Einfach reisen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen aus der dritten Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI)
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Dokumentation Einfach reisen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen aus der dritten Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) Rostock, September 2020
Inhaltsverzeichnis Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 IMPULSVORTRAG Wie müssen die touristischen Angebote der Zukunft aussehen? . . 9 IMPULSVORTRAG Best Practice aus Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . 14 Podiumsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 BLOCK 1 Gute Beispiele: Einfach reisen in Mecklenburg-Vorpommern – ein Blick auf die Destinationsebene . . . . . . . . . . . . . 25 BLOCK 2 Strategie: Barrierefreie Erschließung eines touristischen Segments anhand des Beispiels Wassertourismus . . . . . . . 29 BLOCK 3 Denkfabrik: Wohin geht die Reise? – Ein Realitätscheck . . . . . 32 Podiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 / 46
Liebe Leserinnen und liebe Leser, sehr geehrte Konferenzteilnehmerinnen und Konferenzteilnehmer, am 29. September 2020 haben wir zur dritten Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) zum Thema „Einfach reisen“ nach Rostock eingeladen. Wir sind froh, dass diese Konferenz überhaupt stattfinden konnte. Sie musste durch die mit COVID-19 einhergehenden Kontakt- und Reisebeschränkungen zunächst von April auf September verschoben werden und fand schließlich in einem hybriden Format statt. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei allen vor Ort oder per Livestream Teilnehmenden für die engagierte Diskussion und die wertvollen Anregungen bedanken. Die InitiativeSozialraumInklusiv hat sich zum Ziel gesetzt, die lokal und regional Handelnden zusammenzubringen, gute Beispiele zu präsentieren und den Austausch untereinander zu fördern. Denn ein inklusiver Sozialraum kann nicht von oben verordnet werden, sondern muss sich vor Ort entwickeln. Wie vielleicht kein anderes Thema ist das Reisen als Querschnittsthema prädestiniert dafür, Sozialräume als Ganzes zu betrachten. Denn nur durch das Zu- sammenwirken vieler Akteurinnen und Akteure entwickelt sich ein Angebot, das die Bedürfnisse und Vorlieben aller Menschen, mit oder ohne Behinderung, berücksichtigt. Mecklenburg-Vorpommern hat als Reiseland mit seinen vielfältigen Urlaubsregionen und touristischen Segmenten seit jeher ein großes Interesse, die vorhandenen Angebote barrierefrei zu gestalten und neue zu erschließen. Gleichzeitig setzt das Land auf eine detaillierte und differenzierte Informationsvermittlung für Reisende, die aufgrund einer Einschränkung besondere Anforderungen an ihre Unterkunft oder ihr Reiseziel haben, indem es sich dem Kenn- zeichnungssystem „Reisen für alle“ angeschlossen hat. Denn nicht zuletzt trägt eine zuverlässige Vorabinformation dazu bei, dass sich die Gäste wohlfühlen und hoffentlich wiederkommen. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Dr. Volker Sieger Gerd Lange Tobias Woitendorf Leiter Leiter Referat „Tourismus“ im Geschäftsführer Bundesfachstelle Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismusverband Barrierefreiheit Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg-Vorpommern e. V. 3 / 46
Gerd Lange – meine Vision: „Wenn bei der Planung von Projekten Inklusion im Kopf und nicht bei den einzuhaltenden Vorschriften beginnt, ist viel gewonnen.“ Grußwort Die dritte Regionalkonferenz der InitiativeSozialraum- Inklusiv (ISI) zum Thema „Einfach reisen“ in Rostock begann mit einem Grußwort von Gerd Lange, Leiter des Referats Tourismus im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern. Einfach reisen in Meck- Gerade deshalb bin ich sehr froh, dass es lenburg-Vorpommern gelungen ist, diese Veranstaltung umzuset- zen und auch als Präsenzveranstaltung zu organisieren. Das ist ein Schritt nicht nur in Ganz herzlich willkommen in Rostock! Als die Normalität, sondern auch dahin, wo wir wir uns Ende des letzten Jahres das erste als Urlaubsland gerne schneller gewesen Mal mit dem Thema „Einfach reisen“ im wären. Rahmen der InitiativeSozialraumInklusiv beschäftigt haben, war das Reisen für Mecklenburg-Vorpommern ist in den Menschen mit Einschränkung schon nicht vergangenen Monaten das Bundesland ganz einfach. Es ist durch Corona nicht mit den niedrigsten Infektionsraten, mit der gerade einfacher geworden. geringsten Zahl an Infizierten und mit der 4 / 46
geringsten Belegung von Betten auf Inten- der Menschen in der Bundesrepublik älter sivstationen gewesen. Das ist nicht nur der als 66 Jahre, und leider werden in den nicht Arbeit der Landesregierung geschuldet, mehr ganz so jungen Bundesländern schon sondern liegt auch daran, dass bei uns auf 2030 ein Drittel der Einwohner über 64 einer relativ großen Fläche relativ wenige Jahre alt sein. Menschen leben. Auch deshalb haben wir in diesem Sommer trotz allem wieder einen Auch auf mich trifft das zu. Insofern freue großen Zuspruch erfahren. Die Buchungs- ich mich auf die Zeit und hoffe darauf, stände für den Herbst sind extrem zufrieden- dass die Leute, die sich dann mit unserem stellend, und wenn die Sonne weiter so gut Thema beschäftigen, auf einer Grundlage mitspielt, werden wir für die Branche auf arbeiten können, die wir hoffentlich schon einen Herbst zusteuern, der deutlich an das gelegt haben – dass nämlich Reisen für heranreicht, was wir in den vergangenen alle möglich sein wird. Rekordjahren an Gästen hatten. Schon für heute gilt: Wir wollen Reisende Das spricht für unser touristisches Angebot gerne vollständig begleiten. Dabei geht es in allen Segmenten, heißt aber noch lange nicht nur um Türen, die sich öffnen, wenn nicht, dass wir alles richtig und gut machen man davor steht. Zu einer gelungenen – gerade im Hinblick auf unser heutiges Reise gehören auch Informationen über Thema. das Reiseziel, die direkt und verständlich sein müssen, oder vor Ort über möglichst Konfuzius sagt: Auch die längste Reise barrierefreie Angebote, die die Urlauber beginnt mit kleinen Schritten. Für mich erwarten, bis hin zur Betreuung nach dem ist diese Regionalkonferenz einer dieser Urlaub. Denn für uns ist der richtige Gast Schritte, um unser touristisches Angebot derjenige, der wiederkommt – denn dann weiter zu verbessern – für Menschen mit haben wir alles richtig gemacht. Einschränkungen, aber auch für ältere Menschen oder ganz normale Familien. Ich freue mich sehr auf diesen Tag, dass es so viele geschafft haben, hierher zu Zu den Aufgaben des Bereichs Tourismus kommen und dass zum Beispiel die simul- im Ministerium gehört es auch, das Angebot tane Übersetzung in Gebärdensprache und der Zukunft zu gestalten. In der Landestou- auch die Übertragung ins Netz das Angebot rismuskonzeption, die vor zwei Jahren von deutlich erweitern und das Informationsvo- der Landesregierung verabschiedet wurde lumen vergrößern. und die kontinuierlich an aktuelle Entwick- lungen und Fragestellungen angepasst Ich glaube, dass wir alle heute nach der wird, haben wir uns vorgenommen, bezüg- Konferenz schlauer nach Hause gehen, als lich Infrastruktur und Mobilität viel besser, wir vorher waren. Insofern wünsche ich der also auch ärmer an Barrieren zu werden. Tagung einen sehr erfolgreichen und leben- digen Verlauf. Damit tragen wir der demografischen Ent- wicklung Rechnung: 2040 sind ein Viertel Dankeschön! 5 / 46
Dr. Volker Sieger – meine Vision: „Um einen barrierefreien Tourismus in Kommunen und Regionen und in unter- schiedlichen Segmenten zu fördern und sein inklusives Potenzial zu erschließen, bedarf es einer Gesamtstrategie und eines ganzen Maßnahmenbündels.“ Einführung in die Thematik Per Video führte Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, in die Thematik „Einfach reisen“ ein. Beeinträchtigungen, die eine mindestens Ich bin dann mal weg … einwöchige Urlaubsreise pro Jahr unterneh- men, ist um rund 40 Prozent kleiner als die Hinter dem Thema unserer heutigen Konfe- Anzahl derjenigen, die keine Beeinträchti- renz, „Einfach reisen“, hätte auch ein Fra- gung haben. Auch für kurze Ausflüge und gezeichen stehen können. Ist es für Men- Wochenendtrips ergibt sich ein ähnliches schen mit Beeinträchtigungen grundsätzlich Bild. möglich, einfach mal eben zu verreisen? – nach dem Motto: Ich bin dann mal weg. Selbst wenn das Reisen durch die Co- rona-Pandemie derzeit eingeschränkt ist Schaut man sich die Statistiken an, offen- – Reisen ist und bleibt ein wichtiges Be- sichtlich nicht. Zwei Erhebungen aus den dürfnis der Menschen. Und das gilt für alle letzten Jahren kommen zu ähnlichen Menschen, ob alt oder jung, ob mit Beein- Ergebnissen. Die Zahl der Menschen mit trächtigung oder ohne. Wie aber kommen 6 / 46
Wunsch und Wirklichkeit zusammen? Einzelhandels oder der sonstigen Grund- – Das ist die zentrale Fragestellung unserer versorgung. heutigen Konferenz. Wichtige Querschnittsaufgabe Viel Bewegung, wenig Angebote Der Tourismus bietet viel Potenzial – wenn Auf der einen Seite steht nach wie vor die im er denn als Querschnittsaufgabe verstanden Vergleich zu allen touristischen Angeboten wird, an der man gemeinsam arbeiten in Deutschland verschwindend geringe muss. Er stärkt die örtliche Wirtschaft, Anzahl barrierefreier Angebote. Auf der schafft Arbeitsplätze und kann – insbeson- anderen Seite versammeln sich hier und dere in ländlichen, oft auch strukturschwa- heute zahlreiche Akteurinnen und Akteure, chen Regionen – dazu beitragen, für die die bereits einiges bewegt haben. Und einheimische Bevölkerung beispielsweise auch die Anzahl der Einreichungen zum die medizinische Grundversorgung zu diesjährigen Bundesteilhabepreis, der das sichern, den Einzelhandel aufrechtzuerhal- Thema „Barrierefrei reisen in Deutschland“ ten oder auch den öffentlichen Personen- hat, lässt aufhorchen. Trotz der schwieri- verkehr zu entwickeln bzw. zu stabilisieren. gen Situation, in der sich der Tourismus Damit ist der Tourismus wie vielleicht kein coronabedingt aktuell befindet, hat es 56 anderes Handlungsfeld geeignet dafür, Einreichungen gegeben. Sozialräume inklusiv zu gestalten. Warum bewegt sich also auf der einen Seite Das funktioniert aber nicht von selbst. Auch so viel, und warum bleiben auf der anderen wenn das Potenzial vorhanden ist, braucht Seite immer noch so viele Menschen von es konzeptionelle Klarheit, zielgerichtete touristischen Angeboten ausgeschlossen? Aktivitäten, Zusammenarbeit und schluss- endlich auch die entsprechenden Rahmen- Vielleicht liegt es mit daran, dass der bedingungen. Tourismus kein homogenes Handlungs- feld ist. Neben der Entwicklung einzelner, Aufgaben für Anbieter und Politik auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen Einerseits sind die Anbieter in der Pflicht. zugeschnittenen Angebote erfordert er fast Sie müssen ihre Dienstleistungen für immer das Zusammenwirken verschiedener Menschen mit unterschiedlichen Beein- Akteurinnen und Akteure. Das einzelne An- trächtigungen in die Gesamtpalette ihrer gebot verliert an Strahlkraft, wenn es nicht Angebote inklusiv einbetten. Das fängt eingebettet ist in eine ganze Reihe von schon beim ansprechenden Design eines anderen Angeboten und Dienstleistungen. barrierefreien Badezimmers an und hört Mehr noch als für andere Menschen ist für beim selbstverständlichen Service mit der Reisende mit Behinderung die gesamte Speisekarte in Braille noch lange nicht auf. touristische Servicekette von Bedeutung. Sie müssen die touristische Servicekette im Denn naturgemäß möchte man sich im Blick haben, was die Kommunikation und Urlaub nicht nur an einem Ort aufhalten, Abstimmung mit angrenzenden Dienstleis- sondern die Vielfalt seines Reiseziels ge- tern und kommunalen Institutionen beinhal- nießen – einschließlich der dazugehörigen tet. Und schließlich hängt der Erfolg eines Gastronomie, der Sehenswürdigkeiten, Angebotes auch davon ab, wie exakt es der kulturellen Angebote, aber auch des beschrieben und beworben wird. Ich will als 7 / 46
Kunde genau wissen, was mich erwartet. Elektroautos auf dem Markt sind, dann ist Bunte Bilder und nicht eingehaltene Ver- die Politik gefordert. Ähnlich verhält es sich sprechungen führen gerade bei Reisenden mit barrierefreien touristischen Angeboten. mit spezifischen Bedürfnissen dazu, dass Wenn allein schon die Anreise an den die Reise zur Tortur werden kann. Es gibt Urlaubsort an entsprechenden barriere- nichts Schlimmeres als eine enttäuschte freien Mobilitätsangeboten scheitert, dann Vorstellung, vor allem wenn wir über den offenbart sich hieran schon ein System- Urlaub als schönste aller Jahreszeiten fehler. reden. Gefragt: Gesamtstrategie und Die Politik muss darüber hinaus Rahmen- Maßnahmenbündel bedingungen schaffen, innerhalb derer sich inklusive und barrierefreie Angebote entwi- Dabei ist es nicht ausreichend, wenn der ckeln und entfalten können. Dass dabei die Staat nur punktuell unterstützend wirkt. Um Kompetenz der Menschen mit Behinderung einen barrierefreien Tourismus in Kommu- einzubeziehen ist, versteht sich fast von nen und Regionen und in unterschiedlichen selbst. Segmenten zu fördern und sein inklusives Potenzial zu erschließen, bedarf es einer Nur zur Verdeutlichung: Wenn weniger Gesamtstrategie und eines ganzen Maß- Elektroautos gekauft werden als gewünscht, nahmenbündels. Denn nur, wenn die Rah- weil es keine flächendeckenden Lademög- menbedingungen stimmen und förderlich lichkeiten gibt, die Aufsteller von Ladesäulen sind, erhalten die Akteurinnen und Akteure ein flächendeckendes Angebot aber erst vor Ort den Schub, den sie verdienen und dann realisieren wollen, wenn ausreichend den unsere Gesellschaft dringend benötigt. Präsenz- und Online-Konferenz in einem: Über 50 Teilnehmende waren nach Rostock gekommen, mehr als 130 Personen verfolgten die Konferenz online. 8 / 46
Iris Gleicke – meine Vision: „Die Herstellung von Barrierefreiheit ist gar nicht so einfach: Mit einem Rollator ist man von genau den kleinen Absätzen genervt, für die Blinde dankbar sind. Gute Lösungen müssen her, denn Inklusion ist gut für alle. Mit steigendem Alter kann es schließlich jeden und jede erwischen.“ IMPULSVORTRAG Wie müssen die touristi- schen Angebote der Zukunft aussehen? Iris Gleicke, Parlamentarische Staatsekretärin a. D. beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen und beim Bundesministerium für Wirt- schaft und Energie, ging in ihrem Vortrag der Frage auf den Grund, wie die touristischen Angebote der Zukunft aussehen sollten. Die ehemalige Beauftrag- te der Bundesregierung für die neuen Bundesländer sowie für Mittelstand und Tourismus setzt sich seit Langem für den Ausbau barrierefreier touristischer Angebote sowie die Etablierung des Kennzeich- nungssystems „Reisen für Alle“ ein. 9 / 46
Was bedeutet Barrierefreiheit eigentlich der Betroffenen an der Gesamtbevölkerung genau? – Barrierefreiheit ist eine höchst herauszufinden. Trotzdem sind die Zahlen individuelle Angelegenheit. Sie bedeutet für interessant: Die Anzahl der schwerbehin- einen Menschen mit einer Gehbehinderung derten Personen ist von 2017 bis 2019 um etwas anderes als für jemanden, der nicht 136.000 gestiegen; 44 Prozent der Schwer- gut hören kann. Während sich Menschen behinderten waren zwischen 55 und 74 mit Stock, Rollator oder Rollstuhl über Jahre alt; 89 Prozent der Behinderungen glatte Untergründe freuen, haben blinde werden durch eine Krankheit verursacht. Menschen gerne kleine Absätze und raue Der Anteil der Älteren an der Gesamt- Flächen, um das Ende des Bürgersteigs bevölkerung steigt ebenso wie der Anteil oder den Beginn der Straße identifizieren an Menschen mit Einschränkungen. – Es zu können. Hörbehinderte Menschen wie- wird klar: Es kann jeden von uns in jedem derum brauchen Lichtsignale, die blinden Alter treffen, und mit jedem Jahr steigt das Menschen nicht weiterhelfen. Risiko. Aus diesen scheinbaren Widersprüchen Barrierefreiheit spielt nur eine darf aber kein Attentismus entstehen – kleine Rolle nach dem Motto, wer nichts macht, macht auch nichts falsch. Für eine moderne Diese Zahlen beschäftigen uns seit Jahren, inklusive Gesellschaft muss Barrierefreiheit wenn es um Rente oder Pflege, um die bei aller Individualität im Einzelnen ein all- Sicherung der Fachkräfte, um den Erhalt gemeiner Grundsatz des Zusammenlebens der öffentlichen Daseinsvorsorge oder den sein bzw. werden. Auch viele Menschen ÖPNV geht. Aber wenn es um den Touris- ohne anerkannte Behinderung freuen sich mus geht, spielt dieses Thema noch immer über abgesenkte Bürgersteige und barrie- eine untergeordnete Rolle. Im Bericht refreie Zugänge. Für uns ist das Komfort. „Tourismus 2030“ des Kompetenzzentrums des Bundes für Tourismus taucht das The- Es kann jeden treffen ma „Barrierefreiheit“ kaum auf, obwohl der Bund das Projekt „Reisen für Alle“ fördert. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass Auch die Tourismusstrategie der Bundes- 2019 in Deutschland 7,9 Millionen schwer- regierung benennt Barrierefreiheit nur in behinderte Menschen lebten. Das sind 9,5 Bezug auf Verkehr. Prozent der Gesamtbevölkerung, denen ein Versorgungsamt einen Grad der Behin- Als gutwilliger Mensch möchte man glauben, derung von 50 Prozent zuerkannt hat. Die dass sich unter Begriffen wie „Qualitätstou- Auswertung des Mikrozensus 2017 ergab, rismus“, „Lebensqualität“ oder „wirtschaft- dass 10,2 Millionen Menschen in Privat- liche Potenziale“ ein kleiner Abschnitt mit haushalten in Deutschland (13 Prozent der barrierefreien touristischen Angeboten Gesamtbevölkerung) einen Behinderungs- beschäftigen könnte – aber nicht einmal grad von 20 bis 100 Prozent hatten. Davon ein Hinweis auf das Portal „Reisen für Alle“ waren 10,5 Millionen schwerbehindert. ist vorhanden. Das Zukunftsinstitut hat ein Papier zum „Tourismus der Zukunft“ vorge- Schon an diesen beiden Datensätzen aus legt, in dem die Barrierefreiheit keine Rolle ein und derselben Quelle kann man erken- spielt. Und auch die 36. Deutsche Touris- nen, dass es nicht einfach ist, den Anteil musanalyse der Stiftung für Zukunftsfragen 10 / 46
kommt – ebenso wie andere Publikationen es geht gar nicht ums Geld. 86 Prozent der der Trendforschung – ohne den Begriff Reisenden mit Behinderung sagen, dass sie „Barrierefreiheit“ aus. sogar mehr bezahlen würden, wenn sie sich auf das angegebene, gebuchte Angebot Das Thema „Barrierefreiheit beim Reisen“ verlassen könnten. ist ein ebensolches Querschnittsthema wie der Tourismus selber. Der Abbau von Eine Schande für Land und Barrieren muss in jedem Teilbereich mit- Tourismusbranche gedacht werden: Von der An- oder Abreise über die Beherbergung bis hin zum Zugang Das alles erklärt, warum 37 Prozent der zu kulturellen, sportlichen, kulinarischen Menschen mit Behinderungen schon und sonstigen Angeboten entlang der ge- einmal auf eine Reise verzichtet haben. samten touristischen Reisekette. – Leider 48 Prozent geben an, dass sie gerne öfter ist das nicht so selbstverständlich. verreisen würden. Es erklärt auch, warum zwar 80 Prozent der Deutschen, aber nur 45 Ein abschreckendes Beispiel Prozent der Menschen mit Behinderungen reisen. Das ist eine Schande für unser Mein 2015 erkrankter Mann und ich waren Land und für unsere Tourismusbranche! zu einer größeren Familienfeier eingeladen – barrierefreie Teilnahme inklusive. Es hat Es gibt ca. 50.700 Beherbergungsunterneh- auch einiges geklappt: Anreise, Gaststätte, men in Deutschland. Bisher sind nur gut 600 Transport zum Hotel. Dort empfing uns ein von ihnen bei „Reisen für Alle“ zertifiziert. junger Mann und freute sich, uns mitzu- Knapp 2.700 touristische Angebote entlang teilen, dass wir ein Upgrade bekämen und der Reisekette sind auf dem Portal abrufbar. „eine Suite bewohnen dürften“. Das Roll- Da gibt es noch viel Luft nach oben. Denn stuhlzimmer stand nicht zur Verfügung. In die Teilhabe muss als Ziel selbstverständlich der Suite reichten die Bewegungsflächen sein und immer mitgedacht werden, wenn für den Rollstuhl nicht aus. Ich habe mei- es um die Verbesserung der Rahmen- nen Mann nachts über das Fußende des bedingungen im Tourismus geht. Dazu Bettes ins selbige bugsiert und morgens braucht es eine verlässliche, differenzierte so wieder heraus. Die Toilette mussten wir Kennzeichnung – und solche Tagungen wie im anliegenden Konferenzzentrum nutzen diese hier. – nachdem ich den Schuhputz- und den Zigarettenautomaten weggeschoben hatte. Mehr Serviceleistung Für uns war das eine schreckliche Ge- Es kommt eben nicht nur darauf an, die schichte. Für einen allein reisenden Men- gesetzliche Mindestvorschrift eines barriere- schen wäre es in einer Katastrophe geen- freien Zimmers in einem Hotel einzuhalten det. Solche oder ähnliche Beispiele können oder eine rollstuhlgerechte Toilette in einem leider alle Menschen mit Behinderungen in Kongresszentrum zu haben. Selbst wenn unterschiedlichsten Varianten erzählen. das alles vorhanden ist, kann es im Zwei- Das alles trug sich im Januar 2018 in einem felsfall daran scheitern, dass die Sensibilität Hotel in Düsseldorf zu, das ich nach Besuch für das Thema fehlt. Es reicht nicht aus, der Internetseite „Düsseldorf barrierefrei“ damit zu werben, dass der Weg zum Strand gebucht hatte. Bevor wir wieder zu Hause nur fünf Minuten beträgt und barrierefrei ist. waren, hatten wir unser Geld zurück. Aber Betroffene wissen, dass sie da durchaus 11 / 46
im Rollstuhl oder mit dem Kinderwagen im Aus diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass Sand stecken bleiben können. Das Kind man mit barrierefreien Angeboten auch im kann ich aus dem Wagen nehmen und Tourismus richtig Geld verdienen könnte. tragen. Für den Rollstuhlfahrer ist die Reise Dabei sind die finanziellen Aufwendungen, zu Ende. um ein Angebot barrierefrei zu gestalten, häufig gar nicht so hoch. Oft geht es nur Es fehlt an der Serviceleistung für Men- um farbliche oder haptische Markierungen schen mit einem bestimmten Servicebedarf. oder darum, den Zigarettenautomaten oder Solange das bei den Leistungserbringern, die Wickelkommode nicht in die Bewe- den Planern und den Werbern noch immer gungsflächen für einen Rollstuhl zu stellen. nicht in Ausbildung und Berufsausübung Auch die paar Euro für die Zertifizierung selbstverständlich ist, muss in jeder Publi- bei „Reisen für Alle“ machen das berühmte kation zum Thema „Tourismus“ die „Barrie- Kraut nicht fett. refreiheit der Servicekette“ als Einzelpunkt explizit genannt werden. Es gibt einen Markt für Hilfsmittel wie Sport- rollstühle, Augensteuerungen für Computer, Dabei ist Empathie nur die eine Seite der Treppenlifte, höhenverstellbare Waschti- Medaille. Es geht auch um die Ökonomie. sche und Toiletten. Auch ein mobiler Lift für Tourismus ist ein bedeutender Wirtschafts- den Einstieg ins Bett darf vorhanden sein. faktor, das Potenzial des barrierefreien Solche Dinge sehen auch nicht mehr wie Tourismus ist riesig. im Krankenhaus aus, wie gute Beispiele zeigen. Es gibt mobile, also wegräumbare Großes wirtschaftliches Hilfen, die Kompromisse möglich machen. Potenzial All das ist gar nicht so teuer, aber es gibt viel zu verdienen. Die folgenden, nicht ganz neuen Zahlen stammen aus einem Artikel der Plattform Denn es gibt einen Markt für barrierefreie www.nullbarriere.de, eine ganz hervor- Tourismusangebote. Menschen mit Ein- ragende Plattform, wenn es um Planen, schränkungen verdienen Geld, sie stehen Bauen, Wohnen und viele hilfreiche Tipps im Berufsleben ihre Frau und ihren Mann. rund um Barrierefreiheit und Pflege geht: Sie bekommen eine gute Rente oder wer- Der Personenkreis der schwerbehinderten den sie bekommen. Sie können sich Urlaub Menschen in Deutschland verreist ca. leisten – und sie haben ein Recht darauf, 13,5 Tage im Jahr. Dabei wählen sie bei an Urlaub und Freizeit teilzuhaben. 42 Prozent der Reisen und 86 Prozent der Kurzurlaube Deutschland als Ziel aus. Eine neue Dynamik Der Nettoumsatz liegt bei ca. 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Dazu kommen 2,3 Milliarden Wir werden alle älter. Seit 2008 werden für die Begleitpersonen. Das sind die jährlich mehr Rollatoren als Kinderfahrräder Zahlen der 45 Prozent der Menschen mit verkauft. Diese Erkenntnis könnte eine Behinderungen, die überhaupt reisen. Und neue Dynamik in das Thema bringen, denn der Personenkreis der Senioren hat in es geht nicht mehr allein darum, aktuell den letzten 30 Jahren seine Reiseaktivität Betroffenen Teilhabe zu ermöglichen. Es um 84 Prozent gesteigert. Das entspricht geht auch darum, für den Fall der eigenen einem Umsatzvolumen von 15 Milliarden Betroffenheit vorzubeugen. Euro. 12 / 46
Auch deswegen muss es unser Ziel sein, die Teilhabe von Menschen mit Behinde- rungen als Selbstverständlichkeit in allen Bereichen des Lebens durchzusetzen. Jeden Tag. Überall. Auch beim Reisen. Iris Gleicke, Parlamentarische Staatssekretärin a. D. „Die Teilhabe muss als Ziel selbstverständlich sein und immer mitgedacht werden, wenn es um die Verbesserung der Rahmenbedingungen im Tourismus geht.“ 13 / 46
Annette Rösler – meine Vision: „Nur wenn bestehende Berührungsängste abgeschafft werden, kann ein von gegen- seitigem Respekt geprägter Umgang zur Lebenskultur werden. Meine Vision für einen inklusiven Sozialraum: wertschät- zende Kommunikation, Offenheit und ein tolerantes Miteinander.“ IMPULSVORTRAG Best Practice aus Mecklenburg-Vorpommern Im zweiten Impulsvortrag des Tages sprach Annette Rösler, Geschäftsführerin des Bäderverbands Meck- lenburg-Vorpommern e. V., über gute Beispiele zum Thema „Einfach reisen“ aus Mecklenburg-Vorpom- mern. Im Rahmen ihrer vorherigen Tätigkeit beim Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern war sie für den barrierefreien Tourismus zuständig. 14 / 46
Für Menschen mit Behinderung ist es nicht mit Behinderung einfach wissen, was ihn so einfach, mit der Deutschen Bahn nach erwartet – sonst gibt es eine Katastrophe Mecklenburg-Vorpommern zu reisen – und und er kommt nie wieder. Immerhin sind über das Thema Flugzeuge können wir in in vielen Hotels die barrierefreien Zimmer zehn Jahren noch einmal reden. Am Ende bereits schöner ausgestattet als die üb- läuft es darauf hinaus, mit dem eigenen lichen Zimmer in einem Krankenhaus oder Pkw anzureisen und zu hoffen, ausreichend einer Rehaklinik. Der eine oder andere hat Behinderten-Parkplätze zu finden. durchaus schon verstanden, dass barriere- Eine solche Reise fängt aber noch viel frei auch schick geht, dass auch Menschen komplizierter an: Eine betroffene Freundin mit Behinderungen Stil und Geschmack hat mir erzählt, sie benötige im Schnitt drei haben. Tage, um eine Übernachtung in einer Stadt zu finden. Es gibt diese Informationen, die Erfolgsmodelle so relevant für die Reiseentscheidung von Menschen mit Behinderungen sind, zwar, Ich habe in meiner Arbeit immer den An- aber sie sind einfach schwer zu finden. spruch gehabt, ein Produkt darzustellen, das auch Menschen mit Behinderungen Gesunden Menschenverstand ermöglicht, eine Woche tollen Urlaub zu nutzen machen. Diese wollen nicht nur irgendwo ankommen, barrierefrei schlafen und auf Gibt es überhaupt barrierefreie Zimmer in den Rest verzichten. Schließlich wollen einem Hotel und ließe sich das Problem auch sie einmal essen oder shoppen ge- nicht über die Landesbauordnung regeln? hen, Handbike fahren oder ein Museum – Nein. Ich kann einen Investor über eine besuchen – und schon sind wir bei der viel gesetzliche Vorschrift theoretisch dazu zitierten touristischen Servicekette. zwingen, etwas umzusetzen. Aber dann habe ich ihn immer noch nicht am Herzen Für ein Flächenland wie Mecklenburg-Vor- getroffen. Barrierefreiheit ist nicht allein pommern ist es nicht einfach, eine solche die Umsetzung von Vorschriften, Halte- Servicekette lückenlos darzustellen. Auf die griffen oder Türbreiten, sie fängt vielmehr Anreise muss ich gar nicht weiter eingehen, im Herzen an. Deshalb lautet mein Credo: denn gestrichene Bahnfahrten treffen alle, Fangt einfach an, euer Produkt mit gesun- nicht nur Menschen mit Behinderung. Aber dem Menschenverstand zu beurteilen und vor Ort haben wir durchaus bereits viele schaut dann, ob es funktioniert. Ein Para- Touristen-Informationen, die in der Regel debeispiel sind öffentliche WC-Anlagen. Den barrierefrei zugänglich sind und gut ausge- Lippenstift kann man nur nachziehen, wenn stattete WC-Anlagen besitzen. der Spiegel auch im Sitzen einsehbar ist. Beispiel Wismar Ganz wichtig ist es auch, dass die Informa- tionen, die an den Gast mit Behinderung Mein Lieblingsbeispiel ist Wismar: In der herausgegeben werden, stimmen. Ich bin Hansestadt gibt es sehr viel Kopfstein- ein großer Verfechter des Kennzeichnungs- pflaster. Das ist für Menschen im Rollstuhl systems „Reisen für Alle“, weil dort aus- schwierig zu bewältigen. Aber dort hat gebildete und unabhängige Erheber die Ist- ein cleverer Mensch einen Rolli-Stadtplan Situation aufnehmen. Denn um eine Reise entwickelt, auf dem beschrieben ist, wo antreten zu können, muss ein Mensch das Rollstuhlfahren funktioniert und welche 15 / 46
Geschäfte mit dem Rollstuhl aufgesucht machen, zum Beispiel in der Ferienanlage werden können. Das erspart viele deprimie- Dröse. rende Erlebnisse. • Familie Trinkus aus Altwarp, einem klei- Die Stadtführungen für Menschen mit nen Dorf im Stettiner Haff, investiert in Behinderungen sind ebenfalls gut auf- ein bundesweit einmaliges Projekt. Dort gestellt. Hier wird in der Regel Rücksicht entsteht ein barrierefreies Ressort mit auf Mobilitätseinschränkungen genommen Wellnessbereich, Anspruch und Stil. Die und darauf geachtet, dass genügend Sitz- wunderbaren Ferienhäuser zeigen, dass möglichkeiten vorhanden sind. Die Nutzung barrierefrei und schick durchaus zusam- von Audioguides ist mittlerweile fast eine menpasst. Die Gegend ist ein Traum, Selbstverständlichkeit geworden. Es gibt aber man muss natürlich ein bisschen Städte, die sogar Stadtführungen für Men- Reisezeit investieren. schen mit Sehbehinderungen anbieten. Krönung der Inklusion Ferienwohnungen: Drei gute Beispiele Ein Best-Practice-Beispiel habe ich noch: Das Staatliche Museum in Schwerin ist Hotelurlaub kann funktionieren, muss es barrierefrei zugänglich und mit Audioge- aber nicht. Aber auch Menschen mit einer räten ausgestattet. Die Geräte haben ein Behinderung wollen gerne einmal im Bade- Programm, über das die „schwere“ Kunst, mantel morgens um 11 Uhr frühstücken, die im Museum hängt, in einfacher Sprache das heißt, sie brauchen eine Ferienwoh- beschrieben wird. Die Beschreibung war nung. Die Suche nach einer barrierefreien so gut, dass selbst ich als Kunstbanause Ferienwohnung gleicht der Suche nach der verstanden habe, was der Künstler gemeint Nadel im Heuhaufen. Große Anbieter wie hat. Denn barrierefrei heißt durchaus auch Novasol haben das inzwischen erkannt einfach „komfortabel“. und Barrierefreiheit als Filterkriterium auf- genommen. Eigentlich wären barrierefreie In Schwerin ist man dann noch einen Ferienwohnungen problemlos möglich, wie Schritt weitergegangen, sozusagen die Krö- folgende Beispiele zeigen: nung der Inklusion: Menschen mit einer Be- hinderung wurden zu Museumsführerinnen und -führern ausgebildet. Im Staatlichen • In Mecklenburg-Vorpommern gibt es nicht Museum in Schwerin gibt es die Möglich- nur die Küste, sondern auch einen großen keit, Kunstführungen erleben zu dürfen, die ländlichen Raum, der nicht weniger schön Menschen mit Behinderungen durchführen. ist, mit vielen alten, schützenswerten Das ist einmalig. Wenn Sie die Chance Bauernhäusern. In Alt Bukow hat es das haben, dorthin zu gehen, nutzen Sie sie. Unternehmen nordlichter.de geschafft, alte Bauernhäuser barrierefrei wieder Barrierefrei auf dem Wasser herzurichten. Um dort hinzukommen, benötigt man allerdings ein Auto. Mecklenburg-Vorpommern hat viel Wald und vor allem auch viel Wasser. Menschen • Kühlungsborn ist vielen ein Begriff. Der mit Behinderungen können bei uns ein Ort ist für Menschen mit Behinderung Hausboot nutzen, in Plau am See Segeln bestens geeignet, um dort Urlaub zu lernen und sich an zahlreichen Stationen 16 / 46
Kanus und Kajaks mieten. Und für diejeni- haben! Sagen Sie, dass Sie diese Angebo- gen, die nicht hören oder sehen können, te haben, denn ein barrierefreies Angebot gibt es entsprechende Guides. So etwas ist aktuell – leider Gottes – noch immer ein funktioniert bei uns schon. Alleinstellungsmerkmal. Noch einiges zu tun Ein Hotelier hat mir einmal gesagt: Be- hinderte kommen nicht zu mir. – Natürlich Bei allem Positiven darf ich aber auch noch kommen sie nicht, wenn sie nicht wissen, einiges kritisch ansprechen: Unsere be- dass es ein barrierefreies Zimmer gibt. liebten Urlaubsorte an der Küste sind gut Dann ist es auch sehr müßig über Teilhabe nachgefragt – vor Corona, während Corona zu reden und Menschen mit Behinderun- und auch nach Corona. Aufgrund der guten gen zu motivieren, auf Reisen zu gehen. Auslastung haben viele noch nicht gemerkt, dass sie das Thema „Barrierefreiheit“ Auch das Thema „politische Verantwortung“ bedienen müssen. Ich glaube, dass sich spielt eine Rolle, denn Rahmenbedin- dieses Blatt wenden wird und Unternehmen gungen können durchaus motivieren und zwingend umdenken sollten. Denn spätes- animieren. Aber am Ende des Tages sind tens in zehn Jahren wird es schwierig für es die Menschen, die die Barrierefreiheit Gastronomen oder Hoteliers, ihr Angebot umsetzen. Es ist wichtig, auf Augenhöhe an die Kunden zu bringen. Denn auf immer mit den Gästen umzugehen, ihnen zu mehr Familienfeiern werden Mitglieder mit sagen, dass wir uns freuen, dass sie da einem Rollstuhl oder Rollator unterwegs sind, und alles Mögliche dafür zu tun, dass sein. Was passiert dann, wenn die Oma sie gerne Gäste bleiben. Das setzt eines mit ihrem Rollstuhl nicht in das Restaurant voraus: Versprechen Sie nichts, was Sie kommt oder ein WC aufsuchen kann? nicht halten können. Das Schlimmste ist, barrierefreie Angebote zu versprechen und Barrierefreie WCs in Gaststätten und diese nicht zu erfüllen. Restaurants sind leider nicht nur in Meck- lenburg-Vorpommern keine Selbstver- Reisen für Alle ständlichkeit. Wieso brauche ich ein WC für Herren, ein WC für Damen und ein barrie- Die Prüfberichte auf dem Portal „Reisen refreies WC? Warum kann ich nicht einfach für alle“ sind in diesem Sinne das Nonplus- ein Herren- und ein Damen-WC bauen und ultra, weil ich auf diese Weise vor der Reise beide sind barrierefrei? erfahre, was mich erwartet. Jeder Mensch mit einer Behinderung hat andere Ansprü- Inklusion machen – che und Bedürfnisse. Was für den einen und darüber reden funktioniert, funktioniert für den anderen nicht. Aber Sie müssen Ihrem Gast die Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Möglichkeit überlassen, selbst zu entschei- es noch immer schwierig ist, an die not- den, ob es für ihn oder für sie funktioniert. wendigen Informationen heranzukommen. Ich möchte alle motivieren, nach Mecklen- Ich möchte allen Anbieterinnen und Anbie- burg-Vorpommern zu kommen – hier funk- tern sagen: Seien Sie stolz auf die Angebo- tioniert schon viel. te, die Sie für Menschen mit Behinderung 17 / 46
Podiumsgespräch „Einfach reisen – eine Bestandsaufnahme“ zum Abschluss des ersten Konferenzteils Gerd Lange: „Wir im Wirtschaftsministerium unterstützen den Versuch, ein Bewusstsein in der Branche zu verankern.“ Podiumsgespräch Zum Abschluss des ersten Konferenzteils diskutierte Moderatorin Margit Glasow mit ihren Gästen über die gegenwärtige Situation für reisende Menschen mit Behinderungen. Auf der Bühne waren • Gerd Lange, Leiter des Referats Tourismus im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern • Steffen Bockhahn, Senator für Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport in Rostock • Kerstin Lehmann, TMB Tourismus-Marketing Bran- denburg GmbH, Referentin für barrierefreies Reisen und Markenmanagement • Jürgen Becher, Ehrenpräsident des Verbands für Behinderten- und Rehabilitationssport e. V. Mecklenburg-Vorpommern 18 / 46
Kerstin Lehmann – meine Vision: „In meiner Vision werden in ein paar Jahren nicht mehr einzelne Produkte und Dienstleistungen als barrierefrei zertifiziert, sondern es wird auf die wenigen Ausnahmen, die sich nicht an alle richten, erläuternd eingegangen.“ Steffen Bockhahn – meine Vision: „Inklusion ist für mich, wenn es normal ist, anders zu sein. Ein inklusiver Sozialraum bietet Beteiligungsmöglichkeiten für alle durch die Überwindung von Barrieren aller Art. Nicht die Defizite sind relevant, sondern der Weg zur Teilhabe.“ Jürgen Becher – meine Vision: „Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der jeder die ihm gebührende Achtung und Anerkennung findet, in der Menschen anders und doch gleich sind, in der sich die In- klusion nicht mehr im Kreis dreht und gemeinsam in festen Zeitfenstern zielführend gearbeitet wird.“ Status quo: Einfach reisen – eine Bestandsaufnahme Margit Glasow: Ich möchte mit einem Leute, die das nicht können. Aber man Zitat von Herrn Becher starten: „Wenn darf die Neugier nicht verlieren und muss du grönländisches Bier und schottischen mutig sein, Dinge anzugehen und aus- Whisky trinkst und dabei die Eisberge im zuprobieren. Natürlich braucht man das Sonnenuntergang beobachten kannst, entsprechende Umfeld, ich habe das über bist du ganz dicht am Garten Eden.“ – eine Agentur in Schottland machen können. Ist das als Rollstuhlfahrer nicht ein biss- Man muss auch immer damit rechnen, chen weit aus dem Fenster gelehnt? vor Barrieren zu stehen. Aber wenn man ein bisschen Mut hat und auch mit einer Jürgen Becher: Das ist so aus mir heraus- Niederlage leben kann, dann sollte man geplatzt, als ich in Grönland war. Ich hatte das Leben genießen und solche Dinge mir vorgenommen, das so zu machen, angehen. und ich habe das Glück, dass ich noch relativ beweglich bin – es gibt genügend 19 / 46
Margit Glasow: Frau Lehmann, Sie sind müsste. Lasst uns einfach nichts mehr seit vielen Jahren im barrierefreien Touris- machen, was nicht inklusiv ist. – Das ist mus unterwegs. Wo stehen Sie in Bran- scheinbar leicht, aber das wäre eine sehr denburg auf einer Skala von 1 bis 10? wesentliche Veränderung. Natürlich ist die Landesbauordnung verbindlich, und eigent- Kerstin Lehmann: Zwischen 5 und 8. Wir lich ist es unerklärlich, dass immer noch sind seit über 20 Jahren an dem Thema Dinge gebaut werden, die nicht barrierefrei dran und können auf das, was wir bisher sind. Man kann verlangen, dass ausrei- erreicht haben, auch stolz sein: Wir haben chend breite Türen gebaut werden, was im ein schönes Magazin, das Lust macht, nach Übrigen gar nicht mehr kostet. Bei Altbau- Brandenburg zu kommen, und das über die sanierungen beispielsweise muss man Barrierefreiheit vor Ort informiert. Wir haben natürlich sehen, wie man das hinbekommt. ein System mit verlässlichen Informationen von inzwischen immerhin 950 Anbietern. In der Summe können wir für Rostock sagen, Das ist keine separate Datenbank, sondern dass wir gut vorwärtsgekommen sind. Wir ha- in unser landesweites Content-Netzwerk ben sogar einen für Rollstühle zugänglichen integriert. Wir bieten im Bereich B2B gute Strand. Es gibt auch kulturelle Angebote, Informationen als Starthilfe: Was muss ich die barrierefrei sind. Ein kleines Programm- bedenken? Welche Ansprechpartner gibt es? kino bietet zum Beispiel Hörschleifen an, und – Wir machen Workshops und Seminare und es gibt Vorführungen, bei denen bewusst arbeiten zum Beispiel mit Mecklenburg-Vor- darauf geachtet wird, dass Sinnesbeein- pommern auch grenzüberschreitend zusam- trächtigungen eine Rolle spielen können. Die men. Es passiert schon eine ganze Menge, Kunsthalle wird nach der Sanierung barriere- aber wir sind noch lange nicht am Ziel. frei sein. Es gibt andere, die sind vielleicht weiter, aber verstecken müssen wir uns nicht. Margit Glasow: Herr Bockhahn, wir haben in Rostock eine Menge Margit Glasow: Herr Lange, wie zu bieten, aber inwieweit sind die sieht es denn mit Unterstützung Angebote auch barrierefrei? von politischer Seite aus? Steffen Bockhahn: Rostock ist noch nicht Gerd Lange: Das Problem fängt beim da, wo es hin muss, aber wir sind verdammt Denken an. Dort die Knoten zu lösen, ist weit vorne bei ganz vielem – etwa beim die ganz große Aufgabe. Danach kann man ÖPNV. Bei uns sind alle Straßenbahnhalte- das Ganze viel leichter in die Gesetzge- stellen barrierefrei, wenn sie nicht gerade bungsverfahren mit einfließen lassen. Wir saniert werden. Bei den Bushaltestellen sind im Wirtschaftsministerium unterstützen den es ungefähr 80 Prozent. Der Fahrzeugpark Versuch, ein Bewusstsein in der Branche ist ausschließlich mit Niederflurbussen und zu verankern. Inklusion, Behinderungen, -bahnen ausgestattet. Rostock ist zudem Einschränkungen und Tourismus sind eine von fünf Modellkommunen des Projekts Querschnittsaufgaben. Unser Weg, für „Kommune Inklusiv“ der Aktion Mensch. die qualitativ hochwertigen touristischen Angebote in der Branche, bei den Unter- Ich glaube, wir brauchen einen Paradig- nehmen und in der Verwaltung zu werben, menwechsel im Denken. Lasst uns auf- ist manchmal leider sehr mühsam. hören, darüber nachzudenken, was man Wir haben uns auf den Weg gemacht, im Bereich Inklusion zusätzlich machen um in der Branche dafür zu werben, dass 20 / 46
Sensibilisierung zu barrierearme Angebote schick und auch reden, Frau Lehmann? marktfähig sein können. Nur meine Erfah- rung ist, dass es sehr schwierig ist, bei den Kerstin Lehmann: Man muss da von allen Anbietern breite Unterstützung zu finden, Seiten ran. Sie haben in Mecklenburg-Vor- solange die öffentliche Hand der Branche pommern tolle Leute, die mit Herz und Em- und den Unternehmen nicht fördernd unter pathie viel bewegen können. Denen muss die Arme greift, auch was Zertifizierungen man die Chance geben, das mit langer etc. angeht. Denn zurzeit muss sich Meck- Perspektive anzugehen. Man sollte nicht lenburg-Vorpommern als ein attraktives nur mit Bauverordnung und Förderkulissen Urlaubsziel über Zulauf keine Gedanken Druck aufbauen. Die Druckmittel braucht machen. Das ist aber der falsche Ansatz. man natürlich auch, aber bei den Anbietern Wenn wir in einer alternden Gesellschaft erreicht man mit intrinsischer Motivation nicht in allen Segmenten besser werden, und Charme mehr. kann es schnell sein, dass wir beim Urlaubsangebot bald nicht mehr vorne Margit Glasow: Wie sieht das mit der mitspielen. Projektförderung aus, Herr Lange? Sie haben nach dem Stand der Dinge ge- Gerd Lange: Die Projektförderung ist mit fragt. Wir stehen wirklich noch am Anfang, sehr viel bürokratischem Aufwand ver- was diese Entwicklung angeht. Deswegen bunden. Für einen gestellten Förderantrag ist es auch erfreulich, dass wir das Thema brauchen wir fast 14 Formulare – Be- „Einfach reisen“ angehen, weil wir da noch gleitung, Abrechnung, Verwendungsnach- sehr viel erreichen können. weise, Prüfung etc. Das sind die Vorgaben von Bund und EU. Wir sind noch dabei, Steffen Bockhahn: Herr Lange, wir sind das Thema zu institutionalisieren. Dazu uns im Ziel und bei der Aussage, dass wir brauchen wir auch die Unterstützung der uns nicht auf dem Erreichten ausruhen dür- gesamten Landesregierung. fen, absolut einig. Ich habe aber einen nicht unwesentlichen Widerspruch: Ich glaube Ich sehe zu Herrn Bockhahn keinen Wider- nicht daran, dass ausschließlich eine För- spruch. Anbieter, die aktiv werden, sollen derkulisse ausreichen wird. Wir müssen auch unterstützt werden. Die Zeiten, in deutlich machen, dass wir als Land und denen wir dank üppiger Ausstattung mit Kommunen eine Erwartungshaltung haben Gießkannen hantieren konnten, sind vorbei. und bestimmte Dinge nicht mehr akzeptie- Das gilt für das Marketing genauso wie für ren. Wer sich zuerst umstellt oder ein be- Fortschritte bei barrierearmen Angeboten, sonders gutes Konzept hat, dem helfen wir. weil Barrierefreiheit zwar ein sehr hohes, Aber 80-cm-Türrahmen als Beispiel wird aber auch sehr kostspieliges Ziel ist. es künftig einfach nicht mehr geben. Nur einzuladen, wird nicht helfen. Wir müssen Mir geht es darum, Angebots- und Quali- auch deutlich Sanktionen androhen, sonst tätsverbesserung möglichst für alle Gäste kommen wir nicht in dem Maße voran, wie anzustreben. Denn nur ein Gast, der sich wir es müssen. wohlgefühlt hat und der das bekommen hat, was ihm versprochen wurde, will auch Margit Glasow: Daran möchte ich an- wiederkommen. Das gilt für Gäste mit schließen. Ist es ausreichend, ebenso wie ohne Einschränkung. immer nur von Bewusstseinsbildung und 21 / 46
Margit Glasow: Sie haben von Bundesförderung als auch aus Landes- hohen Kosten gesprochen. Ist das mitteln, die bei Investitionssummen von noch ein Argument, was wir in der 5.000 Euro anfangen. Die Schaffung von Zukunft gelten lassen können? barrierearmen oder -freien Angeboten ist mit Kosten verbunden. Die Seebrücke in Gerd Lange: Ich spreche aus der Sicht Koserow auf Usedom wird jetzt behinder- des fördernden Ministeriums. Uns steht ein tengerecht ausgebaut. Wenn sie fertig ist, gewisses Budget zur Verfügung, um be- haben wir eine barrierefreie Möglichkeit stimmte Projekte umzusetzen. Es ist aber an der Ostsee, Seeluft zu schnuppern, in nicht so, dass alles, was gewünscht ist, einer Form, die für alle äußerst attraktiv ist. auch finanzierbar ist, da die Mittel weniger Allerdings reden wir dann auch von nicht werden. kleinen siebenstelligen Beträgen. Wir müssen uns auf die richtigen Schwer- Margit Glasow: Sie haben von Sank- punkte konzentrieren: die Qualität stärken tionen gesprochen, Herr Bockhahn. und das Thema in der gesamten Branche Richtet sich das an die Privatwirtschaft? verstärkt verankern. Mit „Reisen für Alle“ zeigt die Branche, dass sie sich dem Thema Steffen Bockhahn: Ausdrücklich. Ich stellt. Bisher war es so, dass die Branche bleibe bei dem Beispiel Seebrücke. Sie zu wenig darauf achten musste, attraktive ist ein Grund, nach Koserow zu fahren. Angebote ohne Krankenhauscharme zu 90 Prozent der Urlauber kommen mit dem schaffen bzw. weiterzuentwickeln. Mecklen- Auto nach Mecklenburg-Vorpommern, burg-Vorpommern ist in einer guten Aus- weil man kaum eine Chance hat, nicht mit gangsposition, etwa was den Naturraum dem Auto herzukommen. Es gibt hier nicht oder die Infrastruktur betrifft. Jetzt müssen nur die Küste und die mecklenburgische wir die richtigen Akzente setzen. Die Schaf- Seenplatte, sondern viele andere erlebens- fung von barrierearmen und barrierefreien werte Orte. Damit diese überhaupt erreicht Angeboten ist für mich eines der Ziele, die werden können, ist natürlich die öffentliche mit Förderung auch stärker in den Fokus Hand gefordert. Aber mit der Seebrücke gerückt werden müssen. schaffen wir ein touristisches Umfeld, in dem die Privatwirtschaft Geld verdienen Kerstin Lehmann: Ich wünsche mir noch kann und soll. mehr Unterstützung für kleinere Bau- und Modernisierungsvorhaben. Bei der Förde- Wer sich heute entschließt, in Mecklen- rung der gewerblichen Wirtschaft gibt es oft burg-Vorpommern ein Hotel zu bauen, der ein Mindestinvestitionsvolumen. Oft sind es ist aus meiner Sicht der Dinge gut beraten, aber auch kleinere Bauvorhaben, die ein dieses von Beginn an barrierefrei, mindes- wenig Unterstützung bräuchten. Sachsen tens aber barrierearm zu machen. Wenn hat das Projekt „Lieblingsplätze“, das nied- ein Unternehmer oder eine Unternehmerin rigschwellig und in der Fläche verteilt ist. heute sagt, Barrierefreiheit und Inklusion seien kein Thema, dann muss ich das als Gerd Lange: Da hat sich die Pandemie öffentliche Hand nicht gut finden und kann einmal ein bisschen denkbeschleunigend beispielsweise Vergünstigungen und Sub- ausgewirkt. Wir haben jetzt im Laufe dieses ventionen streichen. Und beim nächsten Jahres niedrigschwellige Förderprogramme Bauantrag kann man dann vielleicht auch geschaffen, sowohl als Ergänzung für die sagen: Uns ist da etwas aufgefallen… 22 / 46
Es geht nicht darum, zu drohen oder Angst und Elektrorollstuhlfahrende können sich zu machen. Natürlich sind Kooperation eine neue Unterkunft suchen, die sie dann und intrinsische Motivation besser. Aber natürlich nicht finden. wir sind auch bei der Frage, wie Gesell- schaft funktionieren soll: miteinander oder Online-Frage: Wie sieht es mit zukünf- gegeneinander. Ich bin fürs Miteinander, tigen Angeboten für pflegebedürftige aber wenn das einer nicht versteht, dann Menschen und deren Angehörige, die entsteht automatisch ein Gegeneinander. im Urlaub Pflege betreiben, aus? Dann ist es die Aufgabe der Regierung, der Kommunalverwaltung und von anderen, Steffen Bockhahn: Wir haben mit dem Denkanstöße zu geben. Bundesteilhabegesetz (BTHG) ein gutes Werkzeug bekommen, aber es gibt natürlich Margit Glasow: Herr Becher, im Anlaufschwierigkeiten. Theoretisch besteht neuen Landesbehindertengleichstel- die Möglichkeit mit dem BTHG, dass ich im lungsgesetz wird die Privatwirtschaft Vorfeld an meinem Urlaubsort einen Pflege- wahrscheinlich nicht dazu gezwungen dienst suche und das über mein Budget ab- werden, sich barrierefrei auszustat- rechnen könnte. Die praktische Umsetzung ten. Wie ist Ihre Haltung dazu? bleibt aber eine spannende Frage. Jürgen Becher: Zunächst einmal sind Dazu kommt ein großes Problem: Ich muss rollstuhlgerechte Strandkörbe natürlich gut, einen Pflegedienst finden, der Ressourcen aber warum hört es bei den Strandkörben frei hat. In Rostock sind die Pflegedienste auf? Wie kommt man ins Wasser? In Küh- vollkommen ausgelastet und müssen Auf- lungsborn haben wir Anfang der Neunziger- träge ablehnen. Aber selbst wenn man jahre den Steg so gebaut, dass man als einen Pflegedienst findet, weiß man noch Rollstuhlfahrer ins Wasser kann. Und 2020 lange nicht, ob der alles das kann, was der darüber zu reden, dass eine Seebrücke zu pflegende Reisende braucht. – Also: barrierefrei ist, ist ein bisschen spät. theoretisch möglich, praktisch schwierig. Zur Frage: Ich finde es traurig, dass das Jürgen Becher: Ich kenne zwei Einrich- jeder entscheiden kann, wie er will. Ich wur- tungen, die das anbieten: Zum einen ein de von einem Gastwirt in seine Gaststätte privates Altenheim in Rerik, und zum ande- eingeladen, und ich habe ihm gesagt: Ich ren ist im Landkreis Rostock vor ungefähr würde gerne ein Bier bei dir trinken, kann zwei Jahren eine Pension eröffnet worden, das dann aber nirgendwo hinbringen. Also in der Pflegebedürftige Urlaub mit ihren komme ich nicht. – Ich weiß nicht, ob es Angehörigen machen können. eine Regelung geben wird, das wird schwie- rig. Es ist trotzdem traurig, dass die Leute Kerstin Lehmann: Ich kenne in Branden- angestoßen werden müssen und dass das burg ein paar leuchtende Beispiele für nicht selbstverständlich ist. Urlaube für Menschen mit Pflegebedarf, die einen persönlichen Bezug haben oder an Ganz wichtig ist auch, den einzelnen An- Einrichtungen gekoppelt sind. Aber es ist bietern nicht die Klassifizierung, was roll- noch nicht so, dass man aus dem Vollen stuhlgerecht und was nicht rollstuhlgerecht schöpfen kann. Es gibt Bedarf und Nachfra- ist, zu überlassen. Dann steht schon einmal ge, aber Häuser, Kapazitäten und Personal eine Waschmaschine neben der Dusche, 23 / 46
ein Menschenrecht. Das betrifft auch zu finden, bleibt schwierig. Ich glaube aber, das Reisen. Mich stört auch, dass hier dass der Markt wächst. gesagt wird, dass Geld fehlt und dass wir uns Inklusion nicht leisten können. Online-Frage: Sollte man Reisever- Wieso haben wir keinen Inklusionsfond anstalter verpflichten können, barriere- auf Bundes- oder Landesebene? freies Reisen generell anzubieten? Steffen Bockhahn: Das ist eine Glaubens- frage. Es gibt spezialisierte Reisebüros In der Corona-Krise hat nur ein einziges beispielsweise für Roadtrips durch die Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, Mongolei. Das würde ich nicht im Reisebü- Menschen mit Behinderungen und ihre ro nebenan buchen. Ich würde mich des- Familien mit 500 Euro Soforthilfe unter- halb mit Quotenpflicht und Sanktionierung stützt. Andere Bundesländer, die reicher eher zurückhalten. Es ist eine Frage, ob sind, konnten sich das nicht leisten. Wir ich Gebäude so baue, dass sich Menschen sprechen auch über die Bewusstseins- darin zurechtfinden können. Das andere ist, bildung nach Artikel 8 der UN-Behinder- eine Reise zu planen. Wenn jemand nicht tenrechtskonvention. Wieso machen wir die Liebe und die Leidenschaft dafür hat, keine Bewusstseinsbildung, dass Inklu- Menschen mit speziellen Anforderungen sion einen Mehrwert für alle darstellt? eine schöne Reise zu vermitteln, dann würde ich sagen: Lassen wir das lieber. Jürgen Becher: Reiseunternehmer zu Steffen Bockhahn: Corona ist für uns eine verpflichten, ist das gleiche wie Hotels zu große Chance, zu verstehen, was es heißt, verpflichten: Entweder ist es im Herzen drin aufeinander Rücksicht zu nehmen – Ab- oder nicht. Ich kenne ein kleines Reise- stand, Maske, gegenseitige Rücksichtnah- unternehmen in Schottland, das sich darauf me. Und gelingende Inklusion braucht vor spezialisiert hat, weil große Unternehmen allem eines: gegenseitige Rücksichtnahme. sich nicht dem Stress aussetzen wollen, Wenn wir das als Ressource sehen, sind sich mit den Beschwerden zu beschäftigen. wir einen ganzen Schritt weiter. Wir haben Denn auch auf barrierefreien Reisen gibt es in Rostock mit Unterstützung der Aktion immer wieder mal eine Stufe zu bewältigen. Mensch in den letzten Monaten eine grö- Viele Reisende ohne Einschränkungen wol- ßere Plakatkampagne gefahren, um das len auch gar keine barrierefreien Zimmer Thema „Inklusion“ zu transportieren. Der oder Toiletten buchen. Andererseits kann Slogan heißt: „Da kann ja jeder kommen.“ – ich auch die Veranstalter verstehen, weil es Genau darum geht es, dass jeder kommen mithin Menschen mit Beeinträchtigungen kann. Deswegen: Dass dieser menschen- gibt, die beim kleinsten Hindernis schimp- rechtliche Ansatz uns treibt, ist für mich fen. Es ist ein Geben und Nehmen. eine Selbstverständlichkeit. Frage aus dem Publikum: Der men- Margit Glasow: Das war ein gutes schenrechtliche Ansatz kommt auf der Schlusswort. Herzlichen Dank! Veranstaltung bisher nicht vor. Darüber müssen wir reden, denn Inklusion ist 24 / 46
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