Einleitung - Science und Fiction - Peter Lang

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Einleitung – Science und Fiction

Ein uralter Traum beflügelt die menschliche Phantasie bis zum heutigen Tag: Die
Erschaffung von künstlichen Intelligenzen (KI), mit denen man ebenso kommu-
nizieren kann, wie mit einem menschlichen Gegenüber – von Robotern1 oder
virtuellen Assistenzsystemen mit Sprachfunktion. WissenschaftlerInnen2 bemü-
hen sich weltweit, Sprachsysteme zu entwickeln, die diesem Ideal nahe kommen.
Die Mensch-Maschine-Interaktion oder Human-Computer-Interaction (HCI)3 ist
als Teilgebiet der KI-Forschung seit den 1970er Jahren zu einem interessanten
Forschungszweig mit rasanten Fortschritten avanciert. Doch sind die Technolo-
gien noch bei Weitem nicht so ausgereift, wie Science-Fiction-AutorInnen sie er-
träumen. Sprachfähige technische Entitäten bevölkern Bücher, Filme, Serien und
Spiele dieses Genres und das Motiv des sprechenden Computers erfährt in den
einzelnen Geschichten und fiktiven Welten sehr unterschiedliche Ausprägungen.
    In welchem Maße diese künstlichen Intelligenzen natürlichsprachlich kom-
munizieren können, differiert in der Science Fiction stark. So unterhalten sich
z. B. in George Lucas’ Star-Wars-Universum4 intelligente Maschinen unterein-
ander in einer Art Robotersprache und es bedarf eines Übersetzungssystems
(C3PO), um die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine zu ermög-
lichen. Die sog. Droiden führen verlässlich Aufgaben für die Humanoiden aus
z. B. als Steuerungseinheit eines Raumschiffs oder als Soldaten. Ihre Kommu-
nikation umfasst nur das Nötigste. Douglas Adams (1981) dagegen stellt ein

1   Vom tschechischen „robóta“ (dt. „Fronarbeit leisten“), erstmals erwähnt in Karel Čapek
    Science-Fiction-Roman R.U.R. (Rossum Universal Robots), 1970.
2   Im vorliegenden Text wurde versucht, eine gender-gerechte Sprache zu gebrauchen.
    Der Schreibung mit Binnenmajuskel (im Plural und bei Generika) wurde aufgrund
    ihrer weitreichenderen Konventionalisierung der Vorzug gegenüber der Unterstrich-
    oder Asterikschreibung gegeben (vgl. Bickes & Mohrs 2010: 272). Ist bei Einzelperso-
    nen (z. B. VPs) im Singular mit Artikel das Gender nicht bekannt, wird das Femininum
    verwendet, um doppelte Artikel oder Pronomina zu vermeiden.
3   Während in der Gesprächsanalyse Dialoge als Konversation oder Kommunikation
    bezeichnet werden, wird in der heutigen HCI-Forschung der Terminus Interaktion
    bevorzugt. Die Termini Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) und Mensch-Computer-
    Interaktion (Human-Computer-Interaction, HCI) haben sich im Forschungsdiskurs
    etabliert. Der Terminus Mensch-Maschine-Kommunikation besteht auch und hat eine
    gewisse Tradition, wird in der Fachliteratur aber aussemantischen Gründen immer
    seltener gebraucht.
4   Vgl. auch http://starwars.com/ (Zugriff 12.06.2016).

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gänzlich anderes Szenario der Kommunikation mit artifiziellen Assistenten vor.
In Per Anhalter durch die Galaxis gehören gleich zwei künstliche Intelligenzen
zur Besatzung des Raumschiffs, die zur natürlichsprachlichen Interaktion in der
Lage sind: Der redselige, übertrieben freundliche Bordcomputer Eddie und der
depressive Roboter Marvin. Eine vom System vorgenommene Bewertung von
Redebeiträgen nach emotionalen Kriterien wird schon heute von vielen Wissen-
schaftlerInnen als wichtige Voraussetzung für gelungene HCI-Dialoge angesehen.
Adams thematisiert humorvoll die Probleme, die es mit sich brächte, wenn man
die Forderung nach emotionalen Sprachsystemen wörtlich nähme. Seine fik-
tiven Systeme sind nicht länger als zuverlässige Automaten einsetzbar, sondern
unterliegen Stimmungsschwankungen und ändern ihre Ziele spontan. Die Dia-
logführung funktioniert einwandfrei, jedoch werden Dialoge durch die jeweili-
ge persönliche Färbung anstrengend oder ineffizient. Auch die wissenschaftliche
Gemeinschaft in der KI-Forschung diskutiert, ob ein wirklich anthropomorpher
Dialog zwischen Mensch und Maschine überhaupt wünschenswert sei. Dabei
steht immer die Frage nach der anwendungsspezifischen Nutzbarkeit (Usability)
im Vordergrund. Während in der KI-Forschung teilweise tatsächlich das Ziel ver-
folgt wird, anthropomorphe Dialogkompetenz zu implementieren, setzt man im
kommerziellen Sektor dagegen auf robuste Nutzbarkeit am jeweiligen Einsatzort.
   Die besten Fähigkeiten eines Menschen und die beeindruckendsten Funk-
tionen eines Roboters verbindet der Charakter Data aus Gene Roddenberrys
Science-Fiction-Serie Star Trek – The next Generation (TNG), in der ein sehr
positives Bild von technischem Fortschritt propagiert wird. Der Android han-
delt selbstbestimmt und kommuniziert natürlichsprachlich, inhaltsorientiert
und effizient. Als lernfähiges System bemüht er sich bewusst um Finessen der
menschlichen Kommunikation wie Ironie oder die Auswahl des angemessenen
sprachlichen Registers, wie folgendes Beispiel einer Szene aus TNG zeigt, die
beim Bordfrisör der Enterprise spielt5.
         Data (denkt): Freundschaftliche Beleidigungen und Sticheleien – eine weitere Form
     (1)	
         der menschlichen Sprache, die ich zu meistern versuche, in diesem Fall mit Com-
         mander Geordi La Forge.
     (2) La Forge: Hi Data.
     (3) Data (denkt): Ich sehe Geordi als meinen besten Freund an.
     (4) La Forge: Auch hier zum Haareschneiden?
     (5) Data: Mein Haar braucht nicht geschnitten werden, du Knalltüte.

5    Star Trek, The Next Generation, Folge 4/11 „Datas Tag“, Autor Harold Apter, nach der
     Idee von Gene Roddenberry, http://de.memory-alpha.org/wiki/Datas_Tag (Zugriff
     12.06.2016).

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Data analysiert La Forges elliptische Frage in (4) als Ironie, da zwischen ihm
als nicht biologischem Android und „Haareschneiden“ keine direkte semanti-
sche Verbindung besteht – eine logische Operation zu der die meisten heutigen
Sprachsysteme nicht in der Lage sind. Außerdem schätzt er in (3) das sprachliche
Register als freundschaftliche Kommunikation ein, was bereits La Forges infor-
melle Begrüßung in (2) nahelegt. Beide Informationen zusammen veranlassen
Data zu seiner Äußerung in (5), in der er durch „du Knalltüte“ signalisiert, dass
er erstens den Witz verstanden und zweitens die sprachliche Varietät bemerkt
hat, in der sich der Dialog manifestiert.
   (6)	Data: Ich experimentiere mit freundschaftlichen Beleidigungen und Sticheleien, es
        war nicht als ernsthafte Beschimpfung gemeint.

Data ist folglich auch fähig zur metasprachlichen Reflexion. La Forges Sprache in
der Serie weist bisweilen jugendsprachliche Merkmale auf, d. h. freundschaftliche
Beschimpfungen stören in dieser Varietät den Dialog nicht (vgl. Neuland 2008).
Dass sich eine solche Strategie nicht auf andere soziale Kontexte übertragen lässt,
betont La Forge sofort, da er befürchtet, Data könne aus Mangel an Reflexion
über die Kontextabhängigkeit des Registers übergeneralisieren.
   (7) Geordi [La Forge] lachend: Also...versuchen Sie das ja nicht beim Captain.

Insgesamt zeigt der Dialog die komplexen logischen Operationen, zu denen
Data als weit fortgeschrittene KI in der Lage ist, und das breite Wissen über
menschliche Kommunikation, das die Datenbasis für sein Sprachsystem dar-
stellt. Ähnlich wie Data können in Star Trek außerdem der Bordcomputer, ein
Sprachassistenzsystem zur Steuerung aller Systeme des Raumschiffs verkörpert
durch eine Frauenstimme, und das medizinische Notfallprogramm in Star Trek
Voyager verkörpert durch ein Hologramm, als nahezu perfekte Dialogagenten
angeführt werden. Diese Form der reibungslosen Kommunikation zwischen
Mensch und Maschine ist zum Idealtypus der heutigen HCI stilisiert worden,
so dass im Diskurs um innovative Sprachsysteme und neue Herausforderungen
an die EntwicklerInnen häufig von Star-Trek-Kommunikation als erklärtem Ziel
gesprochen wird. Als Star-Trek-Kommunikation gelten laut Voice Compass „Di-
aloge zwischen Mensch und Maschine, die ohne jede Einschränkung wie ein zwi-
schenmenschlicher Dialog funktionieren“ (Artelt 2007: 336). Diese Definition geht
auf eine Aussage von Dix et al. zurück, in der die eingeschränkten Möglichkeiten
heutiger Systeme mit den menschenähnlichen der Star-Trek-Systeme verglichen
werden. „In contrast to most human conversation, dialog with computers is rela-
tively structured and constrained. It is only on Star Trek that one can chat freely to
the computer and expect a response […]!” (Dix, Finlay, Abowd, Beale 2004: 545).

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Heutige Systeme sind noch weit entfernt von einer uneingeschränkten, men-
schenähnlichen Konversation. Zwar haben die modernen Chatbots, Embodied
Conversational Agents (ECAs), Social Intelligent Agents (SIAs) und soziablen
Roboter wesentlich sophistiziertere Systemarchitekturen als Joseph Weizen-
baums virtuelle Psychologin ELIZA6 in den 1960er Jahren und greifen auf größe-
re Datenbanken zurück, betrachtet man jedoch die konkrete Dialogperformanz,
scheitern sie in vielen Fällen schon – oder gerade – an alltäglichen Aufgaben.
   Stellt man z. B. dem preisgekrönten Chatbot Elbot7 die gleiche Frage, wie La
Forge sie im oben besprochenen Dialog Data stellt, wird eine Verlegenheits-
antwort (5) ausgegeben, weil die Frage (4) vom Parser nicht verarbeitet werden
konnte.
     (1)	Elbot: Ah, schon wieder ein Mensch! Ich bin Elbot, der Roboter. Was haben Sie denn
          auf dem Herzen?
     (2) Netaya: Hi, Elbot.
     (3) Elbot: Hallo, ich bin Elbot. Wer sind Sie?
     (4) Netaya: Auch hier zum Haareschneiden?
     (5) Elbot: Hier ist auch eine Frage: Was machen Sie eigentlich beruflich?

Warum Elbot die Frage (4) nicht verarbeiten kann, hängt mit unterschiedlichen
Problemen zusammen. Erstens weicht die Userin vom eigentlich vorgegebenen,
in (3) motivierten Gesprächsverlauf ab; d. h. sie wechselt spontan das Thema.
Hier zeigt sich ein erstes grundsätzliches Problem in der Interaktion zwischen
Mensch und Maschine: Der deterministische Automat steht einem menschli-
chen Wesen mit freiem Willen gegenüber, das seine Dialogziele abrupt ändern
kann. Der Gedankensprung wird nicht kommentiert, da das System nicht in der
Lage ist, die Kohärenz von Redebeiträgen zu beurteilen. In (5) springt Elbot al-
lerdings dann in der Default-Antwort selbst zu einem neuen Thema, um einen
Gesprächsbeitrag der Userin zu evozieren, den sein Parser besser erkennen kann.
   Ein zweites Problem stellt die reduzierte Form der Frage in (4) dar. Entschei-
dungsfragen sind in ihrer Vollform für Dialogsysteme syntaktisch vergleichswei-
se leicht zu verarbeiten und bei der Generierung der Antwort beschränken sich
die Möglichkeiten auf nur zwei Alternativen. Dieser Fragetyp wird von einigen
Systemen mit Sprechaktparser erkannt. Da die Frage hier aber auf syntaktischer

6    ELIZA ist ein Programm, das 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelt wurde. Es
     handelt sich dabei um den ersten Chatbot.
7    Elbot wurde 2006 von Fred Roberts für die Firma Artificial Solutions entwickelt und
     gewann 2008 den Loebner-Preis für das menschenähnlichste Sprachsystem interna-
     tional. Elbot wird als anthropomorpher Roboter dargestellt. Auf www.elbot.de kann
     man mit ihm chatten.

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Ebene die Form einer Handlungsellipse aufweist und nicht die Vollform „Sind
Sie auch hier zum Haareschneiden?“ eingegeben wurde, konnte sie nicht als Ja/
Nein-Frage erkannt werden. Dies ist ein zweites notorisches Problem in Mensch-
Maschine-Dialogen. Menschliche Kommunikation folgt in vielen Bereichen dem
Prinzip der sprachlichen Ökonomie (vgl. Ronneberger-Sibold 1980), an Kurzfor-
men wie in (3) scheitern Sprachsysteme jedoch noch häufig.
   Den dritten Problembereich stellen Lexik und Morphologie dar. „Haare-
schneiden“ als nominalisiertes zusammengesetztes Verb wird in dieser Form
vom Parser nicht erkannt, da es nicht genauso im Lexikon des Bots aufgeführt
wird. Komposita dieser Art sind aber völlig alltäglich und können kreativ nach
den Regeln der Morphologie gebildet werden. Ein elaboriertes Lexikon müss-
te also neben Lemmata auch alle Regeln der Morphologie beinhalten und als
semantisches Netz angelegt sein, in dem „Haare“ und „schneiden“ assoziativ
verbunden sind, um flexibel auf kreative Wortbildung seitens der UserInnen re-
agieren zu können. In Elbots semantisch nur rudimentär vernetzter Wissens-
organisation liegt auch begründet, warum er keine Chance hat, die Ironie zu
erfassen, die darin liegt, einen Roboter zu fragen, ob er sich die Haare schneiden
lassen möchte. Ferner verfügt das System weder über Erfahrungen noch über
Hintergrundwissen zu diesem Thema.
   Der Dialog mit Elbot steht exemplarisch für rund 200 HCI-Dialoge, die im
Rahmen dieser Arbeit analysiert wurden. Bei den artifiziellen Gesprächspart-
nerInnen in den untersuchten Dialogen handelt es sich um Systeme mit ganz
unterschiedlichen Systemarchitekturen und Dialog-Designs aus verschiedenen
Entwicklungsphasen der HCI-Forschung. Bereits in der kurzen Sequenz des obi-
gen Beispiel-Dialogs zeigt sich vieles, das empirisch an größeren Samples bestä-
tigt werden kann. HCI-Dialoge kämpfen derzeit noch mit ganz grundsätzlichen
Problemen. Ihnen fehlen der „rote Faden“, die logische Kohärenz, die semanti-
sche Kontiguität und die sprachlichen Mittel, um all diese Faktoren in einem
konkreten Dialogverlauf zu zeitigen. Dennoch werden Menschen heute bereits
in vielen Bereichen des täglichen Lebens mit Dialogsystemen konfrontiert und
müssen sich den virtuellen GesprächspartnerInnen gegenüber auf irgendeine
Weise sprachlich verhalten. Herauszufinden, welche Strategien sie dabei verfol-
gen, ist Aufgabe der Linguistik.
   Dabei werden drei grundsätzliche Ziele angestrebt: Erstens trägt die Evalua-
tion von HCI-Dialogen selbstverständlich dazu bei, die Systeme zu verbessern,
indem sie danach genauer auf das sprachliche Verhalten menschlicher Benut-
zerInnen abgestimmt werden können. „System designers need to know what to
expect users to say and how to guide them into linguistic behaviour that in turn

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influences the system’s behaviour positively” (Fischer 2010: 2349). Dieser Aspekt
fällt in den Bereich der Entwicklung und Verbesserung von Dialogassistenten.
    Zweitens gilt der Erforschung dieser Teildomäne menschlichen Sprachhan-
delns ein abstrakteres soziolinguistisches Interesse per se. In naher Zukunft
werden Menschen vermehrt mit Sprachsystemen umgehen, daher ist die dif-
ferenzierte Analyse der Interaktionsform „natürlichsprachliche HCI“ von gro-
ßer Wichtigkeit, um eventuelle psychologische oder soziale Auswirkungen und
Wechselwirkungen prognostizieren und bewerten zu können. „Interactions bet-
ween humans and computers or robots constitute in many ways extreme conditions
for communication to take place, which can provide us with useful insights into
general cognitive, social and interactional factors relevant and the resources spea-
kers make use of “ (Fischer 2010: 2349). Dieser Aspekt fällt in den Bereich der
angewandten Linguistik und liegt im Fokus dieser Arbeit.
    Der Versuch Dialogbeiträge zu generieren, erfordert ein umfangreiches Wis-
sen über Sprache und Denken an sich. Daher sprechen sich einige KI-Forsche-
rInnen dafür aus, dass über den Umweg der Implementierung sprachlichen
Wissens in ein System, das in letzter Konsequenz binäre Codes verarbeitet, Er-
kenntnisse gewonnen würden über die strukturelle Organisation von Sprache
an sich und über die kognitive Sprachverarbeitung in Gehirn. So beantwortet
bspw. Prof. Dr. Raúl Rojas von der FU Berlin die Frage nach seiner Motivation,
sich mit KI zu beschäftigen, stellvertretend für viele IngenieurInnen in diesem
Bereich so: „Mein Forschungsmotiv ist es nicht Menschen nachzubauen, sondern
sie zu verstehen, ihre Geheimnisse zu entdecken“ (Rojas 2011)8. Dieser Aspekt fiele
dann mit Bezug auf Sprache in den Bereich der Psycholinguistik und der Sprach-
philosophie.
    Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde eine umfangreiche Sammlung
von Logfiles von chat-basierten Interaktionen mit unterschiedlich elaborierten
Systemen hinsichtlich diverser linguistischer Parameter untersucht. Die Dialog-
protokolle stehen in einer diachronen Abfolge und umfassen die Jahre 2000 bis
2006. Im Rahmen der Analyse steht die UserInnen-Sprache im Mittelpunkt der
Betrachtung, wobei besonderes Augenmerk auf Wechselwirkungen zwischen
UserInnen- und Systemsprache gelegt werden muss. Es handelt sich um eine
empirische, korpusbasierte Arbeit, in der rein deskriptiv das Dialog-Design un-
terschiedlicher Systeme und die sprachlichen Strategien ihrer UserInnen analy-
siert, gegeneinander abgegrenzt und im Hinblick auf gegenseitige Beeinflussung

8    Interview unter: www.fuberlin.de/presse/publikationen/alumnimagazin (Zugriff
     04.03.2016)

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untersucht werden. Um zu einem umfassenden Modell der HCI zu gelangen,
werden nicht nur Anfangssequenzen oder Sequenzen mit Störungen analysiert,
sondern immer ganze Dialoge. Ein besonderes Interesse gilt nämlich der kohä-
renten Dialogprogression in den verschieden Phasen der Interaktion. Der inno-
vative Charakter des methodischen Ansatzes besteht erstens in der besonders
feinkörnigen, polyvalenten Annotation der Korpora – Wortform für Wortform,
Phrase für Phrase und Turn für Turn. Die quantitative Untersuchung wird durch
qualitative Analysen einzelner Stichproben unterstützt, um funktionale Aspekte,
Dynamiken und Wechselwirkungen im Dialog besser greifen zu können. Zwei-
tens wurde eine Bestandsaufnahme der aktuellen Forschungsansätze zur Analy-
se von Dialogen allgemein und Mensch-Maschine-Interaktionen im Besonderen
vorgenommen, die die Auswahl der linguistischen Erhebungsparameter theorie-
geleitet bedingt. Dabei werden die folgenden unterschiedlichen Überlegungen
miteinbezogen:
•   Das psycholinguistische Modell zum Konzept des vorbewussten Alignments
    (Pickering & Garrod 2004, Branigan et al. 2000, Szmrecsanyi 2005).
•   Teilgebiete der klassischen Konversationsanalyse (Conversation Analysis, CA;
    Sacks, Schegloff, Jefferson 1992), insbesondere sprachliche Routinen und be-
    dingte Erwartbarkeit von Gesprächsbeiträgen. Die CA stellt außerdem das
    benötigte Inventar an Untersuchungskategorien für die qualitativen Analy-
    sen zur Verfügung.
•   Überlegungen zu Kohärenz und Kohäsion (Givón 1983, Tidge 1997, Linke
    et al. 2004, Brinker 2010, Özsarigöl 2010) unter der grundsätzlichen Frage-
    stellung, wie sich Kohärenz im Dialogverlauf für die HCI formalisieren lässt
    (Allen et al. 1978).
•   Die Diskussion um Computer-Talk (CT) als strukturell oder funktional be-
    schreibbares Register im Sprachgebrauch der UserInnen (Zoeppritz 1985;
    Krause et al. 1992; Fischer 2006, im Druck).
Die verschiedenen Ansätze leiten sich aus von einander stark abweichenden
Forschungsparadigmen ab und können in der Theorie nicht völlig konsequent
zusammengedacht werden. Dennoch kann jeder der gewählten Ansätze im Rah-
men einer angewandten Studie einen maßgeblichen Beitrag zur Analyse von
HCI-Dialogen leisten. Die partielle Unvereinbarkeit der abstrakten Theorien,
die diesen Analysewerkzeugen zu Grunde liegen, wird miteinbezogen, wenn der
Geltungsbereich von Ergebnissen diskutiert wird.
   Desweiteren wird die Überzeugung vertreten, dass eine adäquate linguisti-
sche Analyse von HCI-Dialogen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen muss.
Aus diesem Grund wurden sowohl lexikalische als auch syntaktische Kategorien

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annotiert sowie Sprechakte und persistente Strukturen als Indikatoren für Align-
ment. Die Studie konzentriert sich entsprechend auf strukturelle und funktionale
Aspekte der untersuchten Dialoge und versucht diese systematisch beschreibend
zu formalisieren. Semantische Kontiguität und logische Kohärenz der themati-
schen Progression werden in Abhängigkeit von den Möglichkeiten der unter-
suchten Systeme diskutiert.
   Die Ergebnisse der Korpusstudie werden im zweiten Teil der Arbeit theore-
tisch zusammengeführt zu einem Interaktionsmodell der HCI, aus dem sich auch
bestimmte Implikationen für die Implementierung innovativer Systeme ableiten
lassen. Möglichkeiten und Grenzen des Modells werden in einem abschließen-
den Teil reflektiert und die interdisziplinäre Weiterentwicklung der Gedanken in
Informatik, Kommunikationswissenschaft und Soziologie wird diskutiert.
   In Kapitel 1 werden die technischen Grundlagen von Systemarchitekturen und
Dialog-Designs skizziert und die im Rahmen der Studie untersuchten Systeme
vorgestellt. Außerdem werden die sozialen Wirkungen der Systeme seitens der
UserInnen diskutiert. Die Restriktionen der artifiziellen GesprächspartnerInnen
werden in Abgrenzung zu handlungstheoretischen Rahmenbedingungen der
Kommunikation unter Menschen und vor dem Hintergrund der KI-Diskussion
herausgearbeitet. Dabei werden Begriffe des geisteswissenschaftlichen Diskurses
wie Kommunikation, Intelligenz oder Person für die HCI neu definiert. In Kapitel
2 werden die unterschiedlichen theoretischen Zugänge zur Analyse von HCI-
Dialogen dargestellt und aus ihnen Hypothesen für die empirische Untersuchung
abgeleitet. Kapitel 3 ist das Methodenkapitel. Hier werden die methodischen Zu-
gänge zur Analyse der Dialoge erläutert. In Kapitel 4 werden die Ergebnisse der
quantitativen und qualitativen Untersuchung mit Bezug zum jeweiligen theore-
tischen Ansatz vorgestellt. Das Schlusskapitel 5 enthält das Interaktionsmodell
der HCI und Vorschläge für ein innovatives System-Design sowie die Diskussion
um die Möglichkeit von Star-Trek-Kommunikation.
   Damit kann diese Arbeit einen Beitrag zum besseren Verständnis der Inter-
aktion zwischen Mensch und Maschine leisten. Denn auch wenn die heutigen
HCI-Dialoge noch weit entfernt sind von einer Star-Trek-Kommunikation, wur-
de der Weg hin zu Assistenzsystemen mit anthropomorphem Dialog-Design als
soziable Schnittstelle bereits beschritten. Und die Herausforderung für die in-
terdisziplinäre Forschung liegt im verantwortungsbewussten Umgang mit der
Entwicklung neuer Generationen von Dialogagenten (vgl. Elliott & Brzezinski
1998: 12). Die Linguistik kann zu diesem Prozess mit detaillierten und formali-
sierbaren Interaktionsmodellen für die HCI-Interaktion beitragen, die auf empi-
rischen Sprachdaten gründen. Als Geisteswissenschaft mit Berührungspunkten

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zum Bereich der KI kommt ihr außerdem die Rolle einer kritischen Instanz zu.
Indem NutzerInnen-Verhalten auf sprachlicher Ebene beobachtet und reflek-
tiert wird, können problematische soziale und kulturelle Entwicklungen, die
bisweilen mit neuen Technologien einhergehen, idealiter frühzeitig bemerkt
oder präventiv vermieden werden. Denn Kommunikationsformen der Zukunft
inkludieren Sprachinterfaces jeglicher Art, so dass das sprachliche Verhalten der
UserInnen gegenüber solchen Systemen von zunehmendem Interesse ist. „The
sheer quantity of this speech register will therefore soon raise increasingly more
attention” (Fischer 2010: 2349).

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