Brasilien) möglicherweise bereits pagne rechtzeitig planen können. Nur eine ausreichend lange Nach- auch stärker ansteckende Virusvarianten kursierten. beobachtung wird diese wichtige Frage beantworten können. Auch möglicherweise verzögert auftretende Nebenwirkungen könnten dann Klaus Cichutek, der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), zuverlässig erfasst werden. Dies halte ich vor allem angesichts der sprach in diesem Zusammenhang vom Einsatz eines „Game Changers“. bisher noch nie verabreichten mRNA-Impfstoffe für wichtig. Diesen Begriff würde ich momentan nicht verwenden: einerseits aufgrund der noch bestehenden Unsicherheiten zu den Impfstoffen Auch hat das PEI verschiedene Sicherheitsstudien zur aktiven Über- und andererseits angesichts der in Deutschland eher langsam an- wachung der Impfstoffsicherheit aufgelegt und die App „SafeVac“ zur Monitor Versorgungsforschung 02/2021 9
Interview Erhebung der Verträglichkeit von Covid-19-Impfstoffen entwickelt (1). Ich denke, dass die Verantwortlichen für die Gesundheitspolitik Eine App wie „SafeVac“ ist zweifelsfrei sinnvoll. Sie muss aller- in Deutschland und die Experten, die sich derzeit regelmäßig in den dings ihre Praxistauglichkeit noch nachweisen. Genauso wichtig ist, öffentlichen Medien zu Wort melden, diese offene Kommunikation dass die Ärzteschaft konsequent alle unerwünschten Arzneimitteler- über Studienergebnisse zu den Impfungen mehr hätten beherzigen eignisse (UAE), die nach den Impfungen auftreten, an die zuständi- sollen. Eindeutiges Ziel dieser Kommunikation war und ist, die zuge- gen Institutionen meldet, und zwar nicht nur schwerwiegende UAE, lassenen Impfstoffe in der Öffentlichkeit so darzustellen, dass eine sondern auch Verdachtsfälle von UAE. möglichst hohe Impfbereitschaft entsteht – jedoch immer auf Basis zuverlässiger und transparenter Daten. Das Institut für Qualität und Was sagen uns die Todesfälle in Norwegen, die nach Impfungen Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hätte aus meiner auftraten? Sicht in diese Kommunikation stärker eingebunden werden müssen, Die dokumentierten Todesfälle im Rahmen der Impfaktionen in da dort Experten sitzen, die über große Erfahrung in der unabhängi- Norwegen darf man nicht überbewerten. In Norwegen sterben, wie gen, evidenzbasierten Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Impf- auch bei uns, ältere gebrechliche Menschen – um die es sich bei den stoffen verfügen. berichteten Fällen meist gehandelt hat – aus unterschiedlichen Grün- Was ist mit dem RKI? den. Daher muss man sehr sorgfäl- „Wenn wir nur die Industrienationen nach dem Im RKI sitzen ohne Zweifel tig analysieren, ob der Tod natür- Motto ,Europe first‘ oder ,America first‘ impfen, sehr kompetente Virologen bzw. lich oder womöglich in Folge einer Infektiologen. Die dort angesie- werden wir nur schwer eine tatsächliche Impfung aufgetreten ist. Letzteres delte STIKO ist verantwortlich für kann möglicherweise auch auftre- Herdenimmunität erzielen können.“ die in der Regel einmal jährlich ten, weil über 80 Jahre alte, ge- im Epidemiologischen Bulletin des brechliche Personen mit schweren RKI veröffentlichten Standardemp- Begleiterkrankungen durch systemisch auftretende Impfnebenwir- fehlungen zu den Impfstoffen und aktuell vor allem für die Covid- kungen (z. B. Fieber, Erbrechen, Diarrhö) akut sehr gefährdet sein 19-Impfempfehlungen. Ich denke, dass die gründliche Interpretation können. Grundsätzlich müssen die zuständigen Ärzte in Seniorenhei- klinischer Studiendaten zu den Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 und men sehr sorgfältig abwägen: Was ist trotz aller Vorsichtsmaßnahmen entsprechende Kommunikation nicht zu ihrem Kerngebiet gehören. für einen alten Menschen (> 80 Jahre) mit schweren Begleiterkran- kungen wahrscheinlicher: sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und ver- Ein anderer Punkt ist die Kosten-Nutzen-Analyse der zugelassenen mutlich einen schweren Verlauf von Covid-19 zu erleiden oder infolge Impfstoffe. Der Ursprungspreis des BioNTech/Pfizer-Vakzins soll mit 54 schwerwiegender Impfnebenwirkungen ernsthaft zu erkranken? Euro pro Dosis ziemlich hoch angesetzt gewesen sein. Ja, dies hat eine Netzwerkrecherche von ARD und Süddeutscher Das Problem, mit statistischen Größen umzugehen und sie an die Zeitung aufgedeckt. Dabei handelte es sich offensichtlich um ein ver- Bevölkerung und auch an Fachgruppen zu vermitteln, damit diese sie trauliches Erstangebot an die Europäische Kommission. Kürzlich ist auch richtig interpretieren können, ist also alles andere als trivial. eine sehr informative Publikation unter der Rubrik „Public Health“ im Gäbe es denn überhaupt einen guten Weg so zu kommunizieren, dass „Lancet“ (2) erschienen, in der man genau sieht, welche Preise für die Bevölkerung in der Lage ist, eine wirklich gut begründete Bereit- die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 in den sogenannten „High Income- schaft zur Impfung zu erreichen? Countries“ – den Industrienationen, also auch in Deutschland – be- Die bisher erfolgte Kommunikation in der Öffentlichkeit zur Wirk- zahlt werden. Sowohl für die Vakzine, die bereits zugelassen sind, als samkeit und Sicherheit der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 war aus auch für diejenigen, die sich noch in der Forschung und Entwicklung meiner Sicht unzureichend. Anstatt die zuvor genannten Werte zur befinden. Angegeben wurde jeweils der niedrigste Preis, der für die Berechnung der relativen Wirksamkeit verständlich darzustellen, wur- meisten Impfstoffe zwischen 5 und 30 US-Dollar lag. de in den öffentlichen Medien und häufig auch in Talkshows ausführ- lich über den Aufbau von Impfzentren, Probleme bei der Beschaffung Das Ursprungsangebot von 54 Euro, mit dem BioNTech/Pfizer in die und Verabreichung von Impfstoffen sowie über die Sinnhaftigkeit der Verhandlungen gestartet ist, war jedoch ein Erstangebot in der Preis- Lockdown-Maßnahmen diskutiert. Gewünscht hätte ich mir verstärkt verhandlung an die EU. eine für die Öffentlichkeit verständliche Darstellung, was Impfstoffe Absolut richtig. Mich stört es, dass dieses ursprüngliche Angebot gegen SARS-CoV-2 bewirken sollen (z. B. sterile Immunität in der Be- zunächst geheim gehalten worden ist. Und: Ich halte es in Relation völkerung), was wir zu ihrer Wirksamkeit und Sicherheit momentan zu dem, was die meisten anderen Impfstoffhersteller für eine Dosis wissen und vor allem, welche Fragen hierzu derzeit noch nicht beant- verlangen, rückblickend für unseriös. wortet werden können. Es gibt aus den USA, aber auch beispielsweise vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin interessante Woran sollte sich der Preis eines Impfstoffes oder eines Arzneimit- Publikationen zur geeigneten Information der Öffentlichkeit. Diese tels orientieren? zeigen, wie man die Bevölkerung auch über vorhandene Unsicher- In erster Linie natürlich an den tatsächlichen Forschungs- und heiten hinsichtlich der Impfungen gegen SARS-CoV-2 adäquat infor- Entwicklungskosten und deren finanzielle Unterstützung durch staat- mieren kann. Wenn man dies richtig tut, sind Menschen eher bereit, liche Organisationen, aber auch an den Kosten für die Herstellung die derzeit notwendigen Maßnahmen zu akzeptieren – sei es die eines der Impfstoffe und den für die weltweiten Impfkampagnen benötig- Lockdowns oder die einer Impfung. ten großen Volumina der Impfstoffe. Bei den aktuell diskutierten Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 kommt hinzu, dass Staaten in Vor- Wer hat die Verantwortung dafür? leistungen gegangen sind. Was auch wichtig und absolut richtig 10 Monitor Versorgungsforschung 02/2021
Interview Zitationshinweis Ludwig, W.-D., Roski, R., Stegmaier, P.: „Eine 95%-Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 6-11. doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2284 war, weil schnell Impfstoffe benötigt wur- auch – obwohl es wünschenswert wäre – für den und werden. BioNTech zum Beispiel hat ziemlich unrealistisch. Transparent hätte nach Aussage eines „Lancet“-Artikels (2) man hingegen machen können, um welche etwa 445 Millionen US-Dollar an staatli- Größenordnung es bei Preisen und Mengen cher Unterstützung bekommen – alleine aus geht und zu welcher Zeit, welche Mengen zur Deutschland. Auch andere Impfstoffe haben Verfügung stehen können. Dann hätte man erhebliche finanzielle Unterstützung durch der Öffentlichkeit ein viel besseres Bild ver- nationale Regierungen beziehungsweise mitteln können, vor welchen Problemen eine „Non-Profit“-Organisationen (wie etwa die vernünftige Impfkampagne in Deutschland Bill & Melinda Gates-Foundation oder die wirklich steht. Vollmundige Versprechen nut- „Coalition for Epidemic Preparedness Inno- zen niemanden, am wenigsten dann, wenn vations“, kurz CEPI, erhalten. Nach Anga- man sie nicht halten kann. ben in dem „Lancet“-Artikel variiert diese Finanzierung deutlich zwischen 3 Millionen Wie steht es denn um die Frage der ärzt- US-Dollar von „Non-Profit“-Organisationen lichen Aufklärung? bis hin zu 2,1 Milliarden US-Dollar von der Dieses Thema liegt mir sehr am Herzen. Regierung in den USA sowie der Bill & Melin- da Gates-Foundation. Wenn man nun hoch- Prof. Dr. med. Wenn ich höre, was meine bereits geimpf- ten Patienten, fast alle mit malignen Erkran- rechnet, dass mit diesen Impfstoffen nicht wie bei Medikamenten tausende oder zehn- Wolf-Dieter Ludwig kungen, über die ihnen gegebene Aufklärung in den Impfzentren berichten, dann wird tausende an Patienten behandelt werden, deutlich, dass diese Form der Aufklärung mit sondern viele Millionen, ja Milliarden an ist seit 2006 Vorsitzender Video, umfangreichen Papieren und kurzem Menschen, wird rasch deutlich, dass infolge der Arzneimittelkommission Gespräch mit dem Arzt nur selten die Anfor- der Pandemie ein enormer Umsatz und damit der deutschen Ärzteschaft. derung an eine gründliche ärztliche Siche- auch Börsenwert für die in der Impfstoffher- Der Facharzt für Innere rungs- und Selbstbestimmungsaufklärung stellung führenden pharmazeutischen Un- Medizin, Hämatologie und erfüllt. Das halte ich für nicht akzeptabel. ternehmen realisiert wird. internistische Onkologie, Für was plädieren Sie? Dennoch werden die Ausgaben für Imp- Zusatzbezeichnung Transfu- Die vielen Leute, die kurzfristig als Impf- fungen immer noch billiger sein als Lock- sionsmedizin ist bereits seit ärzte rekrutiert wurden, können die Ergeb- downs, abgesehen davon, dass damit jede 1999 Ordentliches Mitglied nisse der klinischen Studien im Einzelnen Menge Leben gerettet und Folgeschäden von der Arzneimittelkommission gar nicht kennen bzw. so kommunizieren, Corona vermieden werden. und seit 2000 Vorstands- dass sie eine impfbereite Person versteht. Darum wurden weltweit richtigerweise Eine sachgerechte ärztliche Aufklärung zur Impfkampagnen gestartet, um so die Pande- mitglied. Zudem ist er seit Impfung gegen SARS-CoV-2 – besonders mie zurückzudrängen. Das muss uns jedoch 1988 Mitglied verschiedener hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit nicht nur in den reichen Staaten, sondern nationaler und internatio- der Impfstoffe, aber auch der Notwendigkeit auch in den Entwicklungs- und Schwellen- naler Fachgesellschaften der Impfung – kann am besten in Hausarzt- ländern gelingen. Wenn wir nur die Indus- (u. a. Deutsche Gesellschaft praxen erfolgen. Die hier tätigen Kollegen trienationen nach dem Motto „Europe first“ für Hämatologie und Onko- kennen ihre Patienten und deren Vor- bzw. oder „America first“ impfen, werden wir nur Begleiterkrankungen und wissen meist auch schwer eine tatsächliche Herdenimmunität logie, European Hematolo- sehr gut, wie diese Informationen vermittelt erzielen können. In den sehr mobilen Ge- gy Association, American werden sollten, sodass man sie auch ver- sellschaften, in denen wir heutzutage leben, Society of Hematology) steht. werden ansonsten immer wieder aufs Neue sowie seit 2006 Mither- Viren von außerhalb Europas oder Amerika ausgeber des unabhängi- Herr Professor Ludwig, Danke für das Ge- eingetragen und damit zwangsläufig auch gen Informationsblattes spräch.
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