Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts
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Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts , Die Radikalisierung der NS-Judenpolitik 1938 Österreich, das »Altreich« und das Sudetenland Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung Der Holocaust in europäischen Geschichtsmuseen des Holocaust Bulletin des Fritz Bauer Instituts Polen, Kroatien, Tschechien 1
2 DVD, 264 Min., Farbe empf. VK: € 19,90 6 DVD im Schuber, 985 Min., Farbe Booklet, PDF-Materialien empf. VK: € 39,90 Booklet empf. VK: € 24,90 Booklet empf. VK: € 24,90 2 DVD, 195 Min. + Extras, Farbe 2 DVD, 316 Min. + Bonus, Farbe Editorial Liebe Leserinnen und Leser, VIER SCHWESTERN SHOAH UND DIE FOLGEFILME WARUM ISRAEL TSAHAL im November 2018 jähren sich die Pogrome gegen die jüdische Fragestellungen verbindet. Dieser Text ist eine erweiterte Fassung Vierteiliger Dokumentarfilm von Claude Lanzmann Fünf Filme von Claude Lanzmann Ein Film von Claude Lanzmann Ein Film von Claude Lanzmann Vier Frauen, die den Holocaust überlebten. Das Hauptwerk in restaurierter Fassung und Eines der bemerkenswertesten Zeitdokumente über Israels Armee ist seit 70 Jahren seine Lebensversicherung. Bevölkerung in Deutschland zum achtzigsten Mal. Die brutalen der Antrittsvorlesung, die Sybille Steinbacher am 2. Mai 2018 an der Sein letzter Film. seine vier Fortschreibungen. den Staat Israel und sein Selbstverständnis. Gewaltexzesse des November 1938 waren ein Wendepunkt in der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehalten hat, wo sie seit 2017 Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der den neu eingerichteten Lehrstuhl zur Erforschung der Geschichte Auftakt zur systematischen Verfolgung und Vernichtung der jüdi- und Wirkung des Holocaust innehat, der mit der Leitung des Fritz empf. VK: € 14,90 empf. VK: € 14,90 DVD, 52 Min + Bonusfilm., s/w 54 Min., Farbe empf. VK: € 14,90 empf. VK: € 19,90 empf. VK: 7030, € 14,90 DVD, 58 Min. + 86 Min., Farbe DVD, ca. 113 Min. + 60 Min. Bonus, s/w Blu-ray, ca. 113 Min. + 60 Min. Bonus, s/w schen Bevölkerung. Des 9. November wird zwar seit Jahrzehnten Bauer Instituts verbunden ist. gedacht, dagegen steht die vorangegangene Radikalisierung der Schließlich enthält diese Ausgabe der Einsicht einen Beitrag von nationalsozialistischen Judenpolitik selten im Mittelpunkt. In einem Stefanie Fischer, die im Sommersemester 2018 die Gastprofessur für Themenschwerpunkt dieses Heftes geht es um die Vorgeschichte interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut und an der Novemberpogrome und um die Entfesselung der Gewalt gegen der Goethe-Universität innehatte. Im Kontext ihres aktuellen For- die Juden im Verlauf des Jahres 1938. Während Markus Roth die schungsvorhabens, das sich mit der Geschichte der jüdischen Fried- Entwicklung im »Altreich« beleuchtet, richten die anderen Beiträge höfe im Nachkriegsdeutschland befasst, behandelt Stefanie Fischer in diesem Text die komplizierte Be- ziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden in den Jahren nach JEAN AMÉRY – DIE TORTUR DIE GRAUEN DER SHOAH AKTION T4 – DAS EUTHANASIE KORCZAK (restaurierte Fassung) dem Holocaust. Konkret beschreibt Ein Film von Dieter Reifarth Dokumentiert von sowjetischen Kameramännern PROGRAMM DER NAZIS Ein Film von Andrzej Wajda sie die Besuche, die überlebende Sowie: »Die Festung Derloven« + »Jean Améry - Der Holocaust, dokumentiert in bislang unveröffent- Ein Film von Catherine Bernstein Drehbuch: Agnieszka Holland Juden – aus ganz unterschiedlichen Betrachtungen« und vier Radio Lesungen. lichten Archivaufnahmen. Auch die Forschung machte sich schuldig. Janusz Korczak und seine 200 Waisenkinder im Am Beispiel des Mediziners Julius Hallervorden. Gründen – ihren ehemaligen Hei- Warschauer Ghetto. matorten abstatteten, und interpre- tiert diese Begegnungsgeschichten 2 DVD, 270 Min., Farbe Booklet empf VK: € 24,90 2 DVD, 298 Min., s/w ausführliches Booklet, PDF-Materialien empf VK: € 19,90 ergänzende PDF Materialien empf VK: € 24,90 Extras: Hörspiele und Bio 2 DVD, 45 Min. + 180 Min., Farbe + s/w empf VK: € 24,90 2 DVD, 291 Min., s/w + Farbe in der deutschen Provinz als einen noch kaum erforschten Bereich der deutschen und der jüdischen Nach- kriegsgeschichte. Die neue Nummerierung »Ein- sicht 2018« zeigt an, dass das Bul- den Blick auf die Gebiete, um die der NS-Staat in dieser Zeit seinen letin des Fritz Bauer Instituts künftig einmal im Jahr erscheinen wird, Herrschaftsraum erweiterte: Regina Fritz und Katrin Hammerstein jeweils im Herbst. Neben Aufsätzen und dem Rezensionsteil enthielt analysieren die Folgen, die der »Anschluss« Österreichs für die dort die Einsicht bislang auch Informationen über die Forschungsprojekte lebenden Juden hatte, Jörg Osterloh, der diesen Themenschwerpunkt und Publikationen des Instituts, über öffentliche Vortrags- und Dis- FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013) / DER PROZESS MONOWITZ UND ANDERE TATORTE INTERVIEWS UND REDEN AUS DEN STRAFSACHE 4 KS 2/63 (1993) (EBERHARD FECHNER) auch redaktionell betreut hat, beschreibt das Schicksal der jüdischen kussionsveranstaltungen sowie über die vom Fritz Bauer Institut Die zeitgeschichtlichen Filme von Alfred Jungraith- FERNSEHARCHIVEN 1961-1968 Teil 1: Die Ermittlung | Teil 2: Der Prozess Das Majdanek-Verfahrens in Düsseldorf mayr. DVD1: Das Frankenburger Würfelspiel / Bevölkerung in den Sudetengebieten. angebotenen universitären Lehrveranstaltungen, Ausstellungen und Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen. Teil 3: Das Urteil. Zwei Dokumentationen von 1975-1981. Teil 1: Anklage | Teil 2: Beweisaufnahme Warschauer Leben | DVD 2: Deckname Dr. Friedrich / In einem zweiten, von Katharina Rauschenberger organisierten pädagogischen Angebote. Diese Informationen sind nun in einem Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Rolf Bickel und Dietrich Wagner Teil 3: Urteile Monowitz – ein Tatort Themenschwerpunkt behandeln drei Beiträge die Darstellung des neuen Publikationsformat zusammengefasst: einem Jahresbericht, Holocaust in Geschichtsmuseen Osteuropas und dessen Stellung in- der in jedem Frühjahr herausgegeben wird und der die Arbeit des DVD, 30 Min., Farbe + s/w, Booklet empf VK: € 9,90 empf VK: € 14,90 Blu-ray, 30 Min., Farbe + s/w, Booklet DVD, 67 Min., Farbe Booklet empf VK: € 14,90 DVD, 89 Min., Farbe Booklet empf VK: € 19,90 nerhalb der jeweiligen, teils sehr umstrittenen nationalen Geschichts- Instituts ausführlicher und umfassender dokumentiert, als dies bis- bilder. Ljiljana Radonić blickt auf das kroatische Gedenkmuseum lang möglich war. Als erste Ausgabe ist im Mai dieses Jahres der Jasenovac, Paweł Machcewicz analysiert die Dauerausstellung im Jahresbericht 2017 erschienen. Sie können ihn, wie die Einsicht, Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs, und Peter Hallama be- kostenlos beziehen und als pdf-Datei von der Website des Fritz Bauer fasst sich mit der Stellung des Holocaust in der tschechischen Erin- Instituts herunterladen. In der Einsicht entsteht dadurch mehr Raum nerungskultur seit 1945. sowohl für eine größere Zahl von Rezensionen als auch für eine Neben diesen Schwerpunkten enthält dieses Heft einen Bei- größere Zahl von wissenschaftlichen Beiträgen. trag, in dem Sybille Steinbacher auf der Basis neu edierten Quel- Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. lenmaterials die Dimensionen des Massenmords an den Juden in Im Buch- oder Fachhandel oder direkt bei Griechenland analysiert und mit einem Blick auf den Stand der Prof. Dr. Sybille Steinbacher und Dr. Tobias Freimüller NACHT UND NEBEL GOTTES ZERSTREUTE FUNKEN – DIE GETRÄUMTEN aktuellen Holocaustforschung sowie auf deren zukünftig lohnende Frankfurt am Main, im Oktober 2018 Ein Film von Alain Resnais JÜDISCHE MYSTIK BEI INGEBORG BACHMANN – absolut MEDIEN GmbH Das Meisterwerk. Musik: Hanns Eisler PAUL CELAN PAUL CELAN Deutscher Text: Paul Celan Ein Film von Rüdiger Sünner Ein Film von Ruth Beckermann Am Hasenbergl 12, D – 83413 Fridofing 2 Die Kabbala als Theologie, die auch nach dem Die Liebesgeschichte der beiden Poeten, die sich Einsicht Telefon: 030 285 398 70 2018 Fotos: Helmut Fricke 1 Holocaust bestehen konnte. im Wien der Nachkriegsjahre erstmals begegnen. https://absolutmedien.de
Inhalt Die Radikalisierung der Rezensionen 102 Susanne Hantke: Schreiben und Tilgen. Bruno Apitz und die NS-Judenpolitik 1938 Entstehung des Buchenwald-Romans »Nackt unter Wölfen« 86 Jochen Thies: Evian 1938. Als die Welt die Juden verriet Sascha Feuchert Österreich, das »Altreich« Susanne Heim 103 Dirk van Laak, Dirk Rose (Hrsg.): Schreibtischtäter. Begriff »Ein Humanist und und das Sudetenland 87 Moritz von Bredow (Hrsg.): Woher der Wind wehte. Fami- – Geschichte – Typologie Demokrat … ein Visionär des lienchronik und Exiltagebücher der Charlotte Baerwald, geb. Jörg Ganzenmüller 4 Einführung Lewino 104 Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Rechtsstaats« Heribert Prantl, SZ 6 Antijüdische Gewalt nach dem »Anschluss«. Der März 1938 Sabine Fröhlich Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und seine Folgen für die jüdische Bevölkerung in Österreich 88 Ina Lorenz, Jörg Berkemann: Die Hamburger Juden im und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, Regina Fritz und Katrin Hammerstein NS-Staat 1933 bis 1938/39 DDR und Österreich 16 Radikalisierung durch Expansion. Die Judenverfolgung in Jörg Osterloh Maximilian Graf Deutschland zwischen »Anschluss« und Pogromnacht 90 Janosch Steuwer: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffas- 105 Ekaterina Makhotina: Erinnerungen an den Krieg – Krieg Markus Roth se«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg 24 »… die Judenfrage etwas radikaler durch das Jahr 1938 gelöst«. 1933–1939 Christoph Dieckmann Das Schicksal der Juden im Sudetenland Markus Roth 106 Georg D. Falk: Entnazifizierung und Kontinuität. Der Wie- Jörg Osterloh 91 KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): »Euthanasie«- deraufbau der hessischen Justiz am Beispiel des Oberlandes- Verbrechen. Forschungen zur nationalsozialistischen Gesund- gerichts Frankfurt am Main heits- und Sozialpolitik Katharina Rauschenberger Dietmar Schulze 107 Hans-Christian Jasch, Wolf Kaiser: Der Holocaust vor Der Holocaust in europäischen 92 Johannes Schwartz: »Weibliche Angelegenheiten«. Hand- deutschen Gerichten. Amnestieren – Verdrängen – Bestrafen Geschichtsmuseen lungsräume von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück und Neu- Kirsten Getze Polen, Kroatien, Tschechien brandenburg 108 Neal Adams, Rafael Medoff, Craig Yoe (Hrsg.): We Spoke Andrea Rudorff Out. Comic Books and the Holocaust 93 Oliver von Wrochem (Hrsg.): Repressalien und Terror. »Ver- Markus Streb 34 Einführung geltungsaktionen« im deutsch besetzten Europa 1939–1945 109 Raphael Rauch: »Visuelle Integration«? Juden in westdeut- 36 Der Holocaust im nationalen Geschichtsbild Polens. Die Dau- Ingolf Seidel schen Fernsehserien nach »Holocaust« erausstellung im Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs 94 Jörn Wendland: Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Tobias Freimüller und ihre Revisionen Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern 110 Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Fritz Bauer ist als der Staatsanwalt in die Geschichte Paweł Machcewicz Ole Frahm Spielfilmfiguren im (west-)deutschen Film und Fernsehen der Bundesrepublik eingegangen, der den Auschwitz- 46 Nationales Schandmal und »Zugpferd nach Europa«. Das 95 Hans-Christian Jasch, Christoph Kreutzmüller (Hrsg.): nach 1945 Prozess initiiert und in einer Vielzahl weiterer Fälle die kroatische Gedenkmuseum Jasenovac Die Teilnehmer: Die Männer der Wannsee-Konferenz Johannes Rhein Verfolgung von NS-Verbrechen in die Wege geleitet hat. Ljiljana Radonić Peter Klein: Die »Wannsee-Konferenz« am 20. Januar 1942. 111 Monika Heinemann: Krieg und Kriegserinnerung im Mu- In Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Interviews und Reden in Hörfunk und Fernsehen reflektierte er 56 Die »›Arisierung‹ der toten Juden«. Zum Umgang mit dem Eine Einführung seum. Der Zweite Weltkrieg in polnischen historischen Aus- die gesellschaftliche und politische Lage der Bundes- Holocaust in der tschechischen Erinnerungskultur seit 1945 Kurt Pätzold: Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. stellungen seit den 1980er-Jahren republik in der Nachkriegszeit. Bauer hat in seinen Peter Hallama Geschichte und Geschichtsschreibung Daniel Logemann »Kleinen Schriften« oft Positionen bezogen, die für Alexander Korb 112 Philipp Mittnik: Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Deut- seine Zeit ungewöhnlich waren; zugleich zeigen sie, 98 Kim Christian Priemel: The Betrayal. The Nuremberg Trials sche, österreichische und englische Schulbücher im Vergleich wie eng er dem Denken seiner Zeit verbunden war. and German Divergence Martin Liepach Sie führen eindrucksvoll vor Augen, wie sich Bauer als Aufsätze Jürgen Matthäus 113 Andreas Nachama, Uwe Neumärker (Hrsg.): Gedenken und Jurist, Remigrant, jüdischer Intellektueller und Sozial- 99 Helmut König: Elemente des Antisemitismus. Kommentare Datenschutz. Die öffentliche Nennung der Namen von NS- demokrat einmischte und Gehör verschaffte. 66 »In ganz Europa wird die Judenfrage Schritt für Schritt, und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Auf- Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken Dez. 2018. Ca. 1800 Seiten in zwei Teilbänden aber beharrlich geregelt. In Griechenland ist diesbezüglich klärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Johannes Klaas Beermann Gebunden. € 78. Auch als E-Book erhältlich noch nichts Entscheidendes geschehen.« Zur Dimension des Laura Soréna Tittel www.campus.de Massenmords an den europäischen Juden im Zweiten Welt- 100 Regina Fritz, Éva Kovàcs, Béla Rásky (Hrsg.): Als der krieg Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung Sybille Steinbacher des NS-Massenmordes an den Juden Fritz Bauer Institut im Überblick 78 Mit gemischten Gefühlen. Besuche von Holocaust-Überle- Christoph Dieckmann campus.de benden in ihren ehemaligen Heimatgemeinden 101 Tom Segev: David Ben-Gurion. Ein Staat um jeden Preis 114 Das Institut / Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter / Gremien Stefanie Fischer Stefan Vogt 116 Impressum 2 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 3
Die Radikalisierung der NS-Judenpolitik 1938 Österreich, das »Altreich« und das Sudetenland Nach einer Phase relativer Zurückhaltung auf die Judenverfolgung im »Altreich« (also Deutschland in den in der nationalsozialistischen Judenpolitik, Grenzen von 1937), wo es im Sommer 1938 ebenfalls immer wieder 4 vor allem wegen der Olympischen Spiele zu Gewalttaten gegen Juden kam. Durch das Münchner Abkom- in Garmisch-Partenkirchen im Februar und men vom 29. September 1938 erweiterte das nationalsozialistische Berlin im August 1936, nahm das NS-Regime die Juden im Deut- Deutschland sein Herrschaftsgebiet um das Sudetenland (die über- schen Reich wieder ins Visier und rückte die »Judenfrage« Ende wiegend von Deutschen besiedelten böhmischen und mährischen 1937 schließlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Während in den Grenzregionen). Dort lebten rund 29.000 Juden, die nun auch in die 5 Jahren zuvor die NSDAP mit ihren Gliederungen immer wieder die Mühlen der NS-Judenverfolgung gerieten. treibende Kraft bei der Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung Die drei Beiträge dieses Themenschwerpunkts der Einsicht neh- gewesen war, forcierte jetzt der Staat die Judenverfolgung. Reichs- men die Entwicklung der nationalsozialistischen Judenverfolgung propagandaminister Joseph Goebbels notierte nach einem Gespräch im Zeitraum von Mitte März bis Anfang November 1938 in den mit Adolf Hitler im November 1937: »lange über die Judenfrage dis- Blick und leuchten die Bezüge und Wechselwirkungen zwischen kutiert. […] Die Juden müssen aus Deutschland, ja aus ganz Europa dem »Altreich«, Österreich und dem Sudetenland aus. Regina Fritz heraus. Das dauert noch eine Zeit, aber geschehen wird und muß (Bern/Wien) und Katrin Hammerstein (Heidelberg) beschreiben die das. Der Führer ist fest entschlossen dazu.«1 Die »Judenabteilung« Ereignisse in Österreich nach dem »Anschluss« an Deutschland, des Sicherheitsdienstes (SD) der SS hatte kurz zuvor die Zahl der vor allem die zügellose Gewalt gegen Juden und den hemmungslo- »Volljuden« in Deutschland auf 392.000, die der »Halb-« und »Vier- sen Bereicherungswettlauf um deren Besitz. Markus Roth (Gießen) teljuden« auf 280.000 geschätzt. 107.000 Juden, so hieß es, hatten skizziert die Auswirkungen der Ereignisse in der »Ostmark« auf die das Land seit Anfang 1933 bereits verlassen. Auch der SD erklärte Entwicklung der Judenverfolgung im »Altreich«. Dort entlud sich die »[v]ollkommene Ausschaltung der Assimilation und Förderung der Judenhass ebenfalls immer wieder in Gewalt. Zugleich trieb der Auswanderung« zum Ziel seiner künftigen »Judenpolitik«.2 der NS-Staat aber die legislative Einengung des Lebensraumes der Dem Plan, Deutschland »judenrein« zu machen, lief allerdings jüdischen Bevölkerung bereits im Vorfeld der Novemberpogrome die territoriale Expansion des Reiches im Jahr 1938 zuwider. Der voran. Jörg Osterloh (Fritz Bauer Institut) beschreibt in seinem Bei- »Anschluss« Österreichs Mitte März hatte weitere rund 190.000 Ju- trag zunächst die Rückwirkungen vor allem des »Anschlusses« von 3 den in das Herrschaftsgebiet des NS-Regimes gebracht. Damit leb- Österreich an das Deutsche Reich auf das Vorgehen der Sudeten- ten im Frühjahr 1938 mehr Juden im Deutschen Reich als zu Beginn deutschen Partei gegen die jüdische Bevölkerung in den böhmischen des Jahres 1933. In jenem »Schicksalsjahr 1938« (Avraham Barkai) und mährischen Grenzgebieten bis zum Münchner Abkommen. Die radikalisierte sich daher die »Judenpolitik« der Nationalsozialisten im Sommer 1938 bereits verbreiteten Übergriffe auf Juden nahmen durch das Zusammenwirken von (eruptiver) Gewalt und legislati- nach »München« erheblich zu. Das NS-Regime instrumentalisierte ven Maßnahmen erheblich. Die Judenverfolgung in Österreich im die Gewalt, um binnen kurzer Zeit so viele Juden wie möglich nach Frühjahr 1938 übertraf die Vorgänge in Deutschland in den voran- Innerböhmen zu vertreiben. gegangenen fünf Jahren bei weitem an Brutalität und Dynamik. Ins- Die Gewaltwelle des Jahres 1938 im nunmehr »Großdeutschen besondere für die rund 165.000 jüdischen Einwohner Wiens begann Reich« kulminierte schließlich in den Novemberpogromen. Die eine Schreckenszeit. Das ungezügelte Vorgehen der österreichischen anschließende antijüdische Gesetzgebung setzte der bürgerlichen Nationalsozialisten hatte zudem eine radikalisierende Auswirkung Existenz der Juden in Deutschland ein Ende.6 1 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. von Elke Fröhlich. Teil 1, 4 Vgl. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 4: März – November 1937, München 2000, nationalsozialistischen Judenverfolgung, München, Zürich 1998, S. 165. S. 429 (Eintragung vom 30.11.1937). 5 Vgl. Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau 2 »SD-Hauptamt II 112, Kurzbericht für [Heydrich] über das Judentum, 12.11.1937«, Sudetenland 1938–1945, München 2006, S. 11–12, 50–57. in: Otto Dov Kulka, Eberhard Jäckel (Hrsg.), Die Juden in den geheimen NS- 6 Vgl. etwa Longerich, Politik, S. 208–217. Stimmungsberichten 1933–1945, Düsseldorf 2004, S. 245 f. (Dok. 288). 3 »Einleitung«, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 2: Deutsches Reich Links: Die SS räumt bei einer Razzia das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde 1938–August 1939, bearb. von Susanne Heim, München 2011, S. 13–63, hier S. 27. Wien in der Seitenstettengasse, 18. März 1938. Foto: bbk/Friedrich Franz Bauer 4 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 5
von einem zur Assistenz herbeieilenden SS Kameraden erschossen. »Anschlusses«] sah der antisemitische Pöbel seine Zeit für gekom- Durch diesen Schuß wurde auch ein dritter unbeteiligter Jude getötet men. Juden wurden auf den Strassen blutig geschlagen, angespuckt und ein anderer Jude durch Kopfschuß schwer verletzt.«2 und beschimpft. Juden mit gebrochenen Rippen, blutigen Schädeln, In den Totenbeschaubefunden werden zwei weitere Todesop- ausgebrochenen Zähnen kamen in Massen in die Ambulanz des Antijüdische Gewalt nach dem fer aufgeführt, darunter der im Bericht erwähnte verletzte jüdische jüdischen Spitales. – Um nur ein Beispiel anzuführen, wurden eines Mann, der noch am selben Tag an den Folgen der Kopfschussver- Nachmittags die Juden in der Hauptallee, ohne Rücksicht auf Alter letzung starb.3 und Geschlecht, zusammengetrieben und gezwungen ›Froschhüpfen »Anschluss« Trotz dieser Brutalität unterschied sich, wie der Historiker Do- ron Rabinovici betont, der Novemberpogrom, der für die deutschen zu machen‹ und selbst zu rufen ›Juda verrecke‹ oder ›Ich bin ein Saujud‹. Sie mussten Spiessrutenlaufen und ähnliches. – Demüti- Der März 1938 und seine Folgen für die Juden im »Altreich« eine entscheidende, die Gewaltbereitschaft des NS-Regimes offenbarende Zäsur darstellte, »in Österreich nicht so gungen von Juden waren auf der Tagesordnung.«7 Fotografien jüdischer Männer und Frauen, die unter den neugie- jüdische Bevölkerung in Österreich sehr in der Qualität wie vielmehr in der Quantität der vorherigen Gewalttaten«.4 Denn hier waren seit dem »Anschluss« im März rigen, oft belustigten und schadenfrohen Blicken der Öffentlichkeit gezwungen werden, von den Gehsteigen und den Wänden Parolen 1938, und nochmals gesteigert seit Oktober 1938, Übergriffe auf für die noch von Kanzler Kurt Schuschnigg geplante Volksbefra- Von Regina Fritz und Katrin Hammerstein die jüdische Bevölkerung an der Tagesordnung. Die Formen und gung zur Unabhängigkeit Österreichs am 13. März zu entfernen, »When I came to Dachau … compared Besonderheiten des sich in Österreich nach der Machtübernahme brannten sich tief in das kollektive Bildgedächtnis Österreichs ein. to the Kenyongasse, Dachau was a … ein durch die Nationalsozialisten vollziehenden antijüdischen Radika- Diese »Reibpartien« avancierten zum Sinnbild der antisemitischen Erholungsheim.«1 Mit diesen Worten cha- lisierungsprozesses sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Exzesse, die mit dem »Anschluss« einhergingen. »Man hat sich rakterisierte der 1918 geborene Emanuel buchstäblich nicht auf die Straße getraut, weil man nicht sicher Dr. Regina Fritz ist Postdoc-Assisten- Fuchs seine Zeit in der provisorisch eingerichteten Sammelstelle im war, wie es dann enden wird«, erinnerte sich Otto Vogel, Sohn tin an der Universität Bern, Lektorin ehemaligen Schulgebäude in der Kenyongasse 4 in Wien. Zusammen Spontane Gewalt: Die »Anschluss«-Pogrome einer orthodoxen Familie.8 Harry Weber, der während eines Spa- an der Universität Wien und wissen- mit hunderten anderen Personen wurde er nach dem Novemberpo- ziergangs selbst Opfer einer »Reibpartie« wurde, schrieb in seiner schaftliche Bearbeiterin des Bandes grom 1938 dort als Jude inhaftiert und nach wenigen Tagen in das Der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März Autobiographie: »Es war direkt neben dem Cafe Gartenbau […] Ungarn 1944–1945 der Edition Die Konzentrationslager Dachau deportiert. Für Fuchs stellte die Zeit 1938 bedeutete für die österreichischen Jüdinnen und Juden einen Als ich damals vorbeiging, sah ich von weitem viele Leute stehen, Verfolgung und Ermordung der euro- im Notarrest den Höhepunkt seiner Verfolgungserfahrung dar, die massiven Einschnitt in ihrem bisherigen Lebensalltag. Obwohl lachend und grölend, das Ganze war damals für viele Wiener ein päischen Juden durch das nationalsozi- 1939 mit seiner Emigration in die USA enden sollte: »That place [in Antisemitismus auch vor 1938 in der österreichischen Gesellschaft Riesenspaß. Ich sah einige alte, bärtige Männer, Juden natürlich, alistische Deutschland 1933–1945. der Kenyongasse] was the beginning of a … where you really could tief verankert war und das Leben zahlreicher Juden beeinträchtigte, kniend, mit Kübeln und Fetzen, die von nazistischen Rüpeln, jung Veröffentlichungen (Auswahl): zus. foresee … if you had enough foresight, you could predict what this waren sowohl das Dollfuß- als auch später das Schuschnigg-Re- und alt, angetrieben wurden, die Straße von politischen Schreibe- mit Béla Rásky und Éva Kovács regime was going to come to, because the brutality that was com- gime in den meisten Fällen aktiv gegen antisemitische Ausbrüche reien der Vaterländischen Front und anderen Antinazischriften aus (Hrsg.), Als der Holocaust noch mitted in that place was just incredible.« aufgetreten.5 den Tagen vor dem Umbruch zu reinigen. Ich verstand sofort, was keinen Namen hatte. Zur frühen Auf- Tatsächlich wird sowohl in der Historiographie als auch in den Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März da vor sich ging, und wechselte auf die andere Straßenseite, um der arbeitung des NS-Massenmords an Erinnerungsberichten die Gewalt, der die nach dem Novemberpo- 1938 wurde von einer Welle der spontanen Gewalt gegen Juden Sache aus dem Weg zu gehen. Das nützte mir selbstverständlich Jüdinnen und Juden, Wien 2016. grom inhaftierten Personen jüdischer Abstammung in diesem Notar- begleitet, die wochenlang andauerte und auch von den Behörden gar nichts. Auch auf dieser Seite standen einige der lieben Wiener rest ausgesetzt waren, als besonders brutal beschrieben. Mindestens nicht gebändigt werden konnte.6 Der jüdische Arzt David Schapi- mit Hakenkreuzbinden am Arm. Weil sie bemerkten, dass ich so Dr. Katrin Hammerstein ist wissen- fünf der insgesamt 27 Jüdinnen und Juden, die in Zusammenhang ra beschrieb nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1940 die plötzlich ausweichte [sic], kam sofort die Frage: ›Bist a Jud? ‹ Ich schaftliche Mitarbeiterin an der Univer- mit dem Novemberpogrom in Wien ermordet wurden, kamen dort pogromartigen Zustände in Wien: »Schon an demselben Tage [des antwortete mit Ja. Also brachte man mich auf die andere Seite, sität Heidelberg im Projekt »Beamte na- ums Leben. So gehen aus einer Meldung des Polizeipräsidenten Karl schon hatte ich auch einen Kübel, Fetzen und Bürste in der Hand tionalsozialistischer Reichsministerien« Vitzthum an Gauleiter Josef Bürckel drei Todesfälle eindeutig her- und durfte die Straße reinigen.«9 und wissenschaftliche Projektmitarbei- vor: »Am 12. November 1938, im Laufe des Nachmittags wurden in Auch wurden Jüdinnen und Juden in den Tagen nach dem »An- 2 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) R 9535, Bericht terin im Bereich Provenienzforschung den Notarrest 7., Kenyongasse 4 […] 2.062 jüdische Häftlinge einge- des Wiener Polizeipräsidenten, Karl Vitzthum, an Gauleiter Josef Bürckel am schluss« zu demütigenden »körperlichen Übungen« gezwungen, im Landesarchiv Baden-Württemberg/ liefert. Ein Jude, der einem wachhabenden SS Mann das Bajonett 13. November 1938. Staatsarchiv Freiburg. von rückwärts herausziehen wollte, wurde von diesem erschossen. 3 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Totenbeschreibamt, Karton A 1 697 und 698, Totenbeschreibbefund 37.755/38: Mendel Greif. Vgl. dazu Regina Fritz, Philipp Veröffentlichungen (Auswahl): Ge- Ein zweiter Jude, der einen anderen SS Mann tätlich angriff, wurde Rohrbach, »Das Novemberpogrom 1938 und der Notarrest Kenyongasse – Spu- meinsame Vergangenheit – getrennte rensuche im Rahmen eines Schulprojekts«, in: Gedenkdienst 2011 (1a), Seite 1 f. 7 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia- Erinnerung? Der Nationalsozialismus 4 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Ju- listische Deutschland (VEJ), Band 2: Deutsches Reich 1938–August 1939, bearb. in Gedächtnisdiskursen und Identitäts- denrat, Frankfurt am Main 2000, S. 124. von Susanne Heim, München 2009, Dok. 17, S. 114. 1 Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institut, New York, AHC 2060, Inter- 5 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschafts- 8 Zit. in Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch, Topo- konstruktionen von Bundesrepublik view mit Emanuel Fuchs am 3.11.2001, Interviewer: Andreas Barth. Wir danken sicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, S. 134. graphie der Shoah, Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2015, Deutschland, DDR und Österreich, Philipp Rohrbach, dass er uns das Interview zur Verfügung gestellt und uns bei 6 Zu ersten antisemitischen Exzessen kam es bereits einen Tag vor dem »An- S. 24. Göttingen 2017. der Fertigstellung dieses Beitrags unterstützt hat. schluss«. Siehe Rabinovici, Instanzen, S. 57. 9 Zit. in ebd., S. 23. 6 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 7
willkürlich verhaftet und Opfer von Plünderungen.10 David Schapira Reaktionen von Staat und Partei blieben die illegalen »Requirierungen« eindrücklich in Erinnerung: »Dabei wurde Wäsche, Kleider, Schmuck, Pelze, Teppiche, Radioap- Die spontane Aneignung jüdischen Eigentums in Österreich wurde parate, kurz alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen, von der Staats- und Parteiführung in Berlin mit Missbilligung be- und zwar nur deswegen, weil angeblich nur kommunistische Flug- obachtet und alsbald zu unterbinden versucht – freilich nicht aus schriften oder Waffen gesucht wurden.«11 Die Zentrale und Filialen Mitgefühl mit der jüdischen Bevölkerung, sondern aus ökonomi- des Wiener Papierwarengroßhändlers Julius Kraus beispielsweise schen Gründen. Angesichts der unkontrollierten »Arisierungen« wurden unmittelbar nach dem »Anschluss« ausgeraubt: Stündlich und Plünderungen befürchteten die Reichsstellen eine Schädigung seien deutsche Lastautos vorgefahren, um Warenvorräte und Maschi- der ohnehin angeschlagenen österreichischen Wirtschaft sowie den nen zu verladen – unter »Lebensbedrohung durch uns vorgehaltener Verlust der jüdischen Vermögenswerte, die dem Staat zugutekom- Revolver«.12 men und nicht »Eigenspekulation[en]«18 dienen sollten. Bereits am Die österreichischen Jüdinnen und Juden reagierten mit Ent- 14. März wurden Beschlagnahmungen und Verhaftungen durch Par- setzen auf die gewalttätigen Übergriffe, viele suchten einen Weg, teigenossen oder SA-Männer ohne Genehmigung des Gauleiters oder um das Land zu verlassen, andere nahmen sich das Leben wie der des SA-Gruppenführers von Wien »auf das strengste« verboten.19 Schriftsteller Egon Friedell, der aus dem Fenster sprang, um seiner In den offiziellen Verlautbarungen wurden die Übergriffe »kom- Verhaftung zu entgehen, und zwei Tage später seinen Verletzungen munistischen Parteigängern unter Mißbrauch der parteiamtlichen erlag.13 Eine Besonderheit stellten in Österreich die »wilden Arisie- Uniformen«20 zugeschrieben, keinesfalls sollten Parteigenossen oder rungen« nach dem »Anschluss« dar. So wurden jüdische Frauen und SA-Angehörige als Täter erscheinen. Männer willkürlich und ohne Rechtsgrundlage aufgefordert, ihre Am 21. März telegrafierte schließlich auch das Reichsinnen- Wohnungen zu räumen und diese für Parteigenossen, NS-Sympa- ministerium nach Wien, dass die unbefugten »Arisierungsmaß- thisanten oder andere Personen freizumachen. Jüdische Geschäfte nahmen« zu unterbleiben hätten.21 Wenige Tage später gab der und Unternehmen wurden von selbst ernannten »kommissarischen Beauftragte für den Vierjahresplan Hermann Göring dann vor Ort Leitern« übernommen, die den Eigentümern ihre Betriebe weit die Order aus, »in aller Ruhe jene Maßnahmen zur sachgemäßen unter Wert abpressten.14 Hans Fischböck, Minister für Handel und Umleitung der jüdischen Wirtschaft zu treffen, das heißt zur Arisie- Verkehr, schätzte die Zahl der Kommissare, die in den ersten Wo- rung des Geschäfts- und Wirtschaftslebens, und diesen Prozeß nach chen nach dem »Anschluss« unbefugt jüdische Betriebe erwarben, unseren Gesetzen rechtlich, aber unerbittlich durchzuführen«22. Oben: Unmittelbar nach dem »Anschluss« Österreichs wurden Juden in Wien einerseits vielfach gezwungen, Straßen und auf 25.000.15 Entsprechend gab der mit der »Arisierung« beauftragte Reichs- Gehwege zu reinigen (sogenannte Reibepartien) … Treibende Kraft hinter den »wilden Arisierungen« und den kommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deut- Foto: IMAGNO/Votava/Süddeutsche Zeitung Photo »Anschluss«-Pogromen waren österreichische Nationalsoziali- schen Reich, Gauleiter Josef Bürckel, Ende April bekannt, dass er sten, die nach vielen Jahren der Illegalität16 nun die Stunde der »die notwendigen Maßnahmen auf absolut gesetzlicher Grundlage, Links: … andererseits aber auch Geschäfte und Wohnhäuser von Juden selbst zu kennzeichnen. Abrechnung und Kompensation für die vermeintlichen Leiden Foto: bpk der »Kampfzeit« gekommen sahen. Dies mag auch die selbst für NS-Funktionäre aus dem »Altreich« überraschende Vehemenz des Gewaltausbruchs unmittelbar nach dem »Anschluss« in Österreich bilanz und offene Fragen«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 13 zum Teil erklären.17 (2006), S. 348–363, hier S. 357. 18 So Bürckel, der in diesem Verhalten einer »gewisse[n] Sorte von Volksgenossen« ein Sich-zu-eigen-Machen »jüdische[r] Gepflogenheiten« sah; Aufruf des Reichs- kommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Reich, 10 Die Ausrufung eines allgemeinen Boykotts jüdischer Geschäfte am 22. und Gauleiter Josef Bürckel, 28.4.1938, in: DÖW (Hrsg.), »Anschluß« 1938. Eine 23. April 1938 hatte eine neue Welle antisemitischer Gewalt zur Folge; vgl. ebd., Dokumentation, Wien 1988, S. 571 f., Zitate S. 572. S. 31. 19 Zit. nach Botz, Nationalsozialismus, S. 130. 11 VEJ, Bd. 2, Dok. 17, S. 115. 20 Zit. nach Gabriele Anderl, Edith Blaschitz, Sabine Loitfellner, »Die Arisierung 12 Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg P 303/4 591, Julius von Mobilien und die Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut«, in: Österrei- Kraus, Ergänzung zur Anmeldung von rückerstattungsrechtlichen Ansprüchen ge- chische Historikerkommission (Hrsg.), »Arisierung« von Mobilien, Wien 2004, gen das Deutsche Reich, 10.12.1959. S. 9–249, hier S. 33. 13 Vgl. Kurt Bauer, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen 21 Vgl. Hans Safrian, »Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeu- Österreich 1938–1945, Frankfurt am Main 2017, S. 106 f. tung des ›Wiener Modells‹ für die antijüdische Politik des ›Dritten Reiches‹ im 14 Vgl. Botz, Nationalsozialismus, S. 313. Jahr 1938«, in: Constantin Goschler, Jürgen Lillteicher (Hrsg.), »Arisierung« und 15 Vgl. Bauer, Dunkle Jahre, S. 149. Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Öster- 16 Die NSDAP war 1933 in Österreich verboten worden. reich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, S. 61–89, hier S. 70 17 Vgl. Bauer, Dunkle Jahre, S. 111; Hecht u.a., Topographie, S. 28; Frank Bajohr, 22 Rede Görings am 26.3.1938 in der Nordwestbahnhalle in Wien, Auszug abge- »Die wirtschaftliche Existenzvernichtung und Enteignung der Juden. Forschungs- druckt in: DÖW (Hrsg.), »Anschluß«, S. 568. 8 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 9
aber umso gründlicher einleiten«23 werde. An Ausschreitungen und des Landes Österreichs auf Hitler, von der die jüdischen Beamten Behörden gegen die im Grenzgebiet zu Ungarn lebenden burgen- Um jüdische Vermögenswerte für das Reich zu sichern und Übergriffen beteiligten Mitgliedern der NSDAP oder einer ihrer explizit ausgenommen waren, ihre Stellungen.30 Jüdische Richter ländischen Juden vor, die bereits direkt nach dem »Anschluss« aus den »wilden Arisierungen« Einhalt zu gebieten, wurden bald neue Gliederungen und ihren Vorgesetzten drohte er mit dem Partei- bzw. und Staatsanwälte wurden ebenfalls ihres Amtes enthoben und den ihren Wohnorten vertrieben wurden. Zusammen mit staatenlosen gesetzliche Maßnahmen ergriffen. Ab dem 26. April hatten Jüdin- SA-Ausschluss.24 Rechtsanwälten ein Berufsverbot erteilt, wobei einige als »Konsu- Juden wurden viele von ihnen über die Grenze geschoben. Da sich nen und Juden ebenso wie deren »nichtarische« Ehepartner Vermö- Zwei Wochen zuvor hatte Bürckel das »Gesetz über die Be- lenten« für die jüdische Bevölkerung tätig bleiben durften. Ähnlich weder die ungarische noch die tschechoslowakische Regierung be- genswerte über 5.000 Reichsmark anzumelden. Diese »Verordnung stellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen erging es den jüdischen Ärzten, die nach und nach aus den Spitälern reit erklärten, sie aufzunehmen, saßen hunderte Personen teilweise zur Anmeldung des Vermögens von Juden«40 galt reichsweit, war Überwachungspersonen«25 erlassen, das die Einsetzung bzw. Ge- entlassen wurden und denen im September schließlich auch die wochenlang im Niemandsland fest, bis ihre Ausreise ins Ausland aber in Österreich ausgearbeitet worden.41 Mit der Einrichtung einer nehmigung von kommissarischen Verwaltern durch den Reichs- Approbation entzogen wurde; lediglich einige »Krankenbehandler« möglich wurde.34 »Vermögensverkehrsstelle« beim österreichischen Ministerium für statthalter festlegte und sich scheinbar gegen das sich im Zuge der durften noch jüdische Patienten versorgen.31 Zahlreiche Jüdinnen und Die IKG wurde am 18. März geschlossen, das Amtsgebäude be- Wirtschaft und Arbeit am 18. Mai 1938 wurde die »Verstaatlichung »wilden Arisierungen« etablierte »Kommissars-Unwesen« richtete, Juden waren so ihrer Einkommensgrundlage beraubt worden. Die setzt und eine Razzia durchgeführt. Erst nach einer »Strafzahlung« der Raubzüge«42 auch institutionalisiert. tatsächlich dieses aber im Nachhinein legalisierte.26 In einem Schrei- sukzessive Entrechtung der jüdischen Bevölkerung betraf nicht nur von 500.000 Reichsmark erfolgten am 2. Mai 1938 die Wiederer- Diese Stelle, die unter der Leitung des Staatskommissars für Pri- ben an Göring rechtfertigte er dieses Vorgehen damit, dass es »zu das Berufsleben, es fand auch eine zunehmende soziale Segregation öffnung der Kultusgemeinde und die Freilassung des Amtsdirektors vatwirtschaft und Gauwirtschaftsberaters der Wiener NSDAP, Walter schweren Ausschreitungen geführt hätte, die der Rechtssicherheit statt: Jüdische Schüler wurden in Wien abgesondert und auf »rein Josef Löwenherz.35 Der Mitarbeiter des »Judenreferats« des SD, Rafelsberger, stand, fungierte als »Zentralinstanz der Enteignungs- und dem Ansehen des Reiches […] geschadet hätten«, wenn dieser jüdische« Schulen geschickt, Jüdinnen und Juden durften ab dem Adolf Eichmann, der sich seit 16. März in Wien befand, nahm die politik« (Hans Witek).43 Hierbei war sie neben den Vermögensan- Zustand rückgängig gemacht worden wäre. Und er fügte, die »Wie- Sommer 1938 keine Parkanlagen und Badeanstalten mehr betreten. Institution sodann vollkommen unter seine Kontrolle, indem er dergutmachungsansprüche« der ehemaligen »Illegalen« würdigend, Ab Juni wurden jüdische Geschäfte mit einem Davidstern oder der nicht nur die Maßnahmen zu deren Neuorganisation bestimmte, hinzu: »Wenn sich auch die Ausschreitungen gegen jüdische Ge- Aufschrift »Jude« gekennzeichnet. Der 1938 über Dänemark und sondern auch die von ihm selbst zensierte Zionistische Rundschau 40 Gesetzblatt für das Land Österreich, 102/1938, 27.4.1938, S. 249 f. schäfte nicht ganz vermeiden ließen, ist es durch die getroffenen Kuba in die USA geflohene Otto Schneider beschrieb rückblickend, als Mitteilungsorgan einführte.36 Am 8. Mai berichtete er seinem 41 Vgl. Safrian, Witek, Und keiner war dabei, S. 26 f., 57. Maßnahmen immerhin bei wenigen Einzelaktionen geblieben, was welche Einschränkungen diese Verbote für sein Alltagsleben be- Vorgesetzten nicht ohne Stolz: »Jedenfalls habe ich die Herrschaften 42 Rabinovici, Instanzen, S. 66. 43 Hans Witek, »›Arisierungen‹ in Wien. Aspekte nationalsozialistischer Enteig- angesichts der Bedrückung des deutschen Volkstums durch die Juden deuteten: auf den Trab [sic!] gebracht […]. Morgen kontrolliere ich wieder nungspolitik 1938–40«, in: Forum Politische Bildung (Hrsg.), »Wieder gut während der Systemzeit anzuerkennen ist.«27 »Bis zu meiner Ausreise lebte ich wie in einem Vakuum. Kino den Laden der Kultusgemeinde und der Zionisten. Dies mache ich machen?« Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich durfte man nicht besuchen, Kaffeehäuser ebenfalls nicht. Plakate mit jede Woche mindestens einmal. Ich habe sie hier vollständig in dem Wortlaut: ›Aussätzigen, Hunden und Juden Eintritt verboten!‹ der Hand, sie trauen sich keinen Schritt ohne vorherige Rückfrage Institutionalisierung der Gewalt waren keine Seltenheit. Auf vielen Parkbänken durfte man nicht bei mir zu machen. So ist es auch in Ordnung wegen der besseren sitzen, mein Faltboot, mein Fahrrad konnte ich nicht mehr verwen- Kontrollmöglichkeit.«37 Obgleich sich die Staats- und Parteiführung vom Ausmaß der im den. Den Juden war der Wienerwald und die Donau verboten. Es Ende Mai erfolgte eine zweite, brutale Verhaftungswelle, bei Der Verlag für Jüdische März 1938 spontan ausgebrochenen Gewalt überrascht zeigte und war wirklich ein Vakuum. Man hat im Kreise seiner engsten Familie der rund 2.000 jüdische Männer in »Notarresten« inhaftiert und Kultur und Zeitgeschichte mit der Legalisierung der »wilden Arisierungen« der Entwicklung gelebt, denn man hat sich auch nicht getraut auszugehen.«32 während der nächsten Wochen in das KZ Dachau ge[ver]bracht gewissermaßen hinterherhinkte, ergriff sie selbst unmittelbar nach Die Einführung der verpflichtenden zweiten Vornamen »Sarah« wurden.38 Die Verhaftungen gingen auch mit erneuten Plünderungen Düstere Vorahnungen Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe (1933–1935) dem »Anschluss« ebenfalls erste diskriminierende Maßnahmen, die und »Israel« für Jüdinnen und Juden im August sowie der Kennkar- einher. Julius Kraus berichtete: »Bei meiner Ende Mai 1938 stattge- auf den Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben abzielten. te mit dem eingestempelten roten »J« im Oktober verstärkten die fundenen Verhaftung […] waren 8 Gestapooffiziere anwesend, die Wie konnte es dazu kommen? Wie »[W]as in Deutschland in fünf Jahren an antijüdischen Unterdrük- öffentliche Stigmatisierung zusätzlich. mit Deutscher [sic] Gründlichkeit 4 Stunden lang jeden Winkel der haben die Juden die Ereignisse vor und kungsmaßnahmen durchgesetzt« worden war, wurde in Österreich Die Behörden und polizeilichen Organe bauten überdies durch Wohnung durchsuchten. Ich musste alle Schränke etc. aufsperren, nach der sogenannten Machtübernahme »innerhalb von fünf Tagen« implementiert – telegrafierte der Ver- Beschlagnahmungen und gezielte Verhaftungen massiven Druck es wurden Leintücher ausgebreitet[,] worin alle Wertgegenstände, durch Hitler und die Nationalsozialisten treter des Joint Distribution Committee, Bernhard Kahn, im März auf die jüdische Bevölkerung auf. So befanden sich unter den am die ihnen nicht zu schwer waren[,] verbündelt wurden. Ich musste wahrgenommen? Wie haben sie auf die 1938 nach New York.28 1. April nach Dachau abtransportierten 150 Häftlingen, die nach dem mir nur wiederholt ihre hysterischen Ausrufe anhören: ›Da schaut[,] systematische Ausgrenzung reagiert? Bereits am 15. März – und damit noch vor Inkrafttreten der »Anschluss« vom NS-Regime in »Schutzhaft« genommen worden wie diese reichen Saujuden gewohnt haben, so Etwas [sic] haben Wurde der organisierte Massenmord, »Nürnberger Gesetze« in Österreich am 20. Mai 193829 – verloren waren, 63 Juden. Nach Listen, die in Berlin eigens dafür angelegt wir im Leben noch nicht gesehen!!!‹«39 wie von manchen vermutet, bereits in den die jüdischen Beamten mit dem Erlass zur Vereidigung der Beamten worden waren, wurden Repräsentanten jüdischer Organisationen in Anfängen des Hitler-Regimes vorge- Österreich inhaftiert, so auch die leitenden Funktionäre der Israeli- dacht? tischen Kultusgemeinde (IKG) Wien.33 Besonders brutal gingen die Mit diesen und anderen Fragen zur Lage der deutschen Juden in den 34 Vgl. dazu u.a. Kinga Frojimovics, I have been a Stranger in a Strange Land. The Anfangsjahren des NS-Regimes beschäftigt sich der Potsdamer Historiker 23 Ebd., S. 572. Hungarian State and Jewish Refugees in Hungary, 1933–1945, Jerusalem 2007. Julius H. Schoeps. 24 Vgl. Hans Safrian, Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltägli- 35 Die von der IKG zu zahlende Summe entsprach der Höhe des Spendenbetrags, die chen Antisemitismus, Wien 2008, S. 40. Mitglieder der Gemeinde für die von Schuschnigg geplante Volksbefragung aufge- Julius H. Schoeps 25 Gesetzblatt für das Land Österreich, 80/1938, 13.4.1938, S. 141. 30 Gesetzblatt für das Land Österreich, 15.3.1938, § 3, S. 251. Vgl. auch Rabinovi- bracht hatten; vgl. Rabinovici, Instanzen, S. 71; Hecht u.a., Topographie, S. 122 f. Düstere Vorahnungen 26 Vgl. Botz, Nationalsozialismus, S. 325 f. ci, Instanzen, S. 61; Hecht u.a., Topographie, S. 83. 36 Vgl. Rabinovici, Instanzen, S. 70, 100–102. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe (1933–1935) 27 Zit. nach ebd., S. 319. 31 Vgl. Hecht u.a., Topographie, S. 97–99. 37 Zit. nach ebd., S. 82. 616 Seiten, Hardcover 28 Zit. in VEJ, Bd. 2, Einleitung, S. 35 f. 32 Zit. nach Dieter J. Hecht u.a. (Hrsg.), 1938. Auftakt zur Shoah in Österreich. Orte 38 Vgl. Botz, Nationalsozialismus, S. 342. ISBN 978-3-95565-273-9, € 35,00 29 »Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze im Lande Öster- – Bilder – Erinnerungen, Wien 2008, S. 23. 39 Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg P 303/4 591, Julius Erscheint im Oktober 2018 reich vom 20.5.1938«, in: Reichsgesetzblatt I, 1938, S. 594 f. 33 Vgl. Hecht u.a., Topographie, S. 19. Kraus, Aufstellung der mir entzogenen Sachen, 3.12.1958. www.hentrichhentrich.de 10 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 11
meldungen, die bis Ende Juni bzw. im Falle ausländischer Staats- Nationalsozialisten] kamen, sahen die Wohnung, kauften sie, das angehöriger Ende Juli 1938 abzugeben waren, vor allem auch für heisst, versprachen einen gewissen Betrag, und als es zum Zahlen die Organisation und Kontrolle der »Entjudung der ostmärkischen kam, kamen sie mit einer Gruppe von S.A.-Männern und warfen die Wirtschaft«, also die Zwangsenteignung der jüdischen Klein- und Besitzer der Möbel einfach vor die Türe. Proteste waren zwecklos, Mittelbetriebe, zuständig. Im Rahmen eines standardisierten Verfah- wurden auch in den meisten Fällen gar nicht versucht, da die Be- rens wurde anhand von Formularen, Prüfungen und Gutachten über troffenen nur riskierten, die Wut des betreffenden Parteigenossen zu die Liquidation von Unternehmen oder ihre »Arisierung« und deren reizen und im Konzentrationslager zu landen.«49 Links: Warteschlange Konditionen, insbesondere auch den Kaufpreis und die Eignung der von Juden vor dem »Ariseure«, entschieden.44 polnischen Konsulat am Rennweg 1 in Wien, Damit ging man in Österreich weiter als im »Altreich«, wo man Institutionalisierung der Vertreibung undatierte Aufnahme sich zu dieser Zeit auf Behördenebene noch auf die Anmeldung (1938) des jüdischen Vermögens beschränkte.45 Der Großteil der jüdischen Die gewaltvollen antijüdischen Übergriffe, der Verhaftungsterror, Foto: Österreichische Geschäfte und Unternehmen wurde in Österreich nicht an neue Ei- die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch Entlassungen und wirt- Nationalbibliothek gentümer übertragen, sondern aufgelöst, was die Modernisierung schaftliche Enteignungen trieben die österreichischen Jüdinnen und Unten: der österreichischen Wirtschaft vorantreiben sollte.46 Bei der »Ari- Juden verstärkt in die Emigration.50 Die Vertreibung der Juden aus Einsatzbesprechung sierung« der übrigen Betriebe wurde zwischen dem vom Käufer ge- Österreich avancierte dabei zu einem weiteren zentralen Ziel der an- im Hof des Wiener zahlten Verkehrswert und dem Sachwert, den der ehemalige jüdische tijüdischen Politik der Nationalsozialisten, zu der die Ausbeutungs- Innenministeriums in der Herrengasse vor Eigentümer »erhielt«, unterschieden. Da der Sachwert in der Regel politik allerdings auch in Widerspruch stand. Denn die potentiellen der Razzia in der weit unter dem Realwert lag und von diesem noch »Arisierungskos- Aufnahmestaaten zeigten wenig Bereitschaft, mittellose Juden in Israelitischen ten«, gegebenenfalls (angebliche) Steuerrückstände und im Fall der ihrem Land aufzunehmen.51 Kultusgemeinde (Erster Auswanderung die »Reichsfluchtsteuer«47 sowie nach dem Novem- Um die Vertreibung der österreichischen Juden zu forcieren, von rechts in Uniform: Adolf Eichmann), berpogrom die sogenannte »Judenvermögensabgabe« abgezogen wurde im August 1938 die »Zentralstelle für jüdische Auswande- 18. März 1938 wurden, blieb den jüdischen Verkäufern nur ein geringer Betrag, der rung« eingerichtet.52 Diese wurde offiziell vom SD-Führer des SD- Foto: bpk/Friedrich überdies auf einem Sperrkonto gutgeschrieben wurde, über das nur Oberabschnitts Donau, Franz Walter Stahlecker, geleitet, de facto Franz Bauer mit Genehmigung der staatlichen Stellen verfügt werden konnte. So aber von Adolf Eichmann geführt, und zwar so effizient, dass die verloren die jüdischen Geschäftsleute durch die »Arisierung« ihrer Stelle zum Vorbild für die im Februar 1939 errichtete »Reichszent- Betriebe nicht nur ihre Einkommensquelle, sondern waren auch rale für jüdische Auswanderung« in Berlin wurde.53 Der Gründung weitgehend ihrer Existenzgrundlage beraubt. der Wiener »Zentralstelle« waren Bemühungen von jüdischer Seite Die »Arisierungen« betrafen auch jüdische Wohnungen und vorausgegangen, den Emigrierenden die »Hölle des Anstellens«54 Häuser. Bereits unmittelbar nach dem »Anschluss« war vielen jü- zu ersparen. Anschaulich hat beispielsweise der Schriftsteller Leo dischen Mietern gekündigt worden. Oftmals nutzten Privatperso- Perutz die anstrengenden Bedingungen und die Vielzahl der Ämter, nen die Gunst der Stunde, um an bessere Wohnräume zu kommen, die für eine Ausreisegenehmigung aufzusuchen waren, beschrieben: aber auch die Wohnungsämter beteiligten sich an der Vertreibung »Manche dieser Ämter zeigten den vor ihren Türen dichtgedrängten von Jüdinnen und Juden aus ihren Domizilen. Diese »negative und todmüden Wartenden ein menschliches Gesicht, andere wiesen Sozialpolitik« (Gerhard Botz) sollte auch bei der insbesondere in ihnen ihre höhnische Fratze. Eine Behörde gab der in den Gängen Wien herrschenden Wohnungsnot Abhilfe schaffen.48 Der in die und auf den Treppen eingekeilten Menge Gelegenheit, sich die lange USA emigrierte Jurist Robert B. Lawrence hielt 1940 fest: »Sie [die 49 VEJ, Bd. 2, S. 298. 50 Vgl. Botz, Nationalsozialismus, S. 342. 1938–1945/1945–1999, Innsbruck, Wien, Bozen 1999, S. 8–20, Zitat S. 11. Zur 51 Vgl. VEJ, Bd. 2: Einleitung, S. 43. Vermögensverkehrsstelle vgl. auch Botz, Nationalsozialismus, S. 324–332. 52 Sie befand sich im »arisierten« Rothschild-Palais. Zur »Zentralstelle für jüdische 44 Großunternehmen »arisierte« der Reichskommissar Wilhelm Keppler; vgl. VEJ, Auswanderung« vgl. Gabriele Anderl, Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdi- Bd. 2, S. 39. sche Auswanderung als Beraubungsinstitution, Wien, München 2004; Botz, Nati- 45 Vgl. Botz, Nationalsozialismus, S. 324. onalsozialismus, S. 332–342. 46 Vgl. VEJ, Bd. 2, Einleitung, S. 38. 53 Auch bauten Stahlecker und Eichmann 1939 nach dem Wiener Vorbild die »Zent- 47 Seit Mitte April wurde die »Reichsfluchtsteuer« auch in Österreich erhoben; vgl. ralstelle für jüdische Auswanderung« in Prag auf; der 1941 eingerichteten »Zent- »Erste Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften in Österreich, ralstelle für jüdische Auswanderung« in Amsterdam lag ebenfalls das Wiener 14.4.1938«, in: Reichsgesetzblatt I, 1938, § 13, S. 391. Konzept zugrunde. 48 1938 wurden in Wien 44.000 Wohnungen arisiert; vgl. Hecht u.a., Topographie, 54 So Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Öster- S. 44; Botz, Nationalsozialismus, S. 428. reich 1938–1945, Wien, München 1978, S. 122. 12 Einsicht 2018 Bulletin des Fritz Bauer Instituts 13
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