Delir im Krankenhaus Übersichtsarbeit - Deutsches Ärzteblatt
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MEDIZIN Übersichtsarbeit Delir im Krankenhaus Norbert Zoremba, Mark Coburn D as Delir ist eine akute Störung der zerebralen Zusammenfassung Funktion. Seine multifaktorielle Ätiologie ist noch nicht vollständig geklärt. Die Delirinzi- Hintergrund: Das Delir ist eine akute Störung der zerebralen Funktion. Die Inzidenz denz variiert je nach dem untersuchten Patienten- ist abhängig vom Patientenkollektiv. Sie beträgt bei Intensivpatienten 30–80 % und kollektiv. Während ein Drittel der internistischen liegt bei chirurgischen Patienten je nach Eingriff zwischen 5,1 und 52,2 %. Die frü- Patienten älter als 70 Jahre ein Delir im Kranken- here Bezeichnung „Durchgangssyndrom“ suggerierte eine passagere Erkrankung. haus entwickeln, liegt die Inzidenz bei chirurgi- Das Delir geht jedoch mit einer erhöhten Letalität, einem längeren Krankenhausauf- schen Patienten abhängig vom durchgeführten Ein- enthalt und einem schlechteren Behandlungsergebnis einher. Circa 25 % der Pa- griff zwischen 5,1 % nach kleineren Eingriffen und tienten behalten nach einem Delir kognitive Funktionsstörungen zurück. 52,2 % nach größeren Operationen (zum Beispiel Methode: Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche in MEDLINE, PubMed, Coch- Aortenchirurgie). Bei Intensivpatienten tritt in rane Library und im International Standard Randomized Controlled Trial Num- 30–80 % der Fälle ein Delir auf – je nachdem, wie ber(ISRCTN)-Register. schwer die Erkrankung ist (1, 2). Während eines Klinikaufenthaltes ist das Delir Ergebnisse: Für die sichere Diagnostik eines Delirs sind validierte Testverfahren prognostisch relevant. Im medizinischen Sprachge- vorhanden, beispielsweise die Confusion Assessment Method for the ICU (CAM- brauch wurde das Delir lange Zeit als „Durchgangs- ICU) für Intensivpatienten und 3D-CAM oder CAM-S für Patienten auf der Normal- syndrom“ bezeichnet. Dadurch wurde der Anschein station. Die Prävention und Therapie erfolgt primär im nichtmedikamentösen, multi- erweckt, die zerebrale Organdysfunktion sei zeitlich dimensionalen Ansatz mittels Frühmobilisation, Reorientierung, Schlafverbesse- begrenzt und heile folgenlos aus. Ein Delir ist je- rung, adäquater Schmerztherapie und der Vermeidung einer Polypharmazie. Eine doch mit einer Erhöhung der Letalität von 3,9 auf Metaanalyse zeigt, dass diese Maßnahmen die Delirinzidenz um 44 % senken. Eine 22,9 %, einer bis zu zehn Tage längeren Aufent- medikamentöse Prophylaxe kann von den Autoren nach heutigem Kenntnisstand haltsdauer im Krankenhaus und einem schlechteren nicht empfohlen werden. Vielversprechende Daten zur Senkung der Delirinzidenz Behandlungsergebnis verbunden (3, 4). Aber nicht (Odds Ratio: 0,35) bei chirurgischen Patienten durch eine perioperative Dexmedeto- nur das Auftreten eines Delirs, sondern auch die De- midingabe liegen vor. Für die medikamentöse Therapie hingegen gilt eine sorgfälti- ge Medikamentenauswahl, die auf dem klinischen Bild des Delirs basiert. lirdauer ist für den Patienten prognostisch bedeut- sam. Schlussfolgerung: Eine ausreichende Delirprävention, eine zeitnahe Diagnostik, die In einer Untersuchung bei Intensivpatienten konn- Identifikation der auslösenden Faktoren und der Beginn einer raschen kausalen und te gezeigt werden, dass die 1-Jahres-Überlebens- symptomorientierten Therapie sind für den Behandlungserfolg entscheidend. wahrscheinlichkeit mit jedem Delirtag um circa 10 % sinkt (5). Zudem beeinflussen sowohl die Manifesta- Zitierweise tion als auch die Dauer eines Delirs die kognitive Zoremba N, Coburn M: Acute confusional states in hospital. Leistungsfähigkeit. Ein Delir führt zu einer erhöhten Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 101–6. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0101 poststationären Pflegebedürftigkeit und bei circa 25 % der Patienten stellen sich nach einem Delir ko- gnitive Funktionsstörungen ein, die mit einer milden Alzheimer-Demenz vergleichbar sind (6, 7). Das Delir ist zweifelsfrei ein medizinischer Not- fall, der vermieden oder zeitnah diagnostiziert und therapiert werden muss. Der gemeinsame Bundes- ausschuss (G-BA) hat als einen der vier Leistungs- bereiche für die Erprobung von Qualitätsverträgen die „Prävention des postoperativen Deliriums von älteren Patienten“ aufgenommen (www.g-ba.de/in formationen/beschluesse/2960/). Methode Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche in den Datenbanken MEDLINE, PubMed, Cochrane Library Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie, Sankt Elisabeth Hospital Gütersloh, Gütersloh: PD Dr. med. Norbert Zoremba Ph.D. und im International Standard Randomised Control- Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen: led Trial Number (ISRCTN)-Register. Die Suchbe- Prof. Dr. med. Mark Coburn griffe sind im eKasten aufgelistet. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019 101
MEDIZIN GRAFIK andere neurokognitive Ursachen (zum Beispiel De- menz) hervorgerufen wird und nicht durch die patho- Prädisposition Exposition physiologischen Auswirkungen einer körperlichen Erkrankung erklärbar ist. Das Delir ist hinsichtlich Inzidenz und klinischem Bild sehr variabel. Daher scheint es sich durch ein Zusammenspiel von erhöh- hypoaktives Mischtyp hyperaktives ter Vulnerabilität (Prädisposition) und gleichzeitiger Delir Delir Delir Exposition gegenüber delirogenen Faktoren zu ent- katatone exzitatorische wickeln (8). Variante Variante Abhängig vom klinischen Bild unterscheidet man drei Phänotypen (9, 10): ● hypoaktives Delir (30 %) Wiederherstellung eingeschränkte ● hyperaktives Delir (5 %) der kognitiven kognitive ● Delir vom Mischtyp (65 %). Funktion Funktion Zusätzlich zu dieser Aufteilung kann die katatone Variante als Extremform des hypoaktiven und die ex- Mögliche Delirformen und klinische Behandlungsergebnisse. Ursächlich für ein Delir ist zitatorische Variante als Extremform des hyperaktiven ein Zusammenspiel von Prädisposition und Exposition gegenüber delirogenen Faktoren. Delirs definiert werden (11). In einer Kohortenstudie Das Vollbild eines Delirs kann mit fünf möglichen Ausprägungen entstehen. Die Hauptformen war drei Monate nach einem Delir in 19 % der Fälle sind das hyperaktive, das hypoaktive und das gemischte Delir. Die katatone Variante ist eine vollständige Wiederherstellung der kognitiven die Extremform des hypoaktiven Delirs und die exzitatorische Variante die Extremform des Funktion und in 52 % eine eingeschränkte kognitive hyperaktiven Delirs. Ein Delir endet in einer vollständig wiederhergestellten oder in einer eingeschränkten kognitiven Funktion (modifiziert nach [8, 11, 12]). Leistungsfähigkeit zu beobachten (Grafik) (12). Das hyperaktive Delir kann in der klinischen Praxis an- hand der Symptome rasch diagnostiziert werden. Viel schwieriger ist es, ein hypoaktives Delir und ein Delir TABELLE 1 vom Mischtyp zu erkennen. Daher gelingt die Detekti- Validierte Testverfahren zur Detektion eines Delirs* on in der klinischen Praxis nur mit definierten Tests, insbesondere beim hypoaktiven Delir. Diagnostik eines Delirs Eine apparative oder laborchemische Diagnostik CAM-ICU Untersuchung einer Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- und des Delirs ist trotz einiger potenzieller Ansätze nicht Denkstörung anhand von Testfragen sicher möglich und aktuell Gegenstand der For- ICDSC Untersuchung von Bewusstseinslage, Aufmerksamkeit, Orientierung, schung (zum Beispiel BioCog). Zu den validierten Halluzination, Agitation, Sprache, Schlaf und Symptomatik (1 = vorhan- Screeningverfahren des Delirs auf der Intensivstation den, 0 = nicht vorhanden); Beurteilung über Summenbildung zählen die Confusion Assessment Method for the ICU (CAM-ICU) und die Intensive Care Delirium Nu-DESC Untersuchung von Orientierung, Verhalten, Kommunikation, Screening Checklist (ICDSC). Alle aufgeführten Halluzination und psychomotorischer Retardierung (je nach Ausprägung Werte 0–2); Beurteilung über Summenbildung Testverfahren sind in deutscher Sprache erhältlich und kostenfrei nutzbar. 3D-CAM Untersuchung einer Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- und Denkstörung anhand von Testfragen Der zuverlässigste Score, um ein Delir beim Inten- sivpatienten zu entdecken, ist der CAM-ICU. Er hat CAM-S Untersuchung von Verlauf, Aufmerksamkeit, Denken, Bewusstseinslage, Orientierung, Gedächtnis, psychomotorischer Agita- eine Sensitivität von 0,79 und eine Spezifität von tion, Retardierung und Schlaf anhand von Tests; Bestimmung des 0,97 (13). Wegen seiner hohen Sensitivität von 0,99 Schweregrades (0–2). Beurteilung durch Summenbildung. und einer Spezifität von 0,64 ist bei Intensivpatienten der ICDSC eine mögliche Alternative zum CAM- *Hierzu zählen Confusion Assessment Method for the ICU (CAM-ICU ), Intensive Care Delirium Screening ICU (13). Der ICDSC ist innerhalb weniger Minuten Checklist (ICDSC), Nursing Delirium Screening Scale (Nu-DESC), 3-Minute Diagnostic Interview for CAM- durchführbar, für beatmete Intensivpatienten geeig- defined delirium (3D-CAM) und Confusion Assessment Method Severity (CAM-S) (13–16). net und ermöglicht es, ein subsyndromales Delir zu erkennen (14). Für die Normalstation ist neben der Nursing Deli- rium Screening Scale (Nu-DESC) der 3D-CAM ein Diagnose des Delirs validiertes Messinstrument, das über eine Sensitivität Eine zeitnahe Diagnostik des Delirs ist nicht einfach, von 0,95 und eine Spezifität von 0,94 verfügt (15). weil das klinische Erscheinungsbild und die Sympto- Ein neueres Testverfahren ist der CAM-S, bei dem me sehr variabel sind. Im aktuellen Diagnostic and im Vergleich zum 3D-CAM und CAM-ICU zusätz- Statistic Manual of Mental Disorders (DSM-5) ist lich der Schweregrad des Delirs ermittelt werden das Leitsymptom des Delirs eine Bewusstseins- und kann (Tabelle 1) (16). Aufmerksamkeitsstörung, die von einer Denkstörung Ein engmaschiges Delirscreening wird leider bis- begleitet sein kann. Diese Störung beginnt akut und her in europäischen Krankenhäusern und auf Inten- verläuft fluktuierend. Für die Diagnose eines Delirs sivstationen nur unzureichend durchgeführt. Luetz et ist es entscheidend, dass diese Störung nicht durch al. konnten zeigen, dass auf Intensivstationen bei le- 102 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019
MEDIZIN diglich 27 % der Patienten ein validiertes Verfahren KASTEN 1 zur Delirerkennung eingesetzt wurde (17). Dabei sind die klinisch unauffälligen Verläufe beim hypo- Nichtmedikamentöse Therapieoptionen zur aktivem Delir im Vergleich zum hyperaktivem Delir Delirprävention und Delirtherapie* mit einer höheren Letalität (33 versus 15 %) verbun- den (18). In der S3-Leitlinie zu Analgesie, Sedierung ● Reorientierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin wird – eigene Brille und Hörgeräte benutzen empfohlen, ein Delirscreening auf der Intensivstation – Uhren und Kalender sichtbar platzieren mindestens alle acht Stunden vorzunehmen (1). – aktuelle Tageszeitung Aufgrund der engen Wechselwirkung zwischen – Zimmerwechsel vermeiden Delir, Agitation und Schmerz sollten diese Domänen – Nachtruhe einhalten zusätzlich mit einem validierten Screeninginstrument – Lichtreduktion zur Nacht erfasst werden, zum Beispiel Numerische Rating- – hohe Konstanz der Pflegepersonen einhalten skala (NRS) beziehungsweise Richmond-Agitation- ● Angstvermeidung Sedation-Scale (RASS). Der Zeitaufwand ist über- – ausreichende Schmerztherapie schaubar und liegt insgesamt bei etwa fünf Minuten. – frühe Einbindung der Angehörigen Analog hierzu sollten auch bei Nicht-Intensivpatien- – Lärm reduzieren ten in gleicher Art und Weise ein Delirscreening, eine – Kältereize reduzieren Schmerzerhebung und eine Messung der Agitation – schmerzhafte Untersuchungen erläutern und vor erfolgen. Durchführung ankündigen In der klinischen Praxis haben wir in den letzten Jahren erkannt, dass das Screening auf den Intensiv- ● allgemeine Maßnahmen stationen deutlich zunimmt. Das Delirscreening auf – Frühmobilisierung – Ergo- und Physiotherapie den peripheren Stationen muss jedoch noch sehr ver- – Förderung geistiger Aktivität bessert werden. – ausreichende Oxygenierung – genügende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr Maßnahmen zur Delirprävention – Vermeidung einer Polypharmazie Multiple Faktoren können das Auftreten und die Schwere eines Delirs beeinflussen und sollten daher *Hierbei spielen reorientierende Maßnahmen, Angstreduktion und in der Delirprophylaxe berücksichtigt werden (19). Frühmobilisierung eine entscheidende Rolle (modifiziert nach [24]) In einer kontrollierten, nichtrandomisierten Studie konnten Inouye et al. bereits 1999 erste Hinweise da- für liefern, dass eine nichtmedikamentöse, multidi- mensionale Delirprävention die Delirrate signifikant zu senken vermag (20). Diese multidimensionale Reorientierung Präventionsstrategie umfasst (Kasten 1): Ein Krankenhausaufenthalt ist für die meisten Patien- ● Frühmobilisation ten ein deutlicher Einschnitt in den normalen Lebens- ● Reorientierung rhythmus. Sie befinden sich in einer für sie fremden ● optimierte Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr Umgebung, wodurch die Orientierung deutlich ge- ● Schlafverbesserung stört wird (24). Daher sollten reorientierende Maß- ● adäquate Schmerztherapie nahmen rasch nach einer Klinikaufnahme beginnen. ● Vermeidung einer Polypharmazie. Hierzu zählen vor allem: Laut einer Metaanalyse kann durch dieses Vorge- ● das Sehen und Hören optimieren hen die Delirinzidenz um 44 % gesenkt werden ● gut sichtbare Uhren und Kalender aufstellen (Odds-Ratio [OR]: 0,56; 95-%-Konfidenzintervall ● Angehörige einbinden [KI]: [0,42; 0,76]) (21). Die multidimensionale Prä- ● Zimmerwechsel vermeiden ventionsstrategie ist ebenfalls bei postoperativen Pa- ● für eine hohe Konstanz der betreuenden Pflege- tienten effektiv und reduziert die Delirrate von personen sorgen. 20,8 % [11,3; 32,1] auf 4,9 % [0,0; 11,5] (22). Um Damit die Delirprävention effektiv ist, genügt es dieses Therapiebündel zu realisieren, ist eine adäqua- nicht, einzelne Reorientierungsbereiche zu optimieren. te Schmerztherapie („Analgesia first“) unerlässlich. In einer kontrollierten Studie ergab die Subgruppen- Im eCASH-Konzept ist die Schmerzfreiheit ein es- analyse, dass unzureichend durchgeführte reorientie- senzieller Therapieanteil, da es dadurch erst möglich rende Maßnahmen aufgrund von Personalmangel und wird, die unterschiedlichen präventiven Maßnahmen fehlender Patientenadhärenz die Delirrate beeinflus- zu initiieren. Dabei sollten tagsüber stimulierende sen. Bei nicht stringenter Umsetzung kam es zu einer und nachts schlaffördernde Maßnahmen durchge- Delirrate von 24 %. Wurde die Reorientierung intensi- führt werden (23). In der Intensivmedizin ist zu- viert, reduzierte sich die Delirrate auf 13 % und sank sätzlich die Vermeidung einer zu tiefen Sedierung auf 7 %, wenn sie engmaschig umgesetzt wurde (25). (RASS < −1) ein entscheidender Faktor, um ein Delir Eine einfache, aber unerlässliche Anfangsmaßnah- zu verhindern (1). me besteht darin, das Hören und Sehen durch die ei- Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019 103
MEDIZIN TABELLE 2 28 % sinkt und die Rückkehr in ein selbstständiges Leben signifikant häufiger gelingt (27). Aber auch al- Mögliche Ursachen eines Delirs (35) le anderen stationären Patienten profitieren von einer Differenzialdiagnosen und Ursachen frühen und intensiven Physiotherapie. Eine Studie konnte belegen, dass die Delirrate bei einer weniger D Medikamenten- oder Substanzentzug („drugs“) intensiven Physiotherapie bei 14 % lag, und auf 3 % E sensorische Sinnesstörungen („eye and ear“) gesenkt werden konnte, wenn die Physiotherapie in- L Hypoxie („low O2 status“) tensiv und mehrmals täglich durchgeführt wurde (25). I Infektionen, Sepsis („infections“) Zusätzlich sorgt eine intensive Physiotherapie in den Tagesstunden für körperliche Müdigkeit und damit R Harn- und Stuhlverhalt („retentions“) für eine stabile Nachtruhe. I Leberfunktionsstörungen („ictal state“) U Hypovolämie und Mangelernährung Adäquater Schlaf-Wach-Rhythmus („underhydratation and -nutrition“) Im Krankenhaus kommt es vermehrt zu Schlafunter- M metabolische Störungen („metabolic causes“) brechungen durch pflegerische und ärztliche Maß- nahmen, unangebrachte Beleuchtung und eine nicht (S) ZNS-Pathologie („subdural hematoma“) angepasste Gesprächslautstärke. Ein hoher Geräusch- pegel verursacht besonders auf der Intensivstation Stress und Schlaflosigkeit und kann dadurch ein Delir auslösen. Daher muss im Krankenhaus mit die- KASTEN 2 ser Problematik bewusst umgegangen und ein Haupt- augenmerk auf eine angemessene Nachtruhe gelegt Mögliche vegetative Symptome werden. Bei orientierten und nichtdeliranten Patien- eines Delirs (e1, e2) ten minimieren Augenmasken und Ohrstöpsel die ● Tachykardie und Herzbeschwerden Geräusch- und Lichtexposition deutlich und verbes- ● arterielle Hypertonie sern so die Schlafqualität (28). In einer Kohortenstu- ● Unruhe und Tremor die war eine Verringerung der Schlafunterbrechung ● Schlaflosigkeit mit einer Reduktion der Delirinzidenz von 33 auf ● vermehrtes Schwitzen 14 % assoziiert (29). ● Übelkeit ● Hyperthermie Vermeidung einer Polypharmazie Viele, insbesondere alte Patienten, nehmen zur Behandlung bestehender Erkrankungen mehrere Medikamente ein. Während eines Krankenhausauf- enthaltes steigert sich oft die Anzahl der eingesetzten gene Brille und die eigenen Hörgeräte zu verbessern. Medikamente. Eine Interaktion mit dem cholin-, Nach unserer klinischen Erfahrung ist der Patient erst dopamin- oder serotoninergen System kann ein Delir dadurch in der Lage, seine Umwelt adäquat wahrzu- auslösen. Das ist bereits durch eine hochpotente Sub- nehmen und mit den behandelnden Ärzten, Pflege- stanz (zum Beispiel Lorazepam) möglich. Aber auch kräften und Angehörigen zu kommunizieren. die Kombination von mehreren geringgradig delirin- Frühzeitig die Angehörigen in den Behandlungs- duzierenden Medikamenten kann bei Polypharmazie verlauf einzubinden, sorgt für ein etwas vertrauteres das Delirrisiko erhöhen. Eine Kohortenstudie konnte Umfeld. In den Kliniken und insbesondere auch auf zeigen, dass ein Delir bei 69 % der Patienten auftrat, Intensivstationen etablieren sich daher zunehmend die sechs oder mehr Medikamente einnahmen, wäh- großzügigere Besuchszeiten. Lediglich in den späten rend in der Vergleichsgruppe (weniger als sechs Abendstunden und in der Nacht sollten die Besuchs- Medikamente) die Delirrate lediglich bei 30 % lag zeiten eingeschränkt sein, um eine adäquate Nachtru- (relatives Risiko = 2,33) (30). Um ein Delir zu he zu gewährleisten. vermeiden, ist es daher unabdingbar, kontinuierlich die Medikation zu überprüfen und nicht dringend Frühe Physio- und Ergotherapie benötigte Medikamente abzusetzen. Hierbei kann die Während eines Krankenhausaufenthaltes ist die Mo- Priscus-Liste besonders hilfreich sein (e3). bilität reduziert. Dadurch verlieren Patienten häufig sehr schnell an Muskelmasse und folglich an Muskel- Medikamentöse Prophylaxe kraft. Die dadurch bedingte Bewegungseinschrän- Immer wieder wird versucht, die Delirinzidenz durch kung ist mit einer längeren Krankenhausverweildauer eine medikamentöse Prophylaxe zu senken. In einer und einem gehäuften Auftreten neuropsychiatrischer kürzlich erschienenen randomisierten, placebokontrol- Dysfunktionen verbunden (26). In einer randomisier- lierten Studie konnte jedoch die Gabe von Haloperidol ten kontrollierten Studie konnte gezeigt werden, dass bei kritisch kranken Patienten mit einem hohen Delirri- die Delirrate durch eine frühe Physio- und Ergothera- siko weder die Delirinzidenz senken noch das Behand- pie während des Krankenhausaufenthaltes von 41 auf lungsergebnis verbessern (31). Auch eine Metanalyse 104 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019
MEDIZIN zur prophylaktischen Gabe von Cholinesteraseinhibi- toren und Antipsychotika fand keine klare Evidenz für Kernaussagen eine medikamentöse Delirprävention (32). Die prophylaktische Gabe von Melatonin ist eben- ● Ein Delir führt unabhängig vom klinischen Bild zu einer erhöhten Letalität und erfor- falls umstritten. So zeigt die exogene Melatoningabe dert daher eine umgehende Einleitung der Behandlung. bei älteren nicht chirurgischen Patienten einen delir- ● Reorientierende Maßnahmen, eine Physiotherapie, die Wahrung eines Tag-Nacht- präventiven Effekt, der jedoch bei chirurgischen Pa- Rhythmus und weitere nichtmedikamentöse Therapieoptionen können die Häufig- tienten nicht reproduzierbar ist (33). Daher kann eine keit des Delirs reduzieren. medikamentöse Delirprophylaxe zum jetzigen Zeit- ● Zur zeitnahen Diagnostik sollte mehrmals täglich ein validiertes Delirscreening punkt nicht generell empfohlen werden. Eine vielver- durchgeführt werden. Für die Intensivstation wird mindestens alle acht Stunden ein sprechende Substanz zur Delirprävention scheint der Screening empfohlen. selektive α2-Agonist Dexmedetomidin zu sein. Eine Metaanalyse konnte zeigen, dass die perioperative ● Vor einer symptomorientierten medikamentösen oder nichtmedikamentösen Thera- Gabe von Dexmedetomidin die Delirinzidenz bei chi- pie ist es zwingend erforderlich, die zugrunde liegende Delirursache zu identifizie- rurgischen Patienten signifikant senkt (OR: 0,35; ren und kausal zu behandeln. 95-%-KI: [0,24; 0,51]; p < 0,01) (34). ● Die Auswahl der eingesetzten Medikamente muss abhängig von der klinischen Symptomatik erfolgen. Delirtherapie Manifestiert sich ein Delir, sollte zunächst nach möglichen Ursachen gesucht werden. Vor allem Infektionen, Substanzentzug, Elektrolytstörungen, Blutzuckerentgleisungen, Schmerzen und Hypoxie Haloperidolgabe muss zudem symptomorientiert un- sind häufige Gründe (Tabelle 2). Hält die Symptoma- ter Monitorkontrolle titriert werden, da bei der An- tik an, obwohl mögliche Auslöser beseitigt wurden, wendung von Haloperidol QT-Zeit-Verlängerungen muss rasch eine nichtmedikamentöse Therapie erfol- bis hin zu Torsade-de-Pointes-Tachykardien auftreten gen. Dazu gehört neben der Frühmobilisation, einer können. Förderung der kognitiven Aktivität und der Reorien- Eine Alternative zu Haloperidol sind atypische tierung auch eine Verbesserung des Schlafes. Diese Neuroleptika (Risperidon, Olanzapin und Quetiapin). Maßnahmen sind nicht nur in der Prävention, sondern Sie sind im Vergleich zum niedrigdosierten Haloperi- auch in der Therapie eines Delirs äußerst wichtig (36). dol ähnlich effektiv (39). Atypische Neuroleptika ver- Für die symptomorientierte, medikamentöse Delir- ursachen im Vergleich zu Haloperidol weniger extra- therapie stehen je nach dem klinischen Bild unter- pyramidale Störungen, eine engmaschige Blutbild- schiedliche Substanzen zur Verfügung. Viele dieser und Leberwertkontrolle ist jedoch notwendig. Substanzen können jedoch aufgrund des Nebenwir- kungsprofils nur unter intensivmedizinischer Über- Resümee wachung angewendet werden. Der Umgang mit Delir im Krankenhaus erfordert es, Zur Kontrolle einer Agitation und der möglichen multifaktoriell vorzugehen. Entscheidend sind die Prä- Beeinflussung eines Delirs sollten leitlinienkonform vention und die zeitnahe Diagnostik durch validierte α2-Agonisten und kurzwirksame Benzodiazepine Screeningverfahren. Wird ein Delir diagnostiziert, eingesetzt werden (1). Im Gegensatz hierzu sind lang- muss zügig eine Therapie begonnen werden, wobei wirksame Benzodiazepine (zum Beispiel Lorazepam) nichtmedikamentöse Therapieoptionen äußerst wichtig bei Agitation nicht indiziert und haben offensicht- sind. Nur so ist es möglich, das Delir als medizinischen lich selbst eine erhebliche delirogene Potenz (37). Notfall korrekt zu behandeln und für den Patienten das Ebenso ist eine Neuroleptikagabe bei Agitation ohne optimale Behandlungsergebnis zu erzielen (40). produktiv-psychotische Symptome nicht angezeigt. Im Medikamenten- und Substanzentzugsdelir sind Interessenkonflikt leitlinienkonform langwirksame Benzodiazepine wie PD Dr. Zoremba bekam Kongressgebühren- und Reisekostenerstattung Diazepam und Lorazepam indiziert (1, 38). Stellen sowie Vortragshonorare von der Firma Orion Phama und von MD Horizonte GmbH. sich vegetative Symptome (Kasten 2) ein, können Prof. Coburn erhielt Kongressgebühren- und Reisekostenerstattung sowie adrenerge Symptome durch α2-Agonisten und gege- Vortragshonorare von den Firmen Orion Pharma und MD Horizonte benenfalls β-Blocker kontrolliert werden. GmbH. Bei produktiv-psychotischen Symptomen sind Manuskriptdaten niedrigdosiertes Haloperidol oder atypische Neuro- eingereicht: 21.9.2018, revidierte Fassung angenommen 10.12.2018 leptika empfohlen – unabhängig davon, ob es sich um Literatur ein hyperaktives oder hypoaktives Delir handelt (1). 1. S3-Leitlinie Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Inten- Entscheidet man sich für die Gabe von Haloperidol, sivmedizin. AWMF Register 2015 Nr.: 001/012 so sollte sie niedrig dosiert sein. Eine hochdosierte 2. Dasgupta M, Dumbrell AC: Perioperative risk assessment for delirium Haloperidolgabe kann zu einer Überdosierung führen after noncardiac surgery: a systemic review. J Am Geriatr Soc 2006; 54: 1578–89. und ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für ein 3. Shi Q, Presutti R, Selchen D, et al.: Delirium in acute stroke: a systematic Delir am Folgetag verbunden (1). Die intravenöse review and meta-analysis. Stroke 2012; 43: 645–9. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. 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MEDIZIN Zusatzmaterial zu: Delir im Krankenhaus Norbert Zoremba, Mark Coburn Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 101–6. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0101 eLiteratur e1. Muhl E: Delir und Durchgangssyndrom. Der Chirurg 2006; 77: 463–72. e2. Schmitt TK, Pajonk FG: Postoperatives Delir beim Intensivpatienten. Der Anaesthesist 2008; 57: 403–31. e3. Holt S, Schmiedl S, Thürmann P: Potentially inappropriate medications in the elderly. The PRISCUS List. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31–32): 543–51. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019 | Zusatzmaterial I
MEDIZIN eKASTEN Schlagwörter für die Recherche Für die Literaturrecherche haben wir die folgenden Schlagwörter verwendet: „delirium“, „definition“, „detection“, „diagnosis“, „screening“, „pathophysiology“, „prevention“, „therapy“, „treatment“ „physiotherapy“, „sleep“, „ICU“, „general practice“ „postoperative“, „haloperidol“, „dexmedetomidine“, „polypharmacia“, „benzodiazepine“ und „melatonin“. Diese Wörter haben wir genutzt, um die Quellen nach Suchschwerpunkt in unterschiedlichen Kombinationen entsprechend zu filtern. II Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 7 | 15. Februar 2019 | Zusatzmaterial
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