POLITISCHE STUDIEN 483 - Hanns-Seidel-Stiftung
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POLITISCHE STUDIEN 483 Orientierung durch Information und Dialog 70. Jahrgang | Januar-Februar 2019 | ISSN 0032-3462 /// IM FOKUS ALT, KRANK, EINSAM? ZUKUNFTSAUFGABE PFLEGE Mit Beiträgen von Christine Fiedler | Matthias Steiner | Joachim Unterländer /// JENS SPAHN im Zeitgespräch: Woran krankt unser Gesundheitssystem? /// CHRISTOPH SCHIEBEL Framing macht Politik /// MANFRED GROß Die Trump-Transition www.hss.de
„ Mehr Frauen in die Politik – eine wichtige BOTSCHAFT dieser Wahl. EDITORIAL DIE NEUE CDU-VORSITZENDE – KONTINUITÄT IN DER POLITISCHEN FÜHRUNG Auf dem CDU-Parteitag in Hamburg wurde Annegret Kramp-Karren- bauer am 7. Dezember 2018 als Nachfolgerin von Angela Merkel an die Spitze der CDU gewählt. Auf der einen Seite bedeutete dies ein Novum: Erstmals seit Jahrzehnten standen mehrere Kandidaten zur Wahl, die sich im Vorfeld auf Regionalkonferenzen der Basis präsentierten. In einer Stichwahl setzte sich die Kandidatin knapp mit 51,8 % der Delegierten- stimmen gegen Friedrich Merz durch. Auch wenn solche Kampfkandida- turen in Parteien meist lieber vermieden werden wollen, hat dies doch für enorm hohe öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Dies zeigte sich nicht zuletzt dadurch, dass die Union in den bundesweiten Umfragen sofort um einige Prozentpunkte nach oben ging. Auf der anderen Seite bedeutet das Ergebnis auch Kontinuität: Dass wieder eine Frau an die Spitze der CDU gewählt wurde, unterstreicht, dass Frauen in politischen Führungsämtern schon lange keine Ausnah- me mehr sind. Das bedeutet aber auch, dass die Parteien in ihren Struk- turen dafür sorgen müssen, dass sich genügend qualifizierte Frauen en- gagieren und ihren Weg durch die Parteiebenen bahnen können. Dies entspricht auch den Erwartungen der politisch interessierten und akti- ven Bürger – nicht nur der Frauen. Laut dem Deutschland-Trend von In- fratest dimap plädierten kurz vor dem Parteitag 45 % aller Bürger und 47 % der CDU-Anhänger für Frau Kramp-Karrenbauer als Vorsitzende. Bei den Frauen waren es 53 %, bei den Männern aber auch 37 % − fast genauso viel wie für Friedrich Merz. Mehr Frauen in die Politik – auch eine wichtige Botschaft dieser Wahl. Die Parteien müssen den Boden da- für aber selbst bereiten. Prof. Ursula Männle ist Staatsministerin a. D. und Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung, München. 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 3
18 INHALT 14 IM FOKUS POLITISCHE-STUDIEN- 73 SOLL DEUTSCHLAND ZEITGESPRÄCH NUKLEARMACHT WERDEN? 06 DIE ZUKUNFT DER PFLEGE Pro Einführung 10 WORAN KRANKT UNSER CHRISTIAN HACKE SUSANNE SCHMID GESUNDHEITSSYSTEM? Diagnose gestellt – Heilung 18 VORAUSSETZUNG FÜR EINE möglich – Operation beginnen 80 DEUTSCHLAND BRAUCHT KEINE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT JENS SPAHN KERNWAFFEN – ABER EINE STRA- Würdevolle Pflege im Alter TEGISCHE NEUBESINNUNG JOACHIM UNTERLÄNDER Contra ANALYSEN JOACHIM KRAUSE 29 K ALKULIERBARE PFLEGE IN DER EIGENEN WOHNUNG 51 FRAMING MACHT POLITIK AKTUELLES BUCH 60 Augustinum Seniorenresidenzen MATTHIAS STEINER AfD nutzt Kopfkino, um Angst in der Bevölkerung zu schüren CHRISTOPH SCHIEBEL 90 AMERIKA IM DSCHUNGELKAMPF 39 WAS DIE PFLEGE BRAUCHT Bricht die liberale Weltordnung Wege aus dem Notstand 60 DIE TRUMP-TRANSITION zusammen? CHRISTINE FIEDLER Impulsive Führung im Weißen Haus CHRISTIAN FORSTNER MANFRED GROß KOMPENDIUM RUBRIKEN KONTROVERS 48 A DRESSEN UND ANSPRECHPARTNER 03 EDITORIAL FÜR PFLEGEBEDÜRFTIGE UND 70 BRAUCHT DEUTSCHLAND 94 REZENSIONEN PFLEGEPERSONEN ATOMWAFFEN? 104 ANKÜNDIGUNGEN Serviceteil Einführung 106 IMPRESSUM 80 PETER BAUER REINHARD MEIER-WALSER 4 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 5
IM FOKUS /// Einführung DIE ZUKUNFT DER PFLEGE SUSANNE SCHMID /// Der Pflegesektor steht angesichts der demografischen Alterung vor großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, bedarf es einer höheren Attraktivität und Wertschätzung des Pflege- berufs, einer guten Balance zwischen Qualität, Wirtschaftlichkeit und Humanität sowie der nachhaltigen Überwindung der Personalengpässe bei gleichzeitiger Erhöhung der Versorgungsqualität. Pflege ist bereits jetzt ein Megathema 1 %, heute liegt er bei 7 % und bis 2060 Quelle: Mediteraneo/Fotolia.com und wird im Zuge des demografischen dürften es 12 % sein. Jeder achte Einwoh- Wandels weiter an Bedeutung gewinnen, ner wäre dann 80 Jahre und älter. denn Deutschland wird älter und hetero- Die Alterung der Bevölkerung wird ei- gener. Die Ursachen demografischer Al- nen deutlichen Schub erleben, wenn die terung liegen in einem Jugendrückgang geburtenstarken Jahrgänge (sog. Baby- wegen geburtenschwacher Jahrgänge boomer) innerhalb der nächsten 20 Jah- und einer steigenden Lebenserwartung re das Rentenalter erreichen. Hierauf in den hohen Altersklassen. Im Jahr 1960 gilt es gerade im Pflegebereich vorberei- Der Umgang sowohl mit Pflegebedürftigen als auch den Pflegenden ist ein Gradmesser für die war jeder achte Einwohner 65 Jahre und tet zu sein, ist doch die Pflege vom de- Humanität in einer Gesellschaft. älter, heute ist es jeder Fünfte und bis mografischen Wandel in mehrfacher 2060 könnte es jeder Dritte sein. Auch Hinsicht betroffen: die Hochaltrigkeit wächst. 1950 betrug der Anteil der Menschen ab 80 Jahren • Mit steigender Lebenserwartung 2017 bezogen etwa 3,4 Millionen Men- gerecht werden kann, wo doch bereits wächst das Pflegebedürftigkeitsrisiko, schen Leistungen aus der sozialen Pflege- heute in Deutschland Pflegekräftemangel die Zahl der Pflegefälle nimmt zu. versicherung, bis 2030 dürften es nach herrscht. Im Detail: Wie können die Per- • Veränderte Familienstrukturen ver- Berechnungen der Pflegekassen 4,1 Milli- sonalengpässe im Pflegebereich über- ringern die Möglichkeiten häuslicher onen sein. 76 % der Pflegebedürftigen wunden werden? Wie können Attraktivi- Der Pflegebereich ist vom Pflege durch Familienangehörige. wurden 2017 zuhause von Angehörigen tät und Wertschätzung des Pflegeberufs DEMOGRAFISCHEN Wandel in mehr- • Der Geburtenrückgang bewirkt, dass und / oder ambulanten Pflegediensten gesteigert werden? Was ist uns Pflege wert? facher Hinsicht betroffen. weniger Pflegekräfte zur Verfügung versorgt, ein Viertel lebte in Pflegeeinrich- Wie kann eine ausgewogene Balance stehen. tungen. In diesem Zusammenhang stellt zwischen Bürokratie, Fachlichkeit und • Der Anteil pflegebedürftiger Personen sich nun die Frage, wie man der kontinu- Menschlichkeit in der Pflege aussehen? mit Migrationshintergrund steigt. ierlich steigenden Zahl Pflegebedürftiger Wie gelingt kultursensible Pflege? 6 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 7
IM FOKUS In den vergangenen zwei Jahren gründet. Bis 2023 soll in Bayern ein • Bedarfsgerechte Weiterentwicklung Rückert und Anne Kremer-Hartmann wurde auf Bundes- und Landesebene Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz ambulanter und stationärer Pflege, beleuchten die Anforderungen an das bereits viel angestoßen: für alle Pflegebedürftigen ab Pflegegrad • verbesserte Arbeitsbedingungen und Wohnen im Alter, die Angebote ambu- 2017 trat das zweite Pflegestärkungs- 2 geschaffen werden. Schaffung neuer Stellen, lanter und stationärer Pflege sowie das gesetz (PSG II) in Kraft. Aus ehemals • Ausbau von Entlastungsstrukturen, Personalmanagement der Augustinum- drei Pflegestufen wurden fünf Pflegegra- • Strukturreformen in der gesetzlichen Seniorenresidenzen. de. Mit diesen wird das Ausmaß der Pflegeversicherung für mehr Bedarfs- Pflegebedürftigkeit eines Menschen gerechtigkeit, Humanität und Effizi- festgestellt und die Höhe der finanziel- Auf Bundes- und Landesebene enz, len Unterstützung berechnet. Der Be- wurden bereits wichtige REFORMEN • nachhaltige Unterstützungsstruktu- griff der Pflegebedürftigkeit ist im neuen vorgenommen. ren für pflegende Angehörige, Wir müssen alle zusammenhelfen, Gesetz nun weiter gefasst: Menschen • Pflegegerechtigkeit in allen Wohn- damit die Pflege die WERTSCHÄTZUNG mit kognitiven Einschränkungen wie und Siedlungsbereichen, erfährt, die sie verdient. Demenz oder Alzheimer erhalten die • Umsetzung der Digitalisierung im gleichen Leistungen wie dauerhaft kör- Einklang mit würdevoller Pflege, perlich Erkrankte. Neu ist außerdem der • Stärkung ehrenamtlichen Engage- Grundsatz „mehr ambulante und weni- Zu den dringlichsten Aufgaben, die ments sowie ger stationäre Pflege“. es im Pflegebereich zu bewältigen gilt, • Verbesserung der Sterbebegleitung in Zum 1. Januar 2019 trat das Pflegeper- gehören die Sicherstellung einer gerech- stationären Einrichtungen. Wie wir mit Pflegebedürftigen um- sonal-Stärkungsgesetz in Kraft, das die ten Entlohnung für Pflegekräfte, die gehen, ist ein Gradmesser für die Huma- geplanten Maßnahmen des „Sofortpro- Verbesserung der Arbeits- und Rahmen- Christine Fiedler erläutert in ihrem nität unserer Gesellschaft. Doch auch gramm Pflege“ umsetzt. Hiermit sollen bedingungen sowie die Stärkung der nachfolgenden Beitrag die Tradition der der Umgang der Gesellschaft mit dem eine angemessenere Personalausstattung Pflegequalität. Pflegende Angehörige Pflege seit Florence Nightingale, der Be- Pflegepersonal prägt die Versorgungs- und bessere Arbeitsbedingungen in der sollen eine bessere finanzielle Anerken- gründerin der modernen Krankenpflege qualität. Die Betreuung und Versorgung Kranken- und Altenpflege erreicht wer- nung erhalten, durch Pflegestützpunkte am Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei von pflegebedürftigen Menschen ist eine den. Das Gesetz sieht u. a. 13.000 neue und Pflegekurse gezielter beraten und betont sie, dass die Voraussetzungen für gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir Stellen für stationäre Pflegeeinrichtungen durch Rehabilitationsprogramme ent- eine gute Pflegekraft nach wie vor der müssen jetzt die richtigen Weichen für vor, die in vollem Umfang von der Kran- lastet werden. Weitere Forderungen empathische Umgang mit Menschen, die Zukunft stellen. /// kenversicherung finanziert werden. werden im Fokus-Teil thematisiert. Freude am Beruf, eine fundierte Ausbil- Ab 2020 wird das Pflegeberufegesetz Im Zeitgespräch beantwortet Bun- dung und große Fortbildungsbereit- das Altenpflegegesetz und das Kranken- desgesundheitsminister Jens Spahn Fra- schaft sind. Die Autorin spannt dann pflegegesetz ablösen. Es reformiert und gen zur Besetzung und Finanzierung den Bogen von 1861 zum aktuellen integriert die bisherigen drei Ausbildun- der 13.000 zusätzlichen Pflegestellen Image des Pflegeberufs und zur fort- gen in der Kranken-, Kinderkranken- sowie zur Imageverbesserung der Pfle- schreitenden Akademisierung der Pfle- und Altenpflege zu einer neuen und ge- geberufe. Weitere Themenfelder sind geausbildung. Für die Pflegekräfte for- neralistisch ausgerichteten beruflichen die Gesundheitsversorgung im ländli- dert sie mehr Handlungsautonomie, Pflegeausbildung mit einem einheitli- chen Raum, das „E-Health-Gesetz II“ eine angemessenere Vergütung und grö- chen Berufsabschluss. und die freiwillige Organspende. ßeren gesellschaftlichen Respekt. /// D R. SUSANNE SCHMID In Bayern wurde 2018 das Landes- In seinem Beitrag unterstreicht Joa- Die Augustinum Gruppe betreibt ist Referentin für Gesellschaftliche Ent- pflegegeld ab Pflegegrad 2 in Höhe von chim Unterländer, dass würdevolle Pfle- bundesweit 23 Senioren-Wohnstifte mit wicklung, Migration, Integration der 1.000 Euro jährlich eingeführt. Des ge im Alter die Voraussetzung für eine rund 7.500 Bewohnern und etwa 3.000 Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Weiteren wurde die Hospiz- und Pallia- menschliche Gesellschaft ist. Er be- Mitarbeitern. Einblicke in das Pflege- Hanns-Seidel-Stiftung, München. tivversorgung ausgebaut, Kurz- und nennt neun Schwerpunkte im Pflegebe- konzept der Augustinum-Seniorenresi- Langzeitpflegeplätze gefördert sowie reich, in denen er zukünftig großen denzen bietet Matthias Steiner. Die an- das Bayerische Landesamt für Pflege ge- Handlungsbedarf sieht: schließenden Interviews mit Johannes 8 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 9
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Quelle: Ikon Images/Mauritius Images /// Diagnose gestellt – Heilung möglich – Operation beginnen WORAN KRANKT UNSER GESUNDHEITSSYSTEM? JENS SPAHN /// ist mit dem Thema bestens vertraut und weist dazu bereits viel Erfahrung auf. Er war von 2009 bis 2015 gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seit März 2018 bekleidet er das Amt des Bundesgesundheitsministers. Als solcher steht er vor nicht wenigen dringenden Fragen und Herausforderungen, denen er sich aber – wie das nachfolgende Gespräch zeigt – entschlossen und auch schon tatkräftig stellt. Politische Studien: In Deutschland gibt nal kommen bei dem derzeitigen Fach- es einen zunehmenden Pflegenotstand. kräftemangel? Ihr Maßnahmenpaket dagegen beinhaltet Jens Spahn: Unser Pflege-Sofortpro- „ 13.000 neue Stellen im Pflegebereich. gramm ist der erste Schritt, um diesen Aber woher soll dieses zusätzliche Perso- Mangel zu beheben. Dafür muss sich zunächst der Ruf der Pflege verbessern. Die Pflegekräfte sollen wissen: Wir schätzen ihre Arbeit, wir nehmen ihre Probleme ernst, wir kümmern uns um Unser Pflege-Sofortprogramm ist der ERSTE Schritt, um diesen Mangel zu beheben. Wir brauchen eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, aber auch generell mehr gesellschaftliche Wert- schätzung für den Bereich Pflege. 10 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019
„ POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH sie. Und wenn wir neue Stellen schaffen, machen, indem wir mehr Stellen schaf- dann mit dem Ziel, die Plegekräfte zu fen und besetzen. Deshalb arbeiten wir entlasten. Auch das steigert die Attrakti- intensiv an einem Gesamtpaket. vität des Pflegeberufes. Dafür müssen Klar ist, dass wir für mehr Pflegekräfte, deren wir neues Personal gewinnen und Pfle- Politische Studien: Bessere Bezahlung bessere Bezahlung und die Unterstützung zu Hause gekräfte, die aus Enttäuschung ausge- ist sicher ein wichtiger Faktor, aber das noch mehr GELD brauchen werden. stiegen sind, zurückgewinnen. Das So- Geld alleine ist kein Anreiz, einen Beruf im fortprogramm Pflege hilft dabei. Damit sozialen Bereich zu ergreifen. Wie kann schaffen wir in der stationären Alten- man die Rahmenbedingungen über das Fi- pflege 13.000 neue Stellen, die aus Mit- nanzielle hinaus attraktiver gestalten? teln der Gesetzlichen Krankenversiche- Jens Spahn: Mein Ziel ist es, dass sich rung bezahlt werden. In den Kranken- der Arbeitsalltag unserer Pflegekräfte häusern wird sogar jede neue Pflegestel- spürbar verbessert. Wir haben mittler- Wir − das Gesundheits-, das Ar- Leistungen im Umfang von 38 Milliar- le vollständig von der Krankenversiche- weile eine hohe Teilzeitquote in der Pfle- beits- und das Familienministerium − den Euro für Pflegebedürftige, Angehö- rung finanziert. Die Ausrede, „Es ist ge. Viele haben ihre Arbeitszeit redu- haben dazu die „Konzertierte Aktion rige und auch Pflegekräfte − so viel wie kein Geld für Pflege da“, gilt da also jetzt ziert und nehmen weniger Gehalt in Pflege“ ins Leben gerufen. Gemeinsam noch nie. Dadurch ist die Zahl der Pfle- nicht mehr. Kauf, weil sie die Arbeitsbelastung nicht mit Kassenverbänden, Leistungser- gebedürftigen, die auf Sozialhilfe ange- Außerdem müssen wir die Rahmen- mehr aushalten. Andere haben dem Be- bringern, Pflegeberufsverbänden, Ar- wiesen sind, stark gesunken. Aber rich- bedingungen verbessern, damit mehr ruf den Rücken gekehrt. Wenn die Aus- beitnehmer- und Arbeitgebervertre- tig ist eben auch: Die Pflegeversicherung Menschen in der Pflege arbeiten wollen. sicht besteht, wieder mit mehr Kollegen tern wollen wir ein dickes Paket schnü- und auch der Staat können unterstüt- In Kliniken und Heimen hat es in den in einer Schicht zu arbeiten, werden ren. Es geht darum, Arbeitsbedingun- zen, aber sie ersetzen nicht die Familie vergangenen Jahren eine wahnsinnige Teilzeitkräfte ihre Stundenzahl aufsto- gen und Verdienstmöglichkeiten für und deren Beistand. Verdichtung der Arbeit gegeben. Viele cken, andere werden in den Beruf zu- Fach- und Helferkräfte zu verbessern Die Ausgaben der Pflegekassen sind Pflegekräfte berichten mir, dass sie zu oft rückkehren. Und auch Pflegekräfte, die und zu einem Flächentarifvertrag zu zuletzt viel stärker gestiegen als erwar- ihrem eigenen Anspruch nicht mehr ge- für Zeitarbeitsfirmen arbeiten, wechseln kommen, neue Möglichkeiten der Aus- tet. Das spricht für den Erfolg der Pfle- recht werden können, weil sie keine Zeit dann ins Krankenhaus oder in eine Pfle- und Weiterbildung und der Auf- und gereform, bedeutet aber auch, dass wir für die Patienten und Pflegebedürftigen geeinrichtung. Außerdem setzen wir auf Umstiege im Erwerbsverlauf zu schaf- den Beitrag zur Pflegeversicherung zum haben. Ich will die fatale Spirale durch- den Nachwuchs. Wir haben mit der fen, den Wiedereinstieg in den Beruf 1. Januar 2019 um 0,5 Beitragspunkte brechen, die es in der Pflege derzeit gibt: neuen Pflegeberufeausbildung ab 2020 zu fördern und auch Fachkräfte aus anheben mussten. Klar ist auch, dass Die Belastung steigt, Kollegen steigen attraktive Perspektiven für Azubis ge- dem Ausland zu gewinnen. Mitte 2019 wir für mehr Pflegekräfte, für deren bes- frustriert oder krank aus dem Beruf aus, schaffen, ohne Schulgeld und mit Ver- wollen wir dazu konkrete Konzepte sere Bezahlung und für die Unterstüt- „ die Belastung steigt noch weiter. Wir gütung. Das sind erste, wichtige Schritte vorlegen. zung zu Hause noch mehr Geld brau- können den Pflegeberuf nur attraktiver auf einem längeren Weg. chen werden. Ich möchte den Umstand, Politische Studien: Kommen jetzt Bei- dass damit die Debatte um die Pflege tragserhöhungen in der Pflege auf uns zu? endlich richtig Fahrt aufgenommen hat, Jens Spahn: Zunächst einmal sollte man als Chance nutzen, jetzt offen und ehr- anerkennen, dass sich in der Pflege in lich zu diskutieren: Wie bleiben wir eine den letzten Jahren schon vieles sehr gut menschliche Gesellschaft, wie erhalten weiterentwickelt hat: Demenzkranke wir unsere sozialen Institutionen, wenn Mein Ziel ist es, dass sich der Arbeitsalltag haben endlich Zugang zu allen Leistun- jeder Dritte in Deutschland älter als 60 unserer Pflegekräfte spürbar VERBESSERT. gen der Pflegeversicherung, die Leistun- Jahre alt ist − und weniger als ein Fünf- gen sind massiv ausgebaut worden und tel jünger als 20? kommen heute Hunderttausenden mehr zugute als vor der Pflegereform. Die Politische Studien: Die Überalterung un- Pflegeversicherung finanzierte 2018 serer Gesellschaft, der demographische 12 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 13
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Faktor, macht sich auch im Strukturwan- del bemerkbar. Auf dem Land ist die Ge- sundheitsversorgung zunehmend einge- schränkt. Kaum ein Arzt will dort noch eine Praxis übernehmen. Wie wollen Sie das angehen? Jens Spahn: Ich komme aus einem 3.700-Seelen-Dorf im Münsterland. Ich weiß, wie wichtig der Arzt in der Nähe auch wenn vieles heute noch ungewohnt erscheint. Politische Studien: Stichwort Digitali- sierung: Mit dem E-Health-Gesetz II soll diese ja auch in das Gesundheitswesen Einzug halten. Gesundheitskarte, elektro- nische Patientenakte, Telemedizin − was erwartet uns da und wie steht es dabei „ Mir geht es darum, den richtigen Mix zu finden und die Dinge besser ZU STEUERN. ist. Um das zu erhalten, ziehen wir alle um den Datenschutz? Register. Wir haben schon viele finanzi- Jens Spahn: Die Digitalisierung eröffnet elle Anreize gesetzt, damit mehr Ärzte für viele Bereiche unserer Gesellschaft sich entscheiden, auf dem Land zu arbei- enorme Chancen. Damit wir die Digita- sichere Datenautobahn können sich woran liegt das und wie kann man das ten. Aber Geld ist nicht alles. Wir müs- lisierung nach unseren Anforderungen Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser, besser steuern? sen akzeptieren, dass Ärzte heute andere und Sicherheitsstandards selbst gestal- Apotheken, Krankenkassen und alle an Jens Spahn: Wir haben eines der besten Lebensentwürfe haben. Viele wollen ten können − anstatt dabei zuzusehen, der Behandlung eines Patienten Betei- Gesundheitssysteme der Welt. Jeder hat ärztlich tätig sein, aber nicht betriebs- wie andere sie nutzen –, brauchen wir ligten vernetzen und Informationen Zugang zu medizinischer Versorgung wirtschaftlich selbständig. Die Einzel- passende politische Rahmenbedingun- austauschen. Erste medizinische An- auf hohem Niveau. Das sollten wir wert- praxis ist kein Auslaufmodell, aber sie ist gen. Das gilt auch für das Gesundheits- wendungen der Gesundheitskarte zu schätzen. Gleichzeitig gibt es spürbare ein Modell von vielen. Es braucht mehr wesen. Notfall- und Medikationsdaten sollen Probleme, die wir angehen wollen. In Vielfalt und Flexibilität. Einiges ist da schon in Bewegung. im nächsten Jahr verfügbar sein. Die den Niederlanden warten Sie zum Bei- Ein wesentlicher Schlüssel liegt auch So wird künftig die Fernbehandlung elektronische Patientenakte ist ab 2021 spiel sechs Monate auf eine Hüftoperati- im Medizinstudium. Wir brauchen bei den persönlichen Arzt-Patienten-Kon- geplant und wir haben auch einen Fahr- on. Dort haben Sie auch nur ihren Haus- der Auswahl der Studierenden andere takt sinnvoll ergänzen können. Teleme- plan zur Einführung des elektronischen arzt. Wenn Sie einen Facharzt brauchen, Kriterien als die Abi-Note. Es ist des- dizin spart Zeit und Wege und bringt Rezepts. Wer möchte, erhält Zugang müssen Sie ins Krankenhaus, deshalb halb richtig, dass Bayern eine Landarzt- Expertenwissen zu den Menschen − über Smartphone oder Tablet. Damit ist die Zahl der Arztkontakte in einem Quote einführen will, also einen Teil der und nicht umgekehrt. Das schafft Vor- kann unsere Gesundheitsversorgung Land wie den Niederlanden zwangsläu- Studienplätze für diejenigen reservieren, teile insbesondere für Patienten im im Alltag spürbar und konkret besser fig niedriger. Solche Verhältnisse aber die sich verpflichten, für eine Zeit aufs ländlichen Raum, die die Universitäts- werden. will ich in Deutschland nicht. Mir geht Land zu gehen. Auch Digitalisierung klinik nicht vor der Haustür haben. Wir Rund um die Digitalisierung gilt für es darum, den richtigen Mix zu finden kann eine enorme Hilfe sein: Online- treiben außerdem den Ausbau der Tele- mich: Der Patient muss Herr über seine und die Dinge besser zu steuern. Wenn „ Sprechstunden, Telemedizin und mehr, matikinfrastruktur voran. Über diese Daten sein. Wenn er Daten weitergibt, Ihr Rücken am Wochenende zwickt, dann informiert und freiwillig. Fragen sind Sie am Montag beim Orthopäden von Patientenautonomie und Daten- besser aufgehoben als am Sonntag in der schutz müssen bestmöglich beantwortet Notfallambulanz. sein. Gleichzeitig wird es darauf ankom- Was wir daher brauchen, ist eine men, innovativ zu bleiben. bessere Vernetzung und Zusammenar- beit im Gesundheitswesen. Dazu wollen Politische Studien: Kein Land in Europa wir die ambulante und stationäre Ver- Die Digitalisierung eröffnet für viele Bereiche weist so viele Arztbesuche pro Kopf auf sorgung künftig „an einem Tresen“ or- unserer Gesellschaft enorme CHANCEN. wie Deutschland und zunehmend wird ganisieren. Beim Verhältnis zwischen schon bei harmlosen Erkrankungen und Notdienst, der 112 und den Notfallam- Verletzungen die Notfallambulanz aufge- bulanzen setze ich vor allem darauf, sucht. Eine zu schlechte ärztliche Versor- dass wir die Triage stärken. Am Telefon gung, ein Volk von Hypochondern oder muss jemand mit Sachverstand sitzen, 14 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 15
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH der entscheiden kann, ob der Patient besser im Krankenhaus oder einer Be- reitschaftspraxis aufgehoben ist. Das ist eine der großen Baustellen für das Jahr 2019: das Entlasten der ärztlichen Not- dienste. Politische Studien: Was tun Sie gegen den Spendermangel bei der Organspende? wichtigen Stellen ansetzen. Erstens: Die Transplantationsbeauftragten sollen mehr Zeit für ihre wichtige Aufgabe be- kommen, vor allem auch, um mögliche Organspender auf der Intensivstation zu erkennen. Zweitens: Wir wollen, dass die Krankenhäuser leistungsgerecht ver- gütet werden und keine finanziellen Nachteile haben, wenn sie sich bei der „ Das ist kein Zwang zur Spende, sondern der Zwang, sich mit dem Thema AUSEINANDERZUSETZEN. Jens Spahn: Die Spenderzahlen sind in Organspende engagieren. Transplanta- den vergangenen Jahren zurückgegan- tionsbeauftragte sollen im Klinikalltag gen. Das bedeutet: Viele Menschen, die den Freiraum bekommen, ihre Aufgabe dringend auf eine Organtransplantation auch wirklich zu erfüllen. angewiesen sind, warten leider verge- bens. In Deutschland sind es zurzeit Politische Studien: Sie haben sich auch mehr als 10.000. Alle acht Stunden für einen Systemwechsel in der Organ- ßen möchte. Hat er nicht widerspro- Die Fragen stellte Verena Hausner, Stv. stirbt ein Mensch auf der Warteliste, spende ausgesprochen. Warum sind Sie chen, sind die Angehörigen nach dem Redaktionsleiterin der Politischen Studi- weil kein passendes Organ gefunden für eine Widerspruchslösung? mutmaßlichen Willen des Verstorbenen en und Publikationen, Hanns-Seidel-Stif- wird. Das Hauptproblem bei der Organ- Jens Spahn: Um die persönliche Ausein- zu befragen. tung, München. /// spende ist übrigens nicht die Spendebe- andersetzung mit dem Thema Organ- Die Widerspruchslösung bedeutet reitschaft. Die hat in den vergangenen spende langfristig zur gesellschaftlichen also, dass eine persönliche Auseinan- Jahren sogar zugenommen. Ein ent- Normalität werden zu lassen, ist letzt- dersetzung mit der Thematik und die scheidender Schlüssel liegt vielmehr bei lich auch entscheidend, welche Haltung Entscheidung über die eigene Spendebe- den Kliniken. Ihnen fehlen häufig Zeit jeder Einzelne zur Frage der Organspen- reitschaft gefördert wird. Das ist kein und Geld, um mögliche Organspender de hat. Daher habe ich mich für die Ein- Zwang zur Spende, sondern der Zwang, Quelle: © BMG zu identifizieren. Deshalb wollen wir führung der sog. doppelten Wider- sich mit dem Thema auseinanderzuset- dafür sorgen, dass Organspende in spruchslösung ausgesprochen. Das zen. Deshalb habe ich eine Debatte über Krankenhäusern künftig Alltag wird. heißt, dass einerseits von der Bereit- die Einführung der Widerspruchslö- Entscheidend dafür ist, dass konkret die schaft zur Organspende ausgegangen sung im Deutschen Bundestag angesto- /// JENS SPAHN Verfahren und Abläufe vor Ort funktio- wird, andererseits aber jeder Einzelne ßen. Wir sollten diese Diskussion sorg- ist Bundesminister für Gesundheit, Berlin. nieren. Dazu müssen die Rahmenbedin- zu Lebzeiten ausdrücklich einer Organ- fältig, respektvoll und in aller Offenheit „ gungen stimmen. Das gehen wir jetzt entnahme widersprechen kann, wenn er nicht nur im Parlament, sondern in der mit einem Gesetz an, indem wir an zwei eine Organentnahme für sich ausschlie- Gesellschaft insgesamt führen. Wir wollen dafür sorgen, dass Organspende in Krankenhäusern künftig ALLTAG wird. 16 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 17
IM FOKUS Quelle: Ikon Images/Mauritius Images /// Würdevolle Pflege im Alter VORAUSSETZUNG FÜR EINE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT JOACHIM UNTERLÄNDER /// Eine würdevolle Pflege im Alter ist nicht nur wegen der demographischen Entwicklung ein vorrangiges Anliegen. Trotz aller guten und not- wendigen Reformen gibt es auch in Zukunft große Herausforderungen. Die Verbesse- rung der Arbeitsbedingungen, die Personalgewinnung, die grundsätzliche Zukunft in der gesetzlichen Pflegeversicherung, die Situation der pflegenden Angehörigen und die notwendigen Angebote in Vielfalt sind dabei zentrale Erfordernisse. Pflegepolitik muss auch in Zukunft ganz oben auf der politischen Prioritätenliste stehen. Zur Ausgangslage „Die Zukunft der Pflege im Alter erfor- dert Solidarität und ein respektvolles Pflege braucht jetzt und in Miteinander der Generationen. Alle sind Zukunft GESELLSCHAFTLICHEN aufgefordert, ihren spezifischen Beitrag Respekt und Solidarität. zur Solidargemeinschaft zu leisten. Die- jenigen, die auf die besondere Hilfe der Gemeinschaft angewiesen sind, müssen diese ohne Scheu annehmen können […] Bei der Bewältigung dieser Aufgaben steht jede und jeder vor der Frage, wie Vor Jahren haben die beiden zustän- eine solche Lebenslage bewältigt werden digen Bundesministerien im Rahmen kann. Bei der Bewältigung dieser Aufga- eines „Runden Tisches“ die Charta der be sind nicht nur die politisch Verant- Rechte hilfe- und pflegebedürftiger wortlichen, die Träger von Pflegeein- Menschen unter Einbeziehung beste- richtungen und die Pflegenden selbst hender Rechtsnormen entwickelt. In gefordert.“ Diese Grundsätze sind in ei- acht Artikeln wurden die Selbstbestim- Pflege ist eine gesamt- ner Schrift der katholischen Kirche zur mung und Hilfe zur Selbsthilfe, die kör- gesellschaftliche Auf- Zukunft der Pflege im Alter als christli- perliche und seelische Unversehrtheit, gabe und erfordert das che Grundpositionen enthalten (die Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Zusammenwirken aller deutschen Bischöfe Nr. 92). Privatheit, die Pflege, Betreuung und Be- maßgeblichen Stellen. 18 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019
IM FOKUS handlung, das Recht auf Information, terentwicklung der Situation in diesem Aktivität, Mobilität und Sorgenlosigkeit verbände und Selbsthilfeinitiativen, Beratung und Aufklärung, Kommuni- Bereich festgelegt. „Die Arbeitsbedin- ist mit dieser Lebenssituation schwer zu aber auch die privaten Anbieter sind ge- kation, Wertschätzung und Teilhabe an gungen und die Bezahlung in der Alten- vereinbaren. Deshalb muss sich nicht fordert, diesen Prozess weiter mitzuge- der Gesellschaft, Religion, Kultur und und Krankenpflege werden sofort und nur jeder und jede Einzelne mit dieser hen. Es ist aber aufgrund der demogra- Weltanschauung sowie die palliative Be- spürbar verbessert. […] In einer konzer- Situation auseinandersetzen, vielmehr phischen Entwicklung auch eine zivilge- gleitung festgelegt. Artikel, die auch tierten Aktion Pflege soll eine bedarfsge- ergibt sich daraus eine Verpflichtung für sellschaftliche Aufgabe. In unserer so heute weiterhin ihre Berechtigung und rechte Weiterentwicklung der Situation Staat, Gesellschaft und die Familien. heterogenen Gesellschaft ist eine „Ge- Gültigkeit haben. in der Altenpflege erreicht werden.“ Um die Rahmenbedingungen insgesamt meinschaftsaufgabe Pflege“ unbedingt Ein Sofortprogramm und die „kon- weiter zu verbessern, benötigen wir erforderlich, damit die vielfältig vorhan- Politisches Handeln zertierte Aktion Pflege“ sollen bundes- dringend die Anerkennung, dass Han- denen guten Ideen nicht im Sande ver- Seit der Einführung der Pflegeversiche- weit eine bedarfsgerechte Weiterent- deln und Gestalten für Pflege eine Quer- laufen. rung im Jahr 1995 hat es eine Vielzahl wicklung sicherstellen. schnittsaufgabe darstellt. In neun Schwerpunktbereichen wird von Reformen gegeben, die die auftre- Hingewiesen wird dabei auf ver- Die Zahl der Pflegebedürftigen be- es auch in Zukunft einen großen Hand- tenden Systemschwächen ausgleichen bindliche Personalbemessungsinstru- trägt derzeit 2,9 Mio. Menschen in lungsbedarf geben, damit das anerkann- sollten, die Qualität in der Pflege ver- mente. Einen hohen Stellenwert sollen Deutschland und wird bis 2035 auf te Ziel einer würdevollen Pflege auch im besserten, die Arbeitsbedingungen ver- auch die bessere Bezahlung für die Mit- rund 4 Mio. steigen. Dies führt zu Ver- Alter gewährleistet werden kann. Es änderten, die häusliche Pflege und die arbeiter sowie eine deutliche Entbüro- änderungen in allen Lebensbereichen. sind dabei insbesondere zu nennen: pflegenden Angehörigen stärken sollten kratisierung und Stärkung der häusli- sowie die Schnittstellen zwischen den chen Pflege erhalten. Gleiches gilt für 1. Ambulante Pflege und stationäre Systemen besser vernetzt haben. Vermeidung von Pflege durch Präventi- Pflegeeinrichtungen müssen be- Dies ist vor allen Dingen auch ein on. Und ganz wichtig: Auf das Einkom- darfsgerecht weiterentwickelt wer- Verdienst der Pflegekritiker, die im kon- men der Kinder von pflegebedürftigen Das Thema Pflegebedürftigkeit den. struktiven Dialog mit der Politik den Eltern soll künftig erst ab einem Ein- muss individuell und gesellschaft- 2. Ohne professionelle Pflege und da- Stellenwert der Pflege erhöht haben. kommen in Höhe von 100.000 Euro im lich mehr RELEVANZ bekommen. mit einer deutlichen Verbesserung Auch die engagierten Träger haben dazu Jahr zurückgegriffen werden. der Mitarbeitersituation sowie der beigetragen. Aber erst in den letzten Auch die bayerische Landespolitik Schaffung neuer Arbeitsplätze ist Jahren ist das Thema stärker in den po- setzt einen Schwerpunkt in der Pflege. So eine menschenwürdige Pflege nicht litischen und damit auch öffentlichen ist in der Regierungserklärung von Mi- zu gewährleisten. Mittelpunkt gerückt. nisterpräsident Söder ein Pflegegeld von 3. Wir benötigen den Ausbau von Ent- Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU 1.000 Euro pro Jahr festgelegt, das sich In der Politik darf das Thema nicht in lastungsstrukturen, damit Pflege für und SPD dieser Legislaturperiode wer- bereits hoher Nachfrage durch die Be- den Hintergrund geraten. Der Schwer- alle Beteiligten würdevoll gestaltet den mit einem Sofortprogramm Pflege troffenen und ihrer Angehörigen erfreut. punkt wird vor allem auf der Finanzie- werden kann. und darüber hinaus einer „konzertierten rung und den Strukturreformen liegen. 4. Das System der gesetzlichen Pflege- Aktion Pflege“ die bedarfsgerechte Wei- Die individuelle Situation In einer älter werdenden Gesellschaft versicherung nach dem Solidarprin- Die Sorge um die persönliche Pflegebe- müssen wir uns positiv fragen, was uns zip hat sich bewährt. Es ist unab- dürftigkeit ist für uns alle eine große in- Pflege wert ist. Die Akzeptanz für höhe- hängig davon aber über die Struktu- dividuelle Herausforderung. Manche re Beiträge ist in der Bevölkerung fast ren weiter nachzudenken, damit Be- versuchen, sich mit dieser Situation so ausschließlich in diesem Bereich gege- darfsgerechtigkeit, Humanität und Ein Sofortprogramm und die lange wie möglich nicht zu befassen. ben. Schon heute werden in der gesetzli- Effizienz miteinander vereinbar „KONZERTIERTE AKTION PFLEGE“ sollen Doch irgendwann ist jeder Mensch chen Pflegeversicherung pro Jahr rund sind. bundesweit eine bedarfsgerechte durch Familienangehörige, durch Be- 38,5 Milliarden Euro an Leistungen aus- 5. Eine besondere Rolle kommt nach Weiterentwicklung sicherstellen. kannte oder gar durch sich selbst betrof- gegeben. wie vor aufgrund der realen Situati- fen. Der Umgang mit Pflegebedürftig- Die Trägerstrukturen, also insbe- on in der Pflege den pflegenden An- keit hat in unserer Gesellschaft eindeu- sondere die freigemeinnützigen Wohl- gehörigen zu. Sie benötigen nachhal- tig Verbesserungsbedarf. Das Ideal von fahrtsverbände, die Kirchen, die Sozial- tige Unterstützungsstrukturen. 20 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 21
IM FOKUS 6. Die Wohnformen älterer Menschen Ambulante Pflege und stationäre bessert werden. Dazu bedarf es auch müssen wie selbstverständlich Pfle- Pflegeeinrichtungen weiterhin einer intensiven Dialogkultur gegerechtigkeit in allen Wohn- und Es ist unbestritten, dass der in der ge- aller Beteiligten. Ein Insider beschreibt Die RAHMENBEDINGUNGEN in der Siedlungsbereichen ermöglichen, da setzlichen Pflegeversicherung zu Recht die Situation in der stationären Alten- stationären Pflege müssen für ein hoher Anteil aller Menschen festgehaltene Vorrang der ambulanten pflege wie folgt: „Zu viel Arbeit, zu we- Patienten und Personal weiter auch zu Hause gepflegt werden will. Pflege auch noch stärker mit Leben er- nig Personal, Zeitdruck, immer ‚unter verbessert werden. 7. N eben der demographischen Ent- füllt wird. Doch die ambulante Pflege Strom‘, Abarbeiten im Dauerlauf, wür- wicklung und der Migration ist die ist, wie die Versorgung in Rehabilitati- deloses Abfertigen, keine Anerkennung, Digitalisierung eine der drei zentra- onseinrichtungen, weiterhin eine große Berge von Überstunden, unzuverlässige len Herausforderungen für die Zu- „Baustelle“. Hier gibt es trotz der vor- Dienstpläne, immer müde.“ In meiner kunft. Sie wird vor der Lebenssitua- handenen Regularien eine große Viel- langjährigen parlamentarischen Tätig- tion der Pflege nicht Halt machen. falt, die nicht immer im Interesse der keit ist für mich die Teilnahme an den Die Menschen in der Altenpflege Wir müssen das Ziel der würdevol- Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen 15 Jahre lang stattgefundenen Pflege- Gute und würdevolle Pflege setzt neben len Pflege und die Digitalisierung und auch der Mitarbeiter genutzt wird. stammtischen ein sehr beeindruckendes einer guten Aus-, Fort- und Weiterbil- miteinander in Einklang bringen. Deshalb muss es das erklärte Ziel sein, Erlebnis gewesen. Die Sorgen um eine dung vor allen Dingen ausreichendes 8. Unser Gemeinwesen lebt vom Eh- dass die Leistungskataloge in der ambu- gute Versorgung der Angehörigen, die Personal voraus. Wenn Träger klagen, renamt. Das ehrenamtliche Engage- lanten Pflege an die neuesten Pflegeer- Situation der Pflegenden und auch die dass der Personalmangel zur größten ment von Menschen ist ein unver- kenntnisse endlich angepasst werden. Notwendigkeiten für die Träger haben Herausforderung für die Gewährleis- zichtbarer Schatz. Wenn Pflegebe- Bei den Vergütungen ist es darüber hin- dabei ein spannendes Klima erzeugt, tung einer guten, qualitativ hochwerti- dürftigkeit eine wesentliche Lebens- aus wichtig, dass Preisentwicklungen aber auch immer wieder die Grundlage gen pflegerischen Versorgung geworden situation ist, dann muss auch in die- und die gestiegenen Anforderungen der für Lösungen geschaffen. Ich würde mir ist, so ist dies eine durchaus begründete sem Bereich das ehrenamtliche En- letzten Jahre entsprechend einbezogen wünschen, dass diese Pflegestammti- Beschreibung der Situation. Deshalb ist gagement unterstützt und gestärkt werden. Zudem ist es ein dringendes Er- sche heute eine Wiederbelebung erhal- eines der Hauptziele, den Pflegeberuf werden. fordernis, dass auch in der ambulanten ten. und seine Rahmenbedingungen attrakti- 9. Die Sterbebegleitung in den stationä- Pflege der Zeitdruck weiter abgebaut Nötig ist aber auch, dass wir in der ver zu gestalten. Aktuell sind knapp 1,1 ren Pflegeeinrichtungen muss weiter wird. Für alle Beteiligten ist die Situati- Versorgung weitere Wege und neue An- Mio. Personen bei Pflegediensten und in verbessert werden. on auf Dauer ansonsten nicht mehr hin- sätze praktizieren. Es ist zu wünschen, Pflegeheimen beschäftigt. Mehr als 85 % nehmbar. dass alle benötigten Berufsgruppen in davon sind Frauen. Die Mehrheit des Aus diesen Grundsätzen und der Not- 126.000 Menschen leben nach neues- den stationären Pflegeeinrichtungen ih- Personals, d. h. rund 70 %, sind teilzeit- wendigkeit zur Weiterentwicklung in ten Zahlen im Freistaat Bayern in Pflege- ren Stellenwert erhalten und über soge- beschäftigt. Neben den 13.000 zusätzli- der Pflege ergibt sich auch ein immer- heimen. Obwohl mehr als 70 % aller nannte Gesamtversorgungsverträge ab- chen Stellen, die von Bundesseite her si- währender Handlungsbedarf. Mit den pflegebedürftigen Menschen zu Hause gesichert sind. Dies gilt insbesondere für cherlich vorrangig eine Momentaufnah- bisherigen Reformen in der Pflege ist ab- gepflegt werden, bedeutet dies eine Stei- die medizinische (ärztliche) Versorgung, me darstellen, ist laut dem Koalitionsver- solut noch kein Idealzustand erreicht. gerung in den letzten zehn Jahren um aber auch für die Hauswirtschaft und trag der entscheidende Punkt, dass es für 50 %. Grund dafür ist eine zunehmende weitere therapeutische Ansätze. Einer die pflegenden Menschen über Tarifver- Zahl an stationären Pflegeplätzen im Verbesserung bedarf es auch insgesamt träge eine anständige Bezahlung gibt. Freistaat Bayern, die landesweit auf in der Behandlungspflege in den statio- Auch wenn die Attraktivität eines Beru- 136.000 angewachsen sind. nären Einrichtungen. Auch ist die Forde- fes nicht ausschließlich von der Vergü- Der Bereich Pflege unterliegt einer Die Pflegekritik ist in den letzten rung, dass die Berechnung der Folgekos- tung abhängt, so ist doch die Definition FORTWÄHRENDEN Weiterentwicklung Jahrzehnten häufig gerade in der statio- ten von Investitionen, Preisentwicklun- über diese der zentrale Punkt. Dabei ist und situationsangepassten nären Pflege, also in der Ausstattung der gen und gestiegenen Anforderungen der neben dem Ziel der Tarifbindung und Reformierung. Pflegeheime, entstanden. Deshalb muss letzten Jahre berücksichtigt werden dem Abschluss von Tarifverträgen mit auch weiterhin alles unternommen wer- muss und deshalb Anpassungen erfor- guter Bezahlung eine generelle Diskussi- den, dass die Rahmenbedingungen derlich sind, neben der Personalgewin- on über den Stellenwert sozialer und ins- auch in der stationären Pflege weiter ver- nung eine vorrangige politische Aufgabe. besondere pflegerischer Berufe in unse- 22 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 23
IM FOKUS rer Gesellschaft notwendig. Dass das Mit den Pflegestärkungsgesetzen Rahmen der Umschulung kommt auch so nicht sein, dass die Versicherungen Gehalt in vielen Bank- und Dienstleis- des Bundes werden zusätzliche Betreu- der Pflege im Studium ein immer höherer und die Pflegebedürftigen allein immer tungsbereichen wesentlich höher ist als ungskräfte finanziert, die den Alltag in Stellenwert zu. Die Studiengänge insbe- stärker zur Kasse gebeten werden. Es in der Pflege oder in anderen Sozialberu- der Pflege spürbar verbessern. Sowohl sondere in den Hochschulen für ange- muss deshalb über eine Mitfinanzie- fen, muss weiter verändert werden. die Pflegebedürftigen als auch die Fach- wandte Wissenschaften beweisen, dass rung durch Steuermittel nachgedacht Eine bessere Bezahlung durch die kräfte werden dabei unterstützt. Allein für eine professionelle Pflege und auch werden. Es handelt sich schließlich hier verschiedenen Kostenträger gerade in in der stationären Pflege wurden mitt- für die Attraktivität des Berufes weitere um eine gesamtgesellschaftliche Aufga- der Pflege muss refinanziert werden. lerweile mehr als 60.000 Frauen und Studienplätze erforderlich sind. Deshalb be, und wir sind froh, dass die gesetzli- Deshalb ist die Pflegefinanzierung nach Männer als zusätzliche Betreuungs- ist ein Ausbau ebenso zu unterstützen che Pflegeversicherung, wie die anderen wie vor auch hinsichtlich der Personalsi- kräfte für Verbesserungen im Pflegeall- wie die Schaffung von Lehrstühlen für Sozialversicherungssysteme auch, nach tuation das zentrale Thema. Das Ziel tag angestellt. Dies ist weit mehr als Pflegewissenschaft an verschiedenen dem Solidarprinzip aufgebaut ist. Dies sollte wie in der ambulanten Pflege auch eine Verdoppelung in den letzten fünf Hochschulen und Stipendiengelder für bedeutet, dass nicht nur das individuelle sein, mehr Zeit für die eigentliche Hilfe Jahren. Studierende, die in der Pflegepädagogik Risiko maßgeblich ist, sondern die Soli- zu haben. Dies bedeutet auch eine ver- Die Pflegekräfte sind der wesentli- tätig sind. Auch hier ist eine zusätzliche dargemeinschaft den Pflege- bzw. Krank- lässliche Arbeitsplanung. Dazu ist eine che Bestandteil in der ambulanten wie Personalgewinnung nämlich erforder- heitsfall mit abdeckt. Anhebung der Personalschlüssel in der der stationären Pflege. Deshalb ist es lich. Pflegekräfte beklagen häufig, dass stationären Pflege notwendig, auch erforderlich, dass die Betroffenen „auf die Pflegedokumentation einen nach wenn für Kostenträger und die Träger Augenhöhe‘“ mit den anderen berufs- wie vor zu hohen Anteil der Arbeitszeit von Einrichtungen dies große Anstren- ständischen Vertretungen im Gesund- einnimmt. Deshalb sind alle Modellver- gungen mit sich bringen wird. Es ist heitsbereich arbeiten können. Sie könn- suche und Projekte, die eine einfachere aber auch notwendig, in der Ausbildung ten damit auch einen ganz wesentlichen Die Pflegekräfte brauchen Dokumentation zum Ziel haben, nach- die zusätzlichen Herausforderungen in Beitrag zur Weiterentwicklung der eine starke berufsständische drücklich zu unterstützen. Eine stan- der Pflege abzubilden und zu lösen. Dies Qualität der pflegerischen Versorgung INTERESSENSVERTRETUNG. dardisierte Pflegedokumentation kann bedeutet auch, dass durch die Reform zum Wohle der Bürger einbringen. Ob auch schlanker sein, als dies in der Ver- der Pflegeausbildung die Zahl derjeni- dies mit dem jetzt auf Landesebene ge- gangenheit der Fall gewesen ist. Die Ent- gen, die in die Altenpflege gehen, weiter schaffenen Konstrukt einer „Vereini- lastung für die Pflegenden wäre nicht erhöht werden muss. Dazu wird es auch gung der bayerischen Pflege“ gelingen unerheblich. in Zukunft wieder erforderlich sein, wird, muss man abwarten. Es ist aber Die Kostensteigerungen, die sich dass interessierte und geeignete Perso- sicherlich keine überhöhte Forderung, Reformbedarf in der gesetzlichen auch in Zukunft nicht vermeiden lassen nen aus anderen Berufsbereichen in die wenn man sich mit einem größeren Teil Pflegeversicherung werden, müssen zu den schon beschrie- Pflegeausbildung gehen. Mehr als jede der Verbände der Pflegekräfte für die Neben den notwendigen und bereits er- benen Konsequenzen führen. Nach ei- vierte Ausbildung zur Altenpflegekraft Einführung einer Pflegekammer ein- örterten Maßnahmen ist eine Weiter- ner Berechnung des VdK liegt der Eigen- wurde als Umschulung gefördert. Die- setzt. Eine starke Selbstverwaltung kann entwicklung der gesetzlichen Pflegever- anteil für Heimkosten im Bundesdurch- ser Weg muss weitergegangen werden, neben den Tarifvertragsparteien im Ge- sicherung zu diskutieren. Der Beitrags- schnitt bei 1.831,00 Euro pro Monat, um ausreichend Personal gewinnen zu haltsbereich für die berufsständischen satz in der gesetzlichen Pflegeversiche- der im Gegensatz zur Krankenpflege di- können. Interessen und die Fachlichkeit wie z. B. rung beträgt 2019 3,05 % des Bruttoein- rekt an die Pflegebedürftigen weiterge- Ärzte- und Apothekerkammern einen kommens (Beitragszahler ohne Kinder reicht wird. ganz wesentlichen Beitrag leisten. Des- 3,3 %). Wenn zur weiteren Verbesse- Es geht aber bei der grundlegenden halb darf diese Diskussion im Interesse rung in der Pflege der Bedarf und die zu- Reformdiskussion nicht nur um den fi- der Pflegenden, aber vor allen Dingen sätzlichen Mittel notwendig sind, so ist, nanziellen Rahmen, um Wirtschaftlich- Der Pflegeberuf muss ATTRAKTIVER auch im Interesse der Pflegebedürftigen wie schon erwähnt, mit einer hohen Ak- keit, Qualität und Arbeitsbedingungen, werden. und der Pflegequalität nicht beendet zeptanz in der Bevölkerung zu rechnen. sondern auch darum, möglicherweise werden. Dies bedeutet aber auch, dass sich höhe- immer noch zu starre Strukturen aufzu- Neben den schon genannten verbes- re Beiträge in der Qualität der Pflege be- brechen. Die von Reformkräften gefor- serten Ausbildungsbedingungen auch im merkbar machen müssen. Es kann eben- derte Überwindung der bisherigen Tren- 24 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 25
IM FOKUS nung in einen ambulanten und stationä- Pflegereform tatsächlich die Situation bung im Wohnbereich angepasst wird. auch die menschliche Zuwendung, das ren Sektor, die Einführung des Prinzips der pflegenden Angehörigen im System Diese Wege müssen auch in der Woh- Wort und die persönliche Pflege. Des- „Wohnen und Pflege, Quartiersarbeit schon ausreichend berücksichtigt? Die nungsbauförderung zu einer Selbstver- halb muss dieser Prozess auch unter und Pflegeinfrastruktur“ müssen dabei vielfältigen Probleme der Betroffenen, ständlichkeit werden. Die Menschen dem Gesichtspunkt einer würdevollen weiter angegangen werden. die sich nunmehr erfreulicherweise im sollen so würdevoll gepflegt werden, Pflege beurteilt werden. Freistaat Bayern auch stärker in die Dis- wie sie sich das in der entsprechenden kussion einbringen, zeigt eher das Ge- Umgebung vorstellen. Das Angebots- Ehrenamt in der Pflege genteil. Deshalb ist es notwendig, die spektrum muss die verschiedenen Leis- Viele Menschen sind bereit, über den Wertschätzung für die humanen Diens- tungsbereiche, von niedrigschwelligen Familienkreis hinaus sich ehrenamtlich Die gesetzliche Pflegeversicherung te der pflegenden Angehörigen wesent- Betreuungsangeboten über Angebote zu engagieren. Gar nicht selten wird bedarf weiterer REFORMMAßNAHMEN. lich stärker zu berücksichtigen, mehr im betreuten Wohnen, in ambulant ver- dies aber gerade in stationären Einrich- Entlastung zu gewährleisten, sie in die sorgten Wohngemeinschaften bis hin tungen gar nicht gewünscht, weil damit Mitbestimmung in pflegerischen Struk- zur ambulanten und stationären Pflege, ein „geschlossener Betrieb“ nicht mehr turen besser einzubinden und auch in umfassen. gewährleistet werden könnte. Gerade der Altersversorgung wirklich spürbare angesichts des Personalmangels und Schritte zu gehen. In einer sorgenden der Zeitsituation sind aber die Besuchs- Entlastungsstrukturen und Gesellschaft, die unser christlich-sozia- person, der Lesepate oder derjenige, der vorhandene Defizite les Ziel ist, geht es sowohl um Erziehung mit den Pflegebedürftigen in den Gar- Wenn in der ambulanten Pflege Ange- und Begleitung der Kinder als auch Hil- Das WOHNRAUMANGEBOT muss ten oder in die Grünanlagen geht, ein hörige durch Urlaub oder Verhinderung fe und Pflege für die älteren Angehöri- sich mehr auf den Bedarf im Highlight im Lebensalltag der zu Pfle- Kurzzeitpflegeplätze benötigen, können gen. Deshalb ist eine langfristige Gleich- Alter ausrichten. genden. Dieses Handeln im Sinne der diese häufig nicht zur Verfügung gestellt stellung der pflegenden Angehörigen würdevollen Pflege sollte in der Praxis werden. Oft werden Anfragen nach mit Eltern in der Erziehungsphase das stärker ermöglicht und nicht blockiert Kurzzeitpflege deshalb abgelehnt. Eine Ziel. In der Altersversorgung und im be- werden. Es wäre eine echte Win-win- Verbesserung des Angebots mit der ent- ruflichen Bereich ist hierbei an den Stell- Situation. sprechenden Finanzierung, aber auch schrauben zu arbeiten. unkonventionelle Lösungen wie das Digitalisierung und Palliative Begleitung in stationären Einstreuen von Kurzzeitpflegeplätzen Wohnen im Alter würdevolle Pflege Einrichtungen müssen bei Berücksichtigung des regio- Zwischen 80 % und 90 % der älteren Bei der großen Sozialmesse im Freistaat Erfreulicherweise – und hier gibt es in nalen Bedarfs hier als eine vorrangige Menschen wollen in ihrer angestamm- Bayern, der ConSozial in Nürnberg, unserem Land weiterhin einen großen Aufgabe gesehen werden. Die Bemü- ten Wohnumgebung bleiben. In der präsentierte der Caritas-Landesverband Handlungsbedarf – wurde durch den hungen insbesondere auch des bisheri- Planung für ein seniorengerechtes anlässlich der Themenschwerpunktset- Gesetzgeber in der Sterbebegleitung der gen Patienten- und Pflegebeauftragten Quartiersmanagement und pflegege- zung der Digitalisierung im sozialen Be- Hospiz- und Palliativbereich wesentlich der Bayerischen Staatsregierung müssen rechte Wohnungen ist diesbezüglich reich einen Pflegeroboter. Dieses zu- gestärkt. Die Voraussetzungen für den auch in Zukunft weiter und endlich zu noch sehr viel zu tun. Sowohl in beste- nächst ungewohnte Modell kann selbst- Ausbau konnten so getroffen werden. einem Ergebnis geführt werden. henden Siedlungen als auch in Neubau- verständlich auch zur Entlastung bei Die ambulanten Hospizdienste nehmen gebieten müssen hier die entsprechen- pflegenden Menschen beitragen. In asia- in der häuslichen Pflege einen wichtigen Pflegende Angehörige den Voraussetzungen geschaffen wer- tischen Ländern ist dies schon häufig Stellenwert ein, aber viele Menschen Rund 70 % der Pflegebedürftigen wer- den. Selbsthilfeinitiativen zum Wohnen der Fall. Wenn daraus ein Mehr an Zeit verbringen ihre letzte Lebensphase in den von ihren Angehörigen gepflegt. im Alter, gerade auch in München, ha- für die eigentliche Pflege entsteht, ist Pflegeeinrichtungen und die Sterbebe- Dies ist eine bemerkenswerte Zahl. Die ben hier vorbildlichen Charakter. In dieser Prozess zu begrüßen. Nicht posi- gleitung muss dabei noch besser ausge- Pflegebedürftigen schätzen diese Dienste Wohngemeinschaften und alleinste- tiv zu bewerten wäre allerdings, wenn staltet und gefördert werden. Jede stati- ihrer Angehörigen in der Regel sehr und hend mit pflege- und seniorengerechten diese Roboter die pflegenden Menschen onäre Pflegeeinrichtung sollte auch ein sie sind unverzichtbar. Doch wurde au- Angeboten werden hier Modelle der komplett ersetzen würden. Entschei- gutes Hospiz- und Palliativangebot an- ßer einem ersten Schritt in der letzten Zukunft geschaffen, denen die Umge- dend sind gerade in der Pflegesituation bieten können. 26 POLITISCHE STUDIEN // 483/2019 483/2019 // POLITISCHE STUDIEN 27
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