DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
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24 AMEZ – Argumente und Materialien der Entwicklungszusammenarbeit Susanne Luther (Hrsg.) DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit • Digitalisierung in aufstrebenden Mächten • Perspektiven digitaler Governance in China • Digitalisierung ohne Internet – der Fall Nordkoreas • Indiens Kampf mit alten Problemen in einem neuen Zeitalter • Cryptocurrencies und Blockchain • Digitalisierung und Entwicklungszusammenarbeit in Afrika www.hss.de
Susanne Luther (Hrsg.) DIGITALER WANDEL IN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Impressum ISBN 978-3-88795-570-0 Herausgeber Copyright 2018, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D. Generalsekretär Oliver Jörg Leiterin des Instituts für Dr. Susanne Luther Internationale Zusammenarbeit Redaktionsleitung Karin von Goerne Redaktion Veronika Eichinger Victor Hagemann Louise von Hobe-Gelting Franziska Weichselbaumer Kontakt zur Redaktion: iiz@hss.de V.i.S.d.P. Thomas Reiner Redaktionsschluss 09.12.2019 Druck Hausdruckerei der Hanns-Seidel-Stiftung Titelbild Gerd Altmann, pixabay Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Von dieser Einschränkung ausgenommen, sind sämtliche Teile, die als Creative Commons gekennzeich- net sind. Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redak- tionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Die Abgabe dieser Publikation erfolgt kostenfrei im Rahmen der Stiftungsarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Ein Verkauf oder eine sonstige gewerbliche Nutzung der von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen Medien ist nicht gestattet. Weitere Exemplare können über die Hanns-Seidel-Stiftung, Lazarettstraße 33, 80636 München, E-Mail: publikationen@hss.de bezogen werden. Alle Ausgaben der Publikationsreihe finden Sie unter folgendem QR-Code auch im Internet zum Lesen und Bestellen.
GELEITWORT || Susanne Luther „I hope we will use the Net to cross barriers and connect cultures.” Tim Berners Lee, 2005 Liebe Leserinnen und Leser, Digitale Revolution, digitale Transforma- Die Verknüpfung und systematische Auswer- tion oder Megatrend Digitalisierung: wenn es tung großer Datenmengen kann einen Beitrag um die Nachfolge des analogen Zeitalters zum Verständnis komplexer Entwicklungs- geht, entstehen fast täglich neue Schlag- probleme leisten, und helfen, Fortschritte bei worte, und oft wird auf Superlative zurückge- der Implementierung von Lösungsansätzen griffen, um die massiven Veränderungen zu zu verfolgen. erfassen, die sich mittlerweile auf alle Le- Regierungen in Entwicklungs- und bensbereiche auswirken. Schwellenländern loten auf nationaler und Die Entwicklung der Digitalisierung ver- regionaler Ebene Möglichkeiten im Bereich E- läuft zu schnell, um ihr analytisch in Echtzeit Government aus. Mit dem Einsatz digitaler gerecht werden zu können. Wir sind von ei- Technologien in der staatlichen Verwaltung nem dichten Netz digitaler Möglichkeiten soll die Interaktion von Bürgern und Staat er- und Notwendigkeiten umsponnen, von dem leichtert, und politische Transparenz erhöht wir uns erhoffen, dass es unser Leben effizi- werden. Auch die Vernetzung und Mobilisie- enter und einfacher gestalten wird. rung innerhalb der globalen Zivilgesellschaft ist durch die Digitalisierung sehr viel effekti- Gleichzeitig lässt die beschleunigte digi- ver möglich. tale Kommunikation die Reaktionszeiten in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im Auf der lokalen Ebene haben digitale An- Privat- und Arbeitsleben auf ein Minimum wendungen das Potential, die Lebensum- schrumpfen, und erfordert ein nie zuvor da- stände von Menschen konkret zu verbessern: gewesenes Maß an Aufmerksamkeit und An- Zum Beispiel können im Gesundheits- und passungsfähigkeit. Bildungssektor Probleme, die sich aus unzu- reichender Infrastruktur und weiten Entfer- Auch in Entwicklungs- und Schwellenlän- nungen ergeben, durch digitale Technologien dern und in der Entwicklungszusammenar- abgemildert werden. In der Landwirtschaft beit werden große Hoffnungen in die Digita- können sich Kleinbauern mittels Wetterdaten lisierung gesetzt, um die Ziele der Agenda informieren und rechtzeitig Vorsorge gegen 2030 für nachhaltige Entwicklung zu errei- Ernteausfälle treffen. Digitale Bezahlsysteme chen. Digitalisierung ist dabei auf allen Im- wie das kenianische M-Pesa machen die plementierungsebenen ein Querschnitts- Überweisung von Geld per Mobiltelefon auch thema: für Menschen ohne Bankkonto möglich. ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 3
SUSANNE LUTHER Durch die Blockchain-Technologie können aber werden in der Realität große Teile der Be- zum Beispiel Grundbücher quasi fälschungs- völkerung weiter abgehängt und die globale sicher und damit Eigentumsrechte besser Ungleichheit verstärkt. durchsetzbar gemacht werden. Einer der idealistischen Ansprüche der Nicht nur Geberländer und -Organisatio- mittlerweile zu Giganten gewordenen Inter- nen treiben die Digitalisierung voran; viele netunternehmen der ersten Stunde war es, – Entwicklungs- und Schwellenländer investie- im Sinne des Zitats am Anfang des Textes – ren selbst massiv in den Ausbau digitaler die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Technologien und Infrastruktur. Sie haben, Doch das Versprechen der Digitalisierung, vor allem im digitalen Bereich, häufig beson- den Menschen zu dienen, ist größtenteils dere Voraussetzungen: Durch Leapfrogging, nicht eingelöst worden. Digitalisierung ist dem Überspringen von Entwicklungsstufen, vielmehr statt Mittel zum Zweck eher Zweck konnten in einigen Sektoren die Industrie- an sich geworden. Auch wurden und werden staaten sogar überholt werden. So wurde mit der gigantischen Generierung von Daten zum Beispiel in vielen Ländern Afrikas der neue Möglichkeiten zur Überwachung und Festnetzausbau weitgehend übersprungen. Repression geschaffen, was insbesondere in autokratisch regierten Staaten oder Ländern Auch die ökologische Dimension der Digi- mit fragilen Institutionen höchst problema- talisierung darf nicht vernachlässigt werden. tisch sein kann. In einem politischen Klima, Digitale Technologien versprechen zwar das mittlerweile in vielen Ländern von gesell- durch den Einsatz ressourcenschonender schaftlicher Spaltung und Angst vor Fake Technologien einen Beitrag zur Abmilderung News und Desinformationskampagnen ge- des Klimawandels und der grassierenden prägt ist, wird deutlich, wie wichtig Ver- Umweltzerstörung. Doch ist der Stromver- trauen für Gesellschaft und Politik ist. brauch und damit der CO2- Ausstoß von digi- talen Techniken immens; eine Studie des Die Beiträge dieser Ausgabe der Reihe Think Tanks ‚The Shift Project‘ geht von 4 „Argumente und Materialien der Entwick- Prozent der globalen Treibhausemissionen lungszusammenarbeit“ geben einen Einblick aus, mit einer Verdopplung bis 2025. in diese und weitere Aspekte des digitalen Wandels. Die Möglichkeiten der Digitalisierung scheinen endlos, sind aber auch schier un- Prof. Hartmut Sangmeister blickt in sei- überschaubar. Aber all diese Möglichkeiten nem einführenden Artikel auf die „Digitale basieren auf analogen Voraussetzungen, wie Agenda“ des Bundesministeriums für Wirt- einer sicheren elektrischen Infrastruktur, schaftliche Zusammenarbeit und Entwick- dem Zugang zum Internet und dem techni- lung (BMZ) und wägt Chancen und Risiken di- schen know-how von Anwendern und Produ- gitaler Innovationen für Entwicklungsländer zenten. und Geberländer ab, vor allem im Hinblick auf Teilhabe, Transparenz, Effizienz und Ohne diese und weitere Faktoren ist der in Ethik. diesem Kontext von der Weltbank geprägte Begriff der digitalen Dividende für alle noch Wulf Reiners und Sven Grimm vom Deut- in weiter Ferne. Im Gegenteil, begreift man schen Institut für Entwicklungspolitik be- Digitalisierung als Katalysator für vorhande- leuchten in einem überregionalen Blick auf nes (Entwicklungs)Potential, ist in Ländern Schwellenländer die oft sehr ähnlichen Her- oder in gesellschaftlichen Schichten mit mehr ausforderungen im Bereich der E-Gover- analogem Anfangskapital die Beschleunigung nance. Zum einen bietet sie enorme Möglich- und damit der „Gewinn“ ungleich stärker. Der keiten für die Bereitstellung von öffentlichen technische und digitale Fortschritt kann zu In- Dienstleistungen, Bürgerbeteiligung, und klusion und Wohlstand führen, gleichzeitig verbesserte Transparenz und Rechenschaft in 4 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIGITALER WANDEL Verwaltungsabläufen, jedoch kann sie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- mit erheblichen Risiken verbunden sein, ins- wicklung. Im Anschluss gibt ein Interview besondere im Bereich des Datenschutzes. mit Tim Weiss, Postdoktorand an der Stan- ford University, einen vertieften Einblick in China spielt eine Vorreiterrolle beim Ein- die Digitalisierung in Kenia, einem Land, in satz neuer Informations- und Kommunikati- dem gesellschaftliche und unternehmerische onstechnologien in der Regierungsführung. Dynamik für eine vibrierende Start-Up Szene Katja Drinhausen vom Mercator Institute for sorgt. China Studies (MERICS) beschreibt die digi- tale Strategie der Volksrepublik, welche mitt- Zu guter Letzt wird die Onlineplattform lerweile ein wichtiger Akteur in der globalen „Civics Academy“ vorgestellt, ein digitales Entwicklungszusammenarbeit und im Aufbau politisches Bildungsprojekt der Hanns-Sei- digitaler Infrastruktur ist. Dies bietet neue del-Stiftung in Südafrika: Videos und Po- Potentiale der Kooperation, jedoch müssen dcasts zu Themen wie Demokratie, Verfas- die unterschiedlichen Wertesysteme und po- sung, Wahlen, kommunale Selbstverwaltung litischen Prioritäten bedacht werden, die den und Gleichberechtigung fördern das Ver- Einsatz neuer Technologien bestimmen. ständnis für die Relevanz politische Teil- habe. Auch die die Bedeutung politischer Bil- Der Beitrag „Digitalisierung ohne Inter- dung kann so gegenüber Entscheidungsträ- net“ aus Nordkorea von Dr. Bernhard Seliger gern greifbar vermittelt werden und moderne beleuchtet den Sonderfall eines Landes, das Lehrformen in Bildungseinrichtungen unter- größtenteils isoliert von der Weltgemein- stützen. schaft einen eigenen digitalen Weg sucht. Um abschließend noch einmal auf die Volker Plän und Tim Hartung beschreiben Worte von Tim Berners Lee zurückzukommen: in ihrem Artikel „Indiens Kampf mit alten Die Hanns-Seidel Stiftung versucht weltweit Problemen in einem neuen Zeitalter“ den Fall in Partnerländern, – sowohl digital als ana- eines Landes, das seit Jahren den Ruf als log – einen Beitrag dazu zu leisten, Grenzen Großmacht der Informationstechnologie in- zu überwinden und Kulturen zu verbinden. In nehat, jedoch durch die Klüfte zwischen Zeiten ‚digitaler Revolutionen‘ wird dies si- Stadt und Land, zwischen fortgeschrittenen cherlich noch herausfordernder, aber umso digitalen Bürgern und fehlendem Internetzu- lohnenswerter werden. gang, großen Herausforderungen gegenüber- steht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre, Mit einem anderen Aspekt der Digitalisie- rung – den Anwendungsmöglichkeiten der Blockchaintechnologie und von Kryptowäh- rungen – setzt sich Maximilian Melle ausei- nander: Bitcoin und andere Kryptowährun- gen sind auch in Entwicklungsländern ein || Dr. Susanne Luther wichtiges Thema und werden von vielen EZ- Leiterin des Instituts für Internationale Zusam- Akteuren als potentielle Instrumente be- menarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung trachtet, die Durchführung von Entwicklungs- zusammenarbeit und angrenzenden Politik- bereichen effizienter zu machen. Uta Staschewski reflektiert in ihrem Bei- trag über die Möglichkeiten der Digitalisie- rung in Afrika, vor allem im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesellschaft, Bildung, ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 5
INHALT 03 Geleitwort Susanne Luther 09 Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit Hartmut Sangmeister 19 Digitalisierung in aufstrebenden Mächten – Trends und Strategien Wulf Reiners und Sven Grimm 29 Perspektiven Digitaler Governance in China: Zwischen Verbesserung sozialer Teilhabe und politischer Kontrolle Katja Drinhausen 43 Digitalisierung ohne Internet – der Fall Nordkoreas Bernhard Seliger 51 Indiens Kampf mit alten Problemen in einem neuen Zeitalter Volker Plän und Tim Hartung 63 Cryptocurrencies, Blockchain and Development Cooperation Max Melle 75 Digitalisierung und Entwicklungszusammenarbeit in Afrika Uta Staschewski 81 Digitalisierung in Kenia Interview mit Tim Weiss 89 Civics Academy - politische Bildung für junge Erwachsene Mira Dutschke und Marlene Barnard ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 7
Hartmut Sangmeister Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit In allen Bereichen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sollen digitale Innovationen gefördert werden, um Effizienz- und Effektivitätspotenziale zu mobilisieren. Digitalisierung eröffnet Menschen auch in den Ländern des Globalen Südens gesellschaftliche Chancen. Digitalisierung ist jedoch mit Risiken verbunden, da sie viele Arbeits- und Lebensbereiche radikal verändert. In der Entwicklungszusammenarbeit sind Entscheidungen zu treffen, die Künstlicher Intelligenz nicht überlassen werden können. Es bedarf einer Ethik für die digi- talen Technologien der Zukunft. Schlagwörter: Demokratie - Digitalisierung - Digitale Agenda - Entwicklungszusammenarbeit - Entwicklungspolitik - Ethik - Innovationen - Künstliche Intelligenz - Soziale Medien - Transparenz
Die Zukunft der digitalisierten Entwicklungszusammenarbeit || Hartmut Sangmeister 1. Digitalisierte Entwicklungszusammenar- diese Fragen haben die Chancen und Risiken beit – ein Neustart? der Digitalisierung abzuwägen, und sie müs- sen dabei auch den gesamtgesellschaftli- In vielen Institutionen und bei zahlrei- chen Kontext berücksichtigen, in dem Ent- chen Akteuren der deutschen Entwicklungs- wicklungspolitik stattfindet. zusammenarbeit (EZ) lässt sich derzeit eine widersprüchliche Stimmungslage beobach- 2. Die „Digitale Agenda“ der deutschen ten. Einerseits wird die Sinnhaftigkeit der Entwicklungspolitik EZ in ihrer jetzigen Ausrichtung vielfach in Frage gestellt. Auf allen Ebenen der EZ be- Im Rahmen der „Digitalen Agenda stehen Zweifel, ob Ziele, Strukturen und 2014-2017“ der Bundesregierung erhielt Instrumente der eigenen Tätigkeiten noch das BMZ den politischen Auftrag, Informa- angemessen sind, und ob es überhaupt Sinn tions- und Kommunikationstechnologien in macht, sich weiterhin dafür zu engagieren. allen Sektoren der deutschen EZ zu etablie- Hinzu kommt die frustrierende Erfahrung, ren. Dementsprechend beschreibt die „Digi- dass Grundsätze der westlichen EZ und der tale Agenda des BMZ" die Strategie des Mi- damit verbundene Wertekanon des Westens nisteriums für eine moderne EZ in einer di- in Teilen der Welt offen abgelehnt werden. gitalisierten Welt.1 Mit der „Digitalen Agen- Andererseits herrscht aber auch Aufbruchs- da“ will das BMZ aufzeigen, welche Chancen stimmung, die durch die Diskussionen über der digitale Wandel für und in der EZ bieten Chancen und Herausforderungen der Digita- kann, und welche Herausforderungen es lisierung in der EZ in Gang gesetzt wurde. dabei zu bewältigen gilt. Die „Digitale Nicht zuletzt die „Digitale Agenda“ des Bun- Agenda“ soll die Grundlage neuer digitaler desministeriums für wirtschaftliche Zusam- Ansätze in der Arbeit aller Durchführungsor- menarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert ganisationen der deutschen EZ bilden und hohe Erwartungen auf einen zukunftsfähigen als strategische Orientierung bei der Im- „digitalen“ Veränderungsprozess in der EZ. plementierung digitaler EZ-Vorhaben die- Ebenso wie in vielen anderen Bereichen, soll nen.2 auch in der EZ die verstärkte Anwendung Die „Digitale Agenda“ des BMZ nennt von Digitaltechnologien die Nutzung von fünf strategische Ziele der Entwicklungspoli- Synergieeffekten ermöglichen sowie Effizi- tik im digitalen Zeitalter: enz- und Effektivitätsgewinne mobilisieren. Aber ist von digitalen Transformationen 1. Digitale Innovationen nutzen. tatsächlich ein Neustart der EZ zu erwarten, 2. Demokratische Verfahren stärken. eine wirkungsvollere, eine bessere EZ? 3. Menschen auf der Flucht helfen. Überlegungen zu möglichen Antworten auf 4. Zukunftssichere Jobs schaffen. ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 9
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER 5. Menschenrechte und Teilhabe si- die Bewertungskriterien Effizienz und Effek- cherstellen.3 tivität, jedoch nicht notwendigerweise auch für die DAC-Bewertungskriterien Impact und Demokratisierung, Wahrung der Men- Nachhaltigkeit.4 schenrechte und Partizipation waren bereits in zurückliegenden Dekaden feste Bestand- 3. Chancen der Digitalisierung teile der entwicklungspolitischen Zielkata- loge früherer Bundesregierungen; als neue Unabhängig von dem Stellenwert, der Zielvorgaben nennt die „Digitale Agenda“ innerhalb der „Digitalen Agenda“ des BMZ des BMZ die Nutzung digitaler Innovationen, den einzelnen Zielen zukommt, ist die Vor- die Schaffung zukunftssicherer Jobs sowie gabe sinnvoll, die Nutzung digitaler Innova- Hilfe für Menschen auf der Flucht. Das stra- tionen zu fördern. Denn die gesellschaftli- tegische Ziel „Menschen auf der Flucht hel- chen Chancen der Digitalisierung sind weit- fen“ ist jedoch nicht gleichzusetzen mit gehend unstrittig, ebenso wie die Vorteile „Fluchtursachenbekämpfung“ – dem neuen digitaler (Lösungs-)Ansätze und digital ba- weasel word innenpolitisch motivierter Be- sierter Durchführungsprozeduren in der EZ. ruhigungsrhetorik. Einige Beispiele: Die Hierarchie des entwicklungspoliti- schen Zielkatalogs für das digitale Zeitalter Digitalisierung eröffnet Ländern des lässt sich zweifelsohne kritisch kommentie- Globalen Südens die Möglichkeit, durch ren und kontrovers diskutieren. Sollte bei- adaptierte Technologiesprünge Rückstände spielsweise der Wahrung der Menschenrech- sehr schnell aufzuholen. Mit der Verfügbar- te und der Stärkung demokratischer Verfah- keit über digitale Kommunikationstechnik ren nicht Vorrang gegenüber der Nutzung erübrigt es sich beispielsweise, eine analoge digitaler Innovationen zukommen? Wichti- Kommunikationsinfrastruktur mit hohem ger noch als die Frage der entwicklungspoli- Kostenaufwand aufzubauen. tischen Zielhierarchie erscheint die Frage, Eine flächendeckende Nutzung von Digi- ob die Ziele durch eine „digitalisierte“ EZ taltechnik vereinfacht und beschleunigt den besser erreicht werden können. Dabei ist innergesellschaftlichen und internationalen auch zu berücksichtigen, dass deutsche EZ Austausch von Informationen. in vielen Ländern agiert, unter sehr unter- schiedlichen Rahmenbedingungen und in Die Digitalisierung lässt mehr Menschen verschiedensten kulturellen Kontexten. Bei- an dem universal verfügbaren Wissen teilha- de Faktoren können maßgeblichen Einfluss ben, das ihnen in der transkulturellen Web- auf die intendierten und nicht-intendierten sphäre zugänglich ist. Wirkungen von EZ-Vorhaben und deren Durch Digitalisierung erhalten mehr Nachhaltigkeit ausüben. Es ist offen, ob Menschen im Globalen Süden Zugang zu In- digitale Innovationen — unabhängig von formationen, die ihnen eine inhaltlich besser den je gegebenen Rahmenbedingungen und fundierte demokratische Partizipation ermög- kulturellen Kontexten — bessere Ergebnisse lichen können. der EZ gewährleisten. Legt man die Bewer- Das Internet eröffnet den Menschen bes- tungskriterien des Development Assistance sere Chancen, sich zu organisieren, und er- Committee (DAC) der Organisation for Eco- möglicht es ihnen, ihren politischen Willen in nomic Co-operation and Development sozialen Netzwerken schneller zu artikulie- (OECD) zu Grunde, dann kann tendenziell ren, als dies in herkömmlichen demokrati- davon ausgegangen werden, dass eine digi- schen Wahlverfahren der Fall ist. talisierte EZ in einem digitalaffinen Umfeld im Vergleich zu dem Status quo ante positiv Die Beschleunigung digitalisierter Zah- zu bewerten ist. Dies gilt ceteris paribus für lungsvorgänge zu niedrigeren Transaktions- 10 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT kosten, auch über Landesgrenzen hinweg, nen beispielsweise die periodischen Be- erleichtert das Alltagsleben vieler Menschen richtspflichten des EZ-Projektmanagements in Entwicklungsländern, insbesondere der mit dem Einsatz auf Künstlicher Intelligenz Menschen, die in ländlichen Regionen woh- (KI) basierender Software weitgehend au- nen. tomatisiert erfüllt werden. Digitale Plattformen können eine Um- Digitalisierung kann EZ agiler und gehungsmöglichkeit inkompetenter, korrup- umweltfreundlicher gestalten, indem Men- ter oder wirtschafts- und entwicklungsfeind- schen internetbasiert in vielen Ländern rund licher staatlicher Strukturen bieten, so dass um den Globus vernetzt miteinander kom- sich viele Menschen in Partnerländern der munizieren und zusammen arbeiten, ohne EZ weniger isoliert und ausgeliefert vor- dass Reisekosten entstehen und umwelt- kommen müssen.5 schädliche Treibhausgase wie CO2 emittiert werden.6 Mit der Förderung von E-Government in Partnerländern können die Abläufe bislang Durch digitale Transformation stan- hoffnungslos überforderter Verwaltungen dardisierter Prozesse in der EZ (wie Aus- beschleunigt werden, und „gläserne Büro- schreibungen, Fortschrittskontrollen, Daten- kraten“ lassen die staatliche Mittelverwen- sammlungen, Evaluierungen etc.) werden dung durchschaubarer werden. mit sinkenden Opportunitätskosten Effizi- enzgewinne mobilisiert. Um die gesellschaftlichen Chancen der Neue Handlungsfelder in der EZ las- Digitalisierung nutzen zu können, müssen sen sich digital strukturieren und bearbei- allerdings Grundvoraussetzungen vorhanden ten, indem KI-Programmelemente nach dem sein. Zu diesen Voraussetzungen gehört die Baukastenprinzip zusammengefügt werden, digitale Infrastruktur ebenso wie „digitale die sich aus der Cloud abrufen lassen.7 Alphabetisierung“ der Menschen, ohne die eine verantwortungsbewusste Wahrneh- Digitalisierung ermöglicht mehr mung der Möglichkeiten des digitalen Wan- Transparenz in der EZ, was für die Akzep- dels nicht gewährleistet ist. Ohne eine flä- tanz von EZ wichtig ist; dies gilt sowohl für chendeckende digitale Basisinfrastruktur Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in den bleiben die digitalen Nutzungsmöglichkei- Geberländern, als auch für kritische Bürge- ten beschränkt, beispielsweise für Men- rinnen und Bürger in den Partnerländern. schen in entlegenen ländlichen Regionen. Ebenso müssen spendenfinanzierte Nichtre- Ob auch arme Menschen das Internet nutzen gierungsorganisationen (NROs), die sich in können, ist eine Frage der Preisgestaltung der EZ engagieren, an weitest gehender für den Internetzugang, die wiederum von Transparenz ihrer Tätigkeit ein hohes (Ei- den entsprechenden nationalen Regulierun- gen-)Interesse haben. gen abhängig ist. Transparenz in der EZ verlangt die Of- Nicht nur gesellschaftliche Chancen er- fenlegung möglichst vieler Daten auf beiden öffnen sich durch die Nutzung von Digital- Seiten der Zusammenarbeit auf der Grund- technik, auch auf der operativen Ebene der lage des Common Open Standard for Aid EZ bietet Digitalisierung für Geber- und Transparency (IATI).8 Der IATI- Partnerländer Vorteile. Einige konkrete Bei- Transparenzstandard erleichtert den Zugang spiele: zu und das Verständnis von Informationen über EZ-Leistungen; zudem sind EZ-Daten, Bürokratische Routineabläufe auf die nach dem IATI-Standard veröffentlicht der Durchführungsebene der EZ lassen sich werden, international vergleichbar. Durch durch Nutzung von Digitaltechnik kosten- Digitalisierung öffentlich verfügbare EZ- günstiger und schneller abwickeln; so kön- Daten mindern den Rechtfertigungsdruck ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 11
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER des Managements staatlicher und zivilge- Der digitale Wandel bedeutet nicht zwangs- sellschaftlicher EZ-Akteure gegenüber skep- läufig eine Win-Win-Situation für alle Ge- tischen Medien oder misstrauischen Kriti- sellschaftsmitglieder, und durch Digitalisie- kern jeglicher EZ. Transparenz in der EZ ist rung lässt sich Wohlstand für alle nicht ge- das wirksamste Mittel gegen ungerechtfer- währleisten. Von der „digitalen Dividende“ tigte Verschwendungsvorwürfe und zur Wi- profitieren nicht alle gleichermaßen.11 derlegung unbegründeten Korruptionsver- dachts in der Öffentlichkeit. Kann bei- Das Innovationspotenzial der Digitali- spielsweise die Öffentlichkeit in Geber- und sierung ist zweifelsohne enorm, aber das Partnerländern entwicklungspolitische erkennbare Destruktionspotenzial der Digi- Rahmenvereinbarungen oder Projektverträ- talisierung darf nicht unterschätzt werden. ge online zur Kenntnis nehmen, wird EZ- Vorhandene Strukturen lösen sich auf, und kritischen Verschwörungstheorien der Bo- bestehende Wirkungsmechanismen werden den entzogen. Bereits jetzt sind in Deutsch- funktionslos. Der digitale Wandel führt zu land Evaluierungsergebnisse von EZ- teilweise radikalen Veränderungen in vielen Programmen und -Projekten staatlicher EZ- Bereichen. Ein gesellschaftliches Szenario Durchführungsorganisationen online ver- der digitalen Gegenwart und Zukunft hat fügbar;9 eine darüber hinaus gehende digi- viele Facetten: tale „Transparenzoffensive“ böte auf EZ- Plattformen nicht nur EZ-Expertinnen und Einflussreiche Interessengruppen miss- Experten die Möglichkeit, Evaluierungser- brauchen und korrumpieren digital ermög- gebnisse online zu kommentieren und zu lichte Partizipation;12 an die Stelle der libe- diskutieren, sondern auch kritischen Steuer- ralen Demokratie tritt die digitale Demokra- zahlerinnen und Steuerzahlern. tie, in der Influencer die Meinungsbildung der anonymen „Netzgemeinde“ beeinflussen Transparenz in der EZ kann im Rahmen und Wahlentscheidungen durch gezielt ge- der digitalen Transformation deutlich ver- steuerte Fake news manipuliert werden. bessert werden, aber entscheidend ist, wie In der Aufmerksamkeits- und Daten- diese Transparenz gestaltet wird. Denn der ökonomie der Digitalwirtschaft wird der digitale Veränderungsprozess in der EZ hat klassische marktwirtschaftliche Preisme- auch ethische Implikationen, und die neuen chanismus außer Kraft gesetzt, und persona- Gestaltungsmöglichkeiten erfordern neue lisierte Daten der Internetnutzer sind das Formen der Verantwortung. So kann mehr wichtigste Produktions- und Tauschmittel. Transparenz in der EZ nicht bedeuten, dass Auf der Anbieterseite digitaler Märkte die zivilgesellschaftliche Bewertung der besteht ein starker Anreiz, die User-Daten Entwicklungspolitik an Hasskommentaren durch ein scheinbar kostenloses Angebot in den (un-)sozialen Medien gemessen wird, von Internet-Dienstleistungen zu monopoli- an der Zahl der Likers und Haters bei Face- sieren und den Wettbewerb auszuschalten.13 book oder an der Zahl der Follower bei Twit- ter und Instagram.10 Ein digitaler Kapitalismus, der höchste Renditen generiert und den Gesetzen des Stärkeren folgt, verdrängt den regulierten 4. Risiken der Digitalisierung Kapitalismus kontinentaleuropäischer Prä- Wie mit jedem radikalen Veränderungs- gung. Ungestört von nationalstaatlichen prozess eröffnen sich auch mit der digitalen Regulierungen bestimmten digitale Dienst- Disruption keineswegs nur Chancen, son- leister wie Amazon, Facebook, Google & Co. dern sie bringt auch Probleme mit sich. Zum in immer mehr Wirtschaftsbereichen die einen sind es gesellschaftliche Risiken, zum Spielregeln.14 anderen Risiken auf den operativen Ebenen Der digitale Wandel in der globalisier- öffentlicher und zivilgesellschaftlicher EZ. ten Wirtschaft löst in Entwicklungsländern 12 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT tiefreifende Veränderungen der Produkti- Absehbar sind für die EZ-Arbeitswelt onsstrukturen aus. Die digitalisierungsbe- konkrete Folgen: dingte steigende Kapitalintensität von Pro- duktionsprozessen führt zu einer Rückverla- Einige Berufsgruppen in den Durchfüh- gerung von Produktionsprozessen aus Ent- rungsorganisationen der EZ werden von der wicklungsländern in Industrieländer. Digitalisierung besonders betroffen sein, während andere davon profitieren können Schätzungen der Weltbank zu Folge (beispielsweise Programmierer, Software- könnten bis zu zwei Drittel der gegenwärti- Entwickler, IT-Spezialisten). gen Jobs in der verarbeitenden Industrie von Entwicklungsländern durch die zunehmende Vor allem Jobs mit einfachen Qualifizie- Digitalisierung und Automatisierung wegfal- rungs- und Tätigkeitsmerkmalen gehen in len. Dies betrifft vor allem nicht oder ge- der digitalisierten EZ verloren, da diese Jobs ringqualifizierte Arbeitskräfte, die in eine sich durch digitale Technologien schnell Armutsfalle zu geraten drohen.15 ersetzen lassen. In Industrie- und Entwicklungsländern Auch mittlere Qualifikationsgruppen werden ständige Verfügbarkeit und Selbst- verlieren in der digitalisierten EZ- ausbeutung zu kulturellen Normen der digi- Arbeitswelt in dem Maße an Bedeutung, in talen Arbeitswelt. Digitale Technologien dem sich deren Tätigkeiten formalisieren „kolonisieren“ das Alltagsleben der Men- und standardisieren lassen. schen in Industrie- und Entwicklungsländern Jenseits der Arbeitswelt und der opera- gleichermaßen.16 tiven Abläufe, die im Fokus der aktuellen EZ- Immer mehr autoritäre Regime nutzen Digitalisierungsdiskurse stehen, sind die die Möglichkeiten einer stärkeren Überwa- Konsequenzen des digitalen Wandels in der chung und Zensierung der digitalen Medien. EZ noch keineswegs hinreichend geklärt. Auf In der Volksrepublik China ist digitale Infra- der Metaebene der EZ wäre es beispielswei- struktur für Überwachung und Zensur be- se wünschenswert, Grundsätze wie Ow- reits am weitesten ausgebaut und perfektio- nership der Partner und Alignment (Partner- niert. Bis zum Jahr 2020 wird in China lan- orientierung) durch Digitalisierung zu stär- desweit ein digitales Punktesystem der „so- ken. Dies würde möglich, wenn die Ziel- zialen Vertrauenswürdigkeit“ eingeführt; gruppen von EZ-Programmen und – mit diesem System sollen „gute Menschen“ projekten mit den Möglichkeiten der Digita- belohnt und „schlechte Menschen“ bestraft lisierung mehr direkte Verantwortung für werden, wobei die Kommunistische Partei Erfolg und Misserfolg der EZ-Maßnahmen Chinas bestimmt, was „gut“ und was übernähmen, beispielsweise bei der Steue- „schlecht“ ist. rung der Mittelverwendung.17 Auch die Ac- Auf der operativen Ebene der EZ zeigt countability, die wechselseitige Rechen- sich das Problem der Digitalisierung unmit- schaftspflicht in der EZ, ließe sich durch telbar in dem Konflikt zwischen dem Inte- digitalisierte Prozesse detaillierter einfor- resse an Beschäftigungssicherung in den dern und dokumentieren. Durchführungsinstitutionen einerseits, und der politischen Zielvorgabe andererseits, digitale Innovationen in allen Bereichen der EZ zu fördern. Denn die Auswirkungen digi- taler Innovationen werden in der Arbeits- welt direkt und meist sehr schnell spürbar. Dies bedeutet, dass in Folge der „digitalen Innovationsoffensive“ die digitale Arbeits- welt auch in der EZ anders sein wird als die bislang gewohnte Arbeitswelt. ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 13
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER 5. In der EZ kooperieren Menschen, nicht Errungenschaft der demokratischen Kultur Algorithmen Europas. KI-Algorithmen können bereits jetzt so Andererseits ist ein undifferenzierter programmiert werden, dass sie lernfähig teclash, eine grundsätzliche Ablehnung digi- sind; mit der Methode des Reinforcement taler Technologien, angesichts von Vorteilen Learning erhält das Programm einen „Be- nicht zu rechtfertigen, die durch Digitalisie- lohnungsimpuls“, sobald es eine Aufgabe rung in vielen Bereichen genutzt werden erfolgreich abgearbeitet hat. Vordergründig können. Digitalisierung bietet Menschen mag das nach Simulation menschlicher Ver- auch politische und soziale Freiheitschan- haltensweisen aussehen, ist jedoch lediglich cen. Aber es bedarf einer Ethik für die Tech- das Ergebnis des Programmierens.18 nologien der Zukunft, eines Wertesystems Menschliche Eigenschaften lassen sich KI für das digitale Jahrhundert.20 Denn ohne nicht zuweisen. Nach heutigem Kenntnis- digitale Ethik droht die fortschreitende Digi- stand erscheint die Befürchtung weitgehend talisierung der Lebens- und Arbeitswelten unbegründet, Künstliche allgemeine Intelli- auf einen irreversiblen Irrweg zu geraten, genz (Artificial general intelligence/AGI) auf dem vergessen wird zu fragen, wen die könne zukünftig das Individuum als auto- Digitalisierung befreit und wozu?21 KI- nomes Subjekt ersetzen. Zwar mag AGI er- Techniken können das Alltagsleben in vieler- klärtes Ziel der KI-Forschung sein, aber AGI lei Hinsicht erleichtern, es ist aber eine Fra- könnte dem menschlichen Denken nur nahe- ge der Ethik, mit KI-Techniken Letale Auto- kommen oder es sogar übertreffen, wenn es nome Waffensysteme, „Tötungsroboter“, zu gelänge, AGI wie ein „digitales Neocortex“ konstruieren und in Entwicklungsländer zu zu gestalten, ähnlich dem multisensorischen exportieren.22 und motorischen Teil der menschlichen Auch die Digitalisierung der EZ stößt an Großhirnrinde. Dass dieses Ziel in absehba- Grenzen – an technische, finanzielle und rer Zeit oder jemals erreicht werden kann, administrative Grenzen. Zudem muss EZ auf gilt jedoch derzeit als eher unwahrschein- Asymmetrien achten, die durch Digitalisie- lich.19 rung entstehen oder verstärkt werden, und Auch ohne AGI sind Konsequenzen der dadurch autonome Entwicklung in den Part- fortschreitenden Digitalisierung des Alltags- nerländern behindern. Selbst bei konse- lebens aber bereits jetzt unübersehbar. Es quenter Umsetzung der „Digitalen Agenda“ ist die steigende (Lebens-)Zeit, die Men- des BMZ wird Entwicklungszusammenarbeit schen jeder Altersgruppe auf digitalen Platt- auch in Zukunft nicht ohne menschliches formen verbringen – ohne für sie nachvoll- Arbeitshandeln auskommen. Es werden wei- ziehbaren Nutzen. Es ist die Erosion des terhin engagierte Mitarbeiterinnen und Mit- Wahrheitsbegriffs durch die vielen vermeint- arbeiter für kreative Jobs gebraucht. Die lichen, oft widersprüchlichen „Wahrheiten“ Intelligenz von IT-Systemen ist zwar lernfä- und unüberprüfbaren „Fakten“, die das In- hig, kann jedoch immer nur begrenzt kreativ ternet anbietet. Es ist die Häme, die auf den sein. Daher werden in den Institutionen der großen Web-Portalen kübelweise über An- digitalisierten EZ auch weiterhin Mitarbeite- dersdenkende ausgeschüttet wird. Es ist die rinnen und Mitarbeiter für Tätigkeiten benö- brutal vereinfachende Reduzierung des poli- tigt, die direkt mit Menschen zu tun haben. tischen Diskurses auf 280 Zeichen eines Zwar lassen sich mit Hilfe von KI riesige tweet bei Twitter. Mit der permanenten digi- Datenmengen mit großer Geschwindigkeit talen Bekenntniskultur in der Öffentlichkeit analysieren, daraus Rückschlüsse ziehen der Sozialen Medien geht Privatheit verloren und Entscheidungsprozesse simulieren. – und damit die Trennung zwischen Öffentli- Aber KI kann menschliches Bewusstsein chem und Privatem als einer wesentlichen nicht erlangen, und KI fehlen menschliche 14 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
DIE ZUKUNFT DER DIGITALISIERTEN ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Emotionen. In der binären Logik algorith- und globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sang- mengesteuerter KI ist Empathie nicht ver- meister und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 33-65. 3 BMZ (2017): S. 10f. fügbar. Daher können KI solche Entschei- 4 Mit der Bewertung von EZ-Maßnahmen an Hand der dungen nicht überlassen werden, die Men- DAC-Kriterien sollen folgende Fragen beantwortet wer- den: Trägt die EZ-Maßnahme zur Lösung eines Prob- schen zu treffen haben, die sich in globaler lems in dem Land bei? (Relevanz). Verantwortung in der EZ engagieren und zu Wird der Output der EZ-Maßnahme mit kostenminima- Empathie fähig sind. lem Aufwand erreicht? (Effizienz). Wird der Output der EZ-Maßnahme in ausreichendem Maße und ohne nega- tive Nebenwirkungen erreicht? (Effektivität). Trägt die Die Auseinandersetzung mit Möglich- EZ-Maßnahme dazu bei, übergeordnete entwicklungs- keiten, Grenzen und ethischen Aspekten der politische Ziele zu erreichen? (Impact). Sind die mit „Digitalen Agenda“ für die deutsche EZ ist dem EZ-Vorhaben erreichten positiven Wirkungen [Output und Impact] von Dauer? (Nachhaltigkeit). wichtig – auch um übertriebenen Erwartun- 5 Villhauer, Bernd (2018): Ethische Fragen der Digitali- gen entgegenzuwirken, Digitalisierung kön- sierung, in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digita- ne die Globalisierung gerechter machen.23 lisierung und globale Verantwortung, hrsg. von Hart- mut Sangmeister und Heike Wagner, Baden-Baden, S. Dringlicher noch als die Digitalisierungsde- 166. batte erscheint derzeit aber eine grundsätz- 6 Diese Vorteile können allerdings nur genutzt werden, wenn ein professionelles Schnittstellenmanagement liche Diskussion des Wertekanons, der für existiert, und alle Beteiligten mit kompatibler Software die deutsche EZ handlungsleitend sein soll- arbeiten - was bei dem Engagement der staatlichen te. Denn die EZ droht in dem Maße an deutschen EZ in fast 100 Ländern als eine kaum zu be- wältigende Herausforderung erscheint. Glaubwürdigkeit zu verlieren, in dem ent- 7 Diese Möglichkeit bietet beispielsweise die KI- wicklungspolitische Diskurse den Eindruck Plattform Cortex 5 der US-Firma CognitiveScale. URL vermitteln, „Fluchtursachenbekämpfung“ https://www.cognitivescale.com (25.11.2018). 8 Der 2011 international vereinbarte IATI- käme oberste Priorität in der Entwicklungs- Transparenzstandard für die Veröffentlichung von Ent- politik zu. wicklungsleistungen beruht auf den Vorgaben des sta- tistischen DAC-Meldesystems der OECD. Der IATI- Standard bietet staatlichen, zivilgesellschaftlichen und || Prof. Dr. Hartmut Sangmeister privaten Gebern einen einheitlichen Rahmen zur Veröf- fentlichung ihrer EZ-Leistungen. Auch das BMZ, Grün- dungsmitglied von IATI, veröffentlicht seit 2013 auf Prof. Dr. Sangmeister ist emeritierter Hochschul- der IATI-Homepage Projekt- und Organisationsdaten lehrer für Entwicklungsökonomik am Alfred- der deutschen EZ. Siehe URL Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften der https://iatiregistry.org/dataset. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Ge- 9 Evaluierungsberichte von Programmen und Projekten der deutschen öffentlichen EZ im Internet. URL schäftsführender Herausgeber der Buchreihe https://www.deval.org/de/evaluierungsberichte.html; „Weltwirtschaft und internationale Zusammenar- URL https://www.giz.de/de/downloads/giz2017-de- beit“ (Nomos Verlag, Baden-Baden). evaluierungsbericht.pdf; URL https://www.kfw-entwick lungsbank.de/Internationale-Finanzierung/KfW- Entwicklungsbank/Evaluierungen/Ergebnisse. 10 Sangmeister, Hartmut (2018): EZ 4.0 – Chancen, Risi- ken und viele offene Fragen, in: Entwicklungszusam- ANMERKUNGEN menarbeit 4.0 – Digitalisierung und globale Verantwor- tung, hrsg. von Hartmut Sangmeister und Heike Wag- ner, Baden-Baden, S. 25. 11 Hilser, Katja (2018): Wer profitiert von den digitalen Dividenden? Der World Development Report 2016, in: 1 BMZ [Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisierung und menarbeit und Entwicklung] (2017): Die digitale Revo- globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sangmeister lution für nachhaltige Entwicklung nutzen. Die Digitale und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 83-93. Agenda des BMZ. Bonn. URL http://www.bmz.de/de 12 Morozov, Evgeny (2017): Fake News sind ein Symptom /mediathek/publikationen/reihen/infobroschueren_flye des digitalen Kapitalismus, in: Süddeutsche Zeitung vom r/infobroschueren/Materialie312_Digitale_Agenda.pdf 19.01.2017. URL http://www.sueddeutsche.de [26.11.2018]. /digital/facebook-und-google-fake-news-sind-ein-symp 2 Siehe hierzu GIZ [Deutsche Gesellschaft für Internatio- tom-des-digitalen-kapitalismus-1.3337982 (26.11.2018) nale Zusammenarbeit] (2015), Orientierungsrahmen 13 Wambach, Achim / Müller, Hans-Christian (2018): für den digitalen Wandel in der GIZ, Eschborn; Gimpel, Digitaler Wohlstand für alle: Ein Update der Sozialen Lea (2018): Doing Development Differently: Die digita- Marktwirtschaft ist möglich, Frankfurt / New York. le Transformation des Bundesunternehmens Deutsche 14 Der Internet-Konzern Google darf mit seiner Suchma- Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), schine in der Volksrepublik China (noch) nicht tätig in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisierung sein; Monopolist ist hier die Suchmaschine des chine- ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 15
PROF. DR. HARTMUT SANGMEISTER sischen Konzerns Baidu (百度), der auch die politisch streng zensierte Internet-Enyklopädie Baidu Baike (百度百科) verwaltet. 15 World Bank (2016): World Development Report 2016: Digital dividends, Washington DC, S. 23. 16 Greenfield, Adam (2017): Radical technologies. The design of everyday life, London. 17 Grundsätze wie Ownership der Partnerländer und Alignement (Partnerorientierung) sollte durch das In- strument der Allgemeinen Budgethilfe gestärkt werden, d.h. durch unkonditionierte Finanzierungszuschüsse zu dem Staatshaushalt des Partnerlandes. Jedoch wird dieser Finanzierungsmodalität nach den teilweise ent- täuschenden Erfahrungen westlicher Geberländer mit der Allgemeinen Budgethilfe inzwischen zunehmend skeptisch beurteilt, so dass viele Geber dieses Instru- ment – vor allem in der EZ mit afrikanischen Staaten – nicht mehr anwenden; vgl. DEval [German Institute for Development Evaluation] (2017): What we know about the effectiveness of budget support. Evaluation synthe- sis 2017, Bonn. 18 Bekannt ist das bereits 1994 von Larry Yaeger pro- grammierte Beispiel der „indolent cannibals“, einer Po- lyworld-Computersimulation, in der die „Agenten“, ei- ne Vielzahl kleiner Einzelprogramme, Fähigkeiten wie Fressen, Bewegen und Fortpflanzen erhielten; bereits nach einigen Durchläufen kannibalisierten die digitalen „Agenten“ ihre Nachkommen, anstatt sich zu paaren und fortzupflanzen; siehe hierzu Kelly, Kevin (1994): Out of control: the new biology of machines, social sys- tems, and the economic world, Boston/Mass.; Johnston, John (2008): The allure of machinic life: cybernetics, artificial life, and the new AI, Cambridge/Mass. 19 Eine Ausnahme von dieser Einschätzung liefert der US-Autor Ray Kurzweil in seinem Buch „The singula- rity is near: when humans transcend biology (New York 2005); er beschreibt die Intelligenzexplosion, die singularity, die erreicht ist, sobald das digitales Neocortex der AGI das Denkvermögen der Menschen übertrifft. 20 Vergl. Spiekermann, Sarah (2016): Ethical IT innova- tion: A value-based system design approach, Boca Ra- ton/Fl. Von derselben Autorin erscheint 2019 das Buch „Digitale Ethik: Ein Wertesystem für das 21. Jahrhun- dert“, München. 21 Villhauer, Bernd (2018): Ethische Fragen der Digitalisie- rung, in: Entwicklungszusammenarbeit 4.0 – Digitalisie- rung und globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sangmeister und Heike Wagner, Baden-Baden, S. 169. 22 Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert ein Verbot Letaler Autonomer Waffensysteme und setzt sich für einen internationalen Vertrag zur Anwendung von KI in militärischen Konflikten ein; BDI (2018): Künstliche Intelligenz in Sicherheit und Vertei- digung. Handlungsempfehlungen der deutschen In- dustrie, Berlin. 23 Keil, Philipp (2018): Macht die Digitalisierung die Globalisierung gerechter?, in: Entwicklungszusammen- arbeit 4.0 – Digitalisierung und globale Verantwortung, hrsg. von Hartmut Sangmeister und Heike Wagner, Ba- den-Baden, S. 141-160. 16 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
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Wulf Reiners und Sven Grimm Digitalisierung in aufstrebenden Mächten – Trends und Strategien Digitalisierung bringt neue wirtschaftliche Möglichkeiten zur Lösung drängender Umweltfragen und für einen gesellschaftlichen und politischen Wandel im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Durch die Entwicklung von digi- talen Instrumenten im Bereich der Regierungsführung (E-Governance) bietet sie enorme Möglichkeiten für die Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen, Bürgerbeteiligung in politischen Prozessen sowie verbesserte Transparenz und Rechenschaft in Verwaltungsabläufen. Digitalisierung kann damit auch Nachhaltigkeit und die Umsetzung der 2030 Agenda unterstützen. In den vergangenen Jahren ist es auch in zahlreichen aufstreben- den Mächten zu großen Investitionen in diesem Bereich gekommen. Länder wie Brasilien, Indien oder Mexiko haben damit begonnen, Digitalisierungsstrategien zu entwickeln und Instrumente umzusetzen, die die neuen Möglichkeiten für ihre spezifischen Herausforderungen nutzbar machen sollen. Aufgrund ihrer Größe und je- weiligen Rollen im internationalen System, die mit erheblicher Strahlkraft verbunden sind, wirken ihre Ansätze und Erfahrungen mit der Digitalisierung auch auf weitere Länder, in der jeweiligen Region und darüber hinaus. Die Analyse der nationalen Ansätze ausgewählter Schwellenländer zeigt Gemeinsamkeiten in den Prioritäten. Zugleich macht sie deutlich, dass die Länder unterschiedlich schnell und weit vorangehen und dass die neuen Instrumente auch mit erheblichen Risiken verbunden sein können, insbesondere für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger und im Bereich Datenschutz. Europäische Regelungen wie die Datenschutzgrundverordnung werden in diesen Ländern mit Interesse zur Kenntnis genommen und bieten einen Anlass für die Auseinander- setzung mit europäischen Normen. Schlagwörter: Digitalisierung - Schwellenländer - aufstrebende Mächte - e-Governance - e-Government - Brasilien - Mexiko - Indien - Aadhaar - öffentliche Dienstleistungen - politische Partizipation
Digitalisierung in aufstrebenden Mächten – Trends und Strategien || Wulf Reiners und Sven Grimm 1. Digitalisierung in aufstrebenden Mächten Investitionen und Entwicklungen in den Bereichen E-Governance und E-Government Die heutigen Investitionen in Digitali- finden nicht nur in den USA und China statt, sierung beeinflussen persönliche, politi- die die weltweiten Entwicklungen maßgeb- sche, soziale, umweltbezogene und wirt- lich prägen, sondern drängen in praktisch schaftliche Prozesse auf der gesamten Welt, allen Weltregionen auf die Agenda – wenn haben bereits erhebliche Veränderungen auch in unterschiedlicher Intensität und bewirkt und haben das Potential, sämtliche Geschwindigkeit und mit unterschiedlichen Sektoren in den kommenden Dekaden wei- Schwerpunkten. In Entwicklungsländern terreichender und radikaler zu verändern als beispielsweise werden Zugangsmöglichkei- es gegenwärtige Veränderungsprozesse im ten zum Internet und Digitalisierung als Ansatz erkennen lassen – von der Landwirt- Grundvoraussetzung gesehen für eine re- schaft und der Industrie bis zum Finanzsek- chenschaftsbasierte und gemeinwohlorien- tor, vom Bildungs- oder Gesundheitsbereich tierte Regierungsführung.2 Aufstrebende bis hin zu Fragen der demokratischen Ord- Mächte wie Brasilien, Indien, Indonesien, nung und universeller Menschenrechte.1 Mexiko oder Südafrika stellen in diesem Zusammenhang eine wichtige, in der wis- Der Austausch zu diesen Themen wird senschaftlichen Analyse von Digitalisie- global ermöglicht oder zumindest beschleu- rungsentwicklungen jedoch wenig behandel- nigt, verändert den gesellschaftlichen Alltag te Ländergruppe dar. Diesen Schwellenlän- und führt zu Debatten in der Wissenschaft. dern ist gemeinsam, dass sie als Resultat Dies gilt auch für den Bereich der E- grundsätzlicher Verschiebungen im interna- Governance, unter dem der Einsatz digitaler tionalen wirtschaftlichen und politischen Technologien in Politik und Verwaltung ver- System über wachsenden Einfluss auf globa- standen wird. E-Governance wird oft als ler Ebene verfügen. Überbegriff für sämtliche relevante Entwick- Gleichzeitig kommt ihnen durch ihre lungen genutzt, wenngleich er sich schwer- geographische Größe, Bevölkerung, natürli- punktmäßig auf politische Partizipation und che Ressourcen und ihren Einfluss auf die die Kommunikation zwischen Regierung, jeweilige Region eine zentrale Rolle bei der Verwaltung, Wirtschaft und Bürger bezieht. Bewältigung globaler Herausforderungen zu. Die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen Vor diesem Hintergrund misst ihnen auch durch digitale Instrumente, die Vernetzung die deutsche Entwicklungszusammenarbeit von Verwaltungen und die Digitalisierung als globale Partner3 besondere Bedeutung zugehöriger Verfahren werden hingegen bei und fördert die Kooperation mit und dem Feld des E-Government zugeordnet. unter den Ländern durch Initiativen wie das ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24 19
WULF REINERS UND SVEN GRIMM ‚Managing Global Governance‘ Programm Im Jahr 2013 rief Mexiko seine „Natio- des Deutschen Instituts für Entwicklungspo- nal Digital Strategy“ ins Leben,6 2015 folg- litik (DIE)4. Es bietet über ein langfristig ten das chinesische Konzept „Made in China angelegtes Netzwerk Kooperationsformate 2025“7 und das „Digital India Programme“8. und Kommunikationskanäle, um globale 2017 legte Südafrika seine „National e- Fragestellungen zu erörtern und gemein- Strategy Digital Society“ vor9, 2018 Indone- schaftliche Lösungsansätze zu erarbeiten, sien „Making Indonesia 4.0“10 und Brasilien die gleichzeitig die Beziehung zwischen den die digitale Transformationsstrategie „Est- regionalen Machtzentren und Deutschland ratégia brasileira para a transformação digi- und der Europäischen Union (EU) pflegen. tal“ (Brazilian Digital Transformation Stra- Mit einer ähnlichen Zielsetzung fördert auch tegy – E-Digital)11. Die Strategien eint, dass die EU durch grenzüberschreitende For- Digitalisierung im Kern als möglicher Trei- schungs- und Innovationsprojekte den Aus- ber für wirtschaftliche Entwicklung und In- tausch mit diesen Ländern.5 novation, verbesserte Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit gesehen wird. Dar- Die Gruppe aufstrebende Mächte ist he- über hinaus beinhalten alle Strategien Pläne terogen, nicht zuletzt in Bezug auf die poli- zum Infrastrukturausbau und zur Netzabde- tischen Systeme und geopolitische Interes- ckung (Connectivity). Auch Bezüge zur Wis- sen. Gleichzeitig stehen die Schwellenländer senswirtschaft und Wissensgesellschaft fin- vor sehr vergleichbaren Herausforderungen. den sich in zahlreichen Strategiepapieren, Neben prominenten Fragestellungen, wie darunter im Nationalen Entwicklungsplan Maßnahmen zum Klimaschutz und die Bear- Südafrikas. In der Diskussion um die Wis- beitung von sozialer Ungleichheit, sind mo- senswirtschaft nehmen entsprechende Digi- derne Lösungsansätze auch gefordert mit talisierungspläne besonders den e-Handel Blick auf demographische Veränderungen, als herausgehobenes Element auf. Im Be- innere Sicherheit, Bildung, Gesundheit und reich der Wissensgesellschaft entwickelt die Kluft zwischen ländlichen und urbanen sich die Debatte unter anderem entlang der Gebieten. In den Bereichen E-Governance Kernfrage, welche Veränderungen in der und E-Government stehen sie vor ähnlichen Schul- und Hochschulbildung notwendig Herausforderungen; wie die Interaktionen sind, um die analytischen komplementären zwischen Bürgern und Staat, Verwaltungsef- Grundfähigkeiten – ganz analog – effektiv fizienz, Transparenz, Korruptionsvermei- zu stärken.12 dung oder Rechenschaftspflicht, sowie die Möglichkeit der politischen Teilhabe, auch Die nationalen Digitalisierungsstrate- für Menschen in bislang schlecht erreichba- gien umfassen häufig Aspekte von E- ren Gebieten. Government, also die digitale Umrüstung und Verbesserung staatlicher Verwaltung, 2. Nationale Digitalisierungsstrategien im sowie E-Governance, d.h. eine stärkere Be- Vergleich teiligung von Gesellschaft und Wirtschaft an politischen Prozessen. Diese Kernelemente Zahlreiche Schwellenländer haben in fasst beispielsweise das „Digital India Pro- den vergangenen Jahren nationale Digitali- gramme“ in der Vision zusammen „Indien in sierungsstrategien ausgearbeitet und be- eine digital befähigte Gesellschaft und Wis- gonnen umzusetzen, um Digitalisierung für senswirtschaft zu transformieren (im engli- die nationalen Bedürfnisse nutzbar zu ma- schen Original: „transform India into a digi- chen. Hier werden wir im Besonderen die tally empowered society and knowledge großen Schwellenländer als zentrale Akteure economy“).13 Kernbausteine der Strategien des globalen Südens betrachten, vor allem lassen sich exemplarisch anhand des neue- Mexiko, Indien, Brasilien und Südafrika. ren brasilianischen (2018), des frühen me- 20 ARGUMENTE UND MATERIALIEN DER ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT 24
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