EINSICHTEN PERSPEKTIVEN - Bayerische Landeszentrale ...
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Editorial Liebe Leser*innen, Autor*innen dieses Heftes große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Am 26. September findet Dr. Volker Best vertritt das Lehr– und For- die Bundestagswahl statt – der Wahlkampf befindet sich bereits in der schungsgebiet „Politische Systeme und Com- heißen Phase, umstrittene politische Themen gibt es mehr als genug. parative Politics“ am Institut für politische Der Klimawandel, ganz aktuell durch die Flutkatastrophe wieder ins Wissenschaften der RWTH Aachen. Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit gerückt, und die Corona-Maß- Prof. Dr. Magnus Brechtken ist stellver- nahmen, die durch Fortschreiten der Impfkampagne einerseits sowie tretender Direktor des Instituts für Zeitge- der drohenden Delta-Welle, andererseits weiterhin von entscheidender schichte München/Berlin. Bedeutung sind, seien nur als zwei der „Top-Themen“ genannt. In die- ser Ausgabe beschäftigt sich deshalb auch unser Schwerpunkt mit der Direktor Rupert Grübl leitet die Bayerische Wahl: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. → Magnus Brechtken unterstreicht in seinem Artikel die Bedeutung Prof. Dr. Simon Hegelich hat die Professur der Demokratie – auch wenn es Kritikpunkte und Schwachstellen für Political Data Science an der Hochschule gibt, der Wert der Freiheit ist unschätzbar und muss verteidigt und für Politik der Technischen Universität Mün- bewahrt werden. Die Redaktion spricht auch mit ihm im „Hörsaal“ chen inne. über diese Aspekte. → Welche Themen werden für die Wahl ausschlaggebend sein? PD Dr. Markus Kaim arbeitet am Deut- Welche/r Kandidat/in wird sich durchsetzen können? Volker Best geht schen Institut für Internationale Sicherheit und Politik der Stiftung Wissenschaft und den Besonderheiten der Bundestagswahl auf den Grund. Politik. → Ein noch unterschätztes Phänomen ist die Digitalisierung des Wahl- kampfes – einen Einblick in die Macht der Algorithmen gibt Simon Sophie Nübling ist wissenschaftliche Hilfs- Hegelich. kraft am Institut für Osteuropäische Ge - schichte und Landeskunde der Universität Weitere Artikel im Heft beschäftigen sich mit der NATO und China, Tübingen. außerdem wird die Serie zur „Zeitenwende 1989/1990“ mit einem Einblick in die Bedeutung der Gesundheitskrise Ende der 1980er Dr. Ludwig Unger ist Referatsleiter bei der Jahre in der Sowjetunion fortgesetzt. Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit. Die Artikel sind teilweise pointiert formuliert und laden zur Diskus- sion ein – ganz im Sinne des demokratischen Diskurses, den die BLZ anstrebt. Und auch Sie sind wieder aufgerufen, sich an unserer Pro-/Contra- Debatte zu beteiligen, diesmal unter der Fragestellung: Wie politisch Leserbriefe richten Sie bitte an folgende darf der Sport sein? E-Mail-Adresse: landeszentrale@blz.bayern.de, Stichwort: Einsichten und Perspektiven. Wir wünschen eine anregende und in bestem Fall unterhaltsame Lektüre. Hier können Sie auch ein kostenloses Abonnement der Zeitschrift beziehen. Die Redaktion 2 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt 4 Inhalt IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt 4 von Magnus Brechtken IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 12 von Volker Best COMIC Der gläserne Wähler 23 von Uli Knorr IM FOKUS Immer schneller, immer krasser und am Publikum vorbei: Wie Soziale Medien den Wahlkampf verändern und auf was wir uns bei der Bundestagswahl einstellen müssen 24 von Simon Hegelich DAS POLITISCHE BILD 31 SERIE Gesundheitskrise – Risiken und Nebenwirkungen von Glasnost und Perestroika 32 von Sophie Nübling POLITIK Die NATO – Ein Überblick 46 von Rupert Grübl POLITIK Braucht die NATO eine China-Strategie? Und wenn ja, welche? 54 von Markus Kaim PRO & CONTRA Wie politisch darf der Sport sein? 62 Fragen an Kathrin Lehmann und Tim Frohwein GESCHICHTE Ein unglücklicher Herrscher in Griechenland – der Wittelsbacher König Otto 66 von Ludwig Unger LESESTOFF Lesestoff 76 Einsichten und Perspektiven 2 | 21 3
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt WARUM DEMOKRATIE? ÜBER DIE KRAFT, DIE AUS MÜNDIGKEIT UND TEILHABE KOMMT von Magnus Brechtken Kommunalwahlen im März 2020 in Bayern Foto: Süddeutsche Zeitung, Photo/Fotograf: Robert Haas 4 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt Demokratien und ihre Anhänger scheinen gegenwärtig in keit und Lebenserwartung, Arbeitsalltag und medizinische der Defensive. Das ist zumindest der Eindruck, den die Versorgung, die Chancen auf Bildung, sozialen Aufstieg Gegner von demokratischen Institutionen und parlamen- und gesellschaftliche Teilhabe, die Rollen der Geschlech- tarischen Prozessen zu verbreiten suchen. Ob in China, wo ter und die Grenzen ihrer Freiheit. Von Nahrungsqualität, die Kommunistische Partei triumphal ihren hundertsten technischen Möglichkeiten und politischer Teilhabe ganz Geburtstag feiert, ob in Russland, wo sich Präsident Putin zu schweigen. Politische Rechte etwa besaßen 1821 nur fernsehgerecht als allsorgender Patriarch inszeniert, der bei wenige Männer, die meisten waren Untertanen, Frauen Anruf prompt die Probleme seiner Untertanen löst. Parla- konnten allenfalls in Ausnahmen selbst über ihr Leben mentarischer Meinungsstreit dagegen sei, so hören wir bis- bestimmen. Das war das Schicksal der Mehrheit, nicht weilen selbst hierzulande, undurchschaubar und kompli- höfischer Pomp oder romantisches Naturidyll. ziert. Gern verweisen Kritiker dann auf die vermeintliche Hundert Jahre später war in Deutschland immerhin Langsamkeit demokratischer Entscheidungsprozesse oder das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen etab- den angeblichen Wirrwarr der Interessen von Individuen, liert. Im Ergebnis eines Weltkrieges allerdings, der nicht Gruppen und Institutionen. Oder sie reden von Kungelei, zuletzt deshalb entstand, weil die beteiligten Mächte ihren abgehobenen Elitenzirkeln oder gar Verschwörungen. Wettbewerb und ihre Interessen nicht durch Rückkopp- Aber es gibt keinen rationalen Grund, solchen Erzäh- lungen zu folgen, im Gegenteil: Wer so argumentiert, hat jede Freiheit, sich selbst zu engagieren. Denn demokrati- sche Gesellschaften gedeihen im fortwährenden Ausgleich von individuellen Interessen und stabilisieren sich durch das mühsame Verhandeln unterschiedlicher, auch unbe- quemer Meinungen. Demokratische Ordnungen sind, das sei hier behauptet und im Folgenden begründet, auf lange Sicht resilienter und kreativer als autoritäre Organisatio- nen und Obrigkeitsstaaten oder Entscheidungssysteme, die meinen, auf offene Interessenverhandlungen verzich- ten zu können. Menschen in Demokratien müssen aller- dings bereit sein, für ihre Stabilität zu wirken, bisweilen auch zu kämpfen. Dieses Selbstbewusstsein gilt es, beson- ders dann in Erinnerung zu rufen, wenn Kritiker ihre „Ja, aber …“-Argumente vorbringen. Dergleichen hören wir beinahe täglich: Welchen Sinn soll es haben, historische Prozesse zu analysieren, wir leben Antikriegskundgebung der SPD und USPD im Lustgarten und auf dem doch in der Gegenwart? Ist es nicht „westliche Arroganz“, Schloßplatz in Berlin am 31. Juli 1921. Im Wagen stehend ist Elsa Ein- stein, die zweite Frau von Albert Einstein, zu sehen. auf die natürlichen Rechte aller Menschen hinzuweisen Foto: picture alliance/akg-images und eine demokratische Legitimation von jedem zu for- dern, der Herrschaft und Regierungsmacht beansprucht? Zeigt nicht jüngst Chinas Aufstieg, dass autoritäre Füh- rungen erfolgreich sein können? Wie steht es um die demokratische Realität in der Europäischen Union? Die lungen in die betroffenen Gesellschaften abgewogen hat- Liste lässt sich beliebig erweitern. ten. Es war gerade der Mangel demokratischer Checks and Betrachten wir einige dieser Argumente und beginnen Balances, der die politische und militärische Führung vie- mit dem Wert der Geschichte. Warum können wir aus der ler Staaten, besonders auch des Deutschen Kaiserreichs, Vergangenheit lernen? Eine Antwort kann jeder rasch in über Jahrzehnte mit einem Tunnelblick ohne parlamenta- der eigenen Familiengeschichte finden, sofern er sich über rische Einspruchsmacht ihre Außenpolitik betreiben ließ. die Lebensumstände der Vorfahren informiert. Es genügt, Um dies zu verstehen, hilft ein Blick auf die Weltbilder zweihundert oder hundert Jahre zurückzudenken und auf und Motive derjenigen, die seinerzeit über Krieg und Frie- den Alltag der ganz überwiegenden Zahl der Menschen in den entschieden. Den Unterschied zur demokratischen jenen Jahren 1821 und 1921 zu blicken: Kindersterblich- Gegenwart kann jeder sehen, der möchte. Einsichten und Perspektiven 2 | 21 5
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt Klassenkämpfe unabweisbar in die von Marx und Lenin projizierte Richtung lauf – und schließlich mit ihrem Sieg als Erlösung enden werde. Das glaubten Millionen und hängten ihr Leben daran. Die Anhänger faschistischer Bewegungen dagegen beschworen den Kampf der Nationen und Völker als ewiges Gesetz, in dem man entweder zu den Gewinnern zählte oder abstieg. Die Vorstellung eines geregelten, gar friedlichen Nebeneinanders in Verschiedenheit wurde als naive Illusion abgetan. In Europa existierten von 25 Demokratien des Jahres 1919 im Jahr 1938 nur noch elf. In Deutschland präsentierte sich Hitler als Missionar der Behauptung, das Bewegungsgesetz der Geschichte im Rassenkampf gefunden zu haben. Auch dieses Erlösungs- versprechen glaubten Millionen. Im Unterschied zu unse- ren Vorfahren wissen wir, was daraus folgte. Oft folgt hier das nächste „Aber…“. Denn es waren nicht nur Demokratien, die den Nationalsozialismus besiegten, sondern in hohem Maße die Streitkräfte der Sowjetunion. Als Argument gegen die Demokratie ist diese Feststellung allerdings nicht brauchbar. Denn die Nationalsozialisten und der europäische Faschismus leb- ten gegen alle anderen Regierungsformen. Das Nieder- ringen lag im Interesse aller Gegner. Die Gemeinsamkei- ten der Alliierten gegen Hitler endeten rasch, als dessen Vernichtungsdrohung abgewehrt war und die Grund- frage nach dem Ordnungsmodell für die Nachkriegszeit – parlamentarische Demokratie oder Sowjetherrschaft – aufgeworfen wurde. Die Rutenbündel (Fasces), Zeichen der Amtsgewalt von hohen Beamten Hier spielte neu die „Allgemeine Erklärung der Men- im Alten Rom, hier zu sehen am Marcellus-Theater in Rom. Beil und schenrechte“ hinein, beschlossen von der Generalver- Ruten symbolisierten die Macht, körperliche Strafen und die Todesstrafe zu verhängen. Häufig wird davon ausgegangen, dass der Begriff „Faschis- sammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948. mus“ etymologisch mit den altrömischen „Fasces“ zusammenhängt. Diese Sie hielt als Einsicht fest, dass „die Anerkennung der ange- waren beliebte Symbole für Staat und Militär in der Zeit des italienischen Faschismus. borenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Foto: Lalupa, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Wer um sich blickte, sah, dass „die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt“ hatte, weshalb es „not- wendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Mit dem Blick in die Geschichte können wir zudem Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen erkennen, welche Folgen die seinerzeit propagierten Ord- wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und nungsmodelle auf das 20. Jahrhundert hatten. Wer vor Unterdrückung zu greifen“. hundert Jahren im Schatten der Weltkriegserfahrungen Hier ist in der Regel das nächste „Aber …“ zu verneh- lebte und erschüttert nach Orientierung suchte, dem men. Denn die Menschenrechte waren auch in demokra- präsentierten sich gleich mehrere neue Heilsversprechen: tischen Staaten keineswegs überall oder gar vollständig Unter der Führung der Sowjetunion beschworen Kom- durchgesetzt. Dies galt für den Umgang der europäischen munisten den historischen Materialismus als Gesetz der Mächte mit ihren ehemaligen Kolonien. Und es galt für Geschichte. Sie waren überzeugt, dass ein Weltgesetz der einen weiterhin unvollkommenen Alltag in vielen Län- 6 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt Eleanor Roosevelt mit der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen, 9. Dezember 1948 Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Amerika Haus dern, etwa die Diskriminierung ethnischer oder sozialer bau sozialer Sicherung über Arbeitnehmerrechte bis zu Gruppen. Dies gilt mancherorts bis heute. den Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für viele Teile Wer aber auf das Jahr 1948 als Maß blickt und die Jahr- der Bevölkerung, die vor hundert Jahren ausgeschlossen zehnte und Jahrhunderte davor zum Vergleich nimmt, waren von höheren Schulen oder gar einem Studium. Vor wird schwerlich leugnen können, dass Fortschritte real allem aber: Demokratien bevorzugen friedlichen Wettbe- waren – im Bewusstsein ebenso wie im realen Willen zur werb statt riskanter außenpolitischer Abenteuer. Sie ver- Durchsetzung. Ein Beispiel ist der Wandel des Menschen- trauen darauf, dass auch die Bewohner anderer Länder, bildes von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sofern sie frei und informiert entscheiden können, kein bis zur UNO-Deklaration. Während 1776 „all men are Interesse daran haben, ihre Söhne und Töchter in Kriege created equal“ zwar historisch revolutionär klang, aber tat- zu senden, die sie nicht als überlebensnotwendig ansehen. sächlich vor allem weiße Männer meinte, ist die Vorstel- Die Geschichte der Europäischen Union ist Beispiel lung 1948 grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen und Beleg dieser Erfahrungskumulation: Im Licht der gedacht – als Anspruch und Ziel. Eindrücke aus der Zeit vor 1945 wandelte sich hier der Und wer die Jahre seither analysiert, kann ebenfalls anarchische Machtwettbewerb, in dem Kriege als ultima- erkennen, dass sich die Rechte und Lebensbedingungen tives Mittel stets präsent waren, zu einer durch Regeln und der Menschen in demokratischen Staaten enorm entwi- Institutionen an Frieden gebundenen Konkurrenz. Der ckelt haben. Die realen Fortschritte in der Alltagswelt der Wirtschaftswettbewerb blieb als Wesen der Konkurrenz Nachkriegszeit lassen sich mühelos aufzählen: vom Aus- lebendig, aber er bewahrte Freiheit und generierte Wohl- Einsichten und Perspektiven 2 | 21 7
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt entwicklungsfähig für neue Ordnungsmodelle denken. Das ist kein Automatismus, sondern muss laufend neu verhandelt und legitimiert werden. Demokratische offene Gesellschaften scheuen dies nicht, sie wissen um die stabi- lisierende Kraft solcher Prozesse. Zugleich erwies sich die parlamentarische Demokratie im Kalten Krieg des Systemwettbewerbs mit dem Sowjet- modell als glaubwürdig, resilient und lernfähig. Und auch nach dessen Ende 1990 haben sich andere Ordnungsmo- delle, ob diktatorisch, ideologisch oder religiös motiviert, in keiner Weise als überlegen erwiesen, wenn es darum geht, Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu ermöglichen. Hier folgen in der Regel das nächste „Aber …“ und der Verweis auf die bisweilen erbitterten politischen Gra- benkämpfe in demokratischen Staaten, die Wahlerfolge populistisch-nationalistischer Bewegungen nicht nur in Europa sowie den globalen Aufstieg der autoritär geführ- ten Volksrepublik China. Zunächst ist daran richtig: Wir stehen in einem globa- len Wettbewerb. Ob wir wollen oder nicht. Eine insulare Glückseligkeit kann es nicht geben. Wenn wir meinen, diese Einsicht beiseite schieben zu können, werden uns die Konsequenzen der Ignoranz einholen. Im wirtschaftlichen Wettbewerb ist das bereits offen- sichtlich: Die Volksrepublik China hat sich über die ver- gangenen drei Jahrzehnte als verlockender Markt angebo- ten und im Gegenzug vom Austausch so enorm profitiert, Die Römischen Verträge, 1957: Fundament für die zunächst wirtschaft- dass das Land inzwischen selbst zu den führenden Techno- liche Zusammenarbeit in Europa logienationen zählt. Die Hoffnung allerdings, dass Wirt- Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/UPI schaftskooperation und Wohlstandsentwicklung auch zu einer offeneren Gesellschaft und einem freiheitlichen poli- tischen System beitragen, erweist sich als Illusion. Das Gegenteil drängt sich auf: Mit Verweis auf die Erfolge des Aufstiegs reklamiert die Kommunistische Par- stand, weil sich alle gleichermaßen auf akzeptierte Grund- tei Chinas eine Überlegenheit ihres Ordnungsmodells. Mit sätze verständigten und Kompromisse als Lebensmodus zunehmender wirtschaftlicher Stärke meint sie inzwischen übten, statt Vorteile auf Kosten anderer, womöglich durch sogar, ihre rechtlichen Zusagen als unverbindlich abtun gewaltsame Konflikte, zu suchen. Die Erfahrungen för- zu können. Mit Blick auf Hongkong hat die Volksrepu- derten einen Mentalitätswandel, der Kriege als Mittel blik den 1997 auf fünfzig Jahre geschlossenen Vertrag mit innereuropäischer Konfliktlösung weithin undenkbar Großbritannien inzwischen gebrochen. Das militärische macht. So löste sich in weiten Teilen Europas die Idee des Auftreten im südchinesischen Meer, die Ansprüche Rich- Nationalstaates vom Nationalismus. „Nationales Inter- tung Arktis, insbesondere aber das Auftreten gegenüber esse“ definiert sich heute weithin als „rationales Interesse“. Taiwan zeigen: Hier agiert ein Machtstaat, der globale Der Nationalstaat ist damit nicht obsolet, aber er bietet Herrschaftsansprüche formuliert und dabei für sich in nun vor allem ein historisch neu geübtes, vom Nationa- Anspruch nimmt, nach eigenen Gesetzen und Prinzipien lismus entflochtenes Ordnungsmodell. Wir müssen den zu handeln, die niemanden „von außen“ etwas angehen. eigenen Staat nicht auf Leben und Tod in Konkurrenz mit Entsprechend folgt hier in der Regel das nächste anderen sehen, sondern können ihn als anschluss- und „Aber …“: Mit welchem Recht kritisieren „wir“ die chine- 8 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt Demonstrant*innen versuchen in der chinesischen Botschaft in Den Haag eine Petition über die Menschenrechte der Uiguren zu überreichen. Foto: picture alliance/ ANP/Fotograf: Sem van der Wal sische Führung für dieses Verhalten? Die Antworten erge- Recht. Und jeder darf es für sich fordern. Das schließt ein, ben sich aus zwei Gründen. Erstens außenpolitisch: Es in geregelten Verfahren frei entscheiden können, in wel- geht es uns sehr wohl etwas an, wenn ein Staat internatio- cher Form er oder sie regiert werden möchte, und die Frei- nales Recht missachtet und Herrschaftsansprüche auf Ter- heit zu haben, sich zur Wahl zu stellen. Wenn eine Regie- ritorien außerhalb seines Staatsgebietes erhebt, von denen rung behauptet, es gebe in „ihrer“ Kultur kein solches keinerlei Drohung gegen ihn ausgeht. Solche Ansprüche Recht, dann dürfen wir fragen, was die Menschen, denen sind weder durch freie Wahlen der Betroffenen begründet dieses Recht abgesprochen wird, selbst dazu sagen. Wer noch von einem legitimen Recht auf Selbstverteidigung behauptet, in „seiner“ Kultur müsse er nicht fragen, müsse gedeckt. Wir haben keinen Anlass, dergleichen schulter- sich nicht legitimieren lassen, der missachtet die Freiheit zuckend zu dulden. des Menschen und degradiert ihn zum Objekt. Eine sol- Die zweite Antwort hat bereits 1854 Abraham Lincoln che Argumentation bedeutet im Umkehrschluss: Es geht formuliert: „Kein Mensch ist gut genug, einen anderen nicht länger um legitime Herrschaft, sondern allein um Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren.“ Sie gilt die Möglichkeit der Macht. In einer solchen Welt könnte für alle Menschen. Die Rechte eines Menschen sind seine, sich jeder mit demselben „Recht“ auf Herrschaftsansprü- ganz gleich, an welchem Ort, in welcher Familie, in wel- che berufen und seine eigene „Kultur“ zur Begründung cher Kultur er oder sie geboren wird. Es ist keine „westli- anführen. Wir kennen auch dies aus der Geschichte. Der che“ Erfindung, wenn wir als Menschen dieses Recht auf europäische Kolonialismus suchte mit ähnlichen Argu- Selbstbestimmung feststellen. Jeder Mensch hat dieses menten seine Herrschaftsansprüche zu begründen. Wer Einsichten und Perspektiven 2 | 21 9
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt folglich behauptet, die individuellen Menschenrechte aus nationalistische Diskriminierungspolitik, in der Wis- „kulturellen“ Gründen nivellieren zu können, dem könnte senschaftsfreiheit und die freie Öffentlichkeit attackiert dies Argument jederzeit selbst entgegengehalten werden. werden, während das Land einen erheblichen Teil seiner Es bliebe eine reine Machtfrage. Wer dies zu Ende denkt, Wirtschaftsleistung den Subventionen der Europäischen landet geradewegs im Sozialdarwinismus und dem Kampf Union – und damit dem Erfolg von dessen Prinzipien und aller gegen alle. Freiheiten – verdankt. In Polen schraubt die nationalisti- Schließlich ein letztes „Aber …“ über die Schwächen sche PiS-Regierung Freiheiten zurück, die im Vierteljahr- traditioneller Demokratien im Lichte der Erfolge eines hundert zuvor jenen Wirtschaftsboom generiert haben, lügenhaften Populismus. der den aktuellen Machthabern erst jene Mittel in die Bis zum Ende des Kalten Krieges zeigten sich die Hand gibt, um mit Wahlgeschenken und Sozialleistungen Demokratien in Europa und Nordamerika nicht zuletzt ihre Wählerklientel zu bedienen. Auch in Deutschland deshalb stabil und wehrhaft, weil die Alternative des kom- zeigen sich antidemokratische Stimmungen. Wer etwa munistischen Herrschaftsmodells mit ihren Konsequen- behauptet „Wir sind das Volk“, dem sei gesagt: „Zeig‘ uns zen für den Einzelnen täglich vor Augen stand. Deine Wählerinnen und Wähler!“ Eine Generation später ist die Erinnerung an diese Wenn wir folglich historische Erfahrungen ernst neh- Zeit offensichtlich verblasst. Wer nach 1990 erwachsen men und Revue passieren lassen, dann können wir sehen: wurde, konnte beim Blick auf die Weltkarte eine bunte Die Natur des Menschen kennt keine „automatischen“ Zahl von Ordnungsmodellen entdecken, die allesamt oder vorgegebenen politischen Ordnungsstrukturen. Die irgendwie nebeneinander existierten. Das Bewusstsein für Geschichte kennt keinen Determinismus und keinen die Grundlagen der eigenen demokratischen Gesellschaft zwingenden Weg. Der Mensch ist frei, sich eine Ordnung konnte darin leicht verschwimmen. Gleichgültigkeit und zu schaffen, in der er mit anderen Menschen leben möchte. die Geringschätzung historisch-politischer Bildung bieten Entscheidend bleibt, diese Freiheit für alle gleichermaßen gerade in offenen Demokratien Einfallstore für Verschwö- offen zu halten. Parlamentarische Demokratien bieten rungsmärchen und die Propagandisten vermeintlich ein- und stabilisieren diese Chancen. Demokratische Gesell- facher Lösungen. In den Vereinigten Staaten konnte es schaften sind Verhandlungsräume aktiven menschlichen einem reichen Erben und Fernseh-Unterhalter wie Donald Zusammenlebens über Zeit. Partizipation bedeutet folg- Trump gelingen, über den populistischen Markenkern des lich mehr als nur das Recht auf Wahl alle paar Jahre. Anti-Politikers bis ins Weiße Haus zu gelangen. Trump ist Alle Menschen bleiben aufgerufen, die Grundwerte ihrer das Symptom einer über Jahrzehnte politisch polarisier- Gesellschaft zu reflektierten. Demokratie konstituiert sich ten Gesellschaft, die das Nachdenken über ihre Grund- mithin über das Engagement und die freiwillige Beteili- lagen vernachlässigt. Wer aber erschrickt, dass ein noto- gung möglichst vieler Menschen in öffentlichen Diskus- rischer Lügner und selbstverliebter Egozentriker derart sionen und dem Prozess der politischen Willensbildung. viele Anhänger und Wahlen gewinnt, sieht zugleich die Partizipation ist ein dauerhafter Prozess, eine Herausfor- Herausforderung demokratischer Prozesse: Dergleichen derung für alle, die in einer Gesellschaft leben. Es liegt im ist in freien Wahlen jederzeit möglich. Entscheidend ist, Interesse jedes Menschen, dies zu wollen. wie die Gesellschaft reagiert. Die Mehrheit der Menschen Zugleich ist es historisch weder neu noch überra- weiß aus persönlichem Erleben, dass Lügen und Unbe- schend, wenn politische Einzelgruppen oder Personen rechenbarkeit zu Konfrontation, Spaltung und potenti- behaupten, die Unsicherheiten der modernen Welt auto- ell zu Gewalt führen. Die Mehrheit möchte auch nicht ritär steuern und gleichsam allmächtig lösen zu können. notorisch belogen und übervorteilt werden. Sofern sie frei Das zwanzigste Jahrhundert war von Ideologien geprägt, verhandeln und entscheiden kann, wird sie die Sicherheit die versprachen, die komplexe Welt der Moderne ein für fester Regeln und die Akzeptanz von Normen einem poli- alle Mal zu lösen. Wir wissen: Diesen einfachen Schlüssel tischen Hasardspiel vorziehen. Die jüngsten Wahlen in gibt es nicht. Wenn wir diese Erfahrung aus den Augen den Vereinigten Staaten reflektieren diese Ausgleichskraft. verlieren, kehren ideologische Versprechen und Ansprü- Trumps Niederlage zeigt die Vitalität und Resilienz offe- che mit Macht zurück. Ob es sich um die KP Chinas han- ner demokratischer Gesellschaften, ohne dass die fortdau- delt, den russischen Präsidenten oder den türkischen, die ernden Gefährdungen damit aufgehoben wären. Führer nationalistischer Religionen wie im Iran – sie alle Wir haben in Europa unsere eigenen Herausforderun- repräsentieren Ordnungsmodelle, die der freien demo- gen. In Ungarn betreibt Ministerpräsident Orbán eine kratischen Gesellschaft mit ihren Errungenschaften und 10 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Warum Demokratie? Über die Kraft, die aus Mündigkeit und Teilhabe kommt Zaq Landsberg „Lady Liberty“ im Morningside Park in Harlem, New York, zu sehen bis voraussichtlich 2022 Foto: picture alliance/ZUMAPRESS.com/Foto: Debra L. Rothenberg Möglichkeiten widersprechen. Wir können diesem Wett- bewerb nicht entkommen. Aber wir können auf die histo- rische Erfahrung bauen, dass freie Gesellschaften, die die Hörtipp Vielfalt ihrer Talente in Rechtstaatlichkeit und Freiheit sichern, resilient und wettbewerbsfähig sind. Mag sein, Ein ausführliches Interview mit Prof. Magnus dass wir uns stärker wappnen müssen für Machtkonfron- Brechtken zu diesem Thema können Sie sich hier tationen. Im Interesse unserer Freiheit haben wir keine anhören: Wahl, als uns dieser Herausforderung zu stellen. Wir soll- www.blz.bayern.de/meldung/hoersaal-ep.html ten dabei durchaus darauf vertrauen, dass wir dies nicht nur aus Eigeninteresse tun. Auch jene, denen diese Frei- heiten noch verwehrt sind, erwarten mit Recht, dass wir nicht aufgeben. Prof. Magnus Brechtken Foto: IfZ München/Berlin Einsichten und Perspektiven 2 | 21 11
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 AUSBLICK AUF DIE BUNDESTAGSWAHL 2021 von Volker Best Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer letzten Regierungserklärung am 24. Juni 2021 im Bundestag Foto: picture alliance/Flashpic/Fotograf: Jens Krick 12 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 Am 26. September 2021 findet die 20. Bundestagswahl statt. Doch welche Faktoren werden ihren Ausgang beeinflussen? Was für eine Regierung wird anschließend gebildet werden, und wer tritt die Nachfolge Angela Merkels im Kanzleramt an? Diese Fragen sollen im Folgenden beleuchtet werden. Erklärungsansätze für das Wahlverhalten Die Politikwissenschaft kennt drei große Erklärungsansätze für das Wähler*innenverhalten. Der soziolo- gische Ansatz hebt auf die Zugehörig- keit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ab. Diese haben allerdings an Erklärungskraft eingebüßt. Zwar stimmten 2017 etwa katholische regel- mäßige Kirchgänger*innen immer noch zu 64 Prozent für die Union und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen zu 39 Prozent für die SPD.1 Aber sowohl die Größe dieser Kernwähler*innengruppen als auch deren Treue zu der jeweiligen Partei haben abgenommen. Das trägt neben anderen Faktoren zum Niedergang der (einstigen) Volksparteien bei. Die Grafik: Sinus-Institut Gesellschaft zerfällt in immer mehr und kleinere Teilmilieus. Das Sinus- Institut etwa unterscheidet nach sozi- aler Lage und Lebensstil nicht weni- ger als zehn Milieus, von denen das größte 15 Prozent der Der zweite Erklärungsansatz ist die rationale Wahl Bevölkerung repräsentiert.2 Die Stärke der verschiedenen gemäß einm individuellen Kosten-Nutzen-Kalkül auf der Parteien variiert zwischen diesen Milieus zwar deutlich. Grundlage möglichst vollständiger Information. Dieser In keinem Milieu hatte allerdings irgendeine Partei 2017 Ansatz überschätzt allerdings die Bereitschaft der meis- die Mehrheit.3 ten Bürger*innen, sich mit politischen Informationen zu beschäftigen. Außerdem kann er nicht erklären, warum Menschen überhaupt an Wahlen teilnehmen oder sich für 1 Vgl. Bernhard Weßels: Wahlverhalten sozialer Gruppen, in: Sigrid Kleinstparteien ohne Chance auf einen Parlamentseinzug Roßteutscher u. a. (Hg.): Zwischen Polarisierung und Beharrung. Die Bun- entscheiden. destagswahl 2017, Baden-Baden 2019, S. 189-206, hier S. 198. Der dritte, sozialpsychologische Ansatz geht auch von 2 Vgl. https://www.sinus-institut.de/sinus-milieus/sinus-milieus-deutsch- land [Stand: 04.07.2021]. einer individuellen Meinungsbildung aus, für die allerdings 3 Vgl. Robert Vehrkamp/Klaudia Wegschaider: Populäre Wahlen. Mobilisie- die längerfristige Parteiidentifikation der Wähler*innen rung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestags- eine wichtige Rolle spielt. Diese ist laut dem einfluss- wahl 2017, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/ Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_Bundestags- reichsten Modell einer von drei Faktoren, an denen sich wahl_2017_01.pdf, S. 33 [Stand: 04.07.2021]. die Bürger*innen bei ihrer Stimmabgabe orientieren. Die Einsichten und Perspektiven 2 | 21 13
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 anderen beiden Faktoren sind kurzfristiger Art: die politi- pathie einbezog und insofern striktere Maßstäbe anlegte, schen Sachfragen und die Spitzenkandidat*innen.4 fand eine starke Affinität zur CDU/CSU bei 20 Prozent, zu den Grünen bei 15 Prozent, zur SPD bei zehn Prozent, Wichtigster Faktor: Parteiidentifikation zur Linken bei fünf Prozent, zur AfD bei vier Prozent und zur FDP bei zwei Prozent der Wähler*innen.9 Hierin spie- 2017 gaben 57 Prozent das Programm, 24 Prozent die geln sich die Entwicklungen des Parteiensystems seit der Kandidat*innen und 17 Prozent die langfristige Parteibin- letzten Bundestagswahl. dung als entscheidend für ihre Wahl an.5 Diese Selbstaus- künfte darf man allerdings nicht für bare Münze nehmen. Niedergang der Volksparteien in der wiederauf Bei Meinungsumfragen ist immer in Rechnung zu stellen, gelegten Großen Koalition dass die Teilnehmer*innen sich oft für eine Antwort ent- scheiden, von der sie annehmen, dass sie sozial erwünscht Schon wenige Monate nach der Regierungsbildung sei, und Antworten meiden, die sie für sozial unerwünscht brach die Spaltung der Unionsparteien über die Mig- halten. In diesem Fall dürfte das Idealbild wohlinformier- rationspolitik wieder auf, als Horst Seehofer die Frakti- ter und anspruchsvoller Wähler*innen dafür sorgen, dass onsgemeinschaft von CDU und CSU wegen des nach- die Bedeutung der Programmatik deutlich überzeichnet rangigen Problems der Zurückweisung von Flüchtlingen und die Orientierung an Spitzenkandidat*innen und vor an der Grenze in Frage stellte. Bei den bayerischen und allem an langfristigen Parteibindungen deutlich herun- hessischen Landtagswahlen im Oktober 2018 verloren tergespielt wird. Tatsächlich weisen statistische Analy- CSU und CDU jeweils über zehn Prozentpunkte. Dies sen des Wahlverhaltens 2017 die Parteiidentifikation als führte zum Rücktritt Seehofers und Angela Merkels als wichtigsten Faktor aus.6 Zudem werden die kurzfristigen Parteivorsitzende. Bei der CSU konnte sich Markus Faktoren – also Sachfragen und Kandidat*innen – von Söder nicht nur im Ministerpräsidentenamt halten, son- den Bürger*innen stark durch ihre jeweilige „Parteibrille“ dern zusätzlich den Parteivorsitz übernehmen. Annegret wahrgenommen. Die relative Bedeutung der Faktoren Kramp-Karrenbauer blieb an der Spitze der CDU nicht variiert aber auch von Wahl zu Wahl und ebenso zwischen genügend Raum zur eigenen Profilierung neben der wei- den einzelnen Parteien. So spielte Angela Merkel für die ter amtierenden Kanzlerin Merkel. Durch Fehler etwa Unions-Wähler*innen bei den letzten Bundestagswahlen in Reaktion auf das „Zerstörung der CDU“-Video des eine deutlich größere Rolle als die politischen Inhalte der Youtubers Rezo vor der Europawahl schwand ihre Auto- Partei, während die SPD-Wähler*innen ihre Entschei- rität zusätzlich. Nachdem es ihr nicht gelungen war, den dung vorwiegend wegen der inhaltlichen Forderungen thüringischen Landesverband infolge der Wahl des FDP- und kaum wegen der Spitzenkandidaten trafen.7 Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich zum Minister- Die Parteiidentifikation in der Bevölkerung ist seit den präsidenten mit Stimmen der CDU und der AfD wie- 1970er Jahren rückläufig. Der Anteil der Wahlberechtig- der auf Linie zu bringen, kündigte Kramp-Karrenbauer ten ohne Parteibindung hat sich von der zweiten Hälfte ihren Rücktritt an, musste aber noch fast ein Jahr weiter der 1970er Jahre bis 2019 auf 38 Prozent verdoppelt.8 amtieren, weil sich die Wahl eines Nachfolgers aufgrund Eine auf Umfragen im zweiten Halbjahr 2020 fußende der Corona-Pandemie hinauszögerte. Studie, die zusätzlich die Wahlabsicht und die Parteisym- Die SPD, die sich nach dem Scheitern der Sondie- rungen zu einer Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen in einem quälenden innerparteilichen Prozess10 4 Vgl. Angus Campbell u. a.: The American Voter, New York/London 1960. 5 Vgl. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2017-09-24-BT-DE/umfra- ge-kandidat.shtml [Stand: 04.07.2021]. 9 Vgl. Jochen Rose: Lebensstilvielfalten vor der Bundestagswahl 2021. Eine 6 Vgl. Philipp Scherer: Die Wahlentscheidung in der Gesamtschau, Roßteut- repräsentative Umfrage zu Lebensstilen und Wahlverhalten, hg. v. d. Kon- scher u. a. (wie Anm. 1), S. 345-355. rad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2021, S. 39-45. Die Affinität zur AfD dürfte 7 Für 2013 vgl. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2013-09-22-BT- allerdings in der Studie unterschätzt worden sein, da die hier für die AfD DE/umfrage-kandidat.shtml [Stand: 04.07.2021]. gemessene Wahlabsicht (5 Prozent) deutlich unter den im Erhebungszeit- raum bei der „Sonntagsfrage“ ausgewiesenen Werten lag. 8 Vgl. Oskar Niedermayer: Corona und das Parteiensystem. Eine Zwischen- bilanz, in: Politische Parteien in der modernen Demokratie. Beiträge zur 10 Vgl. Volker Best: Horror GroKoi. Die SPD-interne Debatte um die Große politischen Bildung, hg. v. Robert Grünewald/Sandra Busch-Janser/Me- Koalition nach der Bundestagswahl 2017, in: regierungsforschung.de, 7. lanie Piepenschneider, hg. v. d. Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2020, Dezember 2018, https://regierungsforschung.de/horror-grokoi [Stand: S. 285-293, hier S. 285 f. 04.07.2021]. 14 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 Historische Wahlplakate zur Bundestagswahl 1961 in einer Ausstellung Youtuber Rezo bei einer Veranstaltung des Evangelischen Schulreferats im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn 2020 Düsseldorf 2019 Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Ulrich Baumgarten Foto: picture alliance/dpa/Fotograf: Henning Kaiser 2017/18 doch zu einer Fortführung der Großen Koalition zu überwinden, verpuffte öffentlich. Auch an der Spitze durchgerungen hatte, verlor, wie es die Skeptiker*innen der SPD kam es mehrfach zum Wechsel: Im Februar vorausgesagt hatten, ausgehend von ihrem schlechtesten 2018 trat der ehemalige Kanzlerkandidat Martin Schulz Bundestagswahlergebnis, in den Umfragen noch weiter zurück, im Juni 2019 seine Nachfolgerin Andrea Nahles. an Terrain. In den Koalitionsverhandlungen hatte sich Die Partei entschied daraufhin, erstmals eine geschlech- die Partei nämlich zwar bezüglich der Ämterverteilung, terparitätische Doppelspitze per Urwahl zu küren. Dabei kaum aber bezüglich ihrer zentralen inhaltlichen Forde- setzte sich im November 2019 überraschend das von rungen durchsetzen können. Zudem vermochte sie kein den Jusos unterstützte Duo aus dem ehemaligen NRW- eigenständiges Parteiprofil abseits ihrer Juniorrolle in der Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundes- Großen Koalition zu entwickeln. Selbst die Einigung, tags-Digitalpolitikerin Saskia Esken durch und brachte die für das Selbstverständnis der Partei traumatische Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz damit eine Hartz-IV-Politik mit einem neuen Sozialstaatskonzept empfindliche Niederlage bei. Dies gelang wohl vor allem Einsichten und Perspektiven 2 | 21 15
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 durch eine kritische Haltung gegenüber der Großen verbreitete Aufbruchstimmung mit einer Verdoppelung Koalition und das Versprechen, diese vorzeitig zu ver- ihrer Umfragewerte gegenüber dem Bundestagswahler- lassen, falls sich nicht einige zentrale Anliegen der Par- gebnis belohnt worden und an der SPD vorbeigezogen. tei in Nachverhandlungen durchsetzen lassen sollten. Nun schlossen sie mit deutlich über 20 Prozent phasen- Diese Profilierungschance verstrich aber ungenutzt, da weise zur Union auf.12 Auch die FDP, die nach der Kem- die neue Parteiführung vor einer Kraftprobe mit der merich-Wahl in den Umfragen der Fünfprozenthürde pragmatischeren Fraktion zurückschreckte. Rechtzeitig gefährlich nah gekommen waren, erlebte zuletzt wieder zur im Koalitionsvertrag als Sollbruchstelle verankerten einen demoskopischen Aufschwung und rückte in Schlag- Halbzeitbilanz der Koalition gab die Union beim Streit- weite zur SPD. Die Freien Demokraten konnten hierbei thema Grundrente nach. Durch den infolgedessen posi- von ihrem Alleinstellungsmerkmal als zwar die Gefähr- tiven Tenor der Halbzeitbilanz kettete sich die SPD noch lichkeit des Corona-Virus nicht leugnende, aber dennoch fester an die Union; mit der Corona-Pandemie war die für Lockerungen eintretende Partei profitieren und ihren Option eines vorzeitigen Ausbruchs aus der Koalition Wirtschafts- mit dem zuvor oft weniger präsenten Bürger- dann endgültig vom Tisch. rechtsliberalismus kombinieren. Die AfD und Die Linke, In Krisen schlägt die Stunde der Exekutive. In der zwei- die beide unter Richtungsstreitigkeiten litten, verloren ten April-Hälfte 2020 stieg die Regierungszufriedenheit demgegenüber an Zuspruch. auf den mit Abstand höchsten Wert seit der deutschen Die Linke lag in den Umfragen zuletzt nurmehr bei Einheit.11 Dieser Krisenbonus ging allerdings an der SPD sechs bis sieben Prozent. Selbst wenn sie aber bei der trotz Ressortzuständigkeit für Finanzen, Arbeit und Sozi- Bundestagswahl unter der Fünfprozenthürde landen ales sowie Familien komplett vorbei und kam einseitig sollte, könnte sie gemäß ihrem Zweitstimmenanteil in der Union zugute, die zweistellig zulegte und in Umfra- den Bundestag einziehen, sofern sie es wieder schafft, gen an die 40-Prozent-Marke heranreichte. Von diesen im mindestens drei Direktmandate zugewinnen (soge- fragmentierten deutschen Parteiensystem kaum noch für nannte „Grundmandatsklausel“). Weniger Parteien dürf- möglich erachteten Werten ging es dann allerdings auch ten insofern nicht im neuen Bundestag vertreten sein. schnell wieder zurück auf das Ausgangsniveau, als Pannen Im Gegenteil könnte sich das politische Spektrum im und Geldverschwendung in der Corona-Politik offenbar Parlament noch erweitern. So werden die Freien Wäh- wurden und herauskam, dass mehrere Unions-Abgeord- ler (FW), die nach Bayern zuletzt auch den Einzug in nete sich mit der Vermittlung von Schutzmasken persön- die Landtage von Brandenburg und Rheinland-Pfalz lich bereichert hatten. Insgesamt dürften Union und SPD schafften, in Umfragen zum Teil bereits bei drei Prozent dennoch von der Pandemie profitiert haben, da sie der gesehen. Des Weiteren tritt erstmals seit 1961 wieder Großen Koalition, die kaum noch gemeinsame Vorhaben der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) für den aufwies und vor allem durch permanenten Streit auffiel, Bundestag an. Als Vertreter der dänischen und friesi- eine Daseinsberechtigung für den Rest der Legislaturpe- schen Minderheit in Schleswig-Holstein ist er von der riode gab und das Thema Klimaschutz vorläufig von der Fünfprozenthürde ausgenommen und muss nur so viele Agenda verdrängte. Zweitstimmen sammeln, wie einem Sitz im Bundestag entsprechen. Da die Wahlsystemreform der Großen Entwicklung der Oppositionsparteien Koalition kaum verhindern dürfte, dass die Größe des Bundestags abermals erheblich über der gesetzlichen Mit der Klima-Thematik war im Zuge der weltweiten Abgeordnetenzahl von 598 liegt, würde es für einen „Fridays for Future“-Protestbewegung ab März 2019 SSW-Vertreter reichen, wenn die Partei ungefähr so viele ein Problem in den Fokus gerückt, für das den Grünen Stimmen erhalten sollte wie bei der letzten schleswig- bevölkerungsseitig mit Abstand die größte Kompetenz holsteinischen Landtagswahl. zugemessen wird. Diese waren schon zuvor für ihr kons truktives Agieren in den Jamaika-Verhandlungen und die von dem harmonisch zusammenwirkenden neuen Füh- rungsduo aus Annalena Baerbock und Robert Habeck 12 Vgl. Lothar Probst: Bündnis 90/Die Grünen. Grüne Erfolgswelle nach ent- täuschendem Wahlergebnis, in: Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, hg. v. Uwe Jun und Oskar Niedermayer, Wiesbaden 2020, S. 187- 11 Vgl. Niedermayer (wie Anm. 8), S. 289. 220, hier S. 204 ff. 16 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 Eine Fridays for Future-Demonstration Anfang Juli 2021 in Bonn Foto: ullstein bild/Unkel Kandidat*innen ohne Kanzlerbonus frühzeitigem Verzicht auf eine erneute Kandidatur ein offeneres Rennen in der Personalfrage an. Die Bundestagswahl 2021 ist die erste ohne Kanzler- Dies war natürlich ganz im Sinn der SPD, die als erste bonus, da Angela Merkel nach 16 Jahren nicht wieder Partei Klarheit über ihren Kanzlerkandidaten schaffte, antritt, ihren Platz im Kanzleramt aber auch nicht vorzei- indem sie mehr als ein Jahr vor der Wahl Olaf Scholz tig für eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger geräumt nominierte. Mit eher späten und dann überstürzten hat. Diese Option war ihr schon deswegen versperrt, weil Nominierungen hatte die Partei bei den letzten Bundes- die SPD zu Beginn der Koalition angekündigt hatte, tagswahlen schlechte Erfahrungen gesammelt. Zudem einen Wechsel im Kanzleramt während der Legislaturpe- fehlte es an ernstzunehmenden personellen Alternativen. riode nicht mitzutragen.13 Nachdem Merkel bei den Bun- Die neue Parteispitze hatte kurz versucht, den neuen Frak- destagswahlen 2009, 2013 und – nach dem vorzeitigen tionsvorsitzenden Rolf Mützenich in Stellung zu bringen, Abklingen des „Schulz-Hypes“ – ihre SPD-Herausforde- der aber wie sie selbst in der breiten Bevölkerung zu wenig rer hinsichtlich der Popularität deutlich auf den zweiten bekannt ist. In dieser Gemengelage machte es mehr Sinn, Platz hatte verweisen können, kündigte sich mit Merkels durch Geschlossenheit zu punkten zu versuchen. Durch die Abkehr von der „schwarzen Null“ beim Haushalt in der Corona-Krise war Scholz überdies näher an den linken 13 Vgl. Frank Decker: Parteienlandschaft in Zeiten von Corona. Ein Ausblick auf die Bundestagswahl 2021, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 69 Parteiflügel herangerückt. Nicht zuletzt musste der SPD (2020), H. 4, S. 483-492, hier S. 484. angesichts der Umfragelage daran gelegen sein, durch das Einsichten und Perspektiven 2 | 21 17
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 („Wirecard“-Skandal“) als auch in Hamburg („Cum-Ex“- Skandal der „Warburg Bank“) Untersuchungsausschüssen stellen. Hinzu kamen jüngst Vorwürfe, Scholz habe Perso- nalressourcen des Finanzministeriums zur Erarbeitung des SPD-Steuerkonzepts eingesetzt. Grüne und Union schickten Ende April mit Armin Laschet und Annalena Baerbock ebenfalls ihre Kanzler kandidat*innen ins Rennen. Dabei folgte die jeweilige Kür nicht dem, was man von den Parteien jeweils gewohnt war. Während bei den traditionell basisdemokratisch und streitfreudig gesinnten Grünen, die 2013 und 2017 ihre Spitzenkandidat*innen-Duos per Urwahl gekrönt hatten, die beiden Vorsitzenden die Frage einträchtig unter sich ausmachten, lief der Prozess bei der oft als harmoniesüch- tiger „Kanzlerwahlverein“ dargestellten Union stark kon- fliktiv ab. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und Landesvorsitzende Laschet Armin musste sich dabei zunächst an der CDU-Spitze gegen zwei Kontrahenten aus seinem eigenen Landesverband durchsetzen. Den frühe- ren Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, der an der Basis mit einer Schärfung des Parteiprofils verknüpft wird und schon gegen Kramp-Karrenbauer nur knapp unterlegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Kanzlerkandidat*innen Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Olaf Scholz (SPD) und war, konnte auch Laschet nur knapp und im Team mit dem NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) durch Corona zunächst äußerst populären Gesundheitsmi- Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Ulrich Baumgarten nister Jens Spahn bezwingen. Ebenfalls durch die Pandemie massiv an Beliebtheit gewonnen hatte allerdings der sich als Verfechter harter Anti-Corona-Maßnahmen inszenierende bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Söder, der ebenfalls Ambitionen auf die Kanzlerkandidatur anmel- frühzeitige Anmelden ihres Machtanspruchs gar nicht erst dete. Die für CDU und CSU oftmals vorteilhafte Kons- den Eindruck entstehen zu lassen, die „K-Frage“ werde truktion zweier gleichberechtigter Schwesterparteien bot ohnehin zwischen Union und Grünen entschieden. Dies keine Strukturen zur Auflösung dieses Konflikts, der den ist zumindest insofern gelungen, als diverse Fernsehsender letztlich siegreichen Laschet weiter beschädigte, zumal aus zu „Triellen“ im Wahlkampf an Stelle des 2002 etablierten den Ostverbänden der CDU Söder mehr Unterstützung „TV-Duells“ eingeladen haben. Ansonsten kaprizierte sich erfuhr als er. Als früherer Minister und seit 2017 amtie- die mediale Berichterstattung bisher doch auf das Ren- render Ministerpräsident des größten Bundeslands verfügt nen zwischen Union und Grünen. Die SPD hofft, dass Laschet ebenfalls über Regierungserfahrung, wenn auch Scholz‘ umfassende Regierungserfahrung als Vizekanzler, nicht auf Bundesebene. Im Gegensatz zu Söder litt seine Bundesminister für Finanzen, Arbeit und Soziales sowie Beliebtheit in der Corona-Krise allerdings unter dem Image Erster Bürgermeister und Innensenator von Hamburg am als allzu leichtfertiger „Lockerer“. Belastet wird seine Kandi- Ende stabilitätsorientierte Merkel-Wähler*innen zur SPD datur zudem durch die ausschreibungslose Auftragsvergabe hinüberzieht. Seine persönliche Popularität konnte Scholz für Polizei-Stoffmasken an den Bekleidungshersteller „Van durch Corona-Überbrückungshilfen und Konjunktur- Laack“, wofür sein als Mode-Influencer arbeitender Sohn maßnahmen weiter erhöhen. Auf seine Partei strahlt dies den Kontakt hergestellt hatte. aber nicht ab, anders als in Hamburg, wo die SPD mit Bei den Grünen war lange Zeit Habeck als wahr- ihm als Spitzenkandidaten 2011 die Mehrheit der Sitze scheinlicher Kanzlerkandidat gehandelt worden aufgrund erreicht und 2015 nur knapp verpasst hatte. Als Schat- seiner Regierungserfahrung als stellvertretender Minis- tenseite seiner Regierungserfahrung musste sich Scholz terpräsident und Minister für Energie, Landwirtschaft des Weiteren im Wahljahr sowohl auf der Bundesebene und Umwelt in Schleswig-Holstein und seiner größeren 18 Einsichten und Perspektiven 2 | 21
IM FOKUS Ausblick auf die Bundestagswahl 2021 Beliebtheit in der Bevölkerung. In Bezug auf Letzteres Auch nicht vorherzusehen ist, ob die Bürger*innen das konnte Baerbock jedoch kurz vor der Nominierung weit- Krisenmanagement der Regierung dann noch so kritisch gehend aufschließen. Parteiintern genoss sie zudem noch betrachten wie derzeit oder ob sie über die zu Tage getre- größere Zustimmung als Habeck und erwies sich in sach- tenen Defizite am Ende großzügig hinwegsehen. politischen Fragen als trittsicherer, während Habeck sich Festzustehen scheint hingegen, dass daneben der Kli- diesbezüglich ein paar mediale Lapsus erlaubte. Nicht maschutz und seine Konsequenzen in den betroffenen zuletzt spielte auch die feministische Wurzel der Partei Sektoren (Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Land- eine Rolle bei der Entscheidung. Zunächst lag Baerbock wirtschaft) eine maßgebliche Rolle spielen werden. Die- im Kandidat*innenfeld der drei Parteien mit Kanzler- ses Thema wurde auch durch das Urteil des Bundesver- amtshoffnungen an erster Stelle. Sie verlor aber schnell fassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz der Großen an Zustimmung, nachdem der Lobbyverband „Initiative Koalition Ende April wieder ganz oben auf die Agenda Neue Soziale Marktwirtschaft“ sie in einer Anzeigen- gesetzt. Derzeit (Anfang Juli 2021) sehen 28 Prozent kampagne als Künderin einer neuen „Staatsreligion“ mit Umwelt/Klima als erst- oder zweitwichtigstes Problem an, „zehn Verboten“ ungewöhnlich hart angegriffen hatte vor Corona, sozialer Ungerechtigkeit und Zuwanderung und gegenüber dem Bundestag verspätet deklariertes (jeweils 19 Prozent), das bei der letzten Bundestagswahl Weihnachtsgeld der Partei, Ungenauigkeiten in ihrem das mit Abstand wichtigste Thema war.16 Auch das Thema Lebenslauf und einige augenscheinlich nahezu unver- Steuern dürfte angesichts der Kosten der Corona-Krise ändert übernommene Sätze in ihrem Kampagnen-Buch und der für einen Strukturwandel notwendigen Investi- massiv skandalisiert worden waren. Auch Politiker*innen tionen eine erhebliche Rolle spielen. Daneben setzen die konkurrierender Parteien kritisierten eine überzogene Parteien Themen wie Digitalisierung, Verwaltungsmoder- „Schmutzkampagne“. nisierung, Bürokratieabbau, Pflege, Rente, Mieten und In der Folge fiel Baerbock auf Platz 3 zurück; Scholz Gleichberechtigung auf die Agenda. und Laschet lagen zuletzt nahezu gleichauf. Insgesamt Gegenüber der letzten Bundestagswahl hat sich der überzeugt allerdings das gesamte Kandidat*innenfeld bis- Anteil derjenigen, die sich nach der Bundestagswahl lang einen recht großen Teil der Wähler*innen nicht.14 einen grundlegenden Wandel wünschen, auf 34 Prozent Insofern ist anzunehmen, dass das Personen-Element bei mehr als verdoppelt. Mit 57 Prozent hält nach wie vor der kommenden Bundestagswahl eine geringere Rolle die Mehrheit einige Kurskorrekturen für ausreichend, spielen wird, als dies in den letzten Wahlkämpfen, insbe- während nur noch sieben Prozent meinen, alles solle im sondere mit Blick auf Merkels parteiübergreifende Popu- Wesentlichen bleiben, wie es ist. Dabei strebt rund die larität, der Fall war. Hälfte der Anhänger*innen von AfD, Linken und Grünen einen – wohl je unterschiedlich gearteten – grundlegen- Politische Sachfragen den Wandel an. In der Anhängerschaft von SPD und FDP wünscht dies nur etwa jede*r Fünfte, unter den unionsaf- Da die Kandidat*innen schwächeln, dürfte den Sachthe- finen Bürger*innen nur rund jede*r Achte.17 men bei dieser Bundestagswahl eine größere Bedeutung zukommen. Wie stark dabei die Agenda von der Corona- Koalitionen Pandemie überschattet wird, ist dabei ebenso wenig zu beantworten wie die Frage, ob es dabei im September um In einer Koalitionsdemokratie wie der Bundesrepublik die akute Bewältigung einer durch die hochansteckende können neben Parteiidentifikation, Kandidat*innen und Delta-Variante mögliche vierte Welle gehen wird oder auf- Sachfragen auch koalitionstaktische Überlegungen eine grund des Impffortschritts schon um die Bewältigung der Rolle bei der Wahlentscheidung spielen. Durch die Plu- wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Krisenfolgen.15 ralisierung des Parteiensystems ist es für die Wähler*innen allerdings deutlich schwieriger geworden, mit ihrer Wahl- entscheidung zugleich eine bestimmte Koalition zu beför- 14 Vgl. infratest dimap: ARD DeutschlandTrend Juli 2021, https://www. infratest-dimap.de/fileadmin/user_upload/DT2107_Bericht.pdf, [Stand: 04.07.2021], S. 4. 16 Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschland 15 Vgl. Frank Decker: Wer gewinnt die Bundestagswahl? Ausgangslage und trend-2653.html [Stand: 04.07.2021]. Szenarien der Regierungsbildung 2021, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 70 (2021), H. 2, S. 145-154, S. 150. 17 Vgl. infratest dimap (wie Anm. 14), S. 6. Einsichten und Perspektiven 2 | 21 19
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