100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland - Eine Chronik - Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland eV

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100 Jahre
    Zentralwohlfahrtsstelle
   der Juden in Deutschland
                               (1917–2017)

                             Eine Chronik

Chronik der ZWST 1917-2017                   1
Inhaltsverzeichnis

                                  Einführung						3

                                               Gründergeneration (1917-1932)		4

                                               Nationalsozialismus (1933-1945)		11

                                               Wiederaufbau (1946-1988)			19

                                               Zuwanderergeneration (1989-2017)		32

                                  Personenverzeichnis					40

Diese Chronik ist ein erster Start, die Geschichte der ZWST in kurzer Form darzustellen. Sie ist damit nicht abgeschlossen, daher sind wir für weitere Hinweise dankbar.
Bitte wenden Sie sich an die Autorin der Chronik, Frau Dr. Verena Buser (verena.buser@berlin.de). Wichtiges Quellenmaterial, neben der Publikationen der ZWST
selbst, stammt aus dem Archiv der ZWST in Frankfurt am Main, dem Archiv des Centrum Judaicum Stiftung Neue Synagoge in Berlin und dem Zentralarchiv zur
Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg. Das Quellenverzeichnis kann bei Frau Dr. Verena Buser eingesehen werden.

2                                                                                                                                Chronik der ZWST 1917-2017
Einführung

Die ZWST, die am 9. September 1917 in Berlin auf           Trotz des wachsenden Antisemitismus in der Wei-
Initiative des ‚Deutsch-Israelitischen Gemeinde-           marer Republik gelang es der ZWST, zu einer allge-
bundes‘ (DIGB), der ‚Großloge für Deutschland              mein anerkannten Organisation zu werden – nicht
B`nai B`rith‘ und des ‚Jüdischen Frauenbundes‘             zuletzt als Mitglied in der Liga der ‚Spitzenverbän-
(JFB) gegründet wurde, war eine moderne Ant-               de der Freien Wohlfahrtspflege‘. In den Jahren ab
wort auf tagesaktuelle Gegebenheiten und transna-          1933, vor dem Hintergrund von Diskriminierung,
tionale Flüchtlingsbewegungen. Mit der ‚Inneren            Segregation, Verfolgung und Deportation kamen
Mission‘ und der ‚Caritas‘ bestanden bereits zwei          den in der ZWST aktiven jüdischen Deutschen im-
konfessionelle Wohlfahrtsorganisationen und wei-           mer mehr Verantwortlichkeiten zu. Dazu gehörten
tere befanden sich im Prozess der Gründung. Daher          Auswanderungsberatung, Schulungen und Nothil-
griffen auch jüdische Kreise die Diskussion um die         fen, bis zu ihrer Deportation 1943. Selbst nach
Konzentration ihrer Wohlfahrtsorganisationen auf           Abschluss der letzten Massendeportationen aus
– verbunden mit der Idee der Modernisierung und            Deutschland im Frühjahr 1943, existierte im Jüdi-
Professionalisierung, um den Herausforderungen             schen Krankenhaus in Berlin-Wedding ein kleiner
der Zeit zu begegnen. Ein wichtiges Moment war             Kreis von letzten Repräsentanten des deutschen Ju-
in diesem Zusammenhang der Erste Weltkrieg, der            dentums, die in der Abteilung Fürsorge bis Kriegs-
die sozialen Organisationen schwächte und eine ge-         ende Notleidenden zur Seite standen.
zielte Konzentration aller Kräfte notwendig mach-
te. Richtungsweisend für die jüdischen Organisati-         Bereits kurz nach dem Krieg ergriffen jüdische
onen war hierbei die Verpflichtung, das Gebot der          Überlebende die Initiative zum Wiederaufbau,
sozialen Gerechtigkeit (Zedaka) zu befolgen. Das           trotz schwerster Verletzungen und Verluste. Als die
bedeutete, - bis zum heutigen Tage - Hilfe nicht in        ZWST 1951 wiedergegründet wurde, verfügte sie
Form von Almosen zu leisten, sondern im Sinne ei-          nur über eine minimale Ausstattung. Doch durch
ner ausgleichenden Rechtsordnung.                          ihre internationale Ausrichtung und über funktio-
                                                           nierende Netzwerke konnte sie sich als Vorreiterin
Der Aufruf „Weh´ dem, dessen Gewissen schläft!“            in Bereichen wie der Betreuung und Beratung Trau-
der Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1916) gilt         matisierter, in den Feldern der beruflichen Wieder-
bis heute als Signal zur Gründung einer koordinie-         eingliederung und in der Bildungsarbeit hervortun.
renden Instanz, die sämtliche Aktivitäten jüdischer
Wohlfahrt bündeln sollte. Pappenheims Forderung            2017 kann die ZWST auf ihre Geschichte in vier po-
traf vor allem den Zeitgeist – sie hatte bereits erfolg-   litischen Systemen zurückschauen. Im Kaiserreich,
reich 1904 den Jüdischen Frauenbund mit ins Le-            während der Weimarer Republik, in NS-Deutsch-
ben gerufen. Die Gründung der ZWST wurde zum               land sowie in der Bundesrepublik Deutschland war
Meilenstein für die jüdische Wohlfahrtspflege: Es          und ist sie mit Fragen der Verständigung, Integra-
entstand eine erfolgreich arbeitende Zentralstelle,        tion und Flüchtlingshilfe befasst. Dabei spielt das
der es mit Unterstützung durch internationale jü-          Verhältnis der ZWST zu den jüdischen Gemeinden
dische Hilfsorganisationen gelang, äußerst hetero-         eine besondere Rolle – vor allem aber die Folgen der
gene Strömungen des Judentums zu vereinen. Nicht           Zuwanderung jüdischer Familien aus der ehemali-
immer einer Meinung, aber immer unter dem Bin-             gen Sowjetunion seit den 1990er Jahren. Die ZWST
deglied der Zedaka.                                        ist heute die Dachorganisation der jüdischen Wohl-
                                                           fahrtspflege für 17 Landesverbände und 7 selbst-
                                                           ständige Gemeinden mit insgesamt 105 jüdischen
                                                           Gemeinden sowie dem ‘Jüdischen Frauenbund‘
                                                           (2016: 98.594 Mitglieder, 1989: knapp 30.000).

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                    3
Gründergeneration (1917 - 1932)

                      1917                              tigkeit ausdrückt. Auch Prof. Dr. Salomon Kalischer
                                                        und Bertha Pappenheim (JFB) sichern die Mitarbeit
Winter 1916/Frühjahr 1917                               ihrer Vereinigungen zu. Letztere betont die Eigen-
Vertreter des ‚Deutsch-Israelitischen Gemeindebun-      ständigkeit der Frauen und ihr kreatives Potenzial
des‘ (DIGB), der ‚Großloge für Deutschland B`nai        bei der Mitwirkung und Ausgestaltung der ZWST.
B`rith‘, des ‚Jüdischen Frauenbundes‘ (JFB) und des
‚Verbandes der jüdischen Wohltätigkeitsvereine‘ in      Der Protokollant hält abschließend fest: „Als Ge-
Berlin beraten über die Zentralisierung jüdischer       samtresultat der imposanten Versammlung kann be-
Wohlfahrtspflege. Zu den maßgeblichen Protagonis-       zeichnet werden, dass über die Notwendigkeit und
ten zählen der Sozialarbeiter und Bildhauer Eugen       die Dringlichkeit der Begründung zweifellos Ein-
Caspary als Vertreter des ‚Verbandes für jüdische       stimmigkeit herrscht. Es ist zu vermuten, dass über
Wohlfahrtspflege‘ in Berlin, Stabsarzt Dr. Alfred       die Ausführung noch mancherlei Kämpfe entstehen
Goldschmidt als Vertreter der Großloge, Prof. Dr.       werden.“ Er sollte Recht behalten.
Salomon Kalischer für den DIGB und für den Jüdi-
schen Frauenbund Siddy Wronsky und Bertha Pap-          In den folgenden Monaten verhandeln die beteilig-
penheim.                                                ten Instanzen wiederholt über die Leitsätze und die
                                                        inhaltliche Ausgestaltung der Satzung der ZWST. Es
1917 leben etwa 570 000 Juden in Deutschland.           gilt, eine Vielfalt von Meinungen und teils antago-
                                                        nistische Auffassungen über die Ausrichtung und
                                                        den Inhalt jüdischer Wohlfahrtspflege, die innerhalb
9.9.1917                                                des deutschen Judentums vorherrschen, unter einem
Die konstituierende Versammlung zur Gründung            Dach zu vereinigen. Erst im November gelten die
der ‚Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden‘       vorbereitenden Arbeiten als abgeschlossen.
(ZWST) findet im Repräsentantensaal der Jüdischen
Gemeinde Berlin, Oranienburger Straße 30, statt. Zu
den Rednern zählen neben Sanitätsrat Dr. Wilhelm                Auszug aus der Satzung der ZWST
Feilchenfeld, Namensgeber der ZWST, Geheimrat                          (Stand: 10.10.1917)
Berthold Timendorfer und Alfred Goldschmidt als
Vertreter der Großloge, Salomon Kalischer für den       „Die Zentralwohlfahrtsstelle bezweckt, unter Aus-
DIGB sowie Bertha Pappenheim. An der sich an-           schluss aller Erwerbs- und politischen Zwecke die
schließenden Konferenz im Gemeindebüro nehmen           im Deutschen Reich bestehenden jüdischen Wohl-
fast 200 Personen teil. Zum ersten Vorsitzenden der     fahrtsvereine, Stiftungen und sozialen Institutionen
ZWST wird Berthold Timendorfer gewählt, die eh-         unter Wahrung ihrer satzungsgemässen Aufgaben
renamtliche Leitung des Vorstands liegt in den Hän-     organisatorisch zusammenzufassen, in ihrer Ent-
den von Eugen Caspary. Geschäftsführer ist der Sta-     wicklung zu unterstützen, die Begründung neuer
tistiker Dr. Jacob Segall.                              Einrichtungen im Falle eines Bedürfnisses herbei-
                                                        zuführen und einer nachhaltigen Zersplitterung der
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin zi-       Kräfte entgegenzuarbeiten.
tiert anlässlich dieser Zusammenkunft den Schrift-      Diese Zwecke sucht sie insbesondere zu erreichen
gelehrten Hillel und dessen Ausführungen zur            durch
Nächstenliebe als Grundlage jüdischer Wohltätig-        1. Zusammenschluss der jüdischen Wohlfahrts-
keit. Die Sozialpolitikerin Dr. Cora Berliner sichert       pflege in allen Gemeinden Deutschlands, Zu-
die Mitwirkung des Jugendverbandes weiblicher               sammenarbeit mit den Gemeinden, Schaf-
Mitglieder zu, Dr. Wilhelm Feilchenfeld betont den          fung von Provinzial- bzw. Landesverbänden,
Begriff der Zedaka, der Wohltätigkeit und Gerech-

4                                                                                 Chronik der ZWST 1917-2017
2. Regelung des Verkehrs zwischen den örtlichen,                             1918
   den Provinzial- und Landesverbänden sowie der
   Zentralstelle selbst,                                Zu den zentralen Arbeitsgebieten der ZWST zählen
3. Vertretung der jüdischen Wohlfahrtspflege im         im ersten Jahr nach der Gründung die Gewinnung
   Verkehr mit den Behörden und den Einrichtun-         von Mitgliedern, die Sammlung von Materialien
   gen der allgemeinen Wohlfahrtspflege,                über bereits bestehende Wohlfahrtseinrichtungen
4. Organisierung von Verbänden, Vereinen, Stif-         sowie die Überführung von Stadtkindern auf das
   tungen und Einrichtungen im ganzen Reiche,           Land.
   die gleichen oder anderen Zwecken dienen,
5. Begründung eines Nachrichtenblattes für die          Die amerikanische Hilfsorganisation JOINT (Ame-
   gesamte jüdische Wohlfahrtspflege in Deutsch-        rican Jewish Joint Distribution Committee) stellt
   land,                                                der ZWST finanzielle Mittel zur Verfügung, die den
6. Sammlung des gesamten Materials, Einrichtung         Einrichtungen der geschlossenen und halboffenen
   einer Beratungsstelle und Auskunftserteilung         Fürsorge zugutekommen.
   über die Wohlfahrtseinrichtungen sowie Anre-
   gung zur Schaffung neuer Einrichtungen und
   Stiftungen,                                          9.11.1918
7. Einberufung von Zusammenkünften zur Be-              Ausrufung der Weimarer Republik. Für die jüdische
   sprechung über grundlegende Fragen der jü-           Bevölkerung beginnt eine Zeit voller widersprüch-
   dischen Wohlfahrtspflege, Anregung und För-          licher Entwicklungen. Vor dem Hintergrund einer
   derung theoretischer und praktischer sozialer        mangelnden politischen Stabilität entwickelt sich
   Studien und Arbeiten.“                               trotzdem ein blühendes und weit verzweigtes jüdi-
                                                        sches Leben in Deutschland. Juden haben formal
                                                        die gleichen Rechte wie die übrige Bevölkerung.
2.11.1917                                               Tatsächlich aber wird der schon im Kaiserreich
Die ‚Balfour Deklaration‘ wird verabschiedet. Sie       spürbare Antisemitismus stärker.
richtet sich an die Führer der ‚Zionistischen Weltor-
ganisation‘ und gilt als entscheidende Garantieerklä-
rung Großbritanniens zur Errichtung einer ‚nationa-
len Heimstätte‘ des jüdischen Volkes in Palästina.

                                                                             1919
25.11.1917
Im Großen Saal des Verwaltungsgebäudes des ‚Ver-        Bis Ende des Jahres werden 71 jüdische Gemeinden
bandes der jüdischen Wohlfahrtspflege‘ Berlin, Ro-      unmittelbare Mitglieder der ZWST.
senstraße 2/4, tagt der Verwaltungsrat der ZWST,
dem unter anderem Eugen Caspary, Dr. Wilhelm            Pogrome in der Ukraine lösen eine Flüchtlingswelle
Feilchenfeld, Henriette May, Dr. Paul Nathan, Dr.       aus, deren Opfer sich u.a. die ZWST annimmt.
Friedrich Ollendorff, Bertha Pappenheim und Siddy
Wronsky angehören. Der Verwaltungsrat einigt sich       Beginn der dritten Aliyah 1919 bis 1923, während
auf folgende Personen, die zunächst für ein Jahr den    der etwa 35 000 Einwanderer, größtenteils aus Polen
Vorstand der ZWST bilden:                               und Russland nach Palästina einwandern. Darunter
Geheimrat Berthold Timendorfer (Berlin), Prof. Dr.      sind die ersten Mitglieder des ‚Hashomer Hatzair‘
Salomon Kalischer (Berlin), Bertha Pappenheim           (‚Der junge Wächter‘), der ältesten jüdischen Ju-
(Frankfurt am Main), Prof. Luise Alexander-Katz         gendbewegung Europas.
(Berlin), Dr. Wilhelm Neumann (Berlin), Henriette
May (Berlin), Sidonie Werner (Hamburg), Dr. Stein
(Karlsruhe), Eugen Caspary (Berlin), Dr. Friedrich
Ollendorff (Breslau).

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                5
1920                                              1921/1922

Gründung der ‚WIZO‘ (Women’s International Zio-        Im Vordergrund der Aktivitäten der ZWST stehen
nist Organisation) und der ‚Histadrut‘, des Dachver-   folgende Themen: Tuberkulosefürsorge, Wander-
bandes der Gewerkschaften in Palästina.                fürsorge und Arbeitsnachweise, Gefährdeten- und
                                                       Psychopathenfürsorge sowie Jugendpflege und Ju-
Das Arbeitsfürsorgeamt für Arbeitsnachweis und         gendhilfe.
Berufsberatung zur Koordinierung wohlfahrtspfle-
gerischer Angelegenheiten für Ostjuden wird in
Berlin gegründet.                                      1921/22
                                                       Im Vordergrund der Aktivitäten der ZWST stehen
                                                       folgende Themen: Tuberkulosefürsorge, Wander-
                                                       fürsorge und Arbeitsnachweise, Gefährdeten- und
                                                       Psychopathenfürsorge sowie Jugendpflege und Ju-
                                                       gendhilfe.

                                                       Juli 1922
                                                       Der Völkerbund verabschiedet das britische Mandat
                                                       über Palästina und Transjordanien und verpflichtet
                                                       sich zur Errichtung einer ‚nationalen Heimstätte‘
                                                       für Juden.

                                                       Dezember 1922
                                                       Die ZWST richtet die Sammlung ‚Jüdische Not‘ ein,
                                                       mit der Gelder von privaten Spendern eingeworben
                                                       werden, um Träger der Jugend- und Altersfürsorge
                                                       zu unterstützen.

                                                                             1923

                                                       In Abständen von zwei bis drei Monaten erscheinen
                                                       der Nachrichtendienst der ZWST sowie das Publi-
                                                       kationsorgan ‚Zedakah, Zeitschrift der jüdischen
                                                       Wohlfahrtspflege‘, in dem Zielsetzungen, Probleme
                                                       und Aktivitäten der jüdischen Wohlfahrtspflege dis-
                                                       kutiert werden.

                                                                          1923/1924

                                                       Finanzielle Unterstützung der ZWST durch den
                                                       JOINT, da durch die Inflation finanzielle Engpässe
                                                       entstanden sind.

6                                                                                Chronik der ZWST 1917-2017
1924                             Grundlage für die Jahrbücher des DIGB. Damit ver-
                                                        bunden sind die Arbeiten für die Herausgabe des
Im Zuge der vierten Aliyah (1924 - 1931) wandern        „Handbuchs der jüdischen Gemeindeverwaltung
etwa 80 000 Juden in Palästina ein.                     und Wohlfahrtspflege“.

Durch die Einführung der Fürsorgepflichtverord-         Adresse der Geschäftsstelle der ZWST ist:
nung als Vorgängerin der Sozialhilfegesetzgebung        Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158.
haben auch Ausländer in Deutschland Anspruch
auf Unterstützung. Die aus Osteuropa ein- und           Die Referate der ZWST sind aufgeteilt wie folgt:
durchwandernden Pogromopfer sind nun nicht nur          • Dr. Friedrich Ollendorff: Organisation, Fi-
auf Spendengelder aus den jüdischen Gemeinden               nanzen, Vertretung bei Behörden und Orga-
angewiesen.                                                 nisationen, Jugendwohlfahrt, Lehrgänge für
                                                            jüdisch-soziale Ausbildung und Fortbildung.
                                                        • Dr. Max Kreutzberger: Arbeits- und Berufs-
22.12.1924                                                  fürsorge, Wirtschaftsfragen, Darlehenskassen,
Unter Beteiligung des Geschäftsführers der ZWST,            Berufsgenossenschaft, Versicherungsangele-
Dr. Jacob Segall, wird die ‚Liga der Freien Wohl-           genheiten.
fahrtspflege‘ als Dachorganisation der privaten und
                                                        • Dr. Frieda Weinreich: Gesundheitsfürsorge,
konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen gegrün-
                                                            Wirtschaftsfürsorge, Anstaltswesen.
det. Damit soll die Vorrangstellung der freien gegen-
                                                        • Dr. Bella Schlesinger: Archiv, Bibliothek,
über der staatlichen Fürsorge abgesichert werden.
                                                            Statistik, Auskunftserteilung, Führer durch
Außer der ZWST sind die ‚Innere Mission‘ (später:
                                                            die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohl-
‚Diakonisches Werk‘), der ‚Caritasverband‘ und der
                                                            fahrtspflege.
‚Fünfte Wohlfahrtsverband‘ (später: ‚Paritätischer
                                                        • Hannah Halitzki: Buchhaltung, Soziale Wohl-
Wohlfahrtsverband‘) beteiligt.
                                                            fahrtsrente.
                                                        • Ulla Brode: Sammlung ‚Jüdische Not‘.
                                                        Das ‚Palästina-Amt‘, Außenstelle der ‚Jewish Agency
Ab Juni 1924
                                                        for Palestine‘ zur Unterstützung der Einwanderung
Gründung von Provinzialverbänden der jüdischen
                                                        nach Eretz Israel, nimmt seine Aktivitäten in
Gemeinden in Hannover, Sachsen-Anhalt, Bran-
                                                        Deutschland auf.
denburg und im Rheinland. Es bestanden bereits
solche in Westfalen, Hessen und Hessen-Nassau so-
wie Thüringen.

Die ZWST fasst sämtliche Jugendorganisationen
unter dem Dach des ‚Reichsausschusses der jüdi-
schen Jugendverbände. Jugendbeirat der Zentral-
                                                                              1925
wohlfahrtsstelle der deutschen Juden‘ zusammen.
                                                        Die ZWST gibt gemeinsam mit dem DIGB das
Der Reichsausschuss publiziert eine eigene Schrif-
                                                        „Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung
tenreihe. Die Lehrbriefe informieren Leser über
                                                        und Wohlfahrtspflege“ heraus.
Themen, die das jüdische Leben in Westeuropa und
das jüdische Siedlungswesen in Palästina betreffen.

Dr. Bella Schlesinger wird als Bibliothekarin in der
ZWST eingestellt. Ziel ist eine Verstetigung der Ar-
beit im Archiv der ZWST, in dem sämtliches Ma-
terial zur jüdischen Wohlfahrtspflege gesammelt
wird, um die mehr als 1000 Anfragen im Jahr von
Anstalten, Organisationen und Einzelpersonen
zu bearbeiten. Die Archivalien dienen auch als

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                7
1926                              1.9.1926
                                                         In Düsseldorf wird anlässlich der ‚Großen Ausstel-
Die ZWST gibt den „Führer durch die jüdische             lung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und
Wohlfahrtspflege in Deutschland“ heraus.                 Leibesübungen‘ (GeSoLei), der größten Messe der
                                                         Weimarer Republik, der Film „Ein Freitag Abend“
                                                         (Regie: Gertrud David) uraufgeführt, der die mo-
8.4.1926                                                 derne jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland
Die Gründungsmitglieder sowie die Mitglieder des         in Krankenanstalten, Alters-, Erziehungs- und Er-
geschäftsführenden Ausschusses der ZWST kom-             holungsheimen vorstellt. Der Film wird über die
men zu einer vorbereitenden Sitzung zur Reorgani-        ZWST an die jüdischen Gemeinden weitergeleitet.
sation der ZWST in Berlin zusammen.                      Bis November 1927 wird der Film in 60 Gemeinden
                                                         und allein 21 Mal in Berlin aufgeführt.

6.-8.6.1926
Leo Baeck hält am 6. Juni auf der Tagung der ZWST        September 1926
in Düsseldorf die programmatische Festrede „Der          Rücktritt von Dr. Jacob Segall als Geschäftsführer.
geistige Gehalt in der jüdischen Wohlfahrtspflege“.
Es tagen die folgenden Arbeitsgemeinschaften:            Die ZWST erhält als Spitzenverband der Freien
1. Die jüdische Gefährdetenfürsorge,                     Wohlfahrtspflege Anerkennung durch die deutsche
    Leitung: Paula Ollendorff, Breslau.                  Reichsregierung.
2. Die jüdische Tuberkulosefürsorge,
    Leitung: Eugen Caspary, Berlin.
3. Die jüdische Erholungsfürsorge,
    Leitung: Dr. Jacob Segall, Berlin.
4. Die Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeits-
    nachweise,
    Leitung: Eugen Caspary, Berlin.
Im Anschluss präsentiert sich der ‚Reichsausschuss
der jüdischen Jugendverbände‘. Dessen Leiter, Dr.
Georg Lubinski, referiert zum Thema „Das soziale
Programm der jüdischen Jugend“.

12.8.1926
Im Namen des Jüdischen Frauenbundes erklären
seine erste und zweite Vorsitzende, Bettina Bren-
ner und Paula Ollendorff, offiziell ihren Austritt aus
der ZWST. Hintergrund sind Kontroversen über
die Eigenständigkeit der Mitgliedsorganisationen.
Dennoch wird die bereits im Frühjahr angeregte Re-
organisation der ZWST weiter vorangetrieben. An-
fang Oktober liegen erste Vorschläge vor, in denen
explizit auf die Selbstständigkeit der ihr angeschlos-
senen Organisationen verwiesen wird.

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1927                                                      1928

Mehr als 200 jüdische Gemeinden sind unmittelba-          1.1.1928
re Mitglieder der ZWST.                                   Die Geschäftsstelle der ZWST zieht aus der Rosen-
                                                          straße 2/4 in die Oranienburger Straße 69/II in Berlin.

15.2.1927
Dr. Friedrich Ollendorff, ehemaliger Vorsitzender         18.-23.3.1928
des Fürsorge-Kuratoriums des DIGB, wird neuer             Die Jüdisch-Soziale Schulungswoche in Berlin tagt
Geschäftsführer der ZWST.                                 in den Räumen der ‚Hochschule für die Wissen-
                                                          schaft des Judentums‘. Den einleitenden Vortrag
                                                          unter dem Titel „Neuzeitliche Wohlfahrtspflege“
15.3.1927                                                 hält Siddy Wronsky, Leiterin des Archivs für Wohl-
Dr. Paul Nathan, spiritus rector der seit 1901 existie-   fahrtspflege.
renden jüdischen Hilfsorganisation ‚Hilfsverein der
deutschen Juden‘ und engstes Verbindungsglied zur
ZWST, stirbt im Alter von 70 Jahren in Berlin.            14.5.1928
                                                          Die Frauenrechtlerin Henriette May, Schatzmeiste-
                                                          rin der ZWST, stirbt mit 66 Jahren und wird unter
3.4.1927                                                  großer öffentlicher Anteilnahme in Berlin beigesetzt.
Auf der Mitgliederversammlung der ZWST wird
die neue Satzung verabschiedet. Vorsitzender der
ZWST wird der Rabbiner Dr. Leo Baeck.

9.9.1927
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der ZWST
legt der neue Geschäftsführer, Dr. Friedrich Ollen-
dorff, eine ausführliche Bestandsaufnahme der bis-
herigen Leistungen und Erfolge vor: „Dieser Bericht
sei mit dem herzlichen Wunsche geschlossen, daß
das zweite Jahrzehnt unserer Arbeit, in das wir ein-
getreten sind, das große gemeinsame Werk vorwärts
bringen möge, so wie es das erste Jahrzehnt getan
hat.“

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                     9
1929                                                    1931

24.2.1929                                              Die ‚Jüdische Arbeitshilfe‘, eröffnet in der Provinz
Der bevölkerungspolitische Ausschuss des ‚Preußi-      Brandenburg das ‚Landwerk Neuendorf ‘. Ab 1932
schen Landesverbandes jüdischer Gemeinden‘ ver-        wird es für den ‚Jüdischen Freiwilligen Arbeits-
anstaltet eine Tagung zum Thema „Jüdische Bevöl-       dienst‘ genutzt. Ab 1933 werden hier junge Men-
kerungspolitik“, deren Beiträge und Diskussionen       schen mit dem Ziel der Berufsumschichtung un-
in der Schriftenreihe der ZWST publiziert werden.      tergebracht. Ab 1939 ist es anerkannt durch den
Hauptrednerin und Moderatorin der Tagung ist           zionistischen Hechaluz als Hachscharah, d. h. es gilt
Siddy Wronsky.                                         als vorbereitende Einrichtung für die Aliyah.

Die ‚Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege‘ wird
mit der ‚Jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge‘
zusammengefasst und erscheint unter dem Titel
‚Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik. Zeit-
                                                                              1932
schrift der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen
Juden und der Hauptstelle für jüdische Wanderfür-
                                                       Im Rahmen der zahlenmäßig größten Einwande-
sorge und Arbeitsnachweise‘. Herausgeber sind Dr.
                                                       rungswelle vor der Gründung des Staates Israel im
Friedrich Ollendorff, Dr. Paula Kronheimer, Dr. Ilse   Mai 1948, der Fünften Aliyah, emigrieren und flie-
Goldschmidt, Dr. Max Kreutzberger, Dr. Friedrich       hen zwischen 1932 und 1933 ca. rund 200 000 Ju-
Brodnitz und Dr. Ernst G. Lowenthal.                   den in das britische Mandatsgebiet Palästina, min-
                                                       destens 66 000 stammen aus Deutschland.
Auf Bitten des DIGB legen Hannah Karminski, Dr.        Die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland ver-
Paula Kronheimer und Dr. Georg Lubinski im Auf-        fügt über 9313 Betten in der geschlossenen Fürsor-
trag der ZWST eine Denkschrift zur Reform der          ge, 4547 Plätzen in den halboffenen sowie 2515 Ein-
Fürsorgeerziehung vor.                                 richtungen innerhalb der offenen Fürsorge.

Neben dem bereits bestehenden reformpädagogi-          Die bearbeitete Neuauflage des „Führers durch die
schen jüdischen Heim ‚Ahawah‘ in Berlin, das von       jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrts-
Hannah Grunwald-Eisfelder geleitet wird, entsteht      pflege in Deutschland“ erscheint. Dr. Bella Schle-
1929 auf Initiative von Gertrud Feiertag das Kin-      singer bezeichnet diesen 1957 als „Denkmal der
der- und Landschulheim in Caputh. Der wichtigste       entschwundenen weitverzweigten Gemeindeorga-
Beitrag zur reformierten Fürsorgeerziehung ist die     nisationen, des kulturellen Lebens, des Schulwesens
Eröffnung des jüdischen Erziehungsheims in Wol-        und der Wohlfahrtsorganisationen der deutschen
zig unter Leitung von Dr. med. Hans Lubinski.          Juden.“

                                                       Juli 1932
                                                       In Frankfurt am Main findet unter Beteiligung der
                                                       ZWST die zweite große internationale Konferenz
                                                       für Sozialarbeit und Sozialpolitik unter dem Titel
                      1930
                                                       „Social Work and the Family“ statt.
Bei den Reichstagswahlen am 14. September er-
                                                       Am Vorabend der nationalsozialistischen Mach-
reicht die NSDAP 18,3 Prozent der Wählerstimmen.
                                                       tübernahme gibt es schätzungsweise 500 000 Juden
                                                       in Deutschland.

10                                                                                Chronik der ZWST 1917-2017
Nationalsozialismus (1933 - 1945)

                        1933                               Frühjahr 1933
                                                           Die Gemeinden richten ‚Volksküchen‘ ein, die in
30.1.1933                                                  Berlin nach dem Vorsitzenden des Joint, Paul Baer-
Bei den Reichstagswahlen wird die NSDAP mit deut-          wald, ‚Baerwald-Küchen‘ benannt werden. Zwischen
lichem Abstand zur SPD und KPD stärkste Kraft.             September 1933 und März 1934 werden hier 27 843
In unmittelbarer Folge breitet sich ein zunehmend          Mahlzeiten ausgeteilt.
brutaler Antisemitismus aus. Terror gegen politi-
sche Gegner und der sukzessive Ausschluss miss-            17.9.1933
liebiger Minderheiten prägen fortan den Alltag in          Nahezu alle deutschen und ausländischen jüdischen
NS-Deutschland.                                            Organisationen und Kultusgemeinden schließen sich
                                                           in der ‚Reichsvertretung der deutschen Juden‘ mit Sitz
Die ZWST stellt bis Herbst des Jahres das Erscheinen       in Berlin zusammen, „um die Lebensnotwendigkei-
ihres Publikationsorgans Jüdische Wohlfahrtspflege         ten des deutschen Judentums mit den Erfordernissen
und Sozialpolitik ein.                                     des neuen Reichs zu vereinbaren“ (Otto Hirsch). Sie
                                                           ist die Interessenvertretung der jüdischen Bevölke-
                                                           rung in Deutschland. Zum Präsident wird Rabbiner
13.4.1933
                                                           Dr. Leo Baeck und zum leitenden Vorsitzenden Dr.
Der ‚Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau‘ wird
                                                           Otto Hirsch gewählt. Zu den wesentlichen Aufgaben
gegründet, in dem der ‚Centralverein der deutschen
                                                           zählen der sukzessive Aufbau einer jüdischen Selbst-
Staatsbürger jüdischen Glaubens‘, die ‚Zionistische
                                                           hilfe und die Auswanderungsvorbereitung. Im Zuge
Vereinigung für Deutschland‘, die ZWST, die ‚Zent-
                                                           der Implementierung der ‚Nürnberger Rassengeset-
ralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe‘, der ‚Hilfsver-
                                                           ze‘ erfolgt die erzwungene Umbenennung in ‚Reichs-
ein der deutschen Juden‘ und das ‚Palästina-Amt,
                                                           vertretung der Juden in Deutschland‘.
Außenstelle der Jewish Agency for Palestine‘, tätig
sind. Die Leitung obliegt dem Rabbiner Dr. Leo
Baeck, Geschäftsführer sind Dr. Walter Alexander,
Dr. Werner Senator sowie Dr. Ludwig Tietz. Durch           November 1933
das neu entstandene Organ wird die Auswanderung            Nach dem Selbstmord von Dr. Ludwig Tietz und
unterstützt, Berufsumschichtung und Arbeitsver-            der Auswanderung von Dr. Werner Senator nach
mittlung werden zentral koordiniert.                       Palästina wird Friedrich Borchardt Geschäftsführer
                                                           des Zentralausschusses. Ab März wird er durch Dr.
Siddy Wronsky verlässt nach ihrer Entlassung als Di-       Friedrich Brodnitz und Dr. Max Kreutzberger unter-
rektorin des Archivs für Wohlfahrtspflege Deutsch-         stützt.
land. Sie ist fortan maßgeblich am Aufbau der Sozia-
len Arbeit in Palästina beteiligt.
                                                           Winter 1933
In den jüdischen Gemeinden gibt es eine anwachsen-         Jüdische Organisationen dürfen sich nicht mehr an
de Überalterung und eine gesteigerte Zahl jüdischer        der allgemeinen Sammlung für die NS-Winterhilfe
Wohlfahrtsempfänger. In der Hauptstadt Berlin sind         beteiligen.
es allein 20 000.

April 1933
Dr. Friedrich Ollendorff nimmt zum letzten Mal an
einer Sitzung des Vorstandes der ‚Liga der Freien
Wohlfahrtspflege‘ teil, weil die ZWST aus dem Dach-
verband ausgeschlossen wird.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                    11
1934                                                    1935

Mai 1934                                               Der gesellschaftliche Ausschluss im Zuge zahlreicher
Die jüdischen Gemeinden führen die ‚Blaue Bei-         antijüdischer Gesetze (wie etwa des Zutrittsverbots
tragskarte für Hilfe und Aufbau‘ ein.                  von Gaststätten, Kinos, Badeanstalten, Sportplät-
Jedes Gemeindemitglied ist zu Spenden für die Ge-      zen, teils auch öffentlichen Parkanlagen) und die
meinschaft aufgerufen, je nach Einkommen beträgt       Segregation aus dem öffentlichen Leben sind All-
die Summe zwischen 0,25 bis 3 RM. Ein Drittel geht     tag. Gegenseitige Unterstützung ist für viele Juden
an den ‚Zentralausschuss‘. Im Gemeindeblatt der Is-    Deutschlands sinnstiftend und gibt Kraft angesichts
raelitischen Gemeinde Frankfurt am Main von Juni       der alltäglichen Erniedrigungen und der ab 1938 ob-
1935 heißt es: „Kein Jude in Deutschland darf in       ligatorischen Verpflichtung zur Zwangsarbeit.
Zukunft ohne die blaue Beitragskarte für Hilfe und
Aufbau sein!“                                          In den kleineren jüdischen Gemeinden leben nur
                                                       noch wenige Personen im Alter von 14 bis 30 Jahren.
Bis Mitte Juni 1934 wandern monatlich 100 bis 200      Die Berufsumschichtung für ausgegrenzte jüdische
Personen mit Unterstützung des ‚Hilfsvereins der       Deutsche, aber auch die zunehmende Bereitschaft
deutschen Juden‘ aus. Gleichzeitig wird auch eine      zur Auswanderung, werden für diese Altersgruppe
Intensivierung der Arbeit der ZWST notwendig: 45       zukunftsleitende Faktoren. In den kleinen Gemein-
Gemeinden werden zu ‚Notstandsgemeinden‘ er-           den bleiben oftmals lediglich Alte und Fürsorge-
klärt.                                                 empfänger zurück.

Juden ist aus ‚weltanschaulichen Gründen‘ der Ein-     Die ‚Blaue Beitragskarte‘ trägt zwar mehr als 300
tritt in die ‚Nationalsozialistische Volkswohlfahrt‘   000 Reichsmark ein, doch ist dies zu wenig, um die
(NSV) verboten.                                        notleidende jüdische Bevölkerung zu unterstützen.
                                                       Die ZWST ist gezwungen, weitere Aufgabenberei-
Im Winter 1934/35 werden jüdische Deutsche zwar        che zu übernehmen, etwa die Kriegsopferfürsorge.
offiziell noch durch das ‚Winterhilfswerk des deut-
schen Volkes‘ unterstützt, regional jedoch, wie etwa
in Berlin, werden sie bereits jetzt von dieser Hilfe   Im ‚Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau‘ erfol-
ausgeschlossen.                                        gen grundlegende organisatorische Neuerungen. Es
                                                       kommt zur Einrichtung unterschiedlicher Arbeits-
Oktober/November 1934                                  bereiche: Für die Gebiete Wanderung, Wirtschafts-
Einführung eines Schulungskurses für erwerbslose       hilfe (Sozialhilfe) und Wohlfahrt ist nun Dr. Max
jüdische Wohlfahrtspfleger, die ehrenamtlich tätig     Kreutzberger, ab Juni Salomon Adler-Rudel zustän-
werden wollen.                                         dig. Erklärtes Ziel ist die Erarbeitung eines Gesamt-
                                                       planes für die Zukunft der jüdischen Wohlfahrt.
Ab Ende 1934 unterstützt die ZWST die Unterbrin-       Selbständig bleiben vorerst das ‚Palästina-Amt‘ und
gung und Auswanderung von Minderjährigen in die        der ‘Hilfsverein der deutschen Juden‘.
USA - bis Ende 1933 in 735 Fällen. Im Rahmen der
Jugend-Aliyah verlassen 390 Jugendliche Deutsch-
land in Richtung Palästina. Viele von ihnen sehen      17.2.1935
ihre Angehörigen zum letzten Mal.                      In Fortsetzung dieser Pläne setzt die ‚Reichsvertre-
                                                       tung der Juden in Deutschland‘ die Eingliederung
In vielen Großstädten werden jüdische Wohl-            des gesamten sozialen und wirtschaftlichen Hilfs-
fahrtsempfänger regelmäßig zu Pflichtarbeiten he-      werkes der ZWST um. Ziel ist es, die großen Tätig-
rangezogen.                                            keitsfelder wie Wohlfahrt oder Berufsumschichtung
                                                       in einer Organisation zu zentralisieren.

12                                                                                Chronik der ZWST 1917-2017
1.4.1935                                                                         1936
Die ‚Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge‘, die
‚jüdische Arbeitshilfe e. V.‘ (Landwerk Neuendorf),      Spätestens ab 1936 zählt der Bereich ‚Wohlfahrt‘ zu
die ‚Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnach-       den Kernstücken der Arbeit der Reichsvertretung.
weise‘ und die ‚Zentralstelle für jüdische Wirt-
schaftshilfe‘ werden in die ‚Reichsvertretung‘ einge-    Dr. Friedrich Ollendorff verlässt Deutschland und
gliedert.                                                emigriert nach Palästina.

                                                         Das JWH unterstützt 83 761 Menschen, mehr als 20
15.9.1935                                                Prozent der jüdischen Bevölkerung. Deutschland-
Die Nürnberger Gesetze – allen voran das sogenann-       weit gibt es 13 000 Helfer, über 6000 davon sind in
te ‚Blutschutzgesetz‘ - schaffen die legale Grundlage    Berlin tätig.
für die Verfolgung und Ausgrenzung von deutschen
Juden. Antisemitismus ist fortan gesetzlich verord-
net.

Oktober 1935                                                                     1937
Im Zuge der Implementierung der Nürnberger Ras-
segesetze erfolgt die Gründung der ‚Jüdischen Win-       Die ZWST muss zunehmend Anträge auf Unter-
terhilfe‘ der ZWST, da jüdische Deutsche nicht län-      stützung aus den Landes- und Provinzialverbän-
ger Empfänger des allgemeinen Winterhilfswerks           den ablehnen. Nur die Zahl der Plätze in jüdischen
sein konnten. Im Winter 1936/37 erhalten 82 818          Altersheimen kann erhöht werden. Die Hälfte aller
Personen, das heißt mehr als 21 Prozent der noch in      Hilfsbedürftigen ist über 45 Jahre alt.
Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung Un-
terstützungsleistungen.
                                                         9.9.1937
Im ‚Jüdischen Winterhilfswerk‘ (JWH) werden etwa         20 Jahre nach der Gründung der ZWST leben jüdi-
75 000 Menschen betreut. Für Mischehen gilt die          sche Deutsche unter zunehmendem nationalsozia-
Zugehörigkeit des Haushaltsvorstandes. Das JWH           listischem Terror. Dr. Leo Baeck, der Vorsitzende der
gewährt Unterstützung durch Naturalien, finanziel-       ZWST, versucht den Lesern des nach wie vor exis-
le Beihilfen und verteilt Kohle an Bedürftige.           tierenden Publikationsorgans Mut zu machen: „Der
                                                         Gang der Tage hat es gefügt, dass die Zentralwohl-
Die ZWST tritt dem internationalen jüdischen Auf-        fahrtsstelle, die selbst hatte zusammenfassen wollen,
bauwerk ‚Keren Hayesod‘ bei.                             in eine umfassendere Einheit, in die Reichsvertre-
                                                         tung der Juden in Deutschland, eingegliedert wor-
Die Vorbereitung und Durchführung der Auswan-            den ist. Aber es könnte ebenso gesagt werden, dass
derung werden zu Kernarbeitsbereichen der ZWST.          sie in dieser Reichsvertretung sich verwirklicht hat.
                                                         Aus dem Geiste, den sie in sich schuf, ist ganz eigent-
Die ZWST wird aus der ‚Liga der Freien Wohl-             lich diese größere Gestaltung hervorgewachsen.“
fahrtspflege‘ ausgeschlossen, bleibt aber weiter Spit-
zenverband.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                   13
1938                             29.11.1938
                                                       Die ‚Reichsvertretung‘ kann ihre Tätigkeiten wie-
Die Aufgaben der jüdischen Wohlfahrtspflege um-        der aufnehmen und ist fortan alleinige finanzielle
fassen im Wesentlichen die Bereiche JWH, die Auf-      Trägerin der Auswanderung, der Fürsorge und des
lösung der Synagogengemeinden, Gesundheitsfür-         Schulwesens.
sorge und den Schulkinderfonds. Verstärkt kommt
es zu Aufgabenerweiterung und Überschneidungen         Jüdische Gemeinden werden nun als ‚Kultusvereini-
mit dem Arbeitsbereich Umschichtung und Aus-           gungen‘ bezeichnet.
wanderung.
Der ‚Anschluss‘ Österreichs verstärkt die Zahl der     Auswanderung wird zur Flucht, viele deutsche Ju-
Ausreisewilligen.                                      den wollen aufgrund der brutalen und menschen-
                                                       verachtenden Vertreibungsstrategie des Regimes so
‚Arisierung‘ und Liquidation jüdischer Gewerbeun-      schnell wie möglich die Heimat verlassen, das Ziel-
ternehmen führen zur Verarmung der Juden in            land wird zweitrangig.
Deutschland und zu einer Erhöhung der Zahl Hilfs-
bedürftiger.                                           Die ‚Sühneabgabe‘, die den deutschen Juden in Fol-
                                                       ge der Novemberpogrome auferlegt wird, beträgt 20
Jüdische Kinder dürfen nur noch jüdische Schulen
                                                       Prozent des Vermögens. Die jüdische Bevölkerung
besuchen.
                                                       sieht sich mit weiterer Verarmung und verstärkter
                                                       Isolation aus der Gesellschaft konfrontiert.
Der polnische Jude Herschel Grynszpan verübt
ein Attentat auf den deutschen Legationssekretär
Ernst vom Rath in Paris, um damit gegen die Ab-
                                                       Dezember 1938
schiebung seiner Eltern nach Polen zu protestieren.
Das NS-Regime ruft zu Racheakten gegen jüdische        Aufgrund des rückläufigen Spendenaufkommens
Deutsche auf.                                          können nur noch 77 231 Personen durch das JWH
                                                       versorgt werden.

8./9.11.1938
Im Zuge der Novemberpogrome werden deutsch-
landweit Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört
und geplündert, zahllose jüdische Deutsche miss-
handelt. Etwa 26 000 Juden werden verhaftet und
in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen
deportiert.

Nach den Pogromen verlassen Dr. Georg Lubinski
(Palästina) und Dr. Ernst G. Lowenthal (England)
Deutschland. Dr. Friedrich Brodnitz ist bereits 1937
in die USA ausgewandert.

Ab 19.11.1938
Die jüdische Bevölkerung wird mit wenigen Ausnah-
men von der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen.

14                                                                               Chronik der ZWST 1917-2017
1939                                                   1940

1.1.1939                                                März 1940
Zahlreiche jüdische Gemeinden stellen ihre Fürsor-      Sämtliche höheren jüdischen Schulen, bis auf die-
gemaßnahmen ein, da die Vereine und Stiftungen,         jenige in der Großen Hamburger Straße in Berlin,
die bisher die Maßnahmen finanziert haben, nicht        werden aufgelöst.
mehr existieren.
                                                        Zwischen Juni und September erfolgt die deutsch-
                                                        landweite Sammlung ‚Jüdische Pflicht‘, d.h. acht
Februar 1939                                            Prozent der Lohnsteuer von Juden fließen in den
Die Funktionäre der ‚Reichsvertretung‘ gründen im       Gesamtetat der ‚Reichsvereinigung‘.
Rahmen einer Reorganisation ihrer bisherigen Ar-
beiten die ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutsch-
land‘, der sämtliche Juden in Deutschland angehö-       November 1940
ren sollen.                                             Im Hafen von Haifa chartert die britische Mandats-
                                                        regierung das Flüchtlingsschiff ‚Patria‘, um illegale
Ab Juli wird die Reichsvereinigung durch die 10.        Einwanderer aus Europa nach Mauritius zu trans-
Verordnung zum Reichsbürgergesetz durch das Re-         portieren. Die Untergrundorganisation ‚Hagana‘
gime übernommen. Jegliche Selbständigkeit der jü-       versucht durch eine - zu starke - Sprengladung das
dischen Akteure geht verloren, zentrale ‚Aufsichts-     Schiff seeuntauglich zu machen. Die Explosion zer-
behörde‘ ist das ‚Reichssicherheitshauptamt‘ der SS.    stört das marode Schiff, und mehr als 250 Menschen
                                                        ertrinken im Mittelmeer. Überlebende werden im
Präsident der ‚Reichsvereinigung‘ ist Leo Baeck,        Auffanglager Atlit untergebracht.
sein Stellvertreter Heinrich Stahl. Der Fokus der Tä-
tigkeit liegt zunehmend auf der Schaffung von Kin-
der- und Altenheimen sowie Krankenhäusern für
die große Zahl der Hilfsbedürftigen, die nur noch in
jüdischen Einrichtungen versorgt werden können.

Die Motivation vieler Mitarbeiter der Reichsverei-
nigung, in Deutschland zu bleiben und ihre Chance
zur Auswanderung nicht wahrzunehmen, ist es, der
hilfsbedürftigen jüdischen Bevölkerung zur Seite zu
stehen. Otto Hirsch, Vorstandsmitglied der Reichs-
vereinigung, mahnt: „Es können doch nicht alle
fortgehen, jemand muss doch für die Alten sorgen.“
Und Hannah Karminski sagt: „Ich bleibe, um meine
Pflicht zu tun.“

Im Zuge der immer restriktiveren, britischen Ein-
wanderungspolitik und des Ausbruchs des Zweiten
Weltkriegs gelingt es nur ca. 70 000 Menschen durch
die ‚Aliyah Beth‘, die illegale Einwanderung, aus Eu-
ropa nach Eretz Israel zu entkommen.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                15
1941                               18.10.1941
                                                          Vier Monate nach dem Überfall auf die Sowjetuni-
Frühjahr 1941                                             on beginnen mit dem Verbot der Auswanderung
Die Prioritäten der ‚Reichsvereinigung‘ liegen auf        für Juden die bis Frühjahr 1943 anhaltenden Mas-
den Arbeitsbereichen ‚Auswanderung und Fürsor-            sendeportationen aus Deutschland, dem annek-
ge‘. Gleichzeitig kürzt der zuständige Sachbearbeiter     tierten Österreich sowie dem ‚Protektorat Böhmen
Fritz Woehrn in der Abteilung IVB4 (Judenreferat)         und Mähren‘ in Ghettos, Konzentrations- und Ver-
des Reichssicherheitshauptamtes mit Dienstaufsicht        nichtungslager. Die ‚Endlösung der Judenfrage‘, der
über die Reichsvereinigung das Budget.                    Genozid an den Juden Europas, ist nun das erklärte
Conrad Cohn, Mitglied der Reichsvereinigung seit          Ziel des NS-Regimes.
Mai 1940, ist für das Sozialdezernat zuständig, Han-
nah Karminski für die Abteilung ‚Allgemeine Fürsor-       Jüdische Familien, denen nach Beginn des Zweiten
ge‘ und Walter Lustig für die Gesundheitsfürsorge.        Weltkriegs nicht mehr die Flucht oder Auswande-
                                                          rung gelungen ist, werden in größeren Städten in ‚Ju-
In Berlin werden noch bis 1941 Juden auch von den         denhäusern‘ konzentriert, für viele oftmals ihr letz-
städtischen Wohlfahrtsämtern unterstützt.                 ter Wohnort vor der Deportation. In den „Ghettos
                                                          ohne Mauern“ ist „die Mausefalle“ – so die Schrift-
                                                          stellerin Jenny Aloni - endgültig zugeschnappt und
19.6.1941                                                 ein Entkommen ist kaum noch möglich.
Seit dem 23. Mai ist Otto Hirsch im KZ Mauthausen
inhaftiert, wo er kurze Zeit später stirbt. Der Familie
wird als Sterbedatum der 19. Juni 1941 mitgeteilt,
doch die Umstände seines Todes sind nicht bekannt.

                                                                                1942
22.6.1941
Seit Frühjahr 1941 beginnt das NS-Regime mit der          Im Anschluss an die Eingangsselektionen in
operativen Umsetzung des Völkermords an den Ju-           Auschwitz-Birkenau werden ab Sommer 1942 alle
den Europas. Einer von unzähligen Orten des Mas-          als nicht arbeitsfähig kategorisierten Menschen
senmordes ist die Schlucht von Babij Jar bei Kiew in      durch Giftgas in den Gaskammern erstickt. In ers-
der Ukraine, in der - unterstützt durch die Deutsche      ter Linie betrifft dies Kinder, Alte, Gebrechliche
Wehrmacht - Männer des SD, Einsatzgruppen und             oder Kranke. Mindestens 1,1 Millionen jüdische
des Sonderkommandos 4a mehr als 50.000 jüdische           Menschen werden allein in Auschwitz ermordet.
Frauen, Männer und Kinder erschießen. Der NSV
werden 137 Lastwagen mit Kleidung der Ermorde-
ten übergeben.

1.10.1941
Alle Juden ab sechs Jahren müssen in Deutschland
auf ihrer Kleidung sichtbar einen gelben Stern tragen.

16                                                                                   Chronik der ZWST 1917-2017
1943                                                   1945

26.1.1943                                                8.5.1945
Das Reichssicherheitshauptamt der SS entlässt mit        Kapitulation und Kriegsende
dem Ziel der Auflösung der ‚Reichsvereinigung‘
führende Angestellte. Dr. Leo Baeck, Dr. Paul Epp-       Während der Shoa und dem Zweiten Weltkrieg sind
stein und seine Frau werden in das ‚Altersghetto‘        sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wor-
Theresienstadt deportiert.                               den, Hunderttausende wurden vertrieben, haben ihre
                                                         Familienangehörigen verloren oder sind bei Kriegs-
                                                         ende auf der Flucht. Für viele bedeutete das Ende des
Bis April 1943 folgt die Deportation nahezu aller
                                                         Krieges erst das Erkennen des wahren Ausmaßes der
weiteren Juden aus Deutschland nach Theresien-
                                                         Zerstörung und Vernichtung.
stadt, an Erschießungsorte im Baltikum, Konzent-
rations- oder Vernichtungslager.
                                                         Diejenigen, die das Kriegsende auf deutschem Bo-
                                                         den erleben, stammen größtenteils aus Polen oder
                                                         Osteuropa. Von den rund 200 000 Juden, die 1947 in
April 1943                                               Deutschland leben, sind viele vor neuerlichen antijü-
16.658 Juden leben offiziell in Deutschland. Zumeist     dischen Ausschreitungen in Polen oder der Sowjet-
handelt es sich um Ehepartner ‚arischer‘ Deutscher       union geflohen.
oder um solche, die als ‚Geltungsjuden‘ kategorisiert
worden sind.                                             Internationale Hilfsorganisationen wie die ‚United
                                                         Nations Relief and Rehabilitation Administration‘
                                                         (UNRRA), Vorläuferorganisation des Hohen Flücht-
Juni 1943                                                lingskommissariats UNHCR, und deren Nachfol-
Die ‚Rest-Reichsvereinigung‘ nimmt ihre Arbeit im        gerin ‚International Refugee Organization‘ (IRO)
Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße auf.      nehmen sich, maßgeblich unterstützt durch trans-
Der Abteilung III obliegt der Bereich ‚Fürsorge‘. Auf-   nationale jüdische Organisationen wie den JOINT,
grund der als abgeschlossen geltenden Deportatio-        der Überlebenden an, die sich selbst als ‚She’erit
nen aus Deutschland handelt es sich bei der Klientel     Hapleitah‘ (Rest der Geretteten) bezeichnen.
vor allem um nicht deportierte und in ‚Mischehe‘ le-
bende Angehörige der ‚Reichsvereinigung‘.                Der im August 1945 erschienene ‚Harrison-Report‘
                                                         hat eine Verbesserung der Lage der jüdischen DPs
                                                         zur Folge, die nun als Angehörige der ‘jüdischen Na-
                                                         tionalität‘ gelten.

                                                         Zwischen 1945 und 1948 schleust die Untergrundbe-
                                                         wegung ‚Bricha‘ etwa 100 000 jüdische Überlebende
                                                         auf illegalem Weg nach Palästina.
                       1944

27.9.1944                                                18.4.1945
Dr. Paul Eppstein, Vertreter der ‚Judenältesten‘ in      In dem am 15. April befreiten KZ Bergen-Belsen
Theresienstadt und ehemaliger Vorsitzender der           konstituiert sich das erste ‚Komitee jüdischer Über-
‚Reichsvereinigung‘, wird erschossen.                    lebender‘, das die Hilfe für die befreiten jüdischen
                                                         Mithäftlinge organisiert. Zentrale Aufgabenbe-
                                                         reiche sind die Gesundheitsfürsorge, Suche nach
                                                         Angehörigen und die Durchsetzung eines politi-
                                                         schen Mitbestimmungsrechts. Vorsitzender die-
                                                         ses Komitees ist Josef Rosensaft, Überlebender der
                                                         Konzentrationslager Auschwitz und Mittelbau-Dora.
                                                         Auch in der US-Zone erfolgt der Zusammenschluss
                                                         jüdischer Überlebender.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                                 17
April 1945
In Köln wird die erste Jüdische Gemeinde der Nach-
kriegszeit gegründet. Danach kommt es zu weiteren
Neugründungen: Bis 1948 entstehen in der US-Zo-
ne 50, unter britischer Besatzung 50 und in der fran-
zösischen Zone 23 jüdische Gemeinden. Die größte
existierte mit etwa 8.000 Mitgliedern in Berlin.

25.9.1945
Der erste Kongress der ‚She’erit Hapleitah‘ findet in
der britischen Zone im Displaced Persons-Lager
Belsen bei Celle statt.

Nach seiner Befreiung aus Theresienstadt stellt der
Rabbiner Dr. Leo Baeck die Unmöglichkeit einer
Fortsetzung jüdischen Lebens in Deutschland fest.

Philipp Auerbach, Überlebender der KZ Sachsen-
hausen, Auschwitz und Buchenwald, übernimmt
zwischen September 1945 und Dezember 1945 eine
Anstellung in der Abteilung ‚Fürsorge für politisch,
religiös und rassisch Verfolgte‘ im Regierungsbezirk
Düsseldorf unter britischer Besatzung. Er vertritt
darüber hinaus die erste zonenweite Organisation
der deutschen Juden in Norddeutschland.

18                                                      Chronik der ZWST 1917-2017
Wiederaufbau (1946 - 1988)

                       1946                                                  1948

Die ‚Allgemeine Jüdische Wochenzeitung‘, Vorläufe-     Die ‘Jewish Restitution Successor Organization Inc.’
rin der heutigen ‚Jüdischen Allgemeinen‘, erscheint.   (JRSO) wird auf Initiative US-amerikanischer und
                                                       internationaler jüdischer Organisationen gegrün-
                                                       det. Operierend in der US-Zone stößt die JRSO Res-
                                                       titutionsverfahren von enteigneten und ermordeten
                                                       Juden an. Die Gelder verteilte die JRSO an jüdische
                                                       Institutionen und Organisationen vor allem in den
                       1947                            USA und in Israel. In der britischen und französi-
                                                       schen Zone sind die ‚Jewish Trust Corporation Ltd.‘
15. 2. bis 1.3.1947                                    (JTC) bzw. die ‘Jewish Trust Corporation Branche
Gründung des ‚Bundes der Verfolgten des Naziregi-      Française’ (JTCBF) aktiv. Später werden die Aufga-
mes‘ durch Heinz Galinski, Jeanette Wolff und den      ben von der ‘Claims Conference‘ übernommen.
aus politischen Gründen verfolgten Walter Bartel.

                                                       14.5.1948
8.12.1947                                              Gründung des Staates Israel und Beginn des Unab-
Siddy Wronsky stirbt in Jerusalem. Auf ihrem Grab      hängigkeitskrieges. Truppen Ägyptens, Syriens, des
findet sich das Zitat: „Eine der Gründerinnen der      Libanon, Jordaniens und des Irak überfallen den
Sozialarbeit in Eretz Israel“.                         neugegründeten Staat noch in derselben Nacht.

                                                       Juli 1948
                                                       Der ‚World Jewish Congress‘ (WJC) fordert mit der
                                                       Resolution von Montreux Juden dazu auf, sich „nie
                                                       wieder auf deutschem blutgetränkten Boden an-
                                                       zusiedeln“. Trotz dieses Appells beginnen jüdische
                                                       Gruppen in Deutschland mit dem Wiederaufbau.

                                                                             1949

                                                       23.5.1949
                                                       Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

                                                       7.10.1949
                                                       Gründung der Deutschen Demokratischen Repu-
                                                       blik. Aufgrund der Distanzierung des Regimes von
                                                       den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des
                                                       Holocaust weigern sich Regierungsvertreter der
                                                       DDR, noch bis 1990, über Entschädigungszahlun-
                                                       gen zu verhandeln.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                               19
1950                             Zone, Siegfried Heimberg als Vertreter der jüdi-
                                                       schen Gemeinden in der britischen Zone und Dr.
Die durch das Regime der DDR gesteuerte Kam-           Berthold Simonsohn als Vertreter der jüdischen Ge-
pagne gegen den Kosmopolitismus besitzt einen          meinden Nordwestdeutschland. Dieses Gremium
eindeutig antisemitischen Charakter. Auch gibt es      wählt Simonsohn als künftigen Geschäftsführer und
gezielt eine unterschiedliche finanzielle Unterstüt-   beauftragt ihn mit der Gründung und dem Aufbau
zung für die eigenen ‚Kämpfer‘ und die jüdischen       der ZWST.
Opfer des Faschismus. Im Zuge des Prozesses gegen
den Generalsekretär der Kommunistischen Partei
der Tschechoslowakei, Rudolf Slánský, werden im        8.1.1951
November/Dezember 1952 elf Todesurteile aus-           Das Bundesinnenministerium befürwortet die
gesprochen. Das Todesurteil gegen Slánský am 3.        Gründung einer zentralen jüdischen Wohlfahrtsor-
Dezember löste eine Fluchtwelle von Juden aus der      ganisation und deren Anerkennung als Spitzenver-
Tschechoslowakei aus.                                  band der Freien Wohlfahrtspflege.

Dr. Berthold Simonsohn, Überlebender des ‚Al-
tersghettos‘ Theresienstadt, kehrt 1950 nach           13.1.1951
Deutschland zurück und wird geschäftsführender         Dr. Friedrich Ollendorff stirbt in Jerusalem.
Dezernent der ‚Abteilung Fürsorge‘ der Jüdischen
Gemeinde in Hamburg und des ‚Verbandes der Jü-
dischen Gemeinden Nordwestdeutschlands‘.               12.3.1951
                                                       Der israelische Außenminister fordert von der Bun-
                                                       desrepublik Entschädigungszahlungen sowie indi-
19.7.1950                                              viduelle Entschädigungsleistungen für Überlebende
In Frankfurt am Main wird der ‚Zentralrat der Juden    der Shoa.
in Deutschland‘ von den Vertretern der jüdischen
Gemeinden und Landesverbände als Dachverband
gegründet.                                             20.8.1951
                                                       In Berlin erfolgt die Neugründung der ZWST. Der
                                                       neue Name ‚Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in
                                                       Deutschland‘ ist der Tatsache geschuldet, dass Juden
                                                       aus vielen verschiedenen Ländern in Deutschland
                      1951                             leben. Hinzu kommt der Vorbehalt, sich nach der
                                                       Shoa nicht als Deutsche bezeichnen zu wollen.
Das DP-Lager Föhrenwald für jüdische Überleben-
de untersteht nun deutscher Verwaltung und fun-        Vorsitzende der ZWST wird die SPD-Politikerin
giert bis zur Auflösung 1956 unter dem Namen ‚Re-      und KZ-Überlebende Jeanette Wolff. Um die Konti-
gierungslager für Heimatlose Ausländer‘.               nuität mit der ‚alten ZWST‘ zu betonen, übernimmt
                                                       deren letzter Präsident, der Rabbiner Dr. Leo Baeck,
                                                       den Ehrenvorsitz.
6.1.1951
Der Zentralrat diskutiert Anfang des Jahres die Not-   Wie im Jahr 1917 ist die ZWST wieder die Dachor-
wendigkeit der Gründung einer jüdischen zentralen      ganisation aller jüdischen Wohlfahrtsbestrebungen
Wohlfahrtsorganisation und beauftragt Generalse-       in Deutschland. Zu ihren Schwerpunkten zählt die
kretär Hendrik van Dam mit der Kontaktaufnahme         Interessenvertretung ihrer Mitglieder gegenüber
zur Bundesregierung. Die Mitgliederversammlung         den Bundes- und Landesbehörden sowie den Ver-
wählt einen Vorstand, dem folgende Personen ange-      bänden der ‚Freien Wohlfahrtspflege‘. Darüber hin-
hörten: Dr. Ernst Simon als Vertreter der Jüdischen    aus koordiniert sie die jüdische Sozialarbeit in den
Gemeinde Berlin, Dr. Ewald Allschoff als Vertreter     Gemeinden.
der jüdischen Gemeinden in der amerikanischen

20                                                                                Chronik der ZWST 1917-2017
Durch die Neugründung der ZWST ist ein deutliches                             1952
Zeichen gesetzt, dass nicht alle jüdischen Gemein-
den ihre Existenz als vorübergehend betrachten,         4.2.1952
sondern längerfristige Strukturen zur Wahrneh-          Eintragung der ZWST in das Vereinsregister beim
mung der Interessen der jüdischen Gemeinschaft in       Amtsgericht Hamburg.
Deutschland schaffen wollen. Sie tun dies trotz aller
Ungewissheiten hinsichtlich der Zukunft jüdischen
Lebens in Deutschland.                                  Frühjahr 1952
                                                        Verhandlungen über Bundessubventionen durch
                                                        Dr. Ewald Allschoff, Prof. Dr. Herbert Lewin und
27.9.1951                                               Jeanette Wolff, Vorstandsvorsitzende der ZWST.
Bundeskanzler Konrad Adenauer richtet die fol-          Die ‚Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfle-
genden Worte an das bundesdeutsche Parlament:           ge‘ gewähren der ZWST Zuschüsse, ebenso wie die
„Im Namen des deutschen Volkes sind unsagbare           Bundesregierung.
Verbrechen begangen worden, die zur moralischen
und materiellen Wiedergutmachung verpflichten.          Die ZWST beteiligt sich an der Ölbaumspende für
[…] Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit       den Jüdischen Nationalfonds. Durch die Spenden-
Vertretern des Judentums und des Staates Israel […]     aktion werden jüdische Arbeiter und deren Famili-
eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungs-          en in Israel unterstützt, die die Bäume pflegen und
problems herbeizuführen, um damit den Weg zur           nutzen.
seelischen Bereinigung unendlichen Leidens zu er-
leichtern.“
                                                        März 1952
                                                        In Schloss Wassenaar in Den Haag wird das
10.9.1951                                               deutsch-israelische Entschädigungsabkommen und
Vertreter der Claims Conference und der Bundes-         das Protokoll über deutsche Entschädigungsleistun-
regierung unterzeichnen mit dem „Luxemburger            gen an individuelle Shoa-Überlebende unterzeichnet.
Abkommen“ zwei Protokolle:
Protokoll Nr. 1 verpflichtete die Regierung der Bun-    Die ZWST richtet erneut eine Winterbeihilfe für be-
desrepublik Deutschland, gesetzliche Grundlagen         sonders bedürftige Familien ein.
für die Rückerstattung von Vermögenswerten und
die individuelle Entschädigung Überlebender zu
schaffen.
In Protokoll Nr. 2 verpflichtete sich die Regierung,
der Claims Conference 450 Millionen DM für die
Unterstützung und Ansiedlung jüdischer Überle-
bender zur Verfügung zu stellen. Die Bundesrepub-
lik schloss auch mit dem Staat Israel ein Abkommen.

Chronik der ZWST 1917-2017                                                                               21
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