Einführung in die Erkenntnistheorie - Prof. Dr. Martin Kusch
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Themen (I) Die Definition des Wissens und der Skeptizismus (II) Antworten auf den Skeptizismus (III) Fundamentalismus, Köhärenztheorie, Internalismus versus Externalismus (IV) Naturalisierte Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie der Tugenden (V) Definitionen, Fallstudien und der Relativismus in der Wissenschaftstheorie (VI) Relativismus und die Wissenschaftssoziologie (VII) Relativismus und Pragmatismus (VIII) Kritik des Relativismus I: Zirkularität und Nicht-Absolutheit (IX) Kritik des Relativismus II: Probleme mit dem Pluralismus (X) Kritik des Relativismus III: Das Problem und Argument des Kriteriums (XI) Kritik des Relativismus IV: Selbstwiderlegung und Unterbestimmtheit (XII) Kritik des Relativismus V: Semantische Fragen In der letzten Woche Prüfung 3
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmin (F) van Fraassen über Bekehrung 4
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmin (F) van Fraassen über Bekehrung 5
Kardinal Roberto Bellarmin Nikolaus Kopernicus Galileo Galilei (1542-1621) (1473–1543) (1564-1642) 6
Epistemische Systeme und Prinzipien (Boghossian 2006) „Epistemische Systeme” bestehen aus „ep. Prinzipien” Paul Boghossian (1957- ) Galileos Fernrohr ist ein zuverlässiges Instrument um über entfernte Gegenstände wahre Ü-en zu formen. Die New York Times ist eine zuverlässige Quelle über US- amerikanische Politik. Was Fridolin berichtet, ist in der Regel wahr. 9
„Beobachtung“: „Für jede Beobachtungsproposition p gilt: Wenn S den visuellen Eindruck hat, dass p, und die Begleitumstände D bestehen, dann ist S prima facie berechtigt zu glauben, dass p.“ „Deduktion”: „Wenn S gerechtfertigt ist, p zu glauben, und q recht offensichtlich aus p folgt, dann ist S gerechtigt zu glauben, dass q.” „Offenbarung“: „Bei bestimmten Propositionen p, einschließlich solcher über den Himmel, ist die Ü, dass p, prima facie gerechtfertigt, wenn p das offenbarte Wort Gottes ist, so wie es in der Bibel steht.“ 10
Bellarmins ep. System Galileos ep. System Abgeleitete Prinzipien Beobachtung Beobachtung Offenbarung Fundamentale Prinzipien Deduktion Deduktion … … 11
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 12
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 13
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 14
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 15
Phlogiston Von “φλογιστός” – brennbar. Phlogiston ist das Prin- zip des Feuers. Georg Ernst Stahl Verbrennung und Rosten sind Prozesse, in denen ein (1659-1734) Metall seinen Phlogistongehalt verliert. Rosten ist langsames Verbrennen. Der umgekehrte Pro- zess ist möglich für Metalle und ihre „Kalksteine“: „Wiederbelebung” des Metalls. 16
Verbrennung, Rosten Phlogiston Metall Kalkstein Wiederbelegung Phlogiston Metall Kalkstein + Phlogiston 17
Marie-Anne Lavoisier Antoine-Laurent (1758-1836) Lavoisier (1743- 1794) Joseph Priestley (1734-1804) 18
Phlogiston Metall Kalk- Holzkohle = stein + Phlogiston = Gewicht > Gewicht 19
reine Luft Kalk- reine Luft Metall fixierte stein air Gas von der Luft + Holzkohle = + Holzkohle Gewicht > Gewicht 20
1785 Lavoisier präsentierte eine öffentl. Demonstration, um seine Ansicht zu belegen und zu zeigen, dass Präzisionsmessungen (mit neuen, komplizierten) Messinstrumenten einen genauen Vergleich der Gewichte ermöglichen. Der Analyseteil …
Ein entscheidendes Experiment? brennbare Luft Wasser- dampf stark-erhitzter Gewehr- Wasser lauf mit Eisenspähnen Sauerstoff Sauerstoff Kalkstein Wasser Metall Metall Wasserst. + = + Wasserst. Gewicht + Gewicht = Gewicht + Gewicht 22
brennbare Luft Wasser- dampf stark-erhitzter Gewehr- Wasser lauf mit Eisenspähnen 1 Pfund Wasser: 0.86866273 Pfund Sauerstoff plus 0.13133727 Pfund Wasserstoff 23
Erklärungen der Chemischen Revolution: „Kompositionismus” Kompositionismus: Chemische Substanzen sind „Elemente“ und „Verbindungen“; Verbindungen lassen sich mit Hilfe der Waage bestimmen. Prinziplismus: (imponderable) fundamentale „aktive Prinzipien” & „passive Substanzen“ Wie entscheiden? Sie beruhen nicht auf Beweismaterial, sondern machen es möglich. Der Erfolg des einen spricht nicht direkt gegen den anderen. 24
Die Aufteilung der Problemfelder in der Chem. Revolution Probleme wichtig für ... nur wichtig für die ... nur wichtig für die An- beide Seiten Phlogistonisten hänger von Lavoisier Verstehen von Verbren- Die Erklärung des Eigenschaf- Theorie der Wärme und nung, Rosten, Wiederbe- ten der Verbindung aufgrund Zustandsveränderungen lebung, Atmung der Bestandteile Theorie der Säuren Mineralogie; Geologie Chemie der Salze Meteorologie Struktur versch. Substanzen Ernährung; Ökologie „… man hatte gute Lösungen für die Probleme, die man für wichtig hielt.” (Chang, 2014) 25
Lavoisiers Chemie offerierte französischen Chemikern eine neue Identität, getrennt von Pharmazie und gleichauf mit der Physik. Nicht ganz abzuweisen, dass dies half, um sich durchzusetzen. In England war die Chemie vor allem ein Hobby von Amateuren und Apothekern, ohne Verankerung an den Universitäten. 26
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmin (F) van Fraassen über Bekehrung 27
Definitionsfragen Der Begriff „Relativismus” ist vage und vieldeutig – wie andere „Ismen“. X ist relativ auf Y X: Moralische / epistemische / ästhetische / metaphysische … Ü-en, Prinzipien, Werte Y: Individuum / Gruppe / Standpunkt / wiss. Gemeinschaft / Kultur … 28
Gemeinsames Element: das Bestreiten von Absolutheiten, abs. Wahrheiten ABS-en als Platonische oder religiöse Wahrheiten – „there anyway“ - Wie erreichen wir sie? - Wie passen sie in ein naturalistisches Weltbild? ABS-en als was jede/r akzeptiert … oder akzeptieren sollte - Aber was akzeptiert denn jede/r? Ist das nicht zufällig? - Wenn „sollte“ ... woher kommen die Standards? ABS-en als die Ergebnisse der Wissenschaft - Aber was ist mit wissenschaftlichen Revolutionen? - Ist nicht Theoriewahl von kontingenten Faktoren beeinflusst? 29
(1) Abhängigkeit: Eine Ü hat einen epistemischen Status nur relativ auf: (a) ein System epistemischer Prinzipien (=S), oder (b) ein Bündel von Präzedenzfällen (=B). (2) Pluralismus: Es gibt, gab oder könnte geben, mehr als ein S bzw. B. (3) Non-Absolutismus: Keines dieser S oder B ist absolut richtig. 30
(4) Ausschließung: Für manche dieser S oder B gilt, dass sie einander aus- schließen, und zwar entweder: (a) weil sie auf gleiche Fragen (bzgl. des epistemischen Status einer be- stimmten Ü) einander widersprechende Antworten geben; oder (b) weil sie inkommensurable Handlungsformen involvieren. 31
(5) Bekehrung: Für manche dieser S / B gilt, dass sich der Wechsel von einem S / B zu einem anderen durch epistemische Argumente allein nicht erzwin- gen oder auch nur plausibilisieren lässt. 32
(6) Symmetrie: Verschiedenen S oder B sind insofern symmetrisch zueinander: (a) als sie alle ausschließlich auf lokalen Ursachen der Glaubwürdigkeit beruhen; und/oder (b) als es keine neutrale Methode gibt, sie sämtlich zu reihen; und/oder (c) als sie alle gleichermaßen gültig sind; und/oder (a) als sich für epistemische Subjekte die Frage der Beurteilung anderer als ihrer eigenen S oder B nicht sinnvollerweise stellt. 33
Absolutismus Absolu- Normative epist. Wahr- tes ES heiten – unabhängig da- von, ob es Menschen gibt. Bewertung Anleitung Platonisch? Für alle möglichen erken- nende Wesen gleich? Handlungen / Überzeugungen Oder spezifisch? Dann aber abgeleitet? 34
Absoluter Relativismus / Pragmatische Beeinträchtigung Absolu- tes ES Stanley: + Wert A Wert B Wert C Es gibt keine epi- stem. Systeme. Dennoch nennt er sich ei- nen epistem. Relativisten. H 1 / Ü1 H2 / Ü2 H3 / Ü3 35
Absoluter Relativismus / à la Goldman Goldman: Absolu- tes ES Reale ES antizipieren das absolute. Reales Reales Reales Die Orientierung an ESi ES1 ES2 ES3 kann im Lichte des abs. ES geboten sein. Letztendliche epistem. Rechtfertigung im Lich- te des abs. Systems. H1 / Ü1 H 2 / Ü2 H 3 / Ü3 36
Absoluter Relativismus / à la Boghossian Boghossian: „Wenn in Rom ...“ Das absol. Prinzip könnte z.B. die Bayesianische Formel sein. Absolut. Prinzip ---------------------------------------- Boghossians Kritik: Reales Reales Reales Wenn es ein absol. Prinzip gibt, ES1 ES2 ES3 warum nicht auch viele? Hier gibt der ER seine besten Karten aus der Hand: wie pas- sen absol. Normen in die phy- sikalische Welt und wie kön- nen wir sie wissen? (392-95) H1 / Ü1 H 2 / Ü2 H 3 / Ü3 37
Kompromissloser Relativismus / à la Barnes und Bloor, Stich, Rorty, Feyerabend Es gibt keine absoluten Prinzipien oder Systeme. Bei der Wahl des ES sind / sollten sein / die prakti- schen Ziele zentral (Stich, Rorty, Feyerabend). Reales Reales Reales Aber diese sind nicht un- ES1 ES2 ES3 bedingt bewusst. Auch politische Interessen. (SSK) Gemeinsamkeiten der ES möglich. Aber diese sind keine Absolutheiten; son- dern kontingente Überein- stimmungen. H1 / Ü1 H 2 / Ü2 H 3 / Ü3 38
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmine (F) van Fraassen über Bekehrung 39
Thomas Kuhn (1922-1996) The Structure of Scientific Revolutions (1962) Normale Krise Revolu- Normale Wissen- tion Wissen- schaft schaft Paradigma1 „Vorbildhafte Leistung“ ... basaler als Regeln Auch: „Matrix einer Disziplin“: geteilte Fest- Artikulation legungen, Werte, Vorbilde ... Puzzle-Lösen Akkumulation 40
Normale Krise Revolu- Normale Wissen- tion Wissen- schaft schaft Paradigma1 wichtige Anomalien Debatten um Grundsätze Entdeckung & Verlust 41
Normale Krise Revolu- Normale Wissen- tion Wissen- schaft schaft Paradigma1 wichtige Paradigmen- Paradigma2 Anomalien wechsel Gestalt- neue Institutionen, Rhetorik, unvereinba- wechsel re Lebensformen, „Inkommensurabilität“, Geschichte wird ungeschrieben; die Wahl beruht auf „nicht artikulierbaren ästheti- Zuwachs & schen Gesichtspunkten“; knappe Entschei- Verlust 42 dungen
Consider …the men who called Copernicus mad because he proclaimed that the earth moved. They were not either just wrong or quite wrong. Part of what they meant by 'earth' was fixed position. Their earth, at least, could not be moved. Correspondingly, Copernicus' innovation was not simply to move the earth. … it was a whole new way of regarding the problems of physics and astrono- my, one that necessarily changed the meaning of both 'earth' and 'motion.' Without those changes the concept of a moving earth was mad.” 43
GESTALT-SWITCH 44
Gerald Doppelt, “Kuhn’s Epistemological Relativism” (1976) Der Kern: Spätere wissenschaftliche Theorien sind nicht rationaler, adäquater, umfassender und tiefer als ihre Vorgänger. Wiss. Rationalität entscheidet nicht eindeutig für / gegen Paradigmen. Die Standards sind Paradigma-intern. Jedes Paradigma definiert sich selbst aufgrund von Standards, die seine Leistungen favorisieren. 45
Es braucht eine „Bekehrung“ zu einer neuen normativen Ansicht von den Zielen, Standards und Problemen der Disziplin. Die Wahl beruht auf Gründen, aber das Paradigma bestimmt ihr Gewicht. Menschen gleicher Vernünftigkeit können eine schuldlose Uneinigkeit haben. 46
Kuhn zeigt, dass viele WissenschaftlerInnen das neue Paradigma auch schon unterstützen, während es weniger erklären kann, als das alte. Der Wechsel erfolgt, bevor zwingende Gründe vorliegen. Wir brauchen die Soziologie, um dies zu verstehen. 47
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmine (F) van Fraassen über Bekehrung 48
Paul Feyerabend, Against Method (1976) Feyerabend (1924-1994) „Anything goes!” Keine „universalen Standards“. 49
Durchsetzung der Kopernikanischen Hypothese verlangte eine Revision von vielen Theorien: Meteorologie, Optik, Theorie der Bewegung. Vor allem aber der Kognitionstheorie, welche eine einfache Beziehung zwischen Wahrnehmungen und physikalischen Objekten postulierte. Diese Theorien waren mit der Beobachtungssprache verschweißt. Dies ist der „historico-physiologische Charakter des Beweismaterials“. 50
Zum „Turm Argument”: Galileo identifiziert die „natürlichen Interpretationen“, die ihm zugrunde liegen: d.h. „Erscheinung plus Aussage“. Für Kopernikus macht der Stein eine „gemischte gerade-und-kreisförmige“ Be- wegung. Der Bezugsrahmen der Bewegung ist das Sonnensystem. 51
Für das Gegenargument ist die Bewegung relativ auf das Bezugssystem des Wahrnehmenden. „Zwei verschiedene Begriffe von Bewegung ...“ Der Kritiker setzt scheinbare und wirkliche Bewegung gleich – zumindest in paradigmatischen Fällen, wie dem Steinfall vom Turm. 52
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 53
Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 54
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Das Turm-Argument gegen die Bewegung der Erde 58
Galileo führt eine neue, hochabstrakte Beobachtungssprache ein. Und damit die „Relativität aller Bewegung“. Er benutzt dabei „Propaganda“, „psychologische Tricks“. Er „erfindet“ eine neue „Erfahrung“. Das Beispiel des Zeichners auf dem Schiff. Die Bewegung seines Stifts lässt sich auf zwei Weisen, in zwei Bezugsrahmen, fassen. Damit sucht Galileo zu zeigen, dass schon der gesunde Menschenver- stand die Relativität der Bewegung akzeptiert. „Anamnese“! 59
Erfahrung kann uns nicht zwingen, Galileos Ansicht zu akzeptieren. Der Aristotelismus hatte seine eigene Wahrnehmungstheorie: keine Diskrepanz zwischen Beobachtungen und den beobachteten Dingen. Das Relativitätsprinzip wird auf zwei Weisen gestützt: Es harmoniert mit Kopernikus‘ Theorie: das ist ad hoc. Es entspricht dem Common Sense. Das ist Propaganda. 60
Galileos Fernrohr und seine Zeich- nungen der Mondoberfläche 61
Fernrohr? Der Aristotelismus hatte gute Gründe gegen die Zuverlässigkeit des Auges unter solchen Bedingungen. Galileo fehlte die optische Theorie. Vgl. Galileos Zeichnungen des Mondes: die dort angeführten Berge und Täler gibt es gar nicht. Oder der glatte Rand des Mondes! 62
Wichtig war der Aufstieg einer neuen „sekulären Klasse“. Sie verachtete den Aristotelianismus und für sie war Kopernikanismus der Fortschritts. Manchmal sind Klassenvorurteile, Leidenschaft, persönliche Zufälligkeiten, Stil und Irrtum notwendig damit sich unser Wissen verbessert. Der erste Schritt ist immer ein Schritt zurück: anscheinend relevantes Be- weismaterial wird durch ad-hoc Verbindungen beiseite geschoben. „... propaganda ist of the essence.“ Denn es muss Interesse erzeugt werden, obwohl die neue Theorie vorerst fast alle Gründe gegen sich hat. 63
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmin (F) van Fraassen über Bekehrung 64
Rochard Rorty (1931-2007) Kuhn hat gezeigt, dass es keinen Algorithmus gibt, für die Wahl zwischen Paradigmen. Die Wahl ist „von gleicher Art“ wie die Wahl zwischen Lenin und Kerenski. War Bellarmin „unlogisch und unwissenschaftlich“? Nein. B. akzeptierte nur ein instrumentalistische Lesart von Kopernikus. Andere begrenzten lieber die Domäne der Bibel. 65
Es gab noch nicht das „Netz“ von Ü-en, aufgrund derer wir sagen „Galileo hat- te Recht“. Es brauchte „300 Jahre Rhetorik“. Das Netz wurde nicht „entdeckt“. Es gibt nicht die neutrale Position, von der aus GG absolut im Recht war. Es macht also keinen Sinn zu sagen, GG habe „rational“ gehandelt, als er neue Rationalitätsprinzipien erfunden hat. 66
„Kopernikus hatte Recht, wo der Geozentrismus Unrecht hatte.“ Das heißt nur: die Ansichten des Kopernikus lassen uns unsere Zwecke besser erreichen, als die Ansichten des Ptolemäus. Natürlich machen wir Fortschritt – aber nur gemäß unseren (sich wandelnden) Kriterien. 67
(A) Galileo, Bellarmin, Priestley, Lavoisier (B) Was ist Relativismus? (C) Kuhns Revolutionen (D) Feyerabend über Propaganda (E) Rorty zu Bellarmin (F) van Fraassen über Bekehrung 68
Haltungen (Stances) Eine philosophische Position ist nicht bloß eine Sum- me von Überzeugungen, sondern eine „Haltung“. Eine Summe von Ü-en, Einstellungen, Bindungen, Vor- gehensweisen, Werten, Zielen, Motivationen Oder eine Kombination von versch. Haltungen Auch der Wissenschaft sind bestimmte Haltungen wesentlich. 69
Zu einer Haltung wird man „bekehrt“ wie zu einer Religion oder einem politischen Programm. Haltungen macht man sich zu eigen. Die Einheit einer Haltung? Es ist pragmatisch (wenn auch nicht logisch) inkonsistent eines der Elemente zu verneinen. Enden wir dann nicht im Relativismus oder Irrationalismus? Können dann Differenzen noch rational ausgeräumt werden? Meinungen, Thesen, Theorien, Argumente sind immer noch wichtig. Aber sie können nicht endgültig und allein entscheidend sein. 70
Wissenschaftliche Revolutionen und Bekehrung Es gibt die revolutionären Veränderungen (Feyerabend, Kuhn). Problem/Paradox: Aus der Sicht der Position nach der Revolution ist die Position vor der Revolution verständlich und die Veränderung plausibel. Aus der Sicht der Position vor der Revolution ist die Position nach der Revolution absurd und die Veränderung nicht zu rechtfertigen. 71
Kann die Erkenntnistheorie helfen? „Objektivierende“ Erkenntnistheorie (meint er Kornblith?!): Eine Erkenntnistheorie auf rein faktischer Ebene, die unser kognitives Funktionieren beschreibt, und keine Werturteile enthält. Das erkenntnistheoretische Problem der Bekehrung kann von objek- tivierenden Erkenntnistheorien nicht gelöst werden. 72
Problem der objektivierenden Erkenntnistheorie (a) Eine objektivierende Erkenntnistheorie ist eine (wissenschaftliche) Theorie über unsere Kognition. (b) Eine solche Theorie ist eng mit unseren gegenwärtigen Theorien über die Welt verflochten. (c) Problem: Dann muss jede Revolution bzgl. der Theorien über die Welt aus der Sicht der Theorie unserer Kognition irrational sein. 73
„Voluntaristische“ Erkenntnistheorie ... macht Willen und Entscheidungen zentral. Voluntarismus ist die Ansicht, dass unsere Haltungen durch die Prinzi- pien der Rationalität unterbestimmt sind. Die Prinzipien der Rationalität sind beschränkt auf die Forderungen von logischer Konsistenz und probabilistischer Kohärenz. „Rationalität ist gezügelte Irrationalität.“ 74
W. James: Wir wollen Wahrheiten glauben und Fehler vermeiden. William James (1842-1910) Diese beiden Ziele sind in Spannung. Es gibt nicht die eine Lösung. Wie wir sie gewichten ist abhängig von Kontext, Interessen und Werten. 75
Bekehrung und Emotionen Wie kann eine absurde Alternative zur echten Alter- native werden? Jean-Paul Sartre (1905-1980) Wie ändern sich die grundlegenden enscheidungsre- levanten Parameter unserer Problemsituation? Durch Änderung der Emotionen! Andere Emotionen, andere Wahrscheinlichkeiten. Der Glückliche erwartet Gutes; der Unglückliche Schlechtes. 76
Die revolutionären Veränderungen sind nicht einfach nur Fälle der Emotionen. Aber das Pattern ist gemeinsam. Die Veränderung macht etwas verständlich, was vorher nicht ver- ständlich war. Und die Änderung der Einstellung ist hier zentral. Emotionen spielen in dieser subjektiven Transformation eine Rolle: aber dies sind in der Wissenschaft wichtige Emotionen. 77
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