100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland - Eine Chronik - Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (1917–2017) Eine Chronik Chronik der ZWST 1917-2017 1
Inhaltsverzeichnis Einführung 3 Gründergeneration (1917-1932) 4 Nationalsozialismus (1933-1945) 11 Wiederaufbau (1946-1988) 19 Zuwanderergeneration (1989-2017) 32 Personenverzeichnis 40 Diese Chronik ist ein erster Start, die Geschichte der ZWST in kurzer Form darzustellen. Sie ist damit nicht abgeschlossen, daher sind wir für weitere Hinweise dankbar. Bitte wenden Sie sich an die Autorin der Chronik, Frau Dr. Verena Buser (verena.buser@berlin.de). Wichtiges Quellenmaterial, neben der Publikationen der ZWST selbst, stammt aus dem Archiv der ZWST in Frankfurt am Main, dem Archiv des Centrum Judaicum Stiftung Neue Synagoge in Berlin und dem Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg. Das Quellenverzeichnis kann bei Frau Dr. Verena Buser eingesehen werden. 2 Chronik der ZWST 1917-2017
Einführung Die ZWST, die am 9. September 1917 in Berlin auf Trotz des wachsenden Antisemitismus in der Wei- Initiative des ‚Deutsch-Israelitischen Gemeinde- marer Republik gelang es der ZWST, zu einer allge- bundes‘ (DIGB), der ‚Großloge für Deutschland mein anerkannten Organisation zu werden – nicht B`nai B`rith‘ und des ‚Jüdischen Frauenbundes‘ zuletzt als Mitglied in der Liga der ‚Spitzenverbän- (JFB) gegründet wurde, war eine moderne Ant- de der Freien Wohlfahrtspflege‘. In den Jahren ab wort auf tagesaktuelle Gegebenheiten und transna- 1933, vor dem Hintergrund von Diskriminierung, tionale Flüchtlingsbewegungen. Mit der ‚Inneren Segregation, Verfolgung und Deportation kamen Mission‘ und der ‚Caritas‘ bestanden bereits zwei den in der ZWST aktiven jüdischen Deutschen im- konfessionelle Wohlfahrtsorganisationen und wei- mer mehr Verantwortlichkeiten zu. Dazu gehörten tere befanden sich im Prozess der Gründung. Daher Auswanderungsberatung, Schulungen und Nothil- griffen auch jüdische Kreise die Diskussion um die fen, bis zu ihrer Deportation 1943. Selbst nach Konzentration ihrer Wohlfahrtsorganisationen auf Abschluss der letzten Massendeportationen aus – verbunden mit der Idee der Modernisierung und Deutschland im Frühjahr 1943, existierte im Jüdi- Professionalisierung, um den Herausforderungen schen Krankenhaus in Berlin-Wedding ein kleiner der Zeit zu begegnen. Ein wichtiges Moment war Kreis von letzten Repräsentanten des deutschen Ju- in diesem Zusammenhang der Erste Weltkrieg, der dentums, die in der Abteilung Fürsorge bis Kriegs- die sozialen Organisationen schwächte und eine ge- ende Notleidenden zur Seite standen. zielte Konzentration aller Kräfte notwendig mach- te. Richtungsweisend für die jüdischen Organisati- Bereits kurz nach dem Krieg ergriffen jüdische onen war hierbei die Verpflichtung, das Gebot der Überlebende die Initiative zum Wiederaufbau, sozialen Gerechtigkeit (Zedaka) zu befolgen. Das trotz schwerster Verletzungen und Verluste. Als die bedeutete, - bis zum heutigen Tage - Hilfe nicht in ZWST 1951 wiedergegründet wurde, verfügte sie Form von Almosen zu leisten, sondern im Sinne ei- nur über eine minimale Ausstattung. Doch durch ner ausgleichenden Rechtsordnung. ihre internationale Ausrichtung und über funktio- nierende Netzwerke konnte sie sich als Vorreiterin Der Aufruf „Weh´ dem, dessen Gewissen schläft!“ in Bereichen wie der Betreuung und Beratung Trau- der Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1916) gilt matisierter, in den Feldern der beruflichen Wieder- bis heute als Signal zur Gründung einer koordinie- eingliederung und in der Bildungsarbeit hervortun. renden Instanz, die sämtliche Aktivitäten jüdischer Wohlfahrt bündeln sollte. Pappenheims Forderung 2017 kann die ZWST auf ihre Geschichte in vier po- traf vor allem den Zeitgeist – sie hatte bereits erfolg- litischen Systemen zurückschauen. Im Kaiserreich, reich 1904 den Jüdischen Frauenbund mit ins Le- während der Weimarer Republik, in NS-Deutsch- ben gerufen. Die Gründung der ZWST wurde zum land sowie in der Bundesrepublik Deutschland war Meilenstein für die jüdische Wohlfahrtspflege: Es und ist sie mit Fragen der Verständigung, Integra- entstand eine erfolgreich arbeitende Zentralstelle, tion und Flüchtlingshilfe befasst. Dabei spielt das der es mit Unterstützung durch internationale jü- Verhältnis der ZWST zu den jüdischen Gemeinden dische Hilfsorganisationen gelang, äußerst hetero- eine besondere Rolle – vor allem aber die Folgen der gene Strömungen des Judentums zu vereinen. Nicht Zuwanderung jüdischer Familien aus der ehemali- immer einer Meinung, aber immer unter dem Bin- gen Sowjetunion seit den 1990er Jahren. Die ZWST deglied der Zedaka. ist heute die Dachorganisation der jüdischen Wohl- fahrtspflege für 17 Landesverbände und 7 selbst- ständige Gemeinden mit insgesamt 105 jüdischen Gemeinden sowie dem ‘Jüdischen Frauenbund‘ (2016: 98.594 Mitglieder, 1989: knapp 30.000). Chronik der ZWST 1917-2017 3
Gründergeneration (1917 - 1932) 1917 tigkeit ausdrückt. Auch Prof. Dr. Salomon Kalischer und Bertha Pappenheim (JFB) sichern die Mitarbeit Winter 1916/Frühjahr 1917 ihrer Vereinigungen zu. Letztere betont die Eigen- Vertreter des ‚Deutsch-Israelitischen Gemeindebun- ständigkeit der Frauen und ihr kreatives Potenzial des‘ (DIGB), der ‚Großloge für Deutschland B`nai bei der Mitwirkung und Ausgestaltung der ZWST. B`rith‘, des ‚Jüdischen Frauenbundes‘ (JFB) und des ‚Verbandes der jüdischen Wohltätigkeitsvereine‘ in Der Protokollant hält abschließend fest: „Als Ge- Berlin beraten über die Zentralisierung jüdischer samtresultat der imposanten Versammlung kann be- Wohlfahrtspflege. Zu den maßgeblichen Protagonis- zeichnet werden, dass über die Notwendigkeit und ten zählen der Sozialarbeiter und Bildhauer Eugen die Dringlichkeit der Begründung zweifellos Ein- Caspary als Vertreter des ‚Verbandes für jüdische stimmigkeit herrscht. Es ist zu vermuten, dass über Wohlfahrtspflege‘ in Berlin, Stabsarzt Dr. Alfred die Ausführung noch mancherlei Kämpfe entstehen Goldschmidt als Vertreter der Großloge, Prof. Dr. werden.“ Er sollte Recht behalten. Salomon Kalischer für den DIGB und für den Jüdi- schen Frauenbund Siddy Wronsky und Bertha Pap- In den folgenden Monaten verhandeln die beteilig- penheim. ten Instanzen wiederholt über die Leitsätze und die inhaltliche Ausgestaltung der Satzung der ZWST. Es 1917 leben etwa 570 000 Juden in Deutschland. gilt, eine Vielfalt von Meinungen und teils antago- nistische Auffassungen über die Ausrichtung und den Inhalt jüdischer Wohlfahrtspflege, die innerhalb 9.9.1917 des deutschen Judentums vorherrschen, unter einem Die konstituierende Versammlung zur Gründung Dach zu vereinigen. Erst im November gelten die der ‚Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden‘ vorbereitenden Arbeiten als abgeschlossen. (ZWST) findet im Repräsentantensaal der Jüdischen Gemeinde Berlin, Oranienburger Straße 30, statt. Zu den Rednern zählen neben Sanitätsrat Dr. Wilhelm Auszug aus der Satzung der ZWST Feilchenfeld, Namensgeber der ZWST, Geheimrat (Stand: 10.10.1917) Berthold Timendorfer und Alfred Goldschmidt als Vertreter der Großloge, Salomon Kalischer für den „Die Zentralwohlfahrtsstelle bezweckt, unter Aus- DIGB sowie Bertha Pappenheim. An der sich an- schluss aller Erwerbs- und politischen Zwecke die schließenden Konferenz im Gemeindebüro nehmen im Deutschen Reich bestehenden jüdischen Wohl- fast 200 Personen teil. Zum ersten Vorsitzenden der fahrtsvereine, Stiftungen und sozialen Institutionen ZWST wird Berthold Timendorfer gewählt, die eh- unter Wahrung ihrer satzungsgemässen Aufgaben renamtliche Leitung des Vorstands liegt in den Hän- organisatorisch zusammenzufassen, in ihrer Ent- den von Eugen Caspary. Geschäftsführer ist der Sta- wicklung zu unterstützen, die Begründung neuer tistiker Dr. Jacob Segall. Einrichtungen im Falle eines Bedürfnisses herbei- zuführen und einer nachhaltigen Zersplitterung der Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin zi- Kräfte entgegenzuarbeiten. tiert anlässlich dieser Zusammenkunft den Schrift- Diese Zwecke sucht sie insbesondere zu erreichen gelehrten Hillel und dessen Ausführungen zur durch Nächstenliebe als Grundlage jüdischer Wohltätig- 1. Zusammenschluss der jüdischen Wohlfahrts- keit. Die Sozialpolitikerin Dr. Cora Berliner sichert pflege in allen Gemeinden Deutschlands, Zu- die Mitwirkung des Jugendverbandes weiblicher sammenarbeit mit den Gemeinden, Schaf- Mitglieder zu, Dr. Wilhelm Feilchenfeld betont den fung von Provinzial- bzw. Landesverbänden, Begriff der Zedaka, der Wohltätigkeit und Gerech- 4 Chronik der ZWST 1917-2017
2. Regelung des Verkehrs zwischen den örtlichen, 1918 den Provinzial- und Landesverbänden sowie der Zentralstelle selbst, Zu den zentralen Arbeitsgebieten der ZWST zählen 3. Vertretung der jüdischen Wohlfahrtspflege im im ersten Jahr nach der Gründung die Gewinnung Verkehr mit den Behörden und den Einrichtun- von Mitgliedern, die Sammlung von Materialien gen der allgemeinen Wohlfahrtspflege, über bereits bestehende Wohlfahrtseinrichtungen 4. Organisierung von Verbänden, Vereinen, Stif- sowie die Überführung von Stadtkindern auf das tungen und Einrichtungen im ganzen Reiche, Land. die gleichen oder anderen Zwecken dienen, 5. Begründung eines Nachrichtenblattes für die Die amerikanische Hilfsorganisation JOINT (Ame- gesamte jüdische Wohlfahrtspflege in Deutsch- rican Jewish Joint Distribution Committee) stellt land, der ZWST finanzielle Mittel zur Verfügung, die den 6. Sammlung des gesamten Materials, Einrichtung Einrichtungen der geschlossenen und halboffenen einer Beratungsstelle und Auskunftserteilung Fürsorge zugutekommen. über die Wohlfahrtseinrichtungen sowie Anre- gung zur Schaffung neuer Einrichtungen und Stiftungen, 9.11.1918 7. Einberufung von Zusammenkünften zur Be- Ausrufung der Weimarer Republik. Für die jüdische sprechung über grundlegende Fragen der jü- Bevölkerung beginnt eine Zeit voller widersprüch- dischen Wohlfahrtspflege, Anregung und För- licher Entwicklungen. Vor dem Hintergrund einer derung theoretischer und praktischer sozialer mangelnden politischen Stabilität entwickelt sich Studien und Arbeiten.“ trotzdem ein blühendes und weit verzweigtes jüdi- sches Leben in Deutschland. Juden haben formal die gleichen Rechte wie die übrige Bevölkerung. 2.11.1917 Tatsächlich aber wird der schon im Kaiserreich Die ‚Balfour Deklaration‘ wird verabschiedet. Sie spürbare Antisemitismus stärker. richtet sich an die Führer der ‚Zionistischen Weltor- ganisation‘ und gilt als entscheidende Garantieerklä- rung Großbritanniens zur Errichtung einer ‚nationa- len Heimstätte‘ des jüdischen Volkes in Palästina. 1919 25.11.1917 Im Großen Saal des Verwaltungsgebäudes des ‚Ver- Bis Ende des Jahres werden 71 jüdische Gemeinden bandes der jüdischen Wohlfahrtspflege‘ Berlin, Ro- unmittelbare Mitglieder der ZWST. senstraße 2/4, tagt der Verwaltungsrat der ZWST, dem unter anderem Eugen Caspary, Dr. Wilhelm Pogrome in der Ukraine lösen eine Flüchtlingswelle Feilchenfeld, Henriette May, Dr. Paul Nathan, Dr. aus, deren Opfer sich u.a. die ZWST annimmt. Friedrich Ollendorff, Bertha Pappenheim und Siddy Wronsky angehören. Der Verwaltungsrat einigt sich Beginn der dritten Aliyah 1919 bis 1923, während auf folgende Personen, die zunächst für ein Jahr den der etwa 35 000 Einwanderer, größtenteils aus Polen Vorstand der ZWST bilden: und Russland nach Palästina einwandern. Darunter Geheimrat Berthold Timendorfer (Berlin), Prof. Dr. sind die ersten Mitglieder des ‚Hashomer Hatzair‘ Salomon Kalischer (Berlin), Bertha Pappenheim (‚Der junge Wächter‘), der ältesten jüdischen Ju- (Frankfurt am Main), Prof. Luise Alexander-Katz gendbewegung Europas. (Berlin), Dr. Wilhelm Neumann (Berlin), Henriette May (Berlin), Sidonie Werner (Hamburg), Dr. Stein (Karlsruhe), Eugen Caspary (Berlin), Dr. Friedrich Ollendorff (Breslau). Chronik der ZWST 1917-2017 5
1920 1921/1922 Gründung der ‚WIZO‘ (Women’s International Zio- Im Vordergrund der Aktivitäten der ZWST stehen nist Organisation) und der ‚Histadrut‘, des Dachver- folgende Themen: Tuberkulosefürsorge, Wander- bandes der Gewerkschaften in Palästina. fürsorge und Arbeitsnachweise, Gefährdeten- und Psychopathenfürsorge sowie Jugendpflege und Ju- Das Arbeitsfürsorgeamt für Arbeitsnachweis und gendhilfe. Berufsberatung zur Koordinierung wohlfahrtspfle- gerischer Angelegenheiten für Ostjuden wird in Berlin gegründet. 1921/22 Im Vordergrund der Aktivitäten der ZWST stehen folgende Themen: Tuberkulosefürsorge, Wander- fürsorge und Arbeitsnachweise, Gefährdeten- und Psychopathenfürsorge sowie Jugendpflege und Ju- gendhilfe. Juli 1922 Der Völkerbund verabschiedet das britische Mandat über Palästina und Transjordanien und verpflichtet sich zur Errichtung einer ‚nationalen Heimstätte‘ für Juden. Dezember 1922 Die ZWST richtet die Sammlung ‚Jüdische Not‘ ein, mit der Gelder von privaten Spendern eingeworben werden, um Träger der Jugend- und Altersfürsorge zu unterstützen. 1923 In Abständen von zwei bis drei Monaten erscheinen der Nachrichtendienst der ZWST sowie das Publi- kationsorgan ‚Zedakah, Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege‘, in dem Zielsetzungen, Probleme und Aktivitäten der jüdischen Wohlfahrtspflege dis- kutiert werden. 1923/1924 Finanzielle Unterstützung der ZWST durch den JOINT, da durch die Inflation finanzielle Engpässe entstanden sind. 6 Chronik der ZWST 1917-2017
1924 Grundlage für die Jahrbücher des DIGB. Damit ver- bunden sind die Arbeiten für die Herausgabe des Im Zuge der vierten Aliyah (1924 - 1931) wandern „Handbuchs der jüdischen Gemeindeverwaltung etwa 80 000 Juden in Palästina ein. und Wohlfahrtspflege“. Durch die Einführung der Fürsorgepflichtverord- Adresse der Geschäftsstelle der ZWST ist: nung als Vorgängerin der Sozialhilfegesetzgebung Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158. haben auch Ausländer in Deutschland Anspruch auf Unterstützung. Die aus Osteuropa ein- und Die Referate der ZWST sind aufgeteilt wie folgt: durchwandernden Pogromopfer sind nun nicht nur • Dr. Friedrich Ollendorff: Organisation, Fi- auf Spendengelder aus den jüdischen Gemeinden nanzen, Vertretung bei Behörden und Orga- angewiesen. nisationen, Jugendwohlfahrt, Lehrgänge für jüdisch-soziale Ausbildung und Fortbildung. • Dr. Max Kreutzberger: Arbeits- und Berufs- 22.12.1924 fürsorge, Wirtschaftsfragen, Darlehenskassen, Unter Beteiligung des Geschäftsführers der ZWST, Berufsgenossenschaft, Versicherungsangele- Dr. Jacob Segall, wird die ‚Liga der Freien Wohl- genheiten. fahrtspflege‘ als Dachorganisation der privaten und • Dr. Frieda Weinreich: Gesundheitsfürsorge, konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen gegrün- Wirtschaftsfürsorge, Anstaltswesen. det. Damit soll die Vorrangstellung der freien gegen- • Dr. Bella Schlesinger: Archiv, Bibliothek, über der staatlichen Fürsorge abgesichert werden. Statistik, Auskunftserteilung, Führer durch Außer der ZWST sind die ‚Innere Mission‘ (später: die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohl- ‚Diakonisches Werk‘), der ‚Caritasverband‘ und der fahrtspflege. ‚Fünfte Wohlfahrtsverband‘ (später: ‚Paritätischer • Hannah Halitzki: Buchhaltung, Soziale Wohl- Wohlfahrtsverband‘) beteiligt. fahrtsrente. • Ulla Brode: Sammlung ‚Jüdische Not‘. Das ‚Palästina-Amt‘, Außenstelle der ‚Jewish Agency Ab Juni 1924 for Palestine‘ zur Unterstützung der Einwanderung Gründung von Provinzialverbänden der jüdischen nach Eretz Israel, nimmt seine Aktivitäten in Gemeinden in Hannover, Sachsen-Anhalt, Bran- Deutschland auf. denburg und im Rheinland. Es bestanden bereits solche in Westfalen, Hessen und Hessen-Nassau so- wie Thüringen. Die ZWST fasst sämtliche Jugendorganisationen unter dem Dach des ‚Reichsausschusses der jüdi- schen Jugendverbände. Jugendbeirat der Zentral- 1925 wohlfahrtsstelle der deutschen Juden‘ zusammen. Die ZWST gibt gemeinsam mit dem DIGB das Der Reichsausschuss publiziert eine eigene Schrif- „Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung tenreihe. Die Lehrbriefe informieren Leser über und Wohlfahrtspflege“ heraus. Themen, die das jüdische Leben in Westeuropa und das jüdische Siedlungswesen in Palästina betreffen. Dr. Bella Schlesinger wird als Bibliothekarin in der ZWST eingestellt. Ziel ist eine Verstetigung der Ar- beit im Archiv der ZWST, in dem sämtliches Ma- terial zur jüdischen Wohlfahrtspflege gesammelt wird, um die mehr als 1000 Anfragen im Jahr von Anstalten, Organisationen und Einzelpersonen zu bearbeiten. Die Archivalien dienen auch als Chronik der ZWST 1917-2017 7
1926 1.9.1926 In Düsseldorf wird anlässlich der ‚Großen Ausstel- Die ZWST gibt den „Führer durch die jüdische lung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Wohlfahrtspflege in Deutschland“ heraus. Leibesübungen‘ (GeSoLei), der größten Messe der Weimarer Republik, der Film „Ein Freitag Abend“ (Regie: Gertrud David) uraufgeführt, der die mo- 8.4.1926 derne jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland Die Gründungsmitglieder sowie die Mitglieder des in Krankenanstalten, Alters-, Erziehungs- und Er- geschäftsführenden Ausschusses der ZWST kom- holungsheimen vorstellt. Der Film wird über die men zu einer vorbereitenden Sitzung zur Reorgani- ZWST an die jüdischen Gemeinden weitergeleitet. sation der ZWST in Berlin zusammen. Bis November 1927 wird der Film in 60 Gemeinden und allein 21 Mal in Berlin aufgeführt. 6.-8.6.1926 Leo Baeck hält am 6. Juni auf der Tagung der ZWST September 1926 in Düsseldorf die programmatische Festrede „Der Rücktritt von Dr. Jacob Segall als Geschäftsführer. geistige Gehalt in der jüdischen Wohlfahrtspflege“. Es tagen die folgenden Arbeitsgemeinschaften: Die ZWST erhält als Spitzenverband der Freien 1. Die jüdische Gefährdetenfürsorge, Wohlfahrtspflege Anerkennung durch die deutsche Leitung: Paula Ollendorff, Breslau. Reichsregierung. 2. Die jüdische Tuberkulosefürsorge, Leitung: Eugen Caspary, Berlin. 3. Die jüdische Erholungsfürsorge, Leitung: Dr. Jacob Segall, Berlin. 4. Die Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeits- nachweise, Leitung: Eugen Caspary, Berlin. Im Anschluss präsentiert sich der ‚Reichsausschuss der jüdischen Jugendverbände‘. Dessen Leiter, Dr. Georg Lubinski, referiert zum Thema „Das soziale Programm der jüdischen Jugend“. 12.8.1926 Im Namen des Jüdischen Frauenbundes erklären seine erste und zweite Vorsitzende, Bettina Bren- ner und Paula Ollendorff, offiziell ihren Austritt aus der ZWST. Hintergrund sind Kontroversen über die Eigenständigkeit der Mitgliedsorganisationen. Dennoch wird die bereits im Frühjahr angeregte Re- organisation der ZWST weiter vorangetrieben. An- fang Oktober liegen erste Vorschläge vor, in denen explizit auf die Selbstständigkeit der ihr angeschlos- senen Organisationen verwiesen wird. 8 Chronik der ZWST 1917-2017
1927 1928 Mehr als 200 jüdische Gemeinden sind unmittelba- 1.1.1928 re Mitglieder der ZWST. Die Geschäftsstelle der ZWST zieht aus der Rosen- straße 2/4 in die Oranienburger Straße 69/II in Berlin. 15.2.1927 Dr. Friedrich Ollendorff, ehemaliger Vorsitzender 18.-23.3.1928 des Fürsorge-Kuratoriums des DIGB, wird neuer Die Jüdisch-Soziale Schulungswoche in Berlin tagt Geschäftsführer der ZWST. in den Räumen der ‚Hochschule für die Wissen- schaft des Judentums‘. Den einleitenden Vortrag unter dem Titel „Neuzeitliche Wohlfahrtspflege“ 15.3.1927 hält Siddy Wronsky, Leiterin des Archivs für Wohl- Dr. Paul Nathan, spiritus rector der seit 1901 existie- fahrtspflege. renden jüdischen Hilfsorganisation ‚Hilfsverein der deutschen Juden‘ und engstes Verbindungsglied zur ZWST, stirbt im Alter von 70 Jahren in Berlin. 14.5.1928 Die Frauenrechtlerin Henriette May, Schatzmeiste- rin der ZWST, stirbt mit 66 Jahren und wird unter 3.4.1927 großer öffentlicher Anteilnahme in Berlin beigesetzt. Auf der Mitgliederversammlung der ZWST wird die neue Satzung verabschiedet. Vorsitzender der ZWST wird der Rabbiner Dr. Leo Baeck. 9.9.1927 Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der ZWST legt der neue Geschäftsführer, Dr. Friedrich Ollen- dorff, eine ausführliche Bestandsaufnahme der bis- herigen Leistungen und Erfolge vor: „Dieser Bericht sei mit dem herzlichen Wunsche geschlossen, daß das zweite Jahrzehnt unserer Arbeit, in das wir ein- getreten sind, das große gemeinsame Werk vorwärts bringen möge, so wie es das erste Jahrzehnt getan hat.“ Chronik der ZWST 1917-2017 9
1929 1931 24.2.1929 Die ‚Jüdische Arbeitshilfe‘, eröffnet in der Provinz Der bevölkerungspolitische Ausschuss des ‚Preußi- Brandenburg das ‚Landwerk Neuendorf ‘. Ab 1932 schen Landesverbandes jüdischer Gemeinden‘ ver- wird es für den ‚Jüdischen Freiwilligen Arbeits- anstaltet eine Tagung zum Thema „Jüdische Bevöl- dienst‘ genutzt. Ab 1933 werden hier junge Men- kerungspolitik“, deren Beiträge und Diskussionen schen mit dem Ziel der Berufsumschichtung un- in der Schriftenreihe der ZWST publiziert werden. tergebracht. Ab 1939 ist es anerkannt durch den Hauptrednerin und Moderatorin der Tagung ist zionistischen Hechaluz als Hachscharah, d. h. es gilt Siddy Wronsky. als vorbereitende Einrichtung für die Aliyah. Die ‚Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege‘ wird mit der ‚Jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge‘ zusammengefasst und erscheint unter dem Titel ‚Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik. Zeit- 1932 schrift der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und der Hauptstelle für jüdische Wanderfür- Im Rahmen der zahlenmäßig größten Einwande- sorge und Arbeitsnachweise‘. Herausgeber sind Dr. rungswelle vor der Gründung des Staates Israel im Friedrich Ollendorff, Dr. Paula Kronheimer, Dr. Ilse Mai 1948, der Fünften Aliyah, emigrieren und flie- Goldschmidt, Dr. Max Kreutzberger, Dr. Friedrich hen zwischen 1932 und 1933 ca. rund 200 000 Ju- Brodnitz und Dr. Ernst G. Lowenthal. den in das britische Mandatsgebiet Palästina, min- destens 66 000 stammen aus Deutschland. Auf Bitten des DIGB legen Hannah Karminski, Dr. Die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland ver- Paula Kronheimer und Dr. Georg Lubinski im Auf- fügt über 9313 Betten in der geschlossenen Fürsor- trag der ZWST eine Denkschrift zur Reform der ge, 4547 Plätzen in den halboffenen sowie 2515 Ein- Fürsorgeerziehung vor. richtungen innerhalb der offenen Fürsorge. Neben dem bereits bestehenden reformpädagogi- Die bearbeitete Neuauflage des „Führers durch die schen jüdischen Heim ‚Ahawah‘ in Berlin, das von jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrts- Hannah Grunwald-Eisfelder geleitet wird, entsteht pflege in Deutschland“ erscheint. Dr. Bella Schle- 1929 auf Initiative von Gertrud Feiertag das Kin- singer bezeichnet diesen 1957 als „Denkmal der der- und Landschulheim in Caputh. Der wichtigste entschwundenen weitverzweigten Gemeindeorga- Beitrag zur reformierten Fürsorgeerziehung ist die nisationen, des kulturellen Lebens, des Schulwesens Eröffnung des jüdischen Erziehungsheims in Wol- und der Wohlfahrtsorganisationen der deutschen zig unter Leitung von Dr. med. Hans Lubinski. Juden.“ Juli 1932 In Frankfurt am Main findet unter Beteiligung der ZWST die zweite große internationale Konferenz für Sozialarbeit und Sozialpolitik unter dem Titel 1930 „Social Work and the Family“ statt. Bei den Reichstagswahlen am 14. September er- Am Vorabend der nationalsozialistischen Mach- reicht die NSDAP 18,3 Prozent der Wählerstimmen. tübernahme gibt es schätzungsweise 500 000 Juden in Deutschland. 10 Chronik der ZWST 1917-2017
Nationalsozialismus (1933 - 1945) 1933 Frühjahr 1933 Die Gemeinden richten ‚Volksküchen‘ ein, die in 30.1.1933 Berlin nach dem Vorsitzenden des Joint, Paul Baer- Bei den Reichstagswahlen wird die NSDAP mit deut- wald, ‚Baerwald-Küchen‘ benannt werden. Zwischen lichem Abstand zur SPD und KPD stärkste Kraft. September 1933 und März 1934 werden hier 27 843 In unmittelbarer Folge breitet sich ein zunehmend Mahlzeiten ausgeteilt. brutaler Antisemitismus aus. Terror gegen politi- sche Gegner und der sukzessive Ausschluss miss- 17.9.1933 liebiger Minderheiten prägen fortan den Alltag in Nahezu alle deutschen und ausländischen jüdischen NS-Deutschland. Organisationen und Kultusgemeinden schließen sich in der ‚Reichsvertretung der deutschen Juden‘ mit Sitz Die ZWST stellt bis Herbst des Jahres das Erscheinen in Berlin zusammen, „um die Lebensnotwendigkei- ihres Publikationsorgans Jüdische Wohlfahrtspflege ten des deutschen Judentums mit den Erfordernissen und Sozialpolitik ein. des neuen Reichs zu vereinbaren“ (Otto Hirsch). Sie ist die Interessenvertretung der jüdischen Bevölke- rung in Deutschland. Zum Präsident wird Rabbiner 13.4.1933 Dr. Leo Baeck und zum leitenden Vorsitzenden Dr. Der ‚Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau‘ wird Otto Hirsch gewählt. Zu den wesentlichen Aufgaben gegründet, in dem der ‚Centralverein der deutschen zählen der sukzessive Aufbau einer jüdischen Selbst- Staatsbürger jüdischen Glaubens‘, die ‚Zionistische hilfe und die Auswanderungsvorbereitung. Im Zuge Vereinigung für Deutschland‘, die ZWST, die ‚Zent- der Implementierung der ‚Nürnberger Rassengeset- ralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe‘, der ‚Hilfsver- ze‘ erfolgt die erzwungene Umbenennung in ‚Reichs- ein der deutschen Juden‘ und das ‚Palästina-Amt, vertretung der Juden in Deutschland‘. Außenstelle der Jewish Agency for Palestine‘, tätig sind. Die Leitung obliegt dem Rabbiner Dr. Leo Baeck, Geschäftsführer sind Dr. Walter Alexander, Dr. Werner Senator sowie Dr. Ludwig Tietz. Durch November 1933 das neu entstandene Organ wird die Auswanderung Nach dem Selbstmord von Dr. Ludwig Tietz und unterstützt, Berufsumschichtung und Arbeitsver- der Auswanderung von Dr. Werner Senator nach mittlung werden zentral koordiniert. Palästina wird Friedrich Borchardt Geschäftsführer des Zentralausschusses. Ab März wird er durch Dr. Siddy Wronsky verlässt nach ihrer Entlassung als Di- Friedrich Brodnitz und Dr. Max Kreutzberger unter- rektorin des Archivs für Wohlfahrtspflege Deutsch- stützt. land. Sie ist fortan maßgeblich am Aufbau der Sozia- len Arbeit in Palästina beteiligt. Winter 1933 In den jüdischen Gemeinden gibt es eine anwachsen- Jüdische Organisationen dürfen sich nicht mehr an de Überalterung und eine gesteigerte Zahl jüdischer der allgemeinen Sammlung für die NS-Winterhilfe Wohlfahrtsempfänger. In der Hauptstadt Berlin sind beteiligen. es allein 20 000. April 1933 Dr. Friedrich Ollendorff nimmt zum letzten Mal an einer Sitzung des Vorstandes der ‚Liga der Freien Wohlfahrtspflege‘ teil, weil die ZWST aus dem Dach- verband ausgeschlossen wird. Chronik der ZWST 1917-2017 11
1934 1935 Mai 1934 Der gesellschaftliche Ausschluss im Zuge zahlreicher Die jüdischen Gemeinden führen die ‚Blaue Bei- antijüdischer Gesetze (wie etwa des Zutrittsverbots tragskarte für Hilfe und Aufbau‘ ein. von Gaststätten, Kinos, Badeanstalten, Sportplät- Jedes Gemeindemitglied ist zu Spenden für die Ge- zen, teils auch öffentlichen Parkanlagen) und die meinschaft aufgerufen, je nach Einkommen beträgt Segregation aus dem öffentlichen Leben sind All- die Summe zwischen 0,25 bis 3 RM. Ein Drittel geht tag. Gegenseitige Unterstützung ist für viele Juden an den ‚Zentralausschuss‘. Im Gemeindeblatt der Is- Deutschlands sinnstiftend und gibt Kraft angesichts raelitischen Gemeinde Frankfurt am Main von Juni der alltäglichen Erniedrigungen und der ab 1938 ob- 1935 heißt es: „Kein Jude in Deutschland darf in ligatorischen Verpflichtung zur Zwangsarbeit. Zukunft ohne die blaue Beitragskarte für Hilfe und Aufbau sein!“ In den kleineren jüdischen Gemeinden leben nur noch wenige Personen im Alter von 14 bis 30 Jahren. Bis Mitte Juni 1934 wandern monatlich 100 bis 200 Die Berufsumschichtung für ausgegrenzte jüdische Personen mit Unterstützung des ‚Hilfsvereins der Deutsche, aber auch die zunehmende Bereitschaft deutschen Juden‘ aus. Gleichzeitig wird auch eine zur Auswanderung, werden für diese Altersgruppe Intensivierung der Arbeit der ZWST notwendig: 45 zukunftsleitende Faktoren. In den kleinen Gemein- Gemeinden werden zu ‚Notstandsgemeinden‘ er- den bleiben oftmals lediglich Alte und Fürsorge- klärt. empfänger zurück. Juden ist aus ‚weltanschaulichen Gründen‘ der Ein- Die ‚Blaue Beitragskarte‘ trägt zwar mehr als 300 tritt in die ‚Nationalsozialistische Volkswohlfahrt‘ 000 Reichsmark ein, doch ist dies zu wenig, um die (NSV) verboten. notleidende jüdische Bevölkerung zu unterstützen. Die ZWST ist gezwungen, weitere Aufgabenberei- Im Winter 1934/35 werden jüdische Deutsche zwar che zu übernehmen, etwa die Kriegsopferfürsorge. offiziell noch durch das ‚Winterhilfswerk des deut- schen Volkes‘ unterstützt, regional jedoch, wie etwa in Berlin, werden sie bereits jetzt von dieser Hilfe Im ‚Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau‘ erfol- ausgeschlossen. gen grundlegende organisatorische Neuerungen. Es kommt zur Einrichtung unterschiedlicher Arbeits- Oktober/November 1934 bereiche: Für die Gebiete Wanderung, Wirtschafts- Einführung eines Schulungskurses für erwerbslose hilfe (Sozialhilfe) und Wohlfahrt ist nun Dr. Max jüdische Wohlfahrtspfleger, die ehrenamtlich tätig Kreutzberger, ab Juni Salomon Adler-Rudel zustän- werden wollen. dig. Erklärtes Ziel ist die Erarbeitung eines Gesamt- planes für die Zukunft der jüdischen Wohlfahrt. Ab Ende 1934 unterstützt die ZWST die Unterbrin- Selbständig bleiben vorerst das ‚Palästina-Amt‘ und gung und Auswanderung von Minderjährigen in die der ‘Hilfsverein der deutschen Juden‘. USA - bis Ende 1933 in 735 Fällen. Im Rahmen der Jugend-Aliyah verlassen 390 Jugendliche Deutsch- land in Richtung Palästina. Viele von ihnen sehen 17.2.1935 ihre Angehörigen zum letzten Mal. In Fortsetzung dieser Pläne setzt die ‚Reichsvertre- tung der Juden in Deutschland‘ die Eingliederung In vielen Großstädten werden jüdische Wohl- des gesamten sozialen und wirtschaftlichen Hilfs- fahrtsempfänger regelmäßig zu Pflichtarbeiten he- werkes der ZWST um. Ziel ist es, die großen Tätig- rangezogen. keitsfelder wie Wohlfahrt oder Berufsumschichtung in einer Organisation zu zentralisieren. 12 Chronik der ZWST 1917-2017
1.4.1935 1936 Die ‚Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge‘, die ‚jüdische Arbeitshilfe e. V.‘ (Landwerk Neuendorf), Spätestens ab 1936 zählt der Bereich ‚Wohlfahrt‘ zu die ‚Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnach- den Kernstücken der Arbeit der Reichsvertretung. weise‘ und die ‚Zentralstelle für jüdische Wirt- schaftshilfe‘ werden in die ‚Reichsvertretung‘ einge- Dr. Friedrich Ollendorff verlässt Deutschland und gliedert. emigriert nach Palästina. Das JWH unterstützt 83 761 Menschen, mehr als 20 15.9.1935 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Deutschland- Die Nürnberger Gesetze – allen voran das sogenann- weit gibt es 13 000 Helfer, über 6000 davon sind in te ‚Blutschutzgesetz‘ - schaffen die legale Grundlage Berlin tätig. für die Verfolgung und Ausgrenzung von deutschen Juden. Antisemitismus ist fortan gesetzlich verord- net. Oktober 1935 1937 Im Zuge der Implementierung der Nürnberger Ras- segesetze erfolgt die Gründung der ‚Jüdischen Win- Die ZWST muss zunehmend Anträge auf Unter- terhilfe‘ der ZWST, da jüdische Deutsche nicht län- stützung aus den Landes- und Provinzialverbän- ger Empfänger des allgemeinen Winterhilfswerks den ablehnen. Nur die Zahl der Plätze in jüdischen sein konnten. Im Winter 1936/37 erhalten 82 818 Altersheimen kann erhöht werden. Die Hälfte aller Personen, das heißt mehr als 21 Prozent der noch in Hilfsbedürftigen ist über 45 Jahre alt. Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung Un- terstützungsleistungen. 9.9.1937 Im ‚Jüdischen Winterhilfswerk‘ (JWH) werden etwa 20 Jahre nach der Gründung der ZWST leben jüdi- 75 000 Menschen betreut. Für Mischehen gilt die sche Deutsche unter zunehmendem nationalsozia- Zugehörigkeit des Haushaltsvorstandes. Das JWH listischem Terror. Dr. Leo Baeck, der Vorsitzende der gewährt Unterstützung durch Naturalien, finanziel- ZWST, versucht den Lesern des nach wie vor exis- le Beihilfen und verteilt Kohle an Bedürftige. tierenden Publikationsorgans Mut zu machen: „Der Gang der Tage hat es gefügt, dass die Zentralwohl- Die ZWST tritt dem internationalen jüdischen Auf- fahrtsstelle, die selbst hatte zusammenfassen wollen, bauwerk ‚Keren Hayesod‘ bei. in eine umfassendere Einheit, in die Reichsvertre- tung der Juden in Deutschland, eingegliedert wor- Die Vorbereitung und Durchführung der Auswan- den ist. Aber es könnte ebenso gesagt werden, dass derung werden zu Kernarbeitsbereichen der ZWST. sie in dieser Reichsvertretung sich verwirklicht hat. Aus dem Geiste, den sie in sich schuf, ist ganz eigent- Die ZWST wird aus der ‚Liga der Freien Wohl- lich diese größere Gestaltung hervorgewachsen.“ fahrtspflege‘ ausgeschlossen, bleibt aber weiter Spit- zenverband. Chronik der ZWST 1917-2017 13
1938 29.11.1938 Die ‚Reichsvertretung‘ kann ihre Tätigkeiten wie- Die Aufgaben der jüdischen Wohlfahrtspflege um- der aufnehmen und ist fortan alleinige finanzielle fassen im Wesentlichen die Bereiche JWH, die Auf- Trägerin der Auswanderung, der Fürsorge und des lösung der Synagogengemeinden, Gesundheitsfür- Schulwesens. sorge und den Schulkinderfonds. Verstärkt kommt es zu Aufgabenerweiterung und Überschneidungen Jüdische Gemeinden werden nun als ‚Kultusvereini- mit dem Arbeitsbereich Umschichtung und Aus- gungen‘ bezeichnet. wanderung. Der ‚Anschluss‘ Österreichs verstärkt die Zahl der Auswanderung wird zur Flucht, viele deutsche Ju- Ausreisewilligen. den wollen aufgrund der brutalen und menschen- verachtenden Vertreibungsstrategie des Regimes so ‚Arisierung‘ und Liquidation jüdischer Gewerbeun- schnell wie möglich die Heimat verlassen, das Ziel- ternehmen führen zur Verarmung der Juden in land wird zweitrangig. Deutschland und zu einer Erhöhung der Zahl Hilfs- bedürftiger. Die ‚Sühneabgabe‘, die den deutschen Juden in Fol- ge der Novemberpogrome auferlegt wird, beträgt 20 Jüdische Kinder dürfen nur noch jüdische Schulen Prozent des Vermögens. Die jüdische Bevölkerung besuchen. sieht sich mit weiterer Verarmung und verstärkter Isolation aus der Gesellschaft konfrontiert. Der polnische Jude Herschel Grynszpan verübt ein Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris, um damit gegen die Ab- Dezember 1938 schiebung seiner Eltern nach Polen zu protestieren. Das NS-Regime ruft zu Racheakten gegen jüdische Aufgrund des rückläufigen Spendenaufkommens Deutsche auf. können nur noch 77 231 Personen durch das JWH versorgt werden. 8./9.11.1938 Im Zuge der Novemberpogrome werden deutsch- landweit Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, zahllose jüdische Deutsche miss- handelt. Etwa 26 000 Juden werden verhaftet und in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert. Nach den Pogromen verlassen Dr. Georg Lubinski (Palästina) und Dr. Ernst G. Lowenthal (England) Deutschland. Dr. Friedrich Brodnitz ist bereits 1937 in die USA ausgewandert. Ab 19.11.1938 Die jüdische Bevölkerung wird mit wenigen Ausnah- men von der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen. 14 Chronik der ZWST 1917-2017
1939 1940 1.1.1939 März 1940 Zahlreiche jüdische Gemeinden stellen ihre Fürsor- Sämtliche höheren jüdischen Schulen, bis auf die- gemaßnahmen ein, da die Vereine und Stiftungen, jenige in der Großen Hamburger Straße in Berlin, die bisher die Maßnahmen finanziert haben, nicht werden aufgelöst. mehr existieren. Zwischen Juni und September erfolgt die deutsch- landweite Sammlung ‚Jüdische Pflicht‘, d.h. acht Februar 1939 Prozent der Lohnsteuer von Juden fließen in den Die Funktionäre der ‚Reichsvertretung‘ gründen im Gesamtetat der ‚Reichsvereinigung‘. Rahmen einer Reorganisation ihrer bisherigen Ar- beiten die ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutsch- land‘, der sämtliche Juden in Deutschland angehö- November 1940 ren sollen. Im Hafen von Haifa chartert die britische Mandats- regierung das Flüchtlingsschiff ‚Patria‘, um illegale Ab Juli wird die Reichsvereinigung durch die 10. Einwanderer aus Europa nach Mauritius zu trans- Verordnung zum Reichsbürgergesetz durch das Re- portieren. Die Untergrundorganisation ‚Hagana‘ gime übernommen. Jegliche Selbständigkeit der jü- versucht durch eine - zu starke - Sprengladung das dischen Akteure geht verloren, zentrale ‚Aufsichts- Schiff seeuntauglich zu machen. Die Explosion zer- behörde‘ ist das ‚Reichssicherheitshauptamt‘ der SS. stört das marode Schiff, und mehr als 250 Menschen ertrinken im Mittelmeer. Überlebende werden im Präsident der ‚Reichsvereinigung‘ ist Leo Baeck, Auffanglager Atlit untergebracht. sein Stellvertreter Heinrich Stahl. Der Fokus der Tä- tigkeit liegt zunehmend auf der Schaffung von Kin- der- und Altenheimen sowie Krankenhäusern für die große Zahl der Hilfsbedürftigen, die nur noch in jüdischen Einrichtungen versorgt werden können. Die Motivation vieler Mitarbeiter der Reichsverei- nigung, in Deutschland zu bleiben und ihre Chance zur Auswanderung nicht wahrzunehmen, ist es, der hilfsbedürftigen jüdischen Bevölkerung zur Seite zu stehen. Otto Hirsch, Vorstandsmitglied der Reichs- vereinigung, mahnt: „Es können doch nicht alle fortgehen, jemand muss doch für die Alten sorgen.“ Und Hannah Karminski sagt: „Ich bleibe, um meine Pflicht zu tun.“ Im Zuge der immer restriktiveren, britischen Ein- wanderungspolitik und des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs gelingt es nur ca. 70 000 Menschen durch die ‚Aliyah Beth‘, die illegale Einwanderung, aus Eu- ropa nach Eretz Israel zu entkommen. Chronik der ZWST 1917-2017 15
1941 18.10.1941 Vier Monate nach dem Überfall auf die Sowjetuni- Frühjahr 1941 on beginnen mit dem Verbot der Auswanderung Die Prioritäten der ‚Reichsvereinigung‘ liegen auf für Juden die bis Frühjahr 1943 anhaltenden Mas- den Arbeitsbereichen ‚Auswanderung und Fürsor- sendeportationen aus Deutschland, dem annek- ge‘. Gleichzeitig kürzt der zuständige Sachbearbeiter tierten Österreich sowie dem ‚Protektorat Böhmen Fritz Woehrn in der Abteilung IVB4 (Judenreferat) und Mähren‘ in Ghettos, Konzentrations- und Ver- des Reichssicherheitshauptamtes mit Dienstaufsicht nichtungslager. Die ‚Endlösung der Judenfrage‘, der über die Reichsvereinigung das Budget. Genozid an den Juden Europas, ist nun das erklärte Conrad Cohn, Mitglied der Reichsvereinigung seit Ziel des NS-Regimes. Mai 1940, ist für das Sozialdezernat zuständig, Han- nah Karminski für die Abteilung ‚Allgemeine Fürsor- Jüdische Familien, denen nach Beginn des Zweiten ge‘ und Walter Lustig für die Gesundheitsfürsorge. Weltkriegs nicht mehr die Flucht oder Auswande- rung gelungen ist, werden in größeren Städten in ‚Ju- In Berlin werden noch bis 1941 Juden auch von den denhäusern‘ konzentriert, für viele oftmals ihr letz- städtischen Wohlfahrtsämtern unterstützt. ter Wohnort vor der Deportation. In den „Ghettos ohne Mauern“ ist „die Mausefalle“ – so die Schrift- stellerin Jenny Aloni - endgültig zugeschnappt und 19.6.1941 ein Entkommen ist kaum noch möglich. Seit dem 23. Mai ist Otto Hirsch im KZ Mauthausen inhaftiert, wo er kurze Zeit später stirbt. Der Familie wird als Sterbedatum der 19. Juni 1941 mitgeteilt, doch die Umstände seines Todes sind nicht bekannt. 1942 22.6.1941 Seit Frühjahr 1941 beginnt das NS-Regime mit der Im Anschluss an die Eingangsselektionen in operativen Umsetzung des Völkermords an den Ju- Auschwitz-Birkenau werden ab Sommer 1942 alle den Europas. Einer von unzähligen Orten des Mas- als nicht arbeitsfähig kategorisierten Menschen senmordes ist die Schlucht von Babij Jar bei Kiew in durch Giftgas in den Gaskammern erstickt. In ers- der Ukraine, in der - unterstützt durch die Deutsche ter Linie betrifft dies Kinder, Alte, Gebrechliche Wehrmacht - Männer des SD, Einsatzgruppen und oder Kranke. Mindestens 1,1 Millionen jüdische des Sonderkommandos 4a mehr als 50.000 jüdische Menschen werden allein in Auschwitz ermordet. Frauen, Männer und Kinder erschießen. Der NSV werden 137 Lastwagen mit Kleidung der Ermorde- ten übergeben. 1.10.1941 Alle Juden ab sechs Jahren müssen in Deutschland auf ihrer Kleidung sichtbar einen gelben Stern tragen. 16 Chronik der ZWST 1917-2017
1943 1945 26.1.1943 8.5.1945 Das Reichssicherheitshauptamt der SS entlässt mit Kapitulation und Kriegsende dem Ziel der Auflösung der ‚Reichsvereinigung‘ führende Angestellte. Dr. Leo Baeck, Dr. Paul Epp- Während der Shoa und dem Zweiten Weltkrieg sind stein und seine Frau werden in das ‚Altersghetto‘ sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wor- Theresienstadt deportiert. den, Hunderttausende wurden vertrieben, haben ihre Familienangehörigen verloren oder sind bei Kriegs- ende auf der Flucht. Für viele bedeutete das Ende des Bis April 1943 folgt die Deportation nahezu aller Krieges erst das Erkennen des wahren Ausmaßes der weiteren Juden aus Deutschland nach Theresien- Zerstörung und Vernichtung. stadt, an Erschießungsorte im Baltikum, Konzent- rations- oder Vernichtungslager. Diejenigen, die das Kriegsende auf deutschem Bo- den erleben, stammen größtenteils aus Polen oder Osteuropa. Von den rund 200 000 Juden, die 1947 in April 1943 Deutschland leben, sind viele vor neuerlichen antijü- 16.658 Juden leben offiziell in Deutschland. Zumeist dischen Ausschreitungen in Polen oder der Sowjet- handelt es sich um Ehepartner ‚arischer‘ Deutscher union geflohen. oder um solche, die als ‚Geltungsjuden‘ kategorisiert worden sind. Internationale Hilfsorganisationen wie die ‚United Nations Relief and Rehabilitation Administration‘ (UNRRA), Vorläuferorganisation des Hohen Flücht- Juni 1943 lingskommissariats UNHCR, und deren Nachfol- Die ‚Rest-Reichsvereinigung‘ nimmt ihre Arbeit im gerin ‚International Refugee Organization‘ (IRO) Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße auf. nehmen sich, maßgeblich unterstützt durch trans- Der Abteilung III obliegt der Bereich ‚Fürsorge‘. Auf- nationale jüdische Organisationen wie den JOINT, grund der als abgeschlossen geltenden Deportatio- der Überlebenden an, die sich selbst als ‚She’erit nen aus Deutschland handelt es sich bei der Klientel Hapleitah‘ (Rest der Geretteten) bezeichnen. vor allem um nicht deportierte und in ‚Mischehe‘ le- bende Angehörige der ‚Reichsvereinigung‘. Der im August 1945 erschienene ‚Harrison-Report‘ hat eine Verbesserung der Lage der jüdischen DPs zur Folge, die nun als Angehörige der ‘jüdischen Na- tionalität‘ gelten. Zwischen 1945 und 1948 schleust die Untergrundbe- wegung ‚Bricha‘ etwa 100 000 jüdische Überlebende auf illegalem Weg nach Palästina. 1944 27.9.1944 18.4.1945 Dr. Paul Eppstein, Vertreter der ‚Judenältesten‘ in In dem am 15. April befreiten KZ Bergen-Belsen Theresienstadt und ehemaliger Vorsitzender der konstituiert sich das erste ‚Komitee jüdischer Über- ‚Reichsvereinigung‘, wird erschossen. lebender‘, das die Hilfe für die befreiten jüdischen Mithäftlinge organisiert. Zentrale Aufgabenbe- reiche sind die Gesundheitsfürsorge, Suche nach Angehörigen und die Durchsetzung eines politi- schen Mitbestimmungsrechts. Vorsitzender die- ses Komitees ist Josef Rosensaft, Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Mittelbau-Dora. Auch in der US-Zone erfolgt der Zusammenschluss jüdischer Überlebender. Chronik der ZWST 1917-2017 17
April 1945 In Köln wird die erste Jüdische Gemeinde der Nach- kriegszeit gegründet. Danach kommt es zu weiteren Neugründungen: Bis 1948 entstehen in der US-Zo- ne 50, unter britischer Besatzung 50 und in der fran- zösischen Zone 23 jüdische Gemeinden. Die größte existierte mit etwa 8.000 Mitgliedern in Berlin. 25.9.1945 Der erste Kongress der ‚She’erit Hapleitah‘ findet in der britischen Zone im Displaced Persons-Lager Belsen bei Celle statt. Nach seiner Befreiung aus Theresienstadt stellt der Rabbiner Dr. Leo Baeck die Unmöglichkeit einer Fortsetzung jüdischen Lebens in Deutschland fest. Philipp Auerbach, Überlebender der KZ Sachsen- hausen, Auschwitz und Buchenwald, übernimmt zwischen September 1945 und Dezember 1945 eine Anstellung in der Abteilung ‚Fürsorge für politisch, religiös und rassisch Verfolgte‘ im Regierungsbezirk Düsseldorf unter britischer Besatzung. Er vertritt darüber hinaus die erste zonenweite Organisation der deutschen Juden in Norddeutschland. 18 Chronik der ZWST 1917-2017
Wiederaufbau (1946 - 1988) 1946 1948 Die ‚Allgemeine Jüdische Wochenzeitung‘, Vorläufe- Die ‘Jewish Restitution Successor Organization Inc.’ rin der heutigen ‚Jüdischen Allgemeinen‘, erscheint. (JRSO) wird auf Initiative US-amerikanischer und internationaler jüdischer Organisationen gegrün- det. Operierend in der US-Zone stößt die JRSO Res- titutionsverfahren von enteigneten und ermordeten Juden an. Die Gelder verteilte die JRSO an jüdische Institutionen und Organisationen vor allem in den 1947 USA und in Israel. In der britischen und französi- schen Zone sind die ‚Jewish Trust Corporation Ltd.‘ 15. 2. bis 1.3.1947 (JTC) bzw. die ‘Jewish Trust Corporation Branche Gründung des ‚Bundes der Verfolgten des Naziregi- Française’ (JTCBF) aktiv. Später werden die Aufga- mes‘ durch Heinz Galinski, Jeanette Wolff und den ben von der ‘Claims Conference‘ übernommen. aus politischen Gründen verfolgten Walter Bartel. 14.5.1948 8.12.1947 Gründung des Staates Israel und Beginn des Unab- Siddy Wronsky stirbt in Jerusalem. Auf ihrem Grab hängigkeitskrieges. Truppen Ägyptens, Syriens, des findet sich das Zitat: „Eine der Gründerinnen der Libanon, Jordaniens und des Irak überfallen den Sozialarbeit in Eretz Israel“. neugegründeten Staat noch in derselben Nacht. Juli 1948 Der ‚World Jewish Congress‘ (WJC) fordert mit der Resolution von Montreux Juden dazu auf, sich „nie wieder auf deutschem blutgetränkten Boden an- zusiedeln“. Trotz dieses Appells beginnen jüdische Gruppen in Deutschland mit dem Wiederaufbau. 1949 23.5.1949 Gründung der Bundesrepublik Deutschland. 7.10.1949 Gründung der Deutschen Demokratischen Repu- blik. Aufgrund der Distanzierung des Regimes von den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust weigern sich Regierungsvertreter der DDR, noch bis 1990, über Entschädigungszahlun- gen zu verhandeln. Chronik der ZWST 1917-2017 19
1950 Zone, Siegfried Heimberg als Vertreter der jüdi- schen Gemeinden in der britischen Zone und Dr. Die durch das Regime der DDR gesteuerte Kam- Berthold Simonsohn als Vertreter der jüdischen Ge- pagne gegen den Kosmopolitismus besitzt einen meinden Nordwestdeutschland. Dieses Gremium eindeutig antisemitischen Charakter. Auch gibt es wählt Simonsohn als künftigen Geschäftsführer und gezielt eine unterschiedliche finanzielle Unterstüt- beauftragt ihn mit der Gründung und dem Aufbau zung für die eigenen ‚Kämpfer‘ und die jüdischen der ZWST. Opfer des Faschismus. Im Zuge des Prozesses gegen den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Rudolf Slánský, werden im 8.1.1951 November/Dezember 1952 elf Todesurteile aus- Das Bundesinnenministerium befürwortet die gesprochen. Das Todesurteil gegen Slánský am 3. Gründung einer zentralen jüdischen Wohlfahrtsor- Dezember löste eine Fluchtwelle von Juden aus der ganisation und deren Anerkennung als Spitzenver- Tschechoslowakei aus. band der Freien Wohlfahrtspflege. Dr. Berthold Simonsohn, Überlebender des ‚Al- tersghettos‘ Theresienstadt, kehrt 1950 nach 13.1.1951 Deutschland zurück und wird geschäftsführender Dr. Friedrich Ollendorff stirbt in Jerusalem. Dezernent der ‚Abteilung Fürsorge‘ der Jüdischen Gemeinde in Hamburg und des ‚Verbandes der Jü- dischen Gemeinden Nordwestdeutschlands‘. 12.3.1951 Der israelische Außenminister fordert von der Bun- desrepublik Entschädigungszahlungen sowie indi- 19.7.1950 viduelle Entschädigungsleistungen für Überlebende In Frankfurt am Main wird der ‚Zentralrat der Juden der Shoa. in Deutschland‘ von den Vertretern der jüdischen Gemeinden und Landesverbände als Dachverband gegründet. 20.8.1951 In Berlin erfolgt die Neugründung der ZWST. Der neue Name ‚Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland‘ ist der Tatsache geschuldet, dass Juden aus vielen verschiedenen Ländern in Deutschland 1951 leben. Hinzu kommt der Vorbehalt, sich nach der Shoa nicht als Deutsche bezeichnen zu wollen. Das DP-Lager Föhrenwald für jüdische Überleben- de untersteht nun deutscher Verwaltung und fun- Vorsitzende der ZWST wird die SPD-Politikerin giert bis zur Auflösung 1956 unter dem Namen ‚Re- und KZ-Überlebende Jeanette Wolff. Um die Konti- gierungslager für Heimatlose Ausländer‘. nuität mit der ‚alten ZWST‘ zu betonen, übernimmt deren letzter Präsident, der Rabbiner Dr. Leo Baeck, den Ehrenvorsitz. 6.1.1951 Der Zentralrat diskutiert Anfang des Jahres die Not- Wie im Jahr 1917 ist die ZWST wieder die Dachor- wendigkeit der Gründung einer jüdischen zentralen ganisation aller jüdischen Wohlfahrtsbestrebungen Wohlfahrtsorganisation und beauftragt Generalse- in Deutschland. Zu ihren Schwerpunkten zählt die kretär Hendrik van Dam mit der Kontaktaufnahme Interessenvertretung ihrer Mitglieder gegenüber zur Bundesregierung. Die Mitgliederversammlung den Bundes- und Landesbehörden sowie den Ver- wählt einen Vorstand, dem folgende Personen ange- bänden der ‚Freien Wohlfahrtspflege‘. Darüber hin- hörten: Dr. Ernst Simon als Vertreter der Jüdischen aus koordiniert sie die jüdische Sozialarbeit in den Gemeinde Berlin, Dr. Ewald Allschoff als Vertreter Gemeinden. der jüdischen Gemeinden in der amerikanischen 20 Chronik der ZWST 1917-2017
Durch die Neugründung der ZWST ist ein deutliches 1952 Zeichen gesetzt, dass nicht alle jüdischen Gemein- den ihre Existenz als vorübergehend betrachten, 4.2.1952 sondern längerfristige Strukturen zur Wahrneh- Eintragung der ZWST in das Vereinsregister beim mung der Interessen der jüdischen Gemeinschaft in Amtsgericht Hamburg. Deutschland schaffen wollen. Sie tun dies trotz aller Ungewissheiten hinsichtlich der Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland. Frühjahr 1952 Verhandlungen über Bundessubventionen durch Dr. Ewald Allschoff, Prof. Dr. Herbert Lewin und 27.9.1951 Jeanette Wolff, Vorstandsvorsitzende der ZWST. Bundeskanzler Konrad Adenauer richtet die fol- Die ‚Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfle- genden Worte an das bundesdeutsche Parlament: ge‘ gewähren der ZWST Zuschüsse, ebenso wie die „Im Namen des deutschen Volkes sind unsagbare Bundesregierung. Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten. Die ZWST beteiligt sich an der Ölbaumspende für […] Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit den Jüdischen Nationalfonds. Durch die Spenden- Vertretern des Judentums und des Staates Israel […] aktion werden jüdische Arbeiter und deren Famili- eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungs- en in Israel unterstützt, die die Bäume pflegen und problems herbeizuführen, um damit den Weg zur nutzen. seelischen Bereinigung unendlichen Leidens zu er- leichtern.“ März 1952 In Schloss Wassenaar in Den Haag wird das 10.9.1951 deutsch-israelische Entschädigungsabkommen und Vertreter der Claims Conference und der Bundes- das Protokoll über deutsche Entschädigungsleistun- regierung unterzeichnen mit dem „Luxemburger gen an individuelle Shoa-Überlebende unterzeichnet. Abkommen“ zwei Protokolle: Protokoll Nr. 1 verpflichtete die Regierung der Bun- Die ZWST richtet erneut eine Winterbeihilfe für be- desrepublik Deutschland, gesetzliche Grundlagen sonders bedürftige Familien ein. für die Rückerstattung von Vermögenswerten und die individuelle Entschädigung Überlebender zu schaffen. In Protokoll Nr. 2 verpflichtete sich die Regierung, der Claims Conference 450 Millionen DM für die Unterstützung und Ansiedlung jüdischer Überle- bender zur Verfügung zu stellen. Die Bundesrepub- lik schloss auch mit dem Staat Israel ein Abkommen. Chronik der ZWST 1917-2017 21
Sie können auch lesen