DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

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DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
24          AMEZ – Argumente und ­Materialien
            der Entwicklungs­zusammenarbeit

Susanne Luther (Hrsg.)

DIGITALER WANDEL IN DER
­ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit • Digitalisierung in aufstrebenden
Mächten • Perspektiven digitaler Governance in China • Digitalisierung ohne Internet – der Fall
Nordkoreas • Indiens Kampf mit alten Problemen in einem neuen Zeitalter • Cryptocurrencies und
Blockchain • Digitalisierung und Entwicklungszusammenarbeit in Afrika

                                                                                 www.hss.de
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
.
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Susanne Luther (Hrsg.)

DIGITALER WANDEL IN DER
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Impressum

ISBN                                   978-3-88795-570-0
Herausgeber                            Copyright 2018, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München
                                       Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0
                                       E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de
Vorsitzende                            Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.
Generalsekretär                        Oliver Jörg
Leiterin des Instituts für             Dr. Susanne Luther
Internationale Zusammenarbeit
Redaktionsleitung                      Karin von Goerne
Redaktion                              Veronika Eichinger
                                       Victor Hagemann
                                       Louise von Hobe-Gelting
                                       Franziska Weichselbaumer
                                       Kontakt zur Redaktion: iiz@hss.de
V.i.S.d.P.                             Thomas Reiner
Redaktionsschluss                      09.12.2019
Druck                                  Hausdruckerei der Hanns-Seidel-Stiftung
Titelbild                              Gerd Altmann, pixabay

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DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
GELEITWORT

   || Susanne Luther

„I hope we will use the Net to cross barriers and
connect cultures.”

Tim Berners Lee, 2005

Liebe Leserinnen und Leser,

   Digitale Revolution, digitale Transforma-        Die Verknüpfung und systematische Auswer-
tion oder Megatrend Digitalisierung: wenn es        tung großer Datenmengen kann einen Beitrag
um die Nachfolge des analogen Zeitalters            zum Verständnis komplexer Entwicklungs-
geht, entstehen fast täglich neue Schlag-           probleme leisten, und helfen, Fortschritte bei
worte, und oft wird auf Superlative zurückge-       der Implementierung von Lösungsansätzen
griffen, um die massiven Veränderungen zu           zu verfolgen.
erfassen, die sich mittlerweile auf alle Le-
                                                        Regierungen in Entwicklungs- und
bensbereiche auswirken.
                                                    Schwellenländern loten auf nationaler und
   Die Entwicklung der Digitalisierung ver-         regionaler Ebene Möglichkeiten im Bereich E-
läuft zu schnell, um ihr analytisch in Echtzeit     Government aus. Mit dem Einsatz digitaler
gerecht werden zu können. Wir sind von ei-          Technologien in der staatlichen Verwaltung
nem dichten Netz digitaler Möglichkeiten            soll die Interaktion von Bürgern und Staat er-
und Notwendigkeiten umsponnen, von dem              leichtert, und politische Transparenz erhöht
wir uns erhoffen, dass es unser Leben effizi-       werden. Auch die Vernetzung und Mobilisie-
enter und einfacher gestalten wird.                 rung innerhalb der globalen Zivilgesellschaft
                                                    ist durch die Digitalisierung sehr viel effekti-
   Gleichzeitig lässt die beschleunigte digi-       ver möglich.
tale Kommunikation die Reaktionszeiten in
der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im           Auf der lokalen Ebene haben digitale An-
Privat- und Arbeitsleben auf ein Minimum            wendungen das Potential, die Lebensum-
schrumpfen, und erfordert ein nie zuvor da-         stände von Menschen konkret zu verbessern:
gewesenes Maß an Aufmerksamkeit und An-                Zum Beispiel können im Gesundheits- und
passungsfähigkeit.                                  Bildungssektor Probleme, die sich aus unzu-
                                                    reichender Infrastruktur und weiten Entfer-
    Auch in Entwicklungs- und Schwellenlän-
                                                    nungen ergeben, durch digitale Technologien
dern und in der Entwicklungszusammenar-
                                                    abgemildert werden. In der Landwirtschaft
beit werden große Hoffnungen in die Digita-
                                                    können sich Kleinbauern mittels Wetterdaten
lisierung gesetzt, um die Ziele der Agenda
                                                    informieren und rechtzeitig Vorsorge gegen
2030 für nachhaltige Entwicklung zu errei-
                                                    Ernteausfälle treffen. Digitale Bezahlsysteme
chen. Digitalisierung ist dabei auf allen Im-
                                                    wie das kenianische M-Pesa machen die
plementierungsebenen ein Querschnitts-
                                                    Überweisung von Geld per Mobiltelefon auch
thema:
                                                    für Menschen ohne Bankkonto möglich.

                          ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24             3
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
SUSANNE LUTHER

Durch die Blockchain-Technologie können           aber werden in der Realität große Teile der Be-
zum Beispiel Grundbücher quasi fälschungs-        völkerung weiter abgehängt und die globale
sicher und damit Eigentumsrechte besser           Ungleichheit verstärkt.
durchsetzbar gemacht werden.
                                                      Einer der idealistischen Ansprüche der
   Nicht nur Geberländer und -Organisatio-        mittlerweile zu Giganten gewordenen Inter-
nen treiben die Digitalisierung voran; viele      netunternehmen der ersten Stunde war es, –
Entwicklungs- und Schwellenländer investie-       im Sinne des Zitats am Anfang des Textes –
ren selbst massiv in den Ausbau digitaler         die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Technologien und Infrastruktur. Sie haben,        Doch das Versprechen der Digitalisierung,
vor allem im digitalen Bereich, häufig beson-     den Menschen zu dienen, ist größtenteils
dere Voraussetzungen: Durch Leapfrogging,         nicht eingelöst worden. Digitalisierung ist
dem Überspringen von Entwicklungsstufen,          vielmehr statt Mittel zum Zweck eher Zweck
konnten in einigen Sektoren die Industrie-        an sich geworden. Auch wurden und werden
staaten sogar überholt werden. So wurde           mit der gigantischen Generierung von Daten
zum Beispiel in vielen Ländern Afrikas der        neue Möglichkeiten zur Überwachung und
Festnetzausbau weitgehend übersprungen.           Repression geschaffen, was insbesondere in
                                                  autokratisch regierten Staaten oder Ländern
    Auch die ökologische Dimension der Digi-      mit fragilen Institutionen höchst problema-
talisierung darf nicht vernachlässigt werden.     tisch sein kann. In einem politischen Klima,
Digitale Technologien versprechen zwar            das mittlerweile in vielen Ländern von gesell-
durch den Einsatz ressourcenschonender            schaftlicher Spaltung und Angst vor Fake
Technologien einen Beitrag zur Abmilderung        News und Desinformationskampagnen ge-
des Klimawandels und der grassierenden            prägt ist, wird deutlich, wie wichtig Ver-
Umweltzerstörung. Doch ist der Stromver-          trauen für Gesellschaft und Politik ist.
brauch und damit der CO2- Ausstoß von digi-
talen Techniken immens; eine Studie des              Die Beiträge dieser Ausgabe der Reihe
Think Tanks ‚The Shift Project‘ geht von 4        „Argumente und Materialien der Entwick-
Prozent der globalen Treibhausemissionen          lungszusammenarbeit“ geben einen Einblick
aus, mit einer Verdopplung bis 2025.              in diese und weitere Aspekte des digitalen
                                                  Wandels.
   Die Möglichkeiten der Digitalisierung
scheinen endlos, sind aber auch schier un-           Prof. Hartmut Sangmeister blickt in sei-
überschaubar. Aber all diese Möglichkeiten        nem einführenden Artikel auf die „Digitale
basieren auf analogen Voraussetzungen, wie        Agenda“ des Bundesministeriums für Wirt-
einer sicheren elektrischen Infrastruktur,        schaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
dem Zugang zum Internet und dem techni-           lung (BMZ) und wägt Chancen und Risiken di-
schen know-how von Anwendern und Produ-           gitaler Innovationen für Entwicklungsländer
zenten.                                           und Geberländer ab, vor allem im Hinblick
                                                  auf Teilhabe, Transparenz, Effizienz und
   Ohne diese und weitere Faktoren ist der in     Ethik.
diesem Kontext von der Weltbank geprägte
Begriff der digitalen Dividende für alle noch        Wulf Reiners und Sven Grimm vom Deut-
in weiter Ferne. Im Gegenteil, begreift man       schen Institut für Entwicklungspolitik be-
Digitalisierung als Katalysator für vorhande-     leuchten in einem überregionalen Blick auf
nes (Entwicklungs)Potential, ist in Ländern       Schwellenländer die oft sehr ähnlichen Her-
oder in gesellschaftlichen Schichten mit mehr     ausforderungen im Bereich der E-Gover-
analogem Anfangskapital die Beschleunigung        nance. Zum einen bietet sie enorme Möglich-
und damit der „Gewinn“ ungleich stärker. Der      keiten für die Bereitstellung von öffentlichen
technische und digitale Fortschritt kann zu In-   Dienstleistungen, Bürgerbeteiligung, und
klusion und Wohlstand führen, gleichzeitig        verbesserte Transparenz und Rechenschaft in

4   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
DIGITALER WANDEL

Verwaltungsabläufen, jedoch kann sie auch        wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
mit erheblichen Risiken verbunden sein, ins-     wicklung. Im Anschluss gibt ein Interview
besondere im Bereich des Datenschutzes.          mit Tim Weiss, Postdoktorand an der Stan-
                                                 ford University, einen vertieften Einblick in
    China spielt eine Vorreiterrolle beim Ein-   die Digitalisierung in Kenia, einem Land, in
satz neuer Informations- und Kommunikati-        dem gesellschaftliche und unternehmerische
onstechnologien in der Regierungsführung.        Dynamik für eine vibrierende Start-Up Szene
Katja Drinhausen vom Mercator Institute for      sorgt.
China Studies (MERICS) beschreibt die digi-
tale Strategie der Volksrepublik, welche mitt-      Zu guter Letzt wird die Onlineplattform
lerweile ein wichtiger Akteur in der globalen    „Civics Academy“ vorgestellt, ein digitales
Entwicklungszusammenarbeit und im Aufbau         politisches Bildungsprojekt der Hanns-Sei-
digitaler Infrastruktur ist. Dies bietet neue    del-Stiftung in Südafrika: Videos und Po-
Potentiale der Kooperation, jedoch müssen        dcasts zu Themen wie Demokratie, Verfas-
die unterschiedlichen Wertesysteme und po-       sung, Wahlen, kommunale Selbstverwaltung
litischen Prioritäten bedacht werden, die den    und Gleichberechtigung fördern das Ver-
Einsatz neuer Technologien bestimmen.            ständnis für die Relevanz politische Teil-
                                                 habe. Auch die die Bedeutung politischer Bil-
   Der Beitrag „Digitalisierung ohne Inter-      dung kann so gegenüber Entscheidungsträ-
net“ aus Nordkorea von Dr. Bernhard Seliger      gern greifbar vermittelt werden und moderne
beleuchtet den Sonderfall eines Landes, das      Lehrformen in Bildungseinrichtungen unter-
größtenteils isoliert von der Weltgemein-        stützen.
schaft einen eigenen digitalen Weg sucht.
                                                    Um abschließend noch einmal auf die
   Volker Plän und Tim Hartung beschreiben       Worte von Tim Berners Lee zurückzukommen:
in ihrem Artikel „Indiens Kampf mit alten        Die Hanns-Seidel Stiftung versucht weltweit
Problemen in einem neuen Zeitalter“ den Fall     in Partnerländern, – sowohl digital als ana-
eines Landes, das seit Jahren den Ruf als        log – einen Beitrag dazu zu leisten, Grenzen
Großmacht der Informationstechnologie in-        zu überwinden und Kulturen zu verbinden. In
nehat, jedoch durch die Klüfte zwischen          Zeiten ‚digitaler Revolutionen‘ wird dies si-
Stadt und Land, zwischen fortgeschrittenen       cherlich noch herausfordernder, aber umso
digitalen Bürgern und fehlendem Internetzu-      lohnenswerter werden.
gang, großen Herausforderungen gegenüber-
steht.                                              In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine
                                                 anregende Lektüre,
   Mit einem anderen Aspekt der Digitalisie-
rung – den Anwendungsmöglichkeiten der
Blockchaintechnologie und von Kryptowäh-
rungen – setzt sich Maximilian Melle ausei-
nander: Bitcoin und andere Kryptowährun-
gen sind auch in Entwicklungsländern ein         || Dr. Susanne Luther
wichtiges Thema und werden von vielen EZ-
                                                 Leiterin des Instituts für Internationale Zusam-
Akteuren als potentielle Instrumente be-
                                                 menarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung
trachtet, die Durchführung von Entwicklungs-
zusammenarbeit und angrenzenden Politik-
bereichen effizienter zu machen.

   Uta Staschewski reflektiert in ihrem Bei-
trag über die Möglichkeiten der Digitalisie-
rung in Afrika, vor allem im Hinblick auf die
Auswirkungen auf Gesellschaft, Bildung,

                ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24                    5
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
.
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
INHALT

03    Geleitwort
      Susanne Luther

09    Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit
      Hartmut Sangmeister

19    Digitalisierung in aufstrebenden Mächten –
      Trends und Strategien
      Wulf Reiners und Sven Grimm
29    Perspektiven Digitaler Governance in China:
      Zwischen Verbesserung sozialer Teilhabe
      und politischer Kontrolle
      Katja Drinhausen
43    Digitalisierung ohne Internet – der Fall Nordkoreas
      Bernhard Seliger
51    Indiens Kampf mit alten Problemen in einem neuen Zeitalter
      Volker Plän und Tim Hartung
63    Cryptocurrencies, Blockchain and Development Cooperation
      Max Melle
75    Digitalisierung und
      Entwicklungszusammenarbeit in Afrika
      Uta Staschewski
81    Digitalisierung in Kenia
      Interview mit Tim Weiss
89    Civics Academy - politische Bildung für junge Erwachsene
      Mira Dutschke und Marlene Barnard

ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24        7
DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
Hartmut Sangmeister

Die Zukunft der digitalisierten
Entwicklungszusammenarbeit

In allen Bereichen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sollen digitale Innovationen
gefördert werden, um Effizienz- und Effektivitätspotenziale zu mobilisieren. Digitalisierung
eröffnet Menschen auch in den Ländern des Globalen Südens gesellschaftliche Chancen.
Digitalisierung ist jedoch mit Risiken verbunden, da sie viele Arbeits- und Lebensbereiche
radikal verändert. In der Entwicklungszusammenarbeit sind Entscheidungen zu treffen, die
Künstlicher Intelligenz nicht überlassen werden können. Es bedarf einer Ethik für die digi-
talen Technologien der Zukunft.

 Schlagwörter:
 Demokratie - Digitalisierung - Digitale Agenda - Entwicklungszusammenarbeit - Entwicklungspolitik
- Ethik - Innovationen - Künstliche Intelligenz - Soziale Medien - Transparenz
Die Zukunft der digitalisierten
Entwicklungszusammenarbeit

    || Hartmut Sangmeister

1. Digitalisierte Entwicklungszusammenar-       diese Fragen haben die Chancen und Risiken
   beit – ein Neustart?                         der Digitalisierung abzuwägen, und sie müs-
                                                sen dabei auch den gesamtgesellschaftli-
     In vielen Institutionen und bei zahlrei-   chen Kontext berücksichtigen, in dem Ent-
chen Akteuren der deutschen Entwicklungs-       wicklungspolitik stattfindet.
zusammenarbeit (EZ) lässt sich derzeit eine
widersprüchliche Stimmungslage beobach-         2. Die „Digitale Agenda“ der deutschen
ten. Einerseits wird die Sinnhaftigkeit der        Entwicklungspolitik
EZ in ihrer jetzigen Ausrichtung vielfach in
Frage gestellt. Auf allen Ebenen der EZ be-          Im Rahmen der „Digitalen Agenda
stehen Zweifel, ob Ziele, Strukturen und        2014-2017“ der Bundesregierung erhielt
Instrumente der eigenen Tätigkeiten noch        das BMZ den politischen Auftrag, Informa-
angemessen sind, und ob es überhaupt Sinn       tions- und Kommunikationstechnologien in
macht, sich weiterhin dafür zu engagieren.      allen Sektoren der deutschen EZ zu etablie-
Hinzu kommt die frustrierende Erfahrung,        ren. Dementsprechend beschreibt die „Digi-
dass Grundsätze der westlichen EZ und der       tale Agenda des BMZ" die Strategie des Mi-
damit verbundene Wertekanon des Westens         nisteriums für eine moderne EZ in einer di-
in Teilen der Welt offen abgelehnt werden.      gitalisierten Welt.1 Mit der „Digitalen Agen-
Andererseits herrscht aber auch Aufbruchs-      da“ will das BMZ aufzeigen, welche Chancen
stimmung, die durch die Diskussionen über       der digitale Wandel für und in der EZ bieten
Chancen und Herausforderungen der Digita-       kann, und welche Herausforderungen es
lisierung in der EZ in Gang gesetzt wurde.      dabei zu bewältigen gilt. Die „Digitale
Nicht zuletzt die „Digitale Agenda“ des Bun-    Agenda“ soll die Grundlage neuer digitaler
desministeriums für wirtschaftliche Zusam-      Ansätze in der Arbeit aller Durchführungsor-
menarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert         ganisationen der deutschen EZ bilden und
hohe Erwartungen auf einen zukunftsfähigen      als strategische Orientierung bei der Im-
„digitalen“ Veränderungsprozess in der EZ.      plementierung digitaler EZ-Vorhaben die-
Ebenso wie in vielen anderen Bereichen, soll    nen.2
auch in der EZ die verstärkte Anwendung
                                                     Die „Digitale Agenda“ des BMZ nennt
von Digitaltechnologien die Nutzung von
                                                fünf strategische Ziele der Entwicklungspoli-
Synergieeffekten ermöglichen sowie Effizi-
                                                tik im digitalen Zeitalter:
enz- und Effektivitätsgewinne mobilisieren.
Aber ist von digitalen Transformationen            1.   Digitale Innovationen nutzen.
tatsächlich ein Neustart der EZ zu erwarten,       2.   Demokratische Verfahren stärken.
eine wirkungsvollere, eine bessere EZ?             3.   Menschen auf der Flucht helfen.
Überlegungen zu möglichen Antworten auf            4.   Zukunftssichere Jobs schaffen.

                       ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24         9
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER

     5. Menschenrechte und Teilhabe si-          die Bewertungskriterien Effizienz und Effek-
        cherstellen.3                            tivität, jedoch nicht notwendigerweise auch
                                                 für die DAC-Bewertungskriterien Impact und
     Demokratisierung, Wahrung der Men-          Nachhaltigkeit.4
schenrechte und Partizipation waren bereits
in zurückliegenden Dekaden feste Bestand-        3. Chancen der Digitalisierung
teile der entwicklungspolitischen Zielkata-
loge früherer Bundesregierungen; als neue             Unabhängig von dem Stellenwert, der
Zielvorgaben nennt die „Digitale Agenda“         innerhalb der „Digitalen Agenda“ des BMZ
des BMZ die Nutzung digitaler Innovationen,      den einzelnen Zielen zukommt, ist die Vor-
die Schaffung zukunftssicherer Jobs sowie        gabe sinnvoll, die Nutzung digitaler Innova-
Hilfe für Menschen auf der Flucht. Das stra-     tionen zu fördern. Denn die gesellschaftli-
tegische Ziel „Menschen auf der Flucht hel-      chen Chancen der Digitalisierung sind weit-
fen“ ist jedoch nicht gleichzusetzen mit         gehend unstrittig, ebenso wie die Vorteile
„Fluchtursachenbekämpfung“ – dem neuen           digitaler (Lösungs-)Ansätze und digital ba-
weasel word innenpolitisch motivierter Be-       sierter Durchführungsprozeduren in der EZ.
ruhigungsrhetorik.
                                                 Einige Beispiele:
     Die Hierarchie des entwicklungspoliti-
schen Zielkatalogs für das digitale Zeitalter     Digitalisierung eröffnet Ländern des
lässt sich zweifelsohne kritisch kommentie-      Globalen Südens die Möglichkeit, durch
ren und kontrovers diskutieren. Sollte bei-      adaptierte Technologiesprünge Rückstände
spielsweise der Wahrung der Menschenrech-        sehr schnell aufzuholen. Mit der Verfügbar-
te und der Stärkung demokratischer Verfah-       keit über digitale Kommunikationstechnik
ren nicht Vorrang gegenüber der Nutzung          erübrigt es sich beispielsweise, eine analoge
digitaler Innovationen zukommen? Wichti-         Kommunikationsinfrastruktur mit hohem
ger noch als die Frage der entwicklungspoli-     Kostenaufwand aufzubauen.
tischen Zielhierarchie erscheint die Frage,       Eine flächendeckende Nutzung von Digi-
ob die Ziele durch eine „digitalisierte“ EZ      taltechnik vereinfacht und beschleunigt den
besser erreicht werden können. Dabei ist         innergesellschaftlichen und internationalen
auch zu berücksichtigen, dass deutsche EZ        Austausch von Informationen.
in vielen Ländern agiert, unter sehr unter-
schiedlichen Rahmenbedingungen und in             Die Digitalisierung lässt mehr Menschen
verschiedensten kulturellen Kontexten. Bei-      an dem universal verfügbaren Wissen teilha-
de Faktoren können maßgeblichen Einfluss         ben, das ihnen in der transkulturellen Web-
auf die intendierten und nicht-intendierten      sphäre zugänglich ist.
Wirkungen von EZ-Vorhaben und deren               Durch Digitalisierung erhalten mehr
Nachhaltigkeit ausüben. Es ist offen, ob         Menschen im Globalen Süden Zugang zu In-
digitale Innovationen — unabhängig von           formationen, die ihnen eine inhaltlich besser
den je gegebenen Rahmenbedingungen und           fundierte demokratische Partizipation ermög-
kulturellen Kontexten — bessere Ergebnisse       lichen können.
der EZ gewährleisten. Legt man die Bewer-
                                                  Das Internet eröffnet den Menschen bes-
tungskriterien des Development Assistance
                                                 sere Chancen, sich zu organisieren, und er-
Committee (DAC) der Organisation for Eco-
                                                 möglicht es ihnen, ihren politischen Willen in
nomic    Co-operation    and    Development
                                                 sozialen Netzwerken schneller zu artikulie-
(OECD) zu Grunde, dann kann tendenziell
                                                 ren, als dies in herkömmlichen demokrati-
davon ausgegangen werden, dass eine digi-
                                                 schen Wahlverfahren der Fall ist.
talisierte EZ in einem digitalaffinen Umfeld
im Vergleich zu dem Status quo ante positiv       Die Beschleunigung digitalisierter Zah-
zu bewerten ist. Dies gilt ceteris paribus für   lungsvorgänge zu niedrigeren Transaktions-

10   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

kosten, auch über Landesgrenzen hinweg,         nen beispielsweise die periodischen Be-
erleichtert das Alltagsleben vieler Menschen    richtspflichten des EZ-Projektmanagements
in Entwicklungsländern, insbesondere der        mit dem Einsatz auf Künstlicher Intelligenz
Menschen, die in ländlichen Regionen woh-       (KI) basierender Software weitgehend au-
nen.                                            tomatisiert erfüllt werden.
 Digitale Plattformen können eine Um-                 Digitalisierung kann EZ agiler und
gehungsmöglichkeit inkompetenter, korrup-       umweltfreundlicher gestalten, indem Men-
ter oder wirtschafts- und entwicklungsfeind-    schen internetbasiert in vielen Ländern rund
licher staatlicher Strukturen bieten, so dass   um den Globus vernetzt miteinander kom-
sich viele Menschen in Partnerländern der       munizieren und zusammen arbeiten, ohne
EZ weniger isoliert und ausgeliefert vor-       dass Reisekosten entstehen und umwelt-
kommen müssen.5                                 schädliche Treibhausgase wie CO2 emittiert
                                                werden.6
    Mit der Förderung von E-Government in
Partnerländern können die Abläufe bislang              Durch digitale Transformation stan-
hoffnungslos überforderter Verwaltungen         dardisierter Prozesse in der EZ (wie Aus-
beschleunigt werden, und „gläserne Büro-        schreibungen, Fortschrittskontrollen, Daten-
kraten“ lassen die staatliche Mittelverwen-     sammlungen, Evaluierungen etc.) werden
dung durchschaubarer werden.                    mit sinkenden Opportunitätskosten Effizi-
                                                enzgewinne mobilisiert.
     Um die gesellschaftlichen Chancen der
                                                       Neue Handlungsfelder in der EZ las-
Digitalisierung nutzen zu können, müssen
                                                sen sich digital strukturieren und bearbei-
allerdings Grundvoraussetzungen vorhanden
                                                ten, indem KI-Programmelemente nach dem
sein. Zu diesen Voraussetzungen gehört die
                                                Baukastenprinzip zusammengefügt werden,
digitale Infrastruktur ebenso wie „digitale
                                                die sich aus der Cloud abrufen lassen.7
Alphabetisierung“ der Menschen, ohne die
eine verantwortungsbewusste Wahrneh-                   Digitalisierung ermöglicht mehr
mung der Möglichkeiten des digitalen Wan-       Transparenz in der EZ, was für die Akzep-
dels nicht gewährleistet ist. Ohne eine flä-    tanz von EZ wichtig ist; dies gilt sowohl für
chendeckende digitale Basisinfrastruktur        Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in den
bleiben die digitalen Nutzungsmöglichkei-       Geberländern, als auch für kritische Bürge-
ten beschränkt, beispielsweise für Men-         rinnen und Bürger in den Partnerländern.
schen in entlegenen ländlichen Regionen.        Ebenso müssen spendenfinanzierte Nichtre-
Ob auch arme Menschen das Internet nutzen       gierungsorganisationen (NROs), die sich in
können, ist eine Frage der Preisgestaltung      der EZ engagieren, an weitest gehender
für den Internetzugang, die wiederum von        Transparenz ihrer Tätigkeit ein hohes (Ei-
den entsprechenden nationalen Regulierun-       gen-)Interesse haben.
gen abhängig ist.
                                                     Transparenz in der EZ verlangt die Of-
     Nicht nur gesellschaftliche Chancen er-    fenlegung möglichst vieler Daten auf beiden
öffnen sich durch die Nutzung von Digital-      Seiten der Zusammenarbeit auf der Grund-
technik, auch auf der operativen Ebene der      lage des Common Open Standard for Aid
EZ bietet Digitalisierung für Geber- und        Transparency      (IATI).8    Der      IATI-
Partnerländer Vorteile. Einige konkrete Bei-    Transparenzstandard erleichtert den Zugang
spiele:                                         zu und das Verständnis von Informationen
                                                über EZ-Leistungen; zudem sind EZ-Daten,
      Bürokratische Routineabläufe auf         die nach dem IATI-Standard veröffentlicht
der Durchführungsebene der EZ lassen sich       werden, international vergleichbar. Durch
durch Nutzung von Digitaltechnik kosten-        Digitalisierung öffentlich verfügbare EZ-
günstiger und schneller abwickeln; so kön-      Daten mindern den Rechtfertigungsdruck

                      ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24         11
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER

des Managements staatlicher und zivilge-       Der digitale Wandel bedeutet nicht zwangs-
sellschaftlicher EZ-Akteure gegenüber skep-    läufig eine Win-Win-Situation für alle Ge-
tischen Medien oder misstrauischen Kriti-      sellschaftsmitglieder, und durch Digitalisie-
kern jeglicher EZ. Transparenz in der EZ ist   rung lässt sich Wohlstand für alle nicht ge-
das wirksamste Mittel gegen ungerechtfer-      währleisten. Von der „digitalen Dividende“
tigte Verschwendungsvorwürfe und zur Wi-       profitieren nicht alle gleichermaßen.11
derlegung unbegründeten Korruptionsver-
dachts in der Öffentlichkeit. Kann bei-             Das Innovationspotenzial der Digitali-
spielsweise die Öffentlichkeit in Geber- und   sierung ist zweifelsohne enorm, aber das
Partnerländern        entwicklungspolitische   erkennbare Destruktionspotenzial der Digi-
Rahmenvereinbarungen oder Projektverträ-       talisierung darf nicht unterschätzt werden.
ge online zur Kenntnis nehmen, wird EZ-        Vorhandene Strukturen lösen sich auf, und
kritischen Verschwörungstheorien der Bo-       bestehende Wirkungsmechanismen werden
den entzogen. Bereits jetzt sind in Deutsch-   funktionslos. Der digitale Wandel führt zu
land Evaluierungsergebnisse        von EZ-     teilweise radikalen Veränderungen in vielen
Programmen und -Projekten staatlicher EZ-      Bereichen. Ein gesellschaftliches Szenario
Durchführungsorganisationen online ver-        der digitalen Gegenwart und Zukunft hat
fügbar;9 eine darüber hinaus gehende digi-     viele Facetten:
tale „Transparenzoffensive“ böte auf EZ-
Plattformen nicht nur EZ-Expertinnen und        Einflussreiche Interessengruppen miss-
Experten die Möglichkeit, Evaluierungser-      brauchen und korrumpieren digital ermög-
gebnisse online zu kommentieren und zu         lichte Partizipation;12 an die Stelle der libe-
diskutieren, sondern auch kritischen Steuer-   ralen Demokratie tritt die digitale Demokra-
zahlerinnen und Steuerzahlern.                 tie, in der Influencer die Meinungsbildung
                                               der anonymen „Netzgemeinde“ beeinflussen
     Transparenz in der EZ kann im Rahmen      und Wahlentscheidungen durch gezielt ge-
der digitalen Transformation deutlich ver-     steuerte Fake news manipuliert werden.
bessert werden, aber entscheidend ist, wie      In der Aufmerksamkeits- und Daten-
diese Transparenz gestaltet wird. Denn der     ökonomie der Digitalwirtschaft wird der
digitale Veränderungsprozess in der EZ hat     klassische marktwirtschaftliche Preisme-
auch ethische Implikationen, und die neuen     chanismus außer Kraft gesetzt, und persona-
Gestaltungsmöglichkeiten erfordern neue        lisierte Daten der Internetnutzer sind das
Formen der Verantwortung. So kann mehr         wichtigste Produktions- und Tauschmittel.
Transparenz in der EZ nicht bedeuten, dass
                                                Auf der Anbieterseite digitaler Märkte
die zivilgesellschaftliche Bewertung der
                                               besteht ein starker Anreiz, die User-Daten
Entwicklungspolitik an Hasskommentaren
                                               durch ein scheinbar kostenloses Angebot
in den (un-)sozialen Medien gemessen wird,
                                               von Internet-Dienstleistungen zu monopoli-
an der Zahl der Likers und Haters bei Face-
                                               sieren und den Wettbewerb auszuschalten.13
book oder an der Zahl der Follower bei Twit-
ter und Instagram.10                            Ein digitaler Kapitalismus, der höchste
                                               Renditen generiert und den Gesetzen des
                                               Stärkeren folgt, verdrängt den regulierten
4. Risiken der Digitalisierung
                                               Kapitalismus kontinentaleuropäischer Prä-
     Wie mit jedem radikalen Veränderungs-     gung. Ungestört von nationalstaatlichen
prozess eröffnen sich auch mit der digitalen   Regulierungen bestimmten digitale Dienst-
Disruption keineswegs nur Chancen, son-        leister wie Amazon, Facebook, Google & Co.
dern sie bringt auch Probleme mit sich. Zum    in immer mehr Wirtschaftsbereichen die
einen sind es gesellschaftliche Risiken, zum   Spielregeln.14
anderen Risiken auf den operativen Ebenen       Der digitale Wandel in der globalisier-
öffentlicher und zivilgesellschaftlicher EZ.   ten Wirtschaft löst in Entwicklungsländern

12   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

tiefreifende Veränderungen der Produkti-             Absehbar sind für die EZ-Arbeitswelt
onsstrukturen aus. Die digitalisierungsbe-       konkrete Folgen:
dingte steigende Kapitalintensität von Pro-
duktionsprozessen führt zu einer Rückverla-       Einige Berufsgruppen in den Durchfüh-
gerung von Produktionsprozessen aus Ent-         rungsorganisationen der EZ werden von der
wicklungsländern in Industrieländer.             Digitalisierung besonders betroffen sein,
                                                 während andere davon profitieren können
 Schätzungen der Weltbank zu Folge
                                                 (beispielsweise Programmierer, Software-
könnten bis zu zwei Drittel der gegenwärti-
                                                 Entwickler, IT-Spezialisten).
gen Jobs in der verarbeitenden Industrie von
Entwicklungsländern durch die zunehmende          Vor allem Jobs mit einfachen Qualifizie-
Digitalisierung und Automatisierung wegfal-      rungs- und Tätigkeitsmerkmalen gehen in
len. Dies betrifft vor allem nicht oder ge-      der digitalisierten EZ verloren, da diese Jobs
ringqualifizierte Arbeitskräfte, die in eine     sich durch digitale Technologien schnell
Armutsfalle zu geraten drohen.15                 ersetzen lassen.
 In Industrie- und Entwicklungsländern           Auch mittlere Qualifikationsgruppen
werden ständige Verfügbarkeit und Selbst-        verlieren in der digitalisierten EZ-
ausbeutung zu kulturellen Normen der digi-       Arbeitswelt in dem Maße an Bedeutung, in
talen Arbeitswelt. Digitale Technologien         dem sich deren Tätigkeiten formalisieren
„kolonisieren“ das Alltagsleben der Men-         und standardisieren lassen.
schen in Industrie- und Entwicklungsländern
                                                      Jenseits der Arbeitswelt und der opera-
gleichermaßen.16
                                                 tiven Abläufe, die im Fokus der aktuellen EZ-
 Immer mehr autoritäre Regime nutzen            Digitalisierungsdiskurse stehen, sind die
die Möglichkeiten einer stärkeren Überwa-        Konsequenzen des digitalen Wandels in der
chung und Zensierung der digitalen Medien.       EZ noch keineswegs hinreichend geklärt. Auf
In der Volksrepublik China ist digitale Infra-   der Metaebene der EZ wäre es beispielswei-
struktur für Überwachung und Zensur be-          se wünschenswert, Grundsätze wie Ow-
reits am weitesten ausgebaut und perfektio-      nership der Partner und Alignment (Partner-
niert. Bis zum Jahr 2020 wird in China lan-      orientierung) durch Digitalisierung zu stär-
desweit ein digitales Punktesystem der „so-      ken. Dies würde möglich, wenn die Ziel-
zialen Vertrauenswürdigkeit“ eingeführt;         gruppen von EZ-Programmen und –
mit diesem System sollen „gute Menschen“         projekten mit den Möglichkeiten der Digita-
belohnt und „schlechte Menschen“ bestraft        lisierung mehr direkte Verantwortung für
werden, wobei die Kommunistische Partei          Erfolg und Misserfolg der EZ-Maßnahmen
Chinas bestimmt, was „gut“ und was               übernähmen, beispielsweise bei der Steue-
„schlecht“ ist.                                  rung der Mittelverwendung.17 Auch die Ac-
     Auf der operativen Ebene der EZ zeigt       countability, die wechselseitige Rechen-
sich das Problem der Digitalisierung unmit-      schaftspflicht in der EZ, ließe sich durch
telbar in dem Konflikt zwischen dem Inte-        digitalisierte Prozesse detaillierter einfor-
resse an Beschäftigungssicherung in den          dern und dokumentieren.
Durchführungsinstitutionen einerseits, und
der politischen Zielvorgabe andererseits,
digitale Innovationen in allen Bereichen der
EZ zu fördern. Denn die Auswirkungen digi-
taler Innovationen werden in der Arbeits-
welt direkt und meist sehr schnell spürbar.
Dies bedeutet, dass in Folge der „digitalen
Innovationsoffensive“ die digitale Arbeits-
welt auch in der EZ anders sein wird als die
bislang gewohnte Arbeitswelt.

                       ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24          13
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER

5. In der EZ kooperieren Menschen, nicht        Errungenschaft der demokratischen Kultur
   Algorithmen                                  Europas.

     KI-Algorithmen können bereits jetzt so          Andererseits ist ein undifferenzierter
programmiert werden, dass sie lernfähig         teclash, eine grundsätzliche Ablehnung digi-
sind; mit der Methode des Reinforcement         taler Technologien, angesichts von Vorteilen
Learning erhält das Programm einen „Be-         nicht zu rechtfertigen, die durch Digitalisie-
lohnungsimpuls“, sobald es eine Aufgabe         rung in vielen Bereichen genutzt werden
erfolgreich abgearbeitet hat. Vordergründig     können. Digitalisierung bietet Menschen
mag das nach Simulation menschlicher Ver-       auch politische und soziale Freiheitschan-
haltensweisen aussehen, ist jedoch lediglich    cen. Aber es bedarf einer Ethik für die Tech-
das Ergebnis des Programmierens.18              nologien der Zukunft, eines Wertesystems
Menschliche Eigenschaften lassen sich KI        für das digitale Jahrhundert.20 Denn ohne
nicht zuweisen. Nach heutigem Kenntnis-         digitale Ethik droht die fortschreitende Digi-
stand erscheint die Befürchtung weitgehend      talisierung der Lebens- und Arbeitswelten
unbegründet, Künstliche allgemeine Intelli-     auf einen irreversiblen Irrweg zu geraten,
genz (Artificial general intelligence/AGI)      auf dem vergessen wird zu fragen, wen die
könne zukünftig das Individuum als auto-        Digitalisierung befreit und wozu?21 KI-
nomes Subjekt ersetzen. Zwar mag AGI er-        Techniken können das Alltagsleben in vieler-
klärtes Ziel der KI-Forschung sein, aber AGI    lei Hinsicht erleichtern, es ist aber eine Fra-
könnte dem menschlichen Denken nur nahe-        ge der Ethik, mit KI-Techniken Letale Auto-
kommen oder es sogar übertreffen, wenn es       nome Waffensysteme, „Tötungsroboter“, zu
gelänge, AGI wie ein „digitales Neocortex“      konstruieren und in Entwicklungsländer zu
zu gestalten, ähnlich dem multisensorischen     exportieren.22
und motorischen Teil der menschlichen
                                                      Auch die Digitalisierung der EZ stößt an
Großhirnrinde. Dass dieses Ziel in absehba-
                                                Grenzen – an technische, finanzielle und
rer Zeit oder jemals erreicht werden kann,
                                                administrative Grenzen. Zudem muss EZ auf
gilt jedoch derzeit als eher unwahrschein-
                                                Asymmetrien achten, die durch Digitalisie-
lich.19
                                                rung entstehen oder verstärkt werden, und
     Auch ohne AGI sind Konsequenzen der        dadurch autonome Entwicklung in den Part-
fortschreitenden Digitalisierung des Alltags-   nerländern behindern. Selbst bei konse-
lebens aber bereits jetzt unübersehbar. Es      quenter Umsetzung der „Digitalen Agenda“
ist die steigende (Lebens-)Zeit, die Men-       des BMZ wird Entwicklungszusammenarbeit
schen jeder Altersgruppe auf digitalen Platt-   auch in Zukunft nicht ohne menschliches
formen verbringen – ohne für sie nachvoll-      Arbeitshandeln auskommen. Es werden wei-
ziehbaren Nutzen. Es ist die Erosion des        terhin engagierte Mitarbeiterinnen und Mit-
Wahrheitsbegriffs durch die vielen vermeint-    arbeiter für kreative Jobs gebraucht. Die
lichen, oft widersprüchlichen „Wahrheiten“      Intelligenz von IT-Systemen ist zwar lernfä-
und unüberprüfbaren „Fakten“, die das In-       hig, kann jedoch immer nur begrenzt kreativ
ternet anbietet. Es ist die Häme, die auf den   sein. Daher werden in den Institutionen der
großen Web-Portalen kübelweise über An-         digitalisierten EZ auch weiterhin Mitarbeite-
dersdenkende ausgeschüttet wird. Es ist die     rinnen und Mitarbeiter für Tätigkeiten benö-
brutal vereinfachende Reduzierung des poli-     tigt, die direkt mit Menschen zu tun haben.
tischen Diskurses auf 280 Zeichen eines         Zwar lassen sich mit Hilfe von KI riesige
tweet bei Twitter. Mit der permanenten digi-    Datenmengen mit großer Geschwindigkeit
talen Bekenntniskultur in der Öffentlichkeit    analysieren, daraus Rückschlüsse ziehen
der Sozialen Medien geht Privatheit verloren    und Entscheidungsprozesse simulieren.
– und damit die Trennung zwischen Öffentli-     Aber KI kann menschliches Bewusstsein
chem und Privatem als einer wesentlichen        nicht erlangen, und KI fehlen menschliche

14   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Emotionen. In der binären Logik algorith-                          und globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sang-
mengesteuerter KI ist Empathie nicht ver-                          meister und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 33-65.
                                                              3    BMZ (2017): S. 10f.
fügbar. Daher können KI solche Entschei-                      4    Mit der Bewertung von EZ-Maßnahmen an Hand der
dungen nicht überlassen werden, die Men-                           DAC-Kriterien sollen folgende Fragen beantwortet wer-
                                                                   den: Trägt die EZ-Maßnahme zur Lösung eines Prob-
schen zu treffen haben, die sich in globaler                       lems in dem Land bei? (Relevanz).
Verantwortung in der EZ engagieren und zu                          Wird der Output der EZ-Maßnahme mit kostenminima-
Empathie fähig sind.                                               lem Aufwand erreicht? (Effizienz). Wird der Output der
                                                                   EZ-Maßnahme in ausreichendem Maße und ohne nega-
                                                                   tive Nebenwirkungen erreicht? (Effektivität). Trägt die
     Die Auseinandersetzung mit Möglich-                           EZ-Maßnahme dazu bei, übergeordnete entwicklungs-
keiten, Grenzen und ethischen Aspekten der                         politische Ziele zu erreichen? (Impact). Sind die mit
„Digitalen Agenda“ für die deutsche EZ ist                         dem EZ-Vorhaben erreichten positiven Wirkungen
                                                                   [Output und Impact] von Dauer? (Nachhaltigkeit).
wichtig – auch um übertriebenen Erwartun-                     5    Villhauer, Bernd (2018): Ethische Fragen der Digitali-
gen entgegenzuwirken, Digitalisierung kön-                         sierung, in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digita-
ne die Globalisierung gerechter machen.23                          lisierung und globale Verantwortung, hrsg. von Hart-
                                                                   mut Sangmeister und Heike Wagner, Baden-Baden, S.
Dringlicher noch als die Digitalisierungsde-                       166.
batte erscheint derzeit aber eine grundsätz-                  6    Diese Vorteile können allerdings nur genutzt werden,
                                                                   wenn ein professionelles Schnittstellenmanagement
liche Diskussion des Wertekanons, der für                          existiert, und alle Beteiligten mit kompatibler Software
die deutsche EZ handlungsleitend sein soll-                        arbeiten - was bei dem Engagement der staatlichen
te. Denn die EZ droht in dem Maße an                               deutschen EZ in fast 100 Ländern als eine kaum zu be-
                                                                   wältigende Herausforderung erscheint.
Glaubwürdigkeit zu verlieren, in dem ent-                     7    Diese Möglichkeit bietet beispielsweise die KI-
wicklungspolitische Diskurse den Eindruck                          Plattform Cortex 5 der US-Firma CognitiveScale. URL
vermitteln,    „Fluchtursachenbekämpfung“                          https://www.cognitivescale.com (25.11.2018).
                                                              8    Der      2011      international     vereinbarte    IATI-
käme oberste Priorität in der Entwicklungs-                        Transparenzstandard für die Veröffentlichung von Ent-
politik zu.                                                        wicklungsleistungen beruht auf den Vorgaben des sta-
                                                                   tistischen DAC-Meldesystems der OECD. Der IATI-
                                                                   Standard bietet staatlichen, zivilgesellschaftlichen und
|| Prof. Dr. Hartmut Sangmeister                                   privaten Gebern einen einheitlichen Rahmen zur Veröf-
                                                                   fentlichung ihrer EZ-Leistungen. Auch das BMZ, Grün-
                                                                   dungsmitglied von IATI, veröffentlicht seit 2013 auf
Prof. Dr. Sangmeister ist emeritierter Hochschul-
                                                                   der IATI-Homepage Projekt- und Organisationsdaten
lehrer für Entwicklungsökonomik am Alfred-                         der         deutschen         EZ.        Siehe       URL
Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften der                   https://iatiregistry.org/dataset.
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Ge-                 9    Evaluierungsberichte von Programmen und Projekten
                                                                   der deutschen öffentlichen EZ im Internet. URL
schäftsführender Herausgeber der Buchreihe
                                                                   https://www.deval.org/de/evaluierungsberichte.html;
„Weltwirtschaft und internationale Zusammenar-                     URL      https://www.giz.de/de/downloads/giz2017-de-
beit“ (Nomos Verlag, Baden-Baden).                                 evaluierungsbericht.pdf; URL https://www.kfw-entwick
                                                                   lungsbank.de/Internationale-Finanzierung/KfW-
                                                                   Entwicklungsbank/Evaluierungen/Ergebnisse.
                                                              10   Sangmeister, Hartmut (2018): EZ 4.0 – Chancen, Risi-
                                                                   ken und viele offene Fragen, in: Entwicklungszusam-
ANMERKUNGEN                                                        menarbeit 4.0 – Digitalisierung und globale Verantwor-
                                                                   tung, hrsg. von Hartmut Sangmeister und Heike Wag-
                                                                   ner, Baden-Baden, S. 25.
                                                              11   Hilser, Katja (2018): Wer profitiert von den digitalen
                                                                   Dividenden? Der World Development Report 2016, in:
1
    BMZ [Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-              Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisierung und
    menarbeit und Entwicklung] (2017): Die digitale Revo-          globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sangmeister
    lution für nachhaltige Entwicklung nutzen. Die Digitale        und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 83-93.
    Agenda des BMZ. Bonn. URL http://www.bmz.de/de            12   Morozov, Evgeny (2017): Fake News sind ein Symptom
    /mediathek/publikationen/reihen/infobroschueren_flye           des digitalen Kapitalismus, in: Süddeutsche Zeitung vom
    r/infobroschueren/Materialie312_Digitale_Agenda.pdf            19.01.2017.         URL      http://www.sueddeutsche.de
    [26.11.2018].                                                  /digital/facebook-und-google-fake-news-sind-ein-symp
2   Siehe hierzu GIZ [Deutsche Gesellschaft für Internatio-        tom-des-digitalen-kapitalismus-1.3337982 (26.11.2018)
    nale Zusammenarbeit] (2015), Orientierungsrahmen          13   Wambach, Achim / Müller, Hans-Christian (2018):
    für den digitalen Wandel in der GIZ, Eschborn; Gimpel,         Digitaler Wohlstand für alle: Ein Update der Sozialen
    Lea (2018): Doing Development Differently: Die digita-         Marktwirtschaft ist möglich, Frankfurt / New York.
    le Transformation des Bundesunternehmens Deutsche         14   Der Internet-Konzern Google darf mit seiner Suchma-
    Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ),          schine in der Volksrepublik China (noch) nicht tätig
    in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisierung           sein; Monopolist ist hier die Suchmaschine des chine-

                            ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24                                 15
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER

     sischen Konzerns Baidu (百度), der auch die politisch
     streng zensierte Internet-Enyklopädie Baidu Baike
     (百度百科) verwaltet.
15   World Bank (2016): World Development Report 2016:
     Digital dividends, Washington DC, S. 23.
16   Greenfield, Adam (2017): Radical technologies. The
     design of everyday life, London.
17   Grundsätze wie Ownership der Partnerländer und
     Alignement (Partnerorientierung) sollte durch das In-
     strument der Allgemeinen Budgethilfe gestärkt werden,
     d.h. durch unkonditionierte Finanzierungszuschüsse zu
     dem Staatshaushalt des Partnerlandes. Jedoch wird
     dieser Finanzierungsmodalität nach den teilweise ent-
     täuschenden Erfahrungen westlicher Geberländer mit
     der Allgemeinen Budgethilfe inzwischen zunehmend
     skeptisch beurteilt, so dass viele Geber dieses Instru-
     ment – vor allem in der EZ mit afrikanischen Staaten –
     nicht mehr anwenden; vgl. DEval [German Institute for
     Development Evaluation] (2017): What we know about
     the effectiveness of budget support. Evaluation synthe-
     sis 2017, Bonn.
18   Bekannt ist das bereits 1994 von Larry Yaeger pro-
     grammierte Beispiel der „indolent cannibals“, einer Po-
     lyworld-Computersimulation, in der die „Agenten“, ei-
     ne Vielzahl kleiner Einzelprogramme, Fähigkeiten wie
     Fressen, Bewegen und Fortpflanzen erhielten; bereits
     nach einigen Durchläufen kannibalisierten die digitalen
     „Agenten“ ihre Nachkommen, anstatt sich zu paaren
     und fortzupflanzen; siehe hierzu Kelly, Kevin (1994):
     Out of control: the new biology of machines, social sys-
     tems, and the economic world, Boston/Mass.; Johnston,
     John (2008): The allure of machinic life: cybernetics,
     artificial life, and the new AI, Cambridge/Mass.
19   Eine Ausnahme von dieser Einschätzung liefert der
     US-Autor Ray Kurzweil in seinem Buch „The singula-
     rity is near: when humans transcend biology (New
     York 2005); er beschreibt die Intelligenzexplosion,
     die singularity, die erreicht ist, sobald das digitales
     Neocortex der AGI das Denkvermögen der Menschen
     übertrifft.
20   Vergl. Spiekermann, Sarah (2016): Ethical IT innova-
     tion: A value-based system design approach, Boca Ra-
     ton/Fl. Von derselben Autorin erscheint 2019 das Buch
     „Digitale Ethik: Ein Wertesystem für das 21. Jahrhun-
     dert“, München.
21   Villhauer, Bernd (2018): Ethische Fragen der Digitalisie-
     rung, in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisie-
     rung und globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut
     Sangmeister und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 169.
22   Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)
     fordert ein Verbot Letaler Autonomer Waffensysteme
     und setzt sich für einen internationalen Vertrag zur
     Anwendung von KI in militärischen Konflikten ein; BDI
     (2018): Künstliche Intelligenz in Sicherheit und Vertei-
     digung. Handlungsempfehlungen der deutschen In-
     dustrie, Berlin.
23   Keil, Philipp (2018): Macht die Digitalisierung die
     Globalisierung gerechter?, in: Entwicklungszusammen-
     arbeit 4.0 – Digitalisierung und globale Verantwortung,
     hrsg. von Hartmut Sangmeister und Heike Wagner, Ba-
     den-Baden, S. 141-160.

16   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
.
Wulf Reiners und Sven Grimm

Digitalisierung in aufstrebenden Mächten –
Trends und Strategien

Digitalisierung bringt neue wirtschaftliche Möglichkeiten zur Lösung drängender Umweltfragen und für einen
gesellschaftlichen und politischen Wandel im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Durch die Entwicklung von digi-
talen Instrumenten im Bereich der Regierungsführung (E-Governance) bietet sie enorme Möglichkeiten für die
Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen, Bürgerbeteiligung in politischen Prozessen sowie verbesserte
Transparenz und Rechenschaft in Verwaltungsabläufen. Digitalisierung kann damit auch Nachhaltigkeit und die
Umsetzung der 2030 Agenda unterstützen. In den vergangenen Jahren ist es auch in zahlreichen aufstreben-
den Mächten zu großen Investitionen in diesem Bereich gekommen. Länder wie Brasilien, Indien oder Mexiko
haben damit begonnen, Digitalisierungsstrategien zu entwickeln und Instrumente umzusetzen, die die neuen
Möglichkeiten für ihre spezifischen Herausforderungen nutzbar machen sollen. Aufgrund ihrer Größe und je-
weiligen Rollen im internationalen System, die mit erheblicher Strahlkraft verbunden sind, wirken ihre Ansätze
und Erfahrungen mit der Digitalisierung auch auf weitere Länder, in der jeweiligen Region und darüber hinaus.
Die Analyse der nationalen Ansätze ausgewählter Schwellenländer zeigt Gemeinsamkeiten in den Prioritäten.
Zugleich macht sie deutlich, dass die Länder unterschiedlich schnell und weit vorangehen und dass die neuen
Instrumente auch mit erheblichen Risiken verbunden sein können, insbesondere für das Verhältnis zwischen
Staat und Bürger und im Bereich Datenschutz. Europäische Regelungen wie die Datenschutzgrundverordnung
werden in diesen Ländern mit Interesse zur Kenntnis genommen und bieten einen Anlass für die Auseinander-
setzung mit europäischen Normen.

 Schlagwörter:
 Digitalisierung - Schwellenländer - aufstrebende Mächte - e-Governance - e-Government - Brasilien - Mexiko
- Indien - Aadhaar - öffentliche Dienstleistungen - politische Partizipation
Digitalisierung in aufstrebenden Mächten –
Trends und Strategien

    || Wulf Reiners und Sven Grimm

1. Digitalisierung in aufstrebenden Mächten          Investitionen und Entwicklungen in den
                                                Bereichen E-Governance und E-Government
     Die heutigen Investitionen in Digitali-    finden nicht nur in den USA und China statt,
sierung beeinflussen persönliche, politi-       die die weltweiten Entwicklungen maßgeb-
sche, soziale, umweltbezogene und wirt-         lich prägen, sondern drängen in praktisch
schaftliche Prozesse auf der gesamten Welt,     allen Weltregionen auf die Agenda – wenn
haben bereits erhebliche Veränderungen          auch in unterschiedlicher Intensität und
bewirkt und haben das Potential, sämtliche      Geschwindigkeit und mit unterschiedlichen
Sektoren in den kommenden Dekaden wei-          Schwerpunkten. In Entwicklungsländern
terreichender und radikaler zu verändern als    beispielsweise werden Zugangsmöglichkei-
es gegenwärtige Veränderungsprozesse im         ten zum Internet und Digitalisierung als
Ansatz erkennen lassen – von der Landwirt-      Grundvoraussetzung gesehen für eine re-
schaft und der Industrie bis zum Finanzsek-     chenschaftsbasierte und gemeinwohlorien-
tor, vom Bildungs- oder Gesundheitsbereich      tierte Regierungsführung.2 Aufstrebende
bis hin zu Fragen der demokratischen Ord-       Mächte wie Brasilien, Indien, Indonesien,
nung und universeller Menschenrechte.1          Mexiko oder Südafrika stellen in diesem
                                                Zusammenhang eine wichtige, in der wis-
     Der Austausch zu diesen Themen wird        senschaftlichen Analyse von Digitalisie-
global ermöglicht oder zumindest beschleu-      rungsentwicklungen jedoch wenig behandel-
nigt, verändert den gesellschaftlichen Alltag   te Ländergruppe dar. Diesen Schwellenlän-
und führt zu Debatten in der Wissenschaft.      dern ist gemeinsam, dass sie als Resultat
Dies gilt auch für den Bereich der E-           grundsätzlicher Verschiebungen im interna-
Governance, unter dem der Einsatz digitaler     tionalen wirtschaftlichen und politischen
Technologien in Politik und Verwaltung ver-     System über wachsenden Einfluss auf globa-
standen wird. E-Governance wird oft als         ler Ebene verfügen.
Überbegriff für sämtliche relevante Entwick-         Gleichzeitig kommt ihnen durch ihre
lungen genutzt, wenngleich er sich schwer-      geographische Größe, Bevölkerung, natürli-
punktmäßig auf politische Partizipation und     che Ressourcen und ihren Einfluss auf die
die Kommunikation zwischen Regierung,           jeweilige Region eine zentrale Rolle bei der
Verwaltung, Wirtschaft und Bürger bezieht.      Bewältigung globaler Herausforderungen zu.
Die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen    Vor diesem Hintergrund misst ihnen auch
durch digitale Instrumente, die Vernetzung      die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
von Verwaltungen und die Digitalisierung        als globale Partner3 besondere Bedeutung
zugehöriger Verfahren werden hingegen           bei und fördert die Kooperation mit und
dem Feld des E-Government zugeordnet.           unter den Ländern durch Initiativen wie das

                      ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24        19
WULF REINERS UND SVEN GRIMM

‚Managing Global Governance‘ Programm                Im Jahr 2013 rief Mexiko seine „Natio-
des Deutschen Instituts für Entwicklungspo-     nal Digital Strategy“ ins Leben,6 2015 folg-
litik (DIE)4. Es bietet über ein langfristig    ten das chinesische Konzept „Made in China
angelegtes Netzwerk Kooperationsformate         2025“7 und das „Digital India Programme“8.
und Kommunikationskanäle, um globale            2017 legte Südafrika seine „National e-
Fragestellungen zu erörtern und gemein-         Strategy Digital Society“ vor9, 2018 Indone-
schaftliche Lösungsansätze zu erarbeiten,       sien „Making Indonesia 4.0“10 und Brasilien
die gleichzeitig die Beziehung zwischen den     die digitale Transformationsstrategie „Est-
regionalen Machtzentren und Deutschland         ratégia brasileira para a transformação digi-
und der Europäischen Union (EU) pflegen.        tal“ (Brazilian Digital Transformation Stra-
Mit einer ähnlichen Zielsetzung fördert auch    tegy – E-Digital)11. Die Strategien eint, dass
die EU durch grenzüberschreitende For-          Digitalisierung im Kern als möglicher Trei-
schungs- und Innovationsprojekte den Aus-       ber für wirtschaftliche Entwicklung und In-
tausch mit diesen Ländern.5                     novation, verbesserte Produktivität und
                                                Wettbewerbsfähigkeit gesehen wird. Dar-
     Die Gruppe aufstrebende Mächte ist he-     über hinaus beinhalten alle Strategien Pläne
terogen, nicht zuletzt in Bezug auf die poli-   zum Infrastrukturausbau und zur Netzabde-
tischen Systeme und geopolitische Interes-      ckung (Connectivity). Auch Bezüge zur Wis-
sen. Gleichzeitig stehen die Schwellenländer    senswirtschaft und Wissensgesellschaft fin-
vor sehr vergleichbaren Herausforderungen.      den sich in zahlreichen Strategiepapieren,
Neben prominenten Fragestellungen, wie          darunter im Nationalen Entwicklungsplan
Maßnahmen zum Klimaschutz und die Bear-         Südafrikas. In der Diskussion um die Wis-
beitung von sozialer Ungleichheit, sind mo-     senswirtschaft nehmen entsprechende Digi-
derne Lösungsansätze auch gefordert mit         talisierungspläne besonders den e-Handel
Blick auf demographische Veränderungen,         als herausgehobenes Element auf. Im Be-
innere Sicherheit, Bildung, Gesundheit und      reich der Wissensgesellschaft entwickelt
die Kluft zwischen ländlichen und urbanen       sich die Debatte unter anderem entlang der
Gebieten. In den Bereichen E-Governance         Kernfrage, welche Veränderungen in der
und E-Government stehen sie vor ähnlichen       Schul- und Hochschulbildung notwendig
Herausforderungen; wie die Interaktionen        sind, um die analytischen komplementären
zwischen Bürgern und Staat, Verwaltungsef-      Grundfähigkeiten – ganz analog – effektiv
fizienz, Transparenz, Korruptionsvermei-        zu stärken.12
dung oder Rechenschaftspflicht, sowie die
Möglichkeit der politischen Teilhabe, auch           Die nationalen Digitalisierungsstrate-
für Menschen in bislang schlecht erreichba-     gien umfassen häufig Aspekte von E-
ren Gebieten.                                   Government, also die digitale Umrüstung
                                                und Verbesserung staatlicher Verwaltung,
2. Nationale Digitalisierungsstrategien im      sowie E-Governance, d.h. eine stärkere Be-
Vergleich                                       teiligung von Gesellschaft und Wirtschaft an
                                                politischen Prozessen. Diese Kernelemente
     Zahlreiche Schwellenländer haben in        fasst beispielsweise das „Digital India Pro-
den vergangenen Jahren nationale Digitali-      gramme“ in der Vision zusammen „Indien in
sierungsstrategien ausgearbeitet und be-        eine digital befähigte Gesellschaft und Wis-
gonnen umzusetzen, um Digitalisierung für       senswirtschaft zu transformieren (im engli-
die nationalen Bedürfnisse nutzbar zu ma-       schen Original: „transform India into a digi-
chen. Hier werden wir im Besonderen die         tally empowered society and knowledge
großen Schwellenländer als zentrale Akteure     economy“).13 Kernbausteine der Strategien
des globalen Südens betrachten, vor allem       lassen sich exemplarisch anhand des neue-
Mexiko, Indien, Brasilien und Südafrika.        ren brasilianischen (2018), des frühen me-

20   ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
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