APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
             61. Jahrgang · 48/2011 · 28. November 2011

      Wehrpflicht und Zivildienst
                                                  Harald Kujat
                                       Das Ende der Wehrpflicht

                                                 Peter Steinbach
                                  Zur Geschichte der Wehrpflicht

                                             Berthold Meyer
                     Bundeswehrreform und Parteiendemokratie

                                                  Wenke Apt
 Herausforderungen für die Personalgewinnung der Bundeswehr

              Heiko Biehl · Bastian Giegerich · Alexandra Jonas
   Aussetzung der Wehrpflicht. Lehren westlicher Partnerstaaten

                                         Ines-Jacqueline Werkner
Wehrpflicht und Zivildienst – Bestandteile der politischen Kultur?

         Holger Backhaus-Maul · Stefan Nährlich · Rudolf Speth
      Der diskrete Charme des neuen Bundesfreiwilligendienstes

                                                    Jörn Fischer
              Freiwilligendienste – vom Nutzen des Engagements
Editorial
  Mit der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 wurde
die Bundeswehr nach 55 Jahren zur Freiwilligenarmee. Voran­
gegangen war eine jahrelange, emotional geführte Debatte. Be­
fürworter der Wehrpflicht hatten wiederholt darauf hingewie­
sen, dass es die Wehrpflicht sei, die dafür gesorgt habe, dass die
Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft verankert geblieben
und nicht wie die Reichswehr der Weimarer Republik zum Staat
im Staate geworden sei. Kritiker hatten dagegen bemängelt, dass
von Wehrgerechtigkeit aufgrund der hohen Ausmusterungs­
quote keine Rede mehr sein könne. Letzten Endes ermöglich­
ten Sparzwänge und die Notwendigkeit einer grundlegenden
Reform der Bundeswehr die rasche und relativ einvernehmliche
Aussetzung der Wehrpflicht.

   Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist zur Zeit im vollen
Gange. Im Oktober wurden die Pläne für Standortschließungen
und -verkleinerungen vorgestellt. Eine große Herausforderung
liegt in der Rekrutierung von quantitativ und qualitativ ausrei­
chendem Personal. Die Gefahr, dass aus der Bundeswehr eine
„Unterschichtenarmee“ werde, wird oft beschworen. Mit Blick
auf die Armeen westlicher Partnerstaaten, die zum Teil schon
vor Jahrzehnten die Wehrpflicht abgeschafft haben, lassen sich
die pessimistischen Vorhersagen aber nur bedingt bestätigen.
Die Bundeswehr als Freiwilligenarmee muss nun – wie jeder an­
dere Arbeitgeber auch – Rahmenbedingungen bieten, die es at­
traktiv machen, den Soldatenberuf zu ergreifen.

  Das Ende des Wehrdienstes zog auch das Ende des Zivildiens­
tes nach sich. Hatten Ersatzdienstleistende in den ersten Jahr­
zehnten nach Einführung der Wehrpflicht häufig noch als „Drü­
ckeberger“ gegolten, so wandelte sich das Bild allmählich zum
sympathischen „Zivi“, auf den zahlreiche soziale Einrichtungen
kaum mehr verzichten wollten oder konnten. Mit der Einfüh­
rung des Bundesfreiwilligendienstes versucht die Bundesregie­
rung, die entstandene Lücke zu schließen. Dabei gilt es, die un­
terschiedlichen Logiken eines staatlichen Pflichtdienstes, wie es
der Zivildienst war, und des freiwilligen zivilgesellschaftlichen
Engagements, das durch den Bundesfreiwilligendienst erschlos­
sen werden soll, zu beachten.

                                                   Anne Seibring
Harald Kujat         Transformation der NATO war diese Reform
                                                           auf Kontinuität angelegt. Aus finanziellen

             Das Ende der                                  Gründen ist sie nach 2002 nicht fortgeführt
                                                           worden. Ein Reformstau war die Folge. Nun
                                                           steht die Bundeswehr zum dritten Mal in

              Wehrpflicht                                  zwanzig Jahren vor einer Reform, die als völ­
                                                           lige Neuausrichtung konzipiert ist. Es geht
                                                           um höhere Leistungsfähigkeit, mehr Effizi­

                    Essay                                  enz und größere Einsatzrealität. Die Bundes­
                                                           wehr soll professioneller, schlagkräftiger, mo­
                                                           derner und attraktiver werden. Es geht aber
                                                           auch um die Frage: Was können wir uns an

        S    treitkräfte müssen sich fortlaufend den
             veränderten außen- und sicherheitspoliti­
          schen Verhältnissen anpassen, damit sie auf
                                                           Sicherheitsvorsorge leisten, was müssen wir
                                                           uns leisten? Das Bundesministerium der Ver­
                                                           teidigung erklärte, Ziel der Neuausrichtung
                                 neue Herausforderun­      sei es, „die Bundeswehr so aufzustellen, zu
                    Harald Kujat gen und Risiken ange­     finanzieren und auszustatten, dass Deutsch­
    Geb. 1942; General a. D. der messen reagieren kön­     land nachhaltig befähigt ist, gemeinsam mit
Luftwaffe; 2000 bis 2002 Gene- nen. Dies gilt ins­         seinen Partnern einen gewichtigen militäri­
ralinspekteur der Bundeswehr; besondere seit dem           schen Beitrag zur Sicherheit des Landes und
2002 bis 2005 Vorsitzender des Ende des Ost-West-          des Bündnisses sowie zur Sicherung von Frie­
  Militärausschusses der NATO. Konflikts, seit sich die    den und Stabilität in der Welt zu leisten“.❙1
                                 gegnerischen Blöcke
          mit ihren erstarrten Fronten aufgelöst haben.
          In der Folge hat die Erweiterung der Nordat­                                     Historischer und
          lantischen Allianz (NATO), die strategische                               gesellschaftlicher Bruch
          Partnerschaft der NATO mit Russland und
          die Schaffung eines euro-atlantischen Stabili­   Anders als bisher wird diesmal mit der Ausset­
          tätsraums durch den Euro-Atlantischen Part­      zung der Wehrpflicht ein historischer und ge­
          nerschaftsrat die geopolitische Lage Deutsch­    sellschaftlicher Bruch vollzogen. Wenngleich
          lands positiv verändert. Wie andere euro­        die Konsolidierung des Bundeshaushalts, zu
          päische Staaten hat auch Deutschland seine       der auch die Bundeswehr einen Beitrag leisten
          Friedensdividende eingelöst und eine selbst      muss, den Anstoß gab, ist das Ende der Wehr­
          im historischen Maßstab bemerkenswerte           pflicht der eigentlich bestimmende Faktor für
          Abrüstung vollzogen.                             die Neuausrichtung der Bundeswehr. Dabei
                                                           stand als politischer Schachzug die Entschei­
          Als größter und wirtschaftlich stärkster         dung zur Aussetzung der Wehrpflicht am An­
        Staat der Europäischen Union (EU) und als          fang des Reformprozesses und ist nicht – wie
        zweitgrößter Mitgliedsstaat der NATO ist           es bei einer aufgaben- und fähigkeitsorientier­
        Deutschland jedoch größere außen- und si­          ten Planung eigentlich geboten wäre – dessen
        cherheitspolitische Gestaltungsmacht zu­           Ergebnis. Die Konsequenzen dieser Vorge­
        gewachsen. Unsere Verbündeten erwarten             hensweise werden entscheidend dafür sein,
        daher, dass Deutschland deutlich mehr Ver­         ob die Bundeswehr künftig in der Lage sein
        antwortung für die Sicherheit Europas und          wird, die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen.
        die Stabilität weltweit übernimmt. Deutsch­
        land wird ein größerer Beitrag als bisher zur        Nachdem seit Jahren von den Gegnern der
        gemeinsamen Sicherheitsvorsorge der NATO           Wehrpflicht argumentiert wurde, sie sei si­
        und zur politischen und militärischen Durch­       cherheitspolitisch und gesellschaftlich über­
        setzung der gemeinsamen Außen- und Si­             holt, bedeutete bereits die Verkürzung des
        cherheitspolitik der EU abverlangt.                Wehrdienstes auf sechs Monate – 2009 bei

          Im Jahr 2000 begann eine grundlegende
                                                           ❙1 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Sach­
        Reform der Bundeswehr, nachdem sie einige          stand zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Nationale
        Jahre zuvor die Auflösung und die Integra­         Interessen wahren – Internationale Verantwortung
        tion eines Teils der Nationalen Volksarmee         übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, Berlin,
        der DDR erfolgreich bewältigt hatte. Wie die       21. 9. 2011.

                                                                                               APuZ 48/2011       3
der Regierungsbildung beschlossen – prak­        wären, einen substantiellen Beitrag zum Fä­
    tisch den Einstieg in den Ausstieg. Der frü­     higkeitsspektrum der Streitkräfte zu leisten.
    here Verteidigungsminister Karl-Theodor          Offensichtlich haben die militärischen Fä­
    zu Guttenberg verschärfte den politischen        higkeiten der Bundeswehr in den vergange­
    Druck zur Aufgabe der Wehrpflicht mit sei­       nen Jahren immer weniger mit den sicher­
    ner Argumentation, dass Wehrgerechtigkeit        heitspolitischen Herausforderungen Schritt
    nicht mehr gegeben sei, wenn nur 17 Pro­         gehalten. Eine genauere Betrachtung zeigt
    zent eines Jahrgangs Wehrdienst leiste­          allerdings, dass dafür nicht die Wehrpflicht,
    ten. Schließlich wurde die Wehrpflicht nach      sondern die jahrelange Unterfinanzierung
    55 Jahren zum 1. Juli 2011 ohne eine vertief­    der Streitkräfte verantwortlich ist.
    te sicherheitspolitische Diskussion der Rah­
    menbedingungen sowie der Konsequenzen
    ausgesetzt. Das Grundgesetz wurde jedoch                 Neuausrichtung der Bundeswehr:
    nicht geändert, sodass wohl für den einen              Fähigkeitsprofil und Personalbedarf
    oder anderen Politiker die theoretische Op­
    tion einer späteren Reaktivierung, wenn sich     Grundsätzlich hat die Neuausrichtung der
    dies als notwendig erweisen sollte, ausschlag­   Bundeswehr wie jede Streitkräftereform zum
    gebend für seine Entscheidung war.               Ziel, Aufgaben, Fähigkeiten und Mittel mit­
                                                     einander in Einklang zu bringen. Die Kern­
       Das Argument der Wehrgerechtigkeit wird       aufgaben der Bundeswehr leiten sich unmit­
    auch weiterhin herangezogen, wenn es gilt,       telbar aus dem Grundgesetz ab und umfassen
    das Ende der Wehrpflicht zu rechtfertigen.       den Schutz Deutschlands, die Sicherung von
    Dass in den Jahren 2000 bis 2010 immer we­       Frieden, Freiheit und Wohlergehen des deut­
    niger Wehrpflichtige ihren Dienst ableis­        schen Volkes sowie die Verpflichtungen, die
    ten mussten, war jedoch keine unabänderli­       sich aus der Mitgliedschaft in einem Bündnis
    che Entwicklung. Bis zur Bundeswehrreform        kollektiver Sicherheit, der NATO, ergeben.
    des Jahres 2000 sind noch etwa 135 000 junge     Alle anderen nationalen und multinationalen
    Männer eingezogen worden. Mit dem dama­          Aufgaben sind Ableitungen aus diesen beiden
    ligen Reformkonzept wurde die Möglichkeit        Kernaufgaben.
    der flexiblen Ableistung des Wehrdienstes,
    einschließlich des freiwilligen zusätzlichen        Dem entspricht das Strategische Kon­
    Wehrdienstes, geschaffen. Bei durchschnitt­      zept der NATO vom November 2010, das
    lichen Jahrgangsstärken von 400 000 Wehr­        der Kollektiven Verteidigung höchste Prio­
    pflichtigen konnten jährlich etwa 100 000        rität einräumt, noch vor den beiden anderen
    Wehrpflichtige eingezogen werde. 33 Pro­         Kernaufgaben, Krisenmanagement und Ko­
    zent eines Jahrgangs wurden nicht gemustert,     operative Sicherheit. Zudem haben die Staats-
    waren nicht wehrdienstfähig oder galten als      und Regierungschefs mit der Verabschiedung
    Wehrdienstausnahmen, leisteten anderweitig       des Strategischen Konzeptes die Bindungs­
    Dienst oder verpflichteten sich als Soldaten     wirkung des Artikels 5 des Nordatlantikver­
    auf Zeit. Bei durchschnittlich etwa 40 Pro­      trags durch die Festlegung verstärkt, dass sie
    zent Wehrdienstverweigerern konnte also          „einander immer gegen einen Angriff unter­
    durchaus von Wehrgerechtigkeit gesprochen        stützen“ werden und dass „diese Verpflich­
    werden. In den Folgejahren wurde jedoch die      tung fest und bindend“ sei. Sie wollen daher
    Zahl derjenigen, die tatsächlich ihren Dienst    sicherstellen, dass die NATO über das ge­
    ableisteten, aus finanziellen Erwägungen         samte Spektrum von Fähigkeiten verfügt, die
    kontinuierlich nach unten korrigiert.            notwendig sind, um jede Art von Bedrohung
                                                     der eigenen Bevölkerung abzuschrecken und
       Die Feststellung des ehemaligen Bundes­       abzuwehren, und sie haben sich verpflichtet,
    präsidenten Roman Herzog, dass die Not­          die dazu notwendigen robusten, mobilen und
    wendigkeit des Wehrdienstes sicherheitspoli­     verlegbaren konventionellen Kräfte aufzu­
    tisch begründet sein müsse, ist unbestritten.    bauen und zu unterhalten.❙2
    Da die Aufgaben der Streitkräfte seit dem
    Ende des Ost-West-Konfliktes vielfältiger,
                                                     ❙2 Vgl. Strategic Concept, adopted by the Heads of
    differenzierter und komplexer geworden           State and Government in Lisbon, 20. 11. 2010, online:
    sind, ist die Frage durchaus legitim, ob Wehr­   www.nato.int/lisbon2010/strategic-concept-2010-
    pflichtige künftig überhaupt noch in der Lage    eng.pdf (18. 10. 2011).

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In diesem Zusammenhang wurde ein Fä­           sonal in den aktiven und teilaktiven Verbän­
higkeitsprofil beschlossen, das gleichzeitig      den zur Verfügung stehen. Wehrübungsplät­
die Durchführung von zwei großen Opera­           ze sind in ausreichender Zahl vorzuhalten,
tionen hoher Intensität und mehreren klei­        um genügend Reservisten in ihren Stamm­
neren Operationen im Rahmen der Kollek­           verbänden in Übung zu halten.
tiven Verteidigung und als Krisenreaktion
auch über strategische Entfernungen ermög­          Nun könnte man meinen, dass die Wehr­
licht. Entsprechend gilt für die Bundeswehr       pflicht im Falle der Landes- und Bündnisver­
als „konkrete nationale Zielvorgabe (…) die       teidigung jederzeit reaktiviert werden könn­
Befähigung zum gleichzeitigen durchhaltefä­       te. Die Wiedereinführung der allgemeinen
higen Einsatz von bis zu 10 000 Soldatinnen       Wehrpflicht ist jedoch keine realistische Op­
und Soldaten bei Übernahme der Verantwor­         tion, da zunächst aufnahmefähige Struktu­
tung einer Rahmennation für landgestütz­          ren geschaffen werden müssten, die Ausbil­
te Einsätze in bis zu zwei Einsatzgebieten        dung viel Zeit in Anspruch nehmen würde
und zusätzlich zu einem maritimen Ein­            und diese Schritte, ähnlich wie eine Mobil­
satz“.❙3 Diese bündnispolitischen und natio­      machung, sicherheitspolitisch unerwünschte
nalen Vorgaben sind für das Fähigkeitsprofil,     eskalatorische Folgen hätten. Hinzu kommt,
den Umfang und die personelle Struktur der        dass viele Fähigkeiten, die für die Landesver­
Bundeswehr maßgeblich.                            teidigung unverzichtbar sind, auch bei Kata­
                                                  strophen und Notlagen im Innern benötigt
  Bei der Ausplanung des nationalen Fähig­        werden, für Auslandseinsätze jedoch nicht
keitsprofils sind darüber hinaus weitere Fak­     erforderlich sind. In beiden Fällen sind vor al­
toren wie beispielsweise die Eintrittswahr­       lem Spezialisten für kurzfristige Einberufun­
scheinlichkeit eines Konfliktes, die Art des      gen gefragt. Dank der Wehrpflicht konnten in
Einsatzes, die Konfliktintensität, die wahr­      der Vergangenheit immer genügend geeigne­
scheinliche Dauer sowie die geografischen         te Spezialisten mit regionalen Bindungen für
und sonstigen Rahmenbedingungen zu be­            diese Aufgabe gewonnen werden. Wie wichtig
rücksichtigen.                                    dieser Teil des Aufgabenspektrums ist, zeigt
                                                  die geplante Aufstellung eines Kommandos
  Ob Umfang und Leistungsfähigkeit der            Territoriale Aufgaben und von Regionalen Si­
Bundeswehr nach der Neuausrichtung an­            cherungs- und Unterstützungskräften.
gemessen sein werden, hängt daher zum ei­
nen davon ab, ob sie in der Lage sein wird,         Für Krisenreaktionen ist neben einer hohen
den von der Verfassung vorgegebenen Auf­          Einsatzbereitschaft vor allem Durchhaltefä­
trag der Landesverteidigung zu erfüllen.          higkeit erforderlich, also ein großer Personal­
Zum anderen davon, ob der außen- und si­          umfang. Der Personalbedarf für Krisenope­
cherheitspolitische Gestaltungsanspruch der       rationen wird durch die Einsatzdauer und die
Bundesregierung – vor allem in NATO und           Regenerationszeit zwischen zwei Einsätzen
EU – militärisch hinreichend abgesichert ist.     bestimmt. Um bei einem viermonatigen Ein­
                                                  satzzyklus mit zusätzlicher Ausbildungs- und
   Die Landesverteidigung Deutschlands und        Vorbereitungszeit sowie einem 20-monatigen
die Beistandsverpflichtung im Rahmen der          Aufenthalt im Heimatstandort die Durch­
Kollektiven Verteidigung der NATO sind            haltefähigkeit über Jahre zu gewährleisten,
auf Aufwuchs- beziehungsweise Rekonsti­           muss hinter dem jeweiligen Einsatzkontin­
tutionsfähigkeit angewiesen. Dafür ist eine       gent mindestens das Fünffache an verfügba­
auf Erweiterung und Verdichtung angelegte         ren, einsatzbereiten Kräften stehen. Wegen
Personal- und Streitkräftestruktur erforder­      des reduzierten Personalumfangs sollen des­
lich. Neben präsenten und jederzeit einsatz­      halb die „Fähigkeiten mit hochtechnisierter
bereiten Verbänden sind teilaktive Verbän­        Unterstützung“ gestärkt werden, um die Ein­
de und Ergänzungsstrukturen vorzuhalten,          satzkontingente personell zu begrenzen und
die kurzfristig mit ausgebildeten Reservisten     so die Durchhaltefähigkeit zu verbessern.❙4
aufgefüllt werden können, deren Ausrüstung
und Waffensysteme bereitstehen. Darüber             Bisher hat der Wehrdienst für einen großen
hinaus muss überproportional Führungsper­         Personalumfang gesorgt und damit insbeson­

❙3 Bundesministerium der Verteidigung (Anm. 1).   ❙4 Vgl. ebd.

                                                                                   APuZ 48/2011      5
dere durch länger dienende Wehrpflichtige die        Nimmt man optimistisch an, dass sich
    Durchhaltefähigkeit erhöht. Die schon über        50 Prozent der freiwillig Wehrdienstleisten­
    ein Jahrzehnt andauernden Balkaneinsät­           den als Soldat auf Zeit verpflichten, so kann
    ze und der deutsche Beitrag zum Einsatz der       damit der Bedarf an Zeitsoldaten bei weitem
    Internationalen Sicherheitsunterstützungs­        nicht gedeckt werden. Die ersten Erfahrungen
    truppe (ISAF) in Afghanistan belegen dies.        mit dem Modell der freiwillig Wehrdienst­
    Zugleich haben die Wehrdienstleistenden ein       leistenden sind zudem nicht ermutigend. Bei
    hohes Aufkommen von Reservisten ermög­            einem Bewerberaufkommen von 3459 im
    licht und auf diese Weise die Aufwuchsfähig­      dritten Quartal 2011 haben 22,5 Prozent die
    keit der Bundeswehr für die Landesverteidi­       Bundeswehr bereits nach kurzer Zeit wieder
    gung gesichert.                                   verlassen.❙7 Wie viele sich als Freiwillige wei­
                                                      ter verpflichten, bleibt abzuwarten.
      Durch die Neuausrichtung sollen mehr
    Soldaten als bisher gleichzeitig für Einsätze       Die Jahrgangsstärken von Frauen und
    verfügbar sein, obwohl die Bundeswehr mit         Männern werden voraussichtlich zwischen
    wesentlich weniger Zeit- und Berufssoldaten       2011 und 2027 von knapp 800 000 auf etwa
    und ohne die Wehrpflicht auskommen muss.          600 000 absinken.❙8 Bei einem Regenerati­
    Dabei soll „insgesamt ein breites Fähigkeits­     onsbedarf von 17 000 bis 18 000 Freiwilligen
    profil erhalten werden“, während „durch die       müssten davon jedes Jahr etwa drei Prozent
    Priorisierung der Fähigkeiten (…) die Durch­      für den Dienst in den Streitkräften gewonnen
    haltefähigkeit für den Einsatz abgestuft ge­      werden, die sich als Zeitsoldaten verpflich­
    stärkt“ wird. Die Formulierungen „diffe­          ten. Erfahrungsgemäß ist der qualitative Be­
    renziertes Durchhaltevermögen“ (Heer) und         darf nur dann zu decken, wenn mindestens
    „abgestuftes Durchhaltevermögen“ (Marine)         drei Bewerber auf eine zu besetzende Stelle
    deuten jedoch an, dass die Personalkürzun­        kommen. Das bedeutet, dass sich jedes Jahr
    gen und die Aussetzung der Wehrpflicht die        mehr als 50 000 junge Männer und Frauen
    Durchhaltefähigkeit in Einsätzen insgesamt        bei der Bundeswehr bewerben müssten. Jede
    deutlich begrenzen werden.❙5                      Abweichung von der Norm bedeutet, dass an
                                                      der Eignung Abstriche notwendig werden.
       Der Umfang der Streitkräfte wird laut Bun­     Der Anteil der Frauen wird auch in Zukunft
    desverteidigungsministerium „einschließlich       deutlich geringer sein (von 4589 Freiwilligen,
    bis zu 2500 Reservisten bei bis zu 185 000 Sol­   die am 1. Oktober 2011 ihren Dienst antra­
    datinnen und Soldaten liegen. Diese bestehen      ten, waren nur 152 Frauen❙9). Man kann da­
    aus bis zu 170 000 Zeit- und Berufssoldaten       her durchaus prognostizieren, dass die Bun­
    sowie 5000 Freiwillig Wehrdienstleistenden.       deswehr trotz erheblicher Anstrengungen,
    Dazu kommen bis zu 10 000 weitere Freiwil­        die Attraktivität des Dienstes zu steigern, so­
    lig Wehrdienstleistende.“❙6 Für Einsätze wer­     wohl quantitative als auch qualitative Abstri­
    den etwa 100 000 Soldatinnen und Soldaten         che vornehmen muss.
    zur Verfügung stehen. Um bei einer insge­
    samt geringeren Durchhaltefähigkeit gleich­         Es entstehen zwar finanzielle Einsparun­
    zeitig bis zu 10 000 Soldatinnen und Solda­       gen durch die Reduzierung der Zeit- und
    ten in Einsätze schicken zu können, muss die      Berufssoldaten und der zivilen Mitarbeiter.
    bisherige Kategorisierung in Eingreif-, Sta­      Diese fallen jedoch erst nach einer längeren
    bilisierungs- und ­Unterstützungskräfte auf­      Übergangszeit ins Gewicht. Der finanzielle
    gegeben werden. Schließlich diente sie eben­
    so wie die Ausrüstungskategorien (Anfangs-,
                                                      ❙7 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.),
    Grund- und Zielbefähigung) lediglich dazu,
                                                      Freiwillige treten ihren Dienst in der Bundeswehr an,
    die mangelhafte Ausrüstung der Streitkräf­        Pressemitteilung vom 25. 9. 2011.
    te als Folge einer dramatischen Unterfinan­       ❙8 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung/Der
    zierung zu verschleiern. Das angestrebte          Bundesminister, Eckpunkte für die Neuausrichtung
    Einsatzniveau lässt sich nur über eine hoch­      der Bundeswehr. Nationale Interessen wahren – In­
    wertige Ausbildung und Ausrüstung aller           ternationale Verantwortung übernehmen – Sicher­
                                                      heit gemeinsam gestalten, Berlin, 18. 5. 2011, Anlage
    Einsatzkräfte erreichen.
                                                      „Entwicklung der Jahrgangsstärken“.
                                                      ❙9 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.),
    ❙5 Vgl. ebd.                                      Ziel von 5.000 Freiwilligen mehr als erreicht, Presse­
    ❙6 Ebd.                                           mitteilung vom 3. 10. 2011.

6    APuZ 48/2011
Aufwand für die Anwerbung und für sozia­         rungsphilosophie des Führens nach Auftrag,
      le Maßnahmen im Sinne einer Steigerung der       setzt den intelligenten, eigenverantwortlich
      Attraktivität des Soldatenberufs wird jedoch     und selbstständig handelnden Soldaten vo­
      von Anfang an deutlich ansteigen. Schließlich    raus. Die Bundeswehr wird daher auch in der
      muss in einer mehrjährigen Übergangsphase        Erziehung und Ausbildung große Anstren­
      Personal abgebaut werden, ohne die Regene­       gungen unternehmen müssen, wenn sie die­
      ration einer unausgewogenen Personalstruk­       sen Anspruch aufrechterhalten will.
      tur zu unterbrechen. Finanzielle Einsparef­
      fekte stellen sich erst relativ spät ein.           Die vielen Generationen von Wehrdienst­
                                                       leistenden und Reservisten sind immer auch
                                                       für die Integration der Streitkräfte in die Ge­
Die Bundeswehr                                         sellschaft wichtig gewesen. Das war insbe­
wird eine andere werden                                sondere in den ersten Jahrzehnten nach der
                                                       Gründung der Bundeswehr vor dem Hinter­
      Seit ihrer Gründung vor 56 Jahren gehört die     grund unserer geschichtlichen Erfahrung ein
      Innere Führung mit dem Leitbild des Staats­      Wesensmerkmal der Streitkräfte. Hinzu ka­
      bürgers in Uniform und dem Führen nach           men noch vor zehn Jahren über 600 Stand­
      Auftrag zum Wesenskern der Bundeswehr.           orte, in denen die Bundeswehrangehörigen
      Im Zusammenhang mit dem Ende der Wehr­           mit ihren Familien soziale Kontakte in allen
      pflicht wurde daher auch die Besorgnis geäu­     Lebensbereichen unterhielten. Nicht zuletzt
      ßert, die Bundeswehr könnte ihren Platz in       waren es jedoch die vielen Millionen Wehr­
      der Mitte der Gesellschaft verlieren und zu      dienstleistenden, die einer engen Verzahnung
      einer „Unterschichtenarmee“ werden. Unbe­        von Bundeswehr und Gesellschaft „dienten“.
      stritten hat die Wehrpflicht die Bundeswehr
      ganz entscheidend geprägt. Viele Offizie­          Nun bedeutet das Ende der Wehrpflicht
      re haben ihren Dienst als Wehrpflichtige be­     nicht, dass die Bundeswehr ein Staat im Staa­
      gonnen, andere haben sich nur deshalb zum        te wird, an den Rand der Gesellschaft rückt
      Dienst in den Streitkräften verpflichtet, weil   und sich von ihr abschottet und isoliert. Die
      die Wehrpflicht so entscheidend das inne­        Innere Führung und das Leitbild des Staats­
      re Gefüge geprägt hat. Und nicht zuletzt hat     bürgers in Uniform sind nicht gefährdet.
      sich die große Zahl von Reservisten als eine     Aber die Bundeswehr wird eine andere wer­
      lebendige Klammer zwischen den Streitkräf­       den. Sie wird nicht mehr das ganze Spektrum
      ten und der Gesellschaft bewährt. Dass so        der Gesellschaft repräsentieren, sondern nur
      viele junge Männer ihren Wehrdienst ableis­      einen Ausschnitt davon. Die Zahl derjeni­
      teten und eine große Zahl später noch als Re­    gen, die ihre in der Bundeswehr gesammel­
      servisten mit ihren Einheiten in Verbindung      ten Lebenserfahrungen in die zivile Gesell­
      blieb, bedeutete auch eine Form der demo­        schaft mit zurücknehmen, wird sehr gering
      kratischen Kontrolle von innen. Die Bundes­      sein. Damit wird auch das Verständnis des­
      wehr war durch die Wehrpflicht eine offene       sen schwinden, was den Beruf des Soldaten
      Armee in einer offenen Gesellschaft.             ausmacht: die vorbehaltlose Bereitschaft,
                                                       Verantwortung und Risiken für die Gemein­
        Das positive Klima in der Bundeswehr           schaft zu übernehmen und die damit verbun­
      hat dazu beigetragen, dass sie zeitweise über    denen Härten und Gefahren zu ertragen.
      50 Prozent ihres Regenerationsbedarfs aus
      Wehrdienstleistenden rekrutieren konnte. Sie       Die Bundeswehr wird sich daher noch
      war in der vorteilhaften Lage, aus einem gro­    mehr als bisher um Interesse und Verständ­
      ßen Potential die am besten Geeigneten aus­      nis der Gesellschaft bemühen müssen. Wenn
      zuwählen. Und dies, nachdem sich die Be­         ihr allerdings die Politik die ideelle und ma­
      werber bereits in der Truppe bewährt hatten.     terielle Unterstützung zukommen lässt, die
      Dabei konnten die Streitkräfte auf ein breites   Voraussetzung für die Erfüllung ihres Auf­
      Spektrum nach Herkunft, Bildung und Aus­         trages ist, wird sie auch nach dem Ende der
      bildung zurückgreifen. Die Wehrpflicht war       Wehrpflicht eine offene Armee in einer offe­
      somit ein wichtiger Garant für die Qualität      nen Gesellschaft sein.
      der Zeit- und Berufssoldaten. Mehr noch:
      Was die deutschen Streitkräfte gegenüber
      unseren Verbündeten auszeichnet, die Füh­

                                                                                       APuZ 48/2011      7
Peter Steinbach         tigenden europäischen Teilung, die Deutsch­
                                                            land mit dem in Sektoren aufgeteilten Ber­

        Zur Geschichte                                      lin besonders berührte, verstärkte sich bei
                                                            der deutschen Regierung das Gefühl, an der
                                                            Schwelle neuer gewaltsamer Konflikte zu ste­

        der Wehrpflicht                                     hen, die anscheinend nur durch die globale
                                                            atomare Bedrohung eingedämmt wurden. Die
                                                            Sicherheit Westdeutschlands wurde von den

                 Essay                                      westlichen Alliierten garantiert, die bald einen
                                                            eigenen Verteidigungsbeitrag von der Bundes­
                                                            republik verlangten. Die Bundesrepublik sah
                                                            sich als Teil der „freien Welt“ und sollte einen

        D       ie Wehrpflicht war nach dem Ende des
                Zweiten Weltkriegs in der deutschen Öf­
          fentlichkeit ebenso diskreditiert wie die ge­
                                                            Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten. Zugleich
                                                            wirkte sich die Vorstellung aus, mit der Auf­
                                                            stellung einer neuen bewaffneten Macht poli­
                                   samte Wehrmacht und      tische Souveränität erlangen zu können.
                 Peter Steinbach der „deutsche Mili­
             Dr. phil., geb. 1948; tarismus“. Nach zwei       Konsequenz des sicherheits- und außen­
       Wissenschaft­licher Leiter Weltkriegen war mit       politischen Wandels war die Einführung der
   der Gedenkstätte Deutscher Millionen von To­             Wehrpflicht. Mehr als fünf Jahrzehnte hatte
              Widerstand Berlin; ten und zwei bedin­        sie Bestand und wurde vor ihrer Aussetzung
 Professor für Neuere und Neu- gungslosen Niederla­         oftmals gerechtfertigt, ja verteidigt. Inzwi­
  este Geschichte, Historisches gen, nach den Leiden        schen sind die Kontroversen weitgehend be­
Institut, Universität Mannheim, der Bevölkerung und         endet. Nun geht es vor allem um die Frage,
     Schloss, 68131 Mannheim. territorialen Verlusten       ob die Umwandlung der Bundeswehr in eine
               peter.steinbach@ keine Rechtfertigung        Freiwilligenarmee angesichts knapper Perso­
               uni-mannheim.de des Militärischen mehr       nalressourcen gelingen kann.
                                   möglich. Nicht nur die
          Siegermächte hatten sich mit ihren politischen      Im vorliegenden Beitrag wird der Blick
          Versprechen – Denazifizierung, Dezentrali­        auf die Geschichte der Wehrpflicht gelenkt,
          sierung, Demilitarisierung und Demokrati­         um deutlich zu machen, wie zeittypisch viele
          sierung – versichert, Deutschland nicht mehr      der Argumente waren, die sich zunächst ge­
          zu gestatten, in der Mitte Europas eine Armee     gen und schließlich für die Wehrpflicht aus­
          aufzustellen. Gewalt sollte niemals wieder        sprachen. Dabei zeigt sich, dass sich erfah­
          von Deutschland ausgehen. Dieses Ziel ent­        rungsgeschichtlich geprägte Argumente mit
          sprach durchaus deutscher Stimmungs- und          anderen überlagerten, die Wandlungen der
          Gefühlslage.                                      Systemkonfrontation spiegelten.

           Bereits wenige Jahre nach der Kapitulation
        vom 8. Mai 1945 war nicht zu übersehen, dass          „Nie wieder Krieg, nie wieder Barras“
        politische Kräfte die Wiederbewaffnung der
        Bundesrepublik anstrebten. Motor dieser Be­         Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im
        strebung war das sogenannte Amt Blank, die          Jahre 1955 hatte mehrere Herausforderungen
        Dienststelle des Bevollmächtigten des Bun­          zu bewältigen. Zum einen lehnte nicht nur die
        deskanzlers für die mit der Vermehrung der          deutsche, sondern auch die europäische Öffent­
        alliierten Truppen zusammenhängenden Fra­           lichkeit eine Wiederbelebung des „deutschen
        gen unter Leitung von Theodor Blank, wo             Militarismus“ ab. Sicherheitspolitische Pläne
        sich ehemalige Militärs um die Aufstellung ei­      konnten nur dann auf Unterstützung hoffen,
        ner neuen Armee bemühten – in Abstimmung            wenn die neu aufgestellten deutschen Truppen­
        mit den westlichen Alliierten. Zum einen            verbände in europäische Verteidigungs- und
        spiegelte sich darin die veränderte Weltlage:       Befehlsstrukturen integriert werden würden.
        Mit der sich zuspitzenden Blockkonfronta­           Dieses Ziel ließ sich mit der NATO vergleichs­
        tion zwischen den neuen Weltmächten und             weise leicht verwirklichen.
        der Gründung des nordatlantischen Vertei­
        digungsbündnisses (NATO), mit Koreakrieg              Innenpolitisch stellte sich die Bemühung
        (1950–1953) und der sich immer mehr verfes­         politischer Kreise Westdeutschlands um die

    8     APuZ 48/2011
Wiederbewaffnung der Bundesrepublik als            ­
eine ungleich größere Herausforderung dar.
Als in der ersten Hälfte der 1950er Jahre über
die Wehrpflicht gestritten und zugleich ins­
geheim durch das Amt Blank die Wieder­
bewaffnung der Bundesrepublik vorberei­
tet wurde, befanden sich noch zehntausende
deutscher Soldaten in sowjetischer Kriegsge­
fangenschaft. Zerbombte Städte, vertriebene
Landsleute aus den Ostgebieten, die Teilung
Deutschlands in zwei deutsche Staaten – das
waren die äußeren Folgen von „Hitlers Krieg“,
wie man sagte. An einem neuen Krieg woll­
te sich keiner beteiligen. Stattdessen bekann­
ten sich viele gegen Atombewaffnung und
„Atomtod“ oder zum radikalen Pazifismus,
der wenig später die Ostermärsche prägte.

  „Nie wieder Krieg, nie wieder Barras❙1,
nie wieder Wehrmacht, nie wieder auf Men­
schen schießen zu müssen!“, das war An­
fang der 1950er Jahre zunächst eine der Kon­
sequenzen, die die weitaus größte Mehrheit
der Bevölkerung aus den Weltkriegen zog,
von denen der Erste Weltkrieg als europä­
ische Urkatastrophe, als europäischer Bür­
gerkrieg, als Ausdruck einer Todessehnsucht
„in Stahlgewittern“ empfunden worden war,
und die schließlich zum Vernichtungskrieg,
zum Zivilisationsbruch, zur Katastrophe der
„Endlösung der Judenfrage“ als Ausdruck ei­
nes rassenideologisch gerechtfertigten Ab­
grenzungswahns geführt hatte.

  Diese Stimmungen waren aber nur eine Seite
der Debatte. Viel tiefer rührte vermutlich die
moralische Diskreditierung der Wehrmachts­
soldaten nach 1945. Sie waren als Geschlagene
in völlig veränderte Lebensverhältnisse heim­
gekehrt. Das Ansehen, das sie in der Zeit des
Nationalsozialismus genossen hatten, war ver­
spielt. Bald hieß es, die deutsche Wehrmacht
habe die Voraussetzungen für den Völkermord
geschaffen: Mitwirkung der obersten Wehr­
machtsführung an der Vorbereitung eines An­
griffskrieges, an der Versklavung und Aus­
plünderung der besiegten Staaten, schließlich
an der Realisierung des Völkermords in Ver­
nichtungslagern, solange die Fronten stand­
hielten. Die Debatte über die Wehrmacht als
„verbrecherische Organisation“ hatte die Ver­
handlungen des Nürnberger Militärtribunals
gegen hohe Offiziere wie Wilhelm Keitel und

❙1 Barras bezeichnet die Armee, „zum Barras müs­
sen“ die Wehrpflicht.

                                                   APuZ 48/2011   9
ränität erlangte. Der Bonner Regierung ging       gen waren dabei zu erfüllen. Die Bundeswehr
       es niemals allein um die Integration der ehe­     musste erstens eine Parlamentsarmee sein –
       maligen drei westlichen Besatzungszonen           kein Generalstab, kein Staat im Staate, keine
       in ein westliches Verteidigungs- und Wirt­        Absonderung des Offizierskorps, das ebenso
       schaftsbündnis, sondern ihr Ziel richtete sich    durch die Reichswehr- wie durch die Wehr­
       auf die Erlangung voller staatlicher Souverä­     machttradition geprägt war; der vom Parla­
       nität. Das verbreitete Verständnis von staatli­   ment kontrollierte Verteidigungsminister
       cher Souveränität verlangte nach „bewaffne­       sollte den Oberbefehl über die Bundeswehr
       ter Macht“ und einer neuen Armee.                 ausüben. Die neuen Soldaten sollten zweitens
                                                         „Staatsbürger in Uniform“ sein, mit allen
          Dies hatte die Überwindung von Vorbehal­       staatsbürgerlichen Rechten. Die Bundeswehr
       ten zur Voraussetzung, die sich in der öffent­    sollte Aufgaben in der politischen Bildung
       lichen und veröffentlichten Meinung in den        übernehmen und mit dem Konzept der Inne­
       nach 1938/39 von den Nationalsozialisten          ren Führung ein neues Modell militärischer
       besetzten Staaten Europas niederschlugen.         Führung überhaupt verwirklichen. Eine ei­
       Nicht vergessen waren in den Benelux-Staa­        gens dafür geschaffene Akademie, die Füh­
       ten, in Frankreich, in Skandinavien, Italien,     rungsoffiziere zu absolvieren hatten, sollte
       in Griechenland und anderswo die Opfer der        den Geist des neuen deutschen Parlaments­
       deutschen Besatzungsherrschaft. In Groß­          heeres prägen. Dritte Grundbedingung war
       britannien und in den USA nährten Kriegs­         die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht:
       filme alte Feindbilder. Dabei war der rasche      Sie wurde nicht nur als Ausdruck eines Ge­
       Aufbau einer neuen „Bundeswehr“ nur mit           meinschaftsgefühls, sondern als Grundlage
       der allgemeinen Wehrpflicht zu erreichen.         gesellschaftlicher Verankerung und Zivilisie­
       Nur mit ihr konnte unverzüglich eine Armee        rung der bewaffneten Macht im neuen Ver­
       mit mehreren hunderttausend Soldaten auf­         fassungsstaat gedeutet. Sie galt als Symbol
       gebaut werden. Also musste der Wehrdienst         der Einsatzbereitschaft für den freiheitlichen
       als Dienst für ein demokratisch legitimiertes     Verfassungsstaat, als den sich die Bundesre­
       Gemeinwesen gedeutet werden, das verteidi­        publik verstand. Und weil alle Männer eines
       gungswert war, weil es als – aus dem Osten –      bestimmten Jahrgangs damit rechnen muss­
       bedrohte und deshalb stets gefährdete frei­       ten, „gezogen zu werden“, galt die allgemeine
       heitliche politische Lebensform galt.             Wehrpflicht als Ausdruck völliger Gleichheit.
                                                         Dabei wurde sie nicht nur als Verpflichtung,
          Die westdeutsche Regierung unter Konrad        sondern auch als Recht des – zunächst nur
       Adenauer machte in den 1950er Jahren au­          männlichen – Staatsbürgers gedeutet.
       ßenpolitisch schnelle Fortschritte und leitete
       nicht nur die Integration des westdeutschen          Manche Politiker sprachen sogar von der
       Teilstaates in das atlantische Verteidigungs­     Bundeswehr als einer „Schule der Nation“.
       bündnis der NATO ein, sondere bereitete           Erst wenn alle als „tauglich“ befundenen
       auch die Einbindung der Bundesrepublik in         Männer zum „Dienst mit der Waffe“ gezo­
       die sich herausbildenden neuen Strukturen ei­     gen wurden und ohne Ansehen ihrer Person,
       nes politisch geeinten Westeuropas, mit Mon­      ihrer Herkunft, Bildung und beruflicher Fä­
       tanunion, Euratom und Europäischer Wirt­          higkeit 18 Monate den Grundwehrdienst ab­
       schaftsgemeinschaft, vor. Die Korrektur des       leisten müssten, dann, so sagte man, sei die
       Gefühls, nie wieder Waffen tragen zu wollen,      Bundeswehr fest in der Gesellschaft veran­
       das in der westdeutschen Gesellschaft verbrei­    kert. Durch den allgemeinen Wehrdienst
       tet war, stellte die Verantwortlichen innenpo­    würde jede Gefahr politischer und sozialer
       litisch vor eine ernsthafte ­Herausforderung.     Separierung der bewaffneten Macht von der
                                                         Bevölkerung verhindert. Man könne schließ­
                                                         lich durch einen „Staatsbürgerkundeunter­
Gründung der Bundeswehr                                  richt“, der Teil der militärischen Grundaus­
und Einführung der Wehrpflicht                           bildung sein müsse, Defizite der politischen
                                                         Bildung ausgleichen und einen neuen Ge­
       Wie sollte dieses Ziel bei der verbreiteten       meinschaftsgeist schaffen, der – das darf nicht
       Ablehnung des Krieges und der Wehrmacht           vergessen werden – durch die politisch-religi­
       durch die deutsche Bevölkerungsmehrheit           öse Überhöhung einer sogenannten Volksge­
       durchgesetzt werden? Drei Grundbedingun­          meinschaft diskreditiert war.

  10    APuZ 48/2011
So überlagerte sich das Konzept der Inneren        Bereichen: In wirtschaftlich unsicheren Zei­
Führung mit dem Konzept der Wehrpflicht.             ten boten sich Überbrückungsmöglichkeiten,
Flankiert wurde diese gesellschaftliche Er­          Führerscheine für LKW oder Boote konnten
dung durch die Einrichtung des Wehrbeauf­            erworben, Sprachen erlernt, Fertigkeiten er­
tragten, dessen Aufgabe vor allem die Wah­           worben werden. Zusätzliche Chancen boten
rung der Grundrechte des Soldaten und die            die Bundeswehrhochschulen, die nicht zuletzt
Durchsetzung der Inneren Führung war. Es             auch die Voraussetzungen für die berufliche
war also nicht nur die Wehrpflicht, die die          Integration der Soldaten nach ihrer Entlas­
gesellschaftliche Akzeptanz der Bundeswehr           sung aus der Bundeswehr verbesserten.
erhöhte, sondern es war die gelungene neue
militärische Führungsdoktrin, die nicht sel­           Die Wehrpflicht blieb für einen Zeitraum
ten gegen sarkastische Kritik der Altgedien­         von mehr als fünf Jahrzehnten ein wichtiger
ten an den angeblichen „Moden“ innerer               Bestandteil der freiheitlichen Verfassungs­
Führung durchgesetzt und durch die Grün­             ordnung des Grundgesetzes der Bundesre­
dung der Bundeswehrhochschulen noch ein­             publik. Sie war Ausdruck einer individuellen
mal stabilisiert wurde.                              Verpflichtung und Bekenntnis zu einer ge­
                                                     sellschaftlich verankerten Bundeswehr.
   Wenn die neue Bundeswehr als eine demo­
kratisch legitimierte Armee im freiheitlichen
Verfassungsstaat akzeptiert werden sollte, kam            Recht auf Kriegsdienstverweigerung
es aber nicht nur auf eine gesellschaftlich breite                           und Ersatzdienst
Verankerung in der deutschen Gesellschaft an,
sondern auch auf die Akzeptanz in den euro­          Ebenso wichtig wie die Verpflichtung zum
päischen Nachbarstaaten. Wichtig war deshalb         Wehrdienst war das Recht zur Verweigerung
die Einbindung der neuen Bundeswehr in das           des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen, zu­
westliche Bündnis und die Unterstellung ihrer        nächst in der Gesellschaft heftig umstritten
Bataillone und Divisionen unter übernationale        und als Ausdruck einer „Ohne-mich-Gesin­
Kommandostrukturen. Ebenso entscheidend              nung“ abgelehnt. Ersatzdienstleistende wur­
war der dauerhafte Verzicht auf Atomwaffen.          den keineswegs immer respektiert. Manche
Aber auch die Hoffnung, dass die Bundeswehr          Firmen stellten keine Bewerber ein, die sich
politisch kontrolliert und dem Bundestag un­         nicht hatten „ziehen“ lassen oder ihr Recht auf
terstellt werden würde, verringerte die Be­          „Ersatzdienst“ wahrgenommen hatten. „Wehr­
fürchtungen im westlichen Ausland. Schließ­          dienstverweigerer“ galten als „Drückeberger“.
lich verstand man auch, dass es sich nicht um        „Ersatzdienstleistende“ wurden als „Verweige­
eine Neuauflage der Wehrmacht, sondern um            rer“, nicht als „Zivildienstleistende“ bezeich­
eine parlamentarisch kontrollierte Bürgerar­         net, die sich für eine andere Art des Dienstes
mee handelte, die gut in gemeinsame Verteidi­        für die Gemeinschaft entschlossen hatten.
gungsstrukturen einzufassen war.
                                                       In der DDR, die 1962 die Wehrpflicht ein­
  Wie das Ringen um eine Wiederbewaff­               führte, hingen Studien-, Ausbildungs- und
nung der Bundesrepublik und die Wehrpflicht          Berufschancen von einem mehrjährigen na­
ausging, ist bekannt: Die Bundeswehr wurde           tionalen „Ehrendienst“ ab. Kriegsdienstver­
1955 gegründet; ein Jahr später trat das Wehr­       weigerer in der DDR konnten seit 1964 dem
pflichtgesetz in Kraft.❙2 In überraschend kur­       Dienst mit der Waffe als „Bausoldaten“ ent­
zer Zeit wurde der Wehrdienst mehrheitlich           gehen und wurden dennoch uniformiert. Das
akzeptiert. Der Kalte Krieg verstärkte die           Verhalten von Totalverweigerern, die auch
politische Unsicherheit und rechtfertigte die        den Ersatzdienst ablehnten, galt als „strafbe­
Wehrpflicht. Die Bundeswehr wuchs rasch an,          wehrt“, das heißt, sie wurden wie Verbrecher
ihre Einheiten wurden permanent geteilt und          behandelt und nicht selten inhaftiert – auch
mutierten zu Keimzellen neuer Einheiten. Das         im westlichen Teil Deutschlands.
größte Problem war der Mangel an Offizieren,
die gut ausgebildet waren. Die Wehrpflicht             Das Ansehen der „Zivis“ in der Bundesre­
galt bald als Erfolgsmodell auch in anderen          publik änderte sich in den 1970er und vollends
                                                     in den 1980er Jahren, als der Ersatzdienst in
❙2 Vgl. APuZ, (2005) 21, mit dem Themenschwer­       der Bundesrepublik dem Wehrdienst gleich­
punkt „50 Jahre Bundeswehr“.                         gesetzt und gesellschaftlich anerkannt wurde.

                                                                                     APuZ 48/2011      11
Denn mit dem Zivildienst wurden die Sozi­          weise auf veränderte Sicherheitslagen Konse­
       aletats entlastet, er erschien sogar als Voraus­   quenzen hatten. Die Kosten der Einheit muss­
       setzung dafür, dass viele Sozial- und Pflege­      ten aufgebracht, das Sozialsystem finanziert
       dienste überhaupt finanziert wurden. Dass          werden. Staat ist immer klamm, gewiss. Aber
       schließlich der Zivildienst wichtiger zu sein      irgendwie war eine Grenze spürbar. Reform­
       schien als der Wehrdienst, wurde spätestens        diskussionen setzten immer wieder ein, Kom­
       dann deutlich, als die Beibehaltung der Wehr­      missionen tagten, legten Berichte vor, ohne
       pflicht mit der Notwendigkeit des Zivildiens­      aber realistische Konsequenzen anzustoßen.
       tes begründet werden sollte und die Sozial­        Das änderte sich erst in unseren ­Tagen.
       verbände, die Zivildienstleistende einsetzten,
       auf die Folgen der Aussetzung für die Finan­          In den 1990er Jahren schien die verteidi­
       zierung von Versorgungs- und Pflegediensten        gungspolitische Debatte an einem Punkt an­
       hinwiesen. Der Ersatzdienst entlastete das         gekommen zu sein, an dem nicht mehr Kon­
       Sozialsystem, das Ansehen der „Dienstleis­         zeptionen, sondern Haushaltszwänge den
       ter“ und der Dienstverweigerer war mittler­        Rahmen für grundlegende Entscheidungen
       weile etwa gleich hoch und entsprach der Sta­      und Neuorientierungen absteckten. Finan­
       tistik. Denn von jedem Jahrgang wurde etwa         zielle Zwangslagen engten Spielräume ver­
       ein Drittel gezogen, ein Drittel ausgemustert,     antwortlicher Entscheidung ein. Das spürten
       ein Drittel absolvierte den Ersatzdienst.          auch andere Gesellschaften, die sich von dem
                                                          Konzept der Wehrpflicht verabschiedeten und
                                                          sich dennoch zum Prinzip politischer Freiheit
Nach dem Kalten Krieg                                     bekennen. Deshalb kam es darauf an, die Ar­
                                                          gumente, die für und gegen die Wehrpflicht
       Mit dem Ende des Kalten Krieges veränder­          angeführt wurden, immer wieder zu prüfen.
       te sich die strategische Bedeutung der Bun­
       deswehr. Deutschland war seit 1989 nicht             Zum einen hieß es, die Wehrpflicht diene der
       mehr an den Grenzen bedroht. Die Krise der         Verankerung der bewaffneten Macht in der
       NATO wurde nicht recht wahrgenommen,               Gesellschaft und verhindere, dass mit der Ar­
       denn globale Krisen, der Zerfall ganzer Staa­      mee ein Staat im Staat entstehe. Die Abschaf­
       ten und Blöcke, ethnisch-konfessionelle Kon­       fung der Wehrpflicht würde diese Verbindung
       flikte und Bürgerkriege verlangten eine neue       lösen und deshalb die demokratische Legiti­
       Art der Intervention. Aus der Bundeswehr           mation der Bundeswehr ­beeinträchtigen.
       wurde eine Interventionsarmee, die im Bünd­
       nis militärische Aufgaben übernahm und zu­            In vielen gefestigten westlichen Demo­
       gleich in ihrem Selbstverständnis Friedens-        kratien wie den USA, in Frankreich, Spa­
       und Aufbauleistungen zu erbringen hatte.           nien, Schweden und Großbritannien wur­
       Immer mehr rückten Bündnisverpflichtun­            de die Wehrpflicht abgeschafft – zuweilen
       gen, aber auch Versuche in den Mittelpunkt,        vor vielen Jahren, ohne Gefährdung des po­
       Deutschland als Machtfaktor in weltpoliti­         litischen Systems. Darin spiegelte sich nicht
       schen Konflikten sichtbar zu machen.               nur eine veränderte Sicherheitslage, sondern
                                                          auch politisches Selbstbewusstsein. Eine Ge­
         Dabei ging es auch um die Demonstra­             sellschaft muss so stark sein, dass sie die Iso­
       tion von Souveränität. Im Kosovo, am Horn          lierung der Armee verhindert. Mit dem Ende
       von Afrika, im Kongo und in Afghanistan –          der Blockkonfrontation des Kalten Krieges
       immer ging es auch darum zu zeigen, dass           hatten Armeen überdies andere Funktionen
       Deutschland nicht nur als zivile Macht, son­       zu übernehmen als die Landesverteidigung.
       dern auch militärisch Einfluss nehmen konn­        Sie wurden zu Interventions- und Einsatzar­
       te. Dass diese Einsätze die Kräfte der Bundes­     meen umgebildet und mussten polizeiliche,
       wehr überstrapazierten, viel Geld kosteten         friedenstiftende oder auf die Versorgung der
       und ganz neue Fertigkeiten der Einsatzkräf­        Zivilbevölkerung in Krisengebieten gerichte­
       te verlangten, das rückte viel langsamer in das    te Anstrengungen übernehmen. Alle Beispie­
       Bewusstsein. Soldaten kamen im Einsatz um,         le zeigen, dass gefestigte Demokratien durch­
       klagten über mangelnde Ausrüstung, waren           aus ohne Wehrpflicht stabil sein können.
       irritiert über die geringe Unterstützung und
       Anerkennung in politischer und moralischer           In Deutschland schien man viel zu lange
       Hinsicht. Nun zeigte sich, dass frühe Hin­         und viel zu weit von dieser Einstellung ent­

  12    APuZ 48/2011
fernt zu sein. Hier galt die Wehrpflicht häufig   zeigte sich nach der „Großen“ Französischen
      als Ausdruck besonderer Verantwortung des         Revolution, als mit der „Levée en masse“ die
      wehrpflichtigen Bürgers für seinen Staat. Die     entscheidende Wende erreicht und Europa von
      Frage war, ob dieses Argument noch trug an­       nationalbewussten und von der Notwendigkeit
      gesichts der nicht einmal von den Anhängern       der Revolution überzeugten Franzosen grund­
      der Wehrpflicht bezweifelten faktischen Wehr­     legend verändert werden konnte.
      ungerechtigkeit. Die Zahl der Wehrpflichti­
      gen schwankte und befand sich seit etwa 1995        Die französischen Soldaten der Revoluti­
      auf Talfahrt. Heirateten Wehrpflichtige vor       onszeit identifizierten sich mit ihrer Nation,
      30 Jahren noch in jungen Jahren, um Tren­         sie verteidigten die Revolution gegen die Al­
      nungsgeld zu beziehen und ihren Sold aufzu­       ten Mächte. Sie waren beseelt von ihrer welt­
      bessern, so konnten sie später durch ein Jawort   umstürzenden Mission und gehorchten kei­
      dem Wehrdienst entkommen. Von Wehrge­             nem Zwang mehr, sondern unterwarfen sich
      rechtigkeit sprach bald niemand mehr.             freiwillig dem militärischen Drill, um sich in
                                                        Disziplin einzuüben und die Schlagkraft zu
                                                        erhöhen. Wie eine Walze fegte die französi­
Wehrpflicht als Dienst                                  sche Armee nach der Revolution über Eu­
an der Gemeinschaft?                                    ropa hinweg – sie verteidigte Frankreich und
                                                        verstand sich zugleich als Propagandist und
      Häufig wurde behauptet, der Wehrdienst            Verbreiter französischer Ideale von Freiheit,
      stärke den Gemeinsinn. Aber trifft hier nicht     Gleichheit und Brüderlichkeit.
      zu, was so oft in der Politik gilt? Denn Ar­
      gumente haben nicht nur zwei Seiten, son­           Bekämpft wurden sie in den napoleoni­
      dern spiegeln ihre Entstehungszeit. In der        schen Kriegen von glühenden Verteidigern
      Tat galt seit dem 19. Jahrhundert auch in Mit­    der von Frankreich angegriffenen Länder ge­
      teleuropa, dass die übernommene Verpflich­        gen französische Despotie. In Spanien und in
      tung des Bürgers, seinen Staat zu verteidigen,    Tirol stießen französische Truppen erstmals
      Ausdruck einer engen Verbindung zwischen          auf Gegner, die vor allem der Wille beseel­
      dem Bürger und seinem Gemeinwesen war.            te, ihr Land gegen Eindringlinge zu verteidi­
      Im Zuge der Reformen des 19. Jahrhunderts         gen. Freiheitskriege ergreifen die Herzen und
      lernte der Staatsbürger, politische Verant­       machen deutlich: Wehrwille kann ungeahnte
      wortung zu empfinden. Er wurde vom Un­            Kräfte entfalten, wenn er durch Patriotismus
      tertanen zum Bürger. Im Absolutismus waren        gespeist wird. Kleine Völker konnten große
      Soldaten in die Heere gepresst, war jede Ent­     Armeen besiegen. Dies hatten bereits Jahr­
      fernung aus den Reihen der Soldaten schwer        hunderte früher die Verteidigungsanstren­
      bestraft worden, sollten Offiziere nicht nur      gungen der Schweizer gezeigt, die im Kampf
      befehlen, sondern „ihre Leute“ oft mit dra­       gegen angebliche Feinde ihrer Freiheit immer
      konischen Strafen zusammenhalten.                 zum Volkskampf geblasen hatten.

        In der Amerikanischen Revolution wurde            Einen Durchbruch bedeutete für den Ge­
      erstmals spürbar, welche Kraft in der Bewaff­     danken der Wehrpflicht der Befreiungskrieg
      nung einer Bevölkerung steckte, die sich zur      in Deutschland, zumindest schien es im
      Volkssouveränität bekannte und diese gera­        Rückblick so. Tatsächlich konnte von einer
      de im bewaffneten Konflikt praktizierte. „Ich     allgemeinen Volksbewaffnung keine Rede
      wollte, ich hätte zwei Leben“, sagte der junge    sein, denn es waren einzelne Soldaten und
      amerikanische Revolutionär Paul Revere, als       Verbände, die sich aus tiefer Bindung an den
      er vor den britischen Gegnern stand, „dann        entstehenden, vor allem in den Vorstellungen
      könnte ich meinem Land zwei Leben geben.“         der „Befreiungskämpfe“ existierenden deut­
      Er starb übrigens eines natürlichen Todes und     schen Nationalstaat dazu bekannten, ihr Le­
      wurde in amerikanischen Lesebuchgeschichten       ben einzusetzen. Sie fanden sich in Schillers
      zum Helden. Allerdings macht Revere deutlich,     Appell wieder: „Und setzet ihr nicht das Le­
      wie weit die Opferbereitschaft des Einzelnen      ben ein“ und wollten mit dem eigenen Leben
      für ein Gemeinwesen ging, dessen Verfassungs­     die Zukunft ihrer Nation sichern.
      ordnung der Bürger akzeptierte. Nationalbe­
      wusstsein und Verfassungspatriotismus über­        Mit der Revolution von 1848 setzte sich erst­
      lagerten und steigerten sich gegenseitig. Dies    mals das Prinzip der Volkssouveränität gegen

                                                                                        APuZ 48/2011     13
das monarchische Prinzip durch, aber es sieg­       dass allein die Reichswehr seiner Herrschaft
     te nicht. Denn mit dem Scheitern der Badi­          gefährlich werden konnte. Deshalb versuch­
     schen Aufstände triumphierte das königliche         te er wenige Tage nach seiner Machtübernah­
     Heer über demokratisch gesonnene Aufstän­           me, die Reichswehrführung zu lähmen. Ge­
     dische. Mit der Reichsgründung von 1871, ei­        gen Pazifismus, für Revision des Versailler
     ner „Revolution von oben“, wurde die allge­         Vertrages, schließlich für die Eroberung von
     meine Wehrpflicht in der Reichsverfassung           „Lebensraum“ wollte er seine Wehrmacht ein­
     festgeschrieben, allerdings mit entscheiden­        setzen. Er rüstete auf, schuf eine schlagkräfti­
     den Einschränkungen. Soldaten, die unter der        ge Kriegsmarine, ließ eine Luftwaffe aufbau­
     Fahne standen, besaßen kein Wahlrecht. So           en und führte 1935 die allgemeine Wehrpflicht
     sollte die bewaffnete Macht davor geschützt         ein. Die Wehrmacht wurde allmählich zu einer
     werden, in politische Konflikte der demokra­        Stütze seiner Herrschaft und seiner Expansi­
     tischen Massengesellschaft hineingezogen zu         onsbestrebungen. Sie machte die Ausdehnung
     werden. Das passive Wahlrecht der Uniform­          des Reiches erst möglich: Sudetenkrise, „An­
     träger war nicht eingeschränkt worden. Deut­        schluss“ Österreichs, Überfall auf Polen, die
     lich wird auf diese Weise, dass der Obrigkeits­     Kriege im Westen und im Osten hatten eine
     staat dem Gedanken der Volksbewaffnung              wichtige Voraussetzung: die allgemeine Wehr­
     misstraute, vielleicht sogar mit Berechtigung,      pflicht. Verweigerung des Dienstes mit der
     denn ein Revolutionstheoretiker wie Friedrich       Waffe bedeutete oft den Tod. Es waren nur
     Engels vertrat die Meinung, die deutschen Ar­       wenige Regimegegner, die durch militärischen
     beitermassen hätten in der Armee Disziplin,         Widerstand zeigten, dass sich das Militär dem
     gleichsam revolutionäre „Manneszucht“, ge­          Primat des Politischen unterwarf.
     lernt. Und weil Engels die großen sozialdemo­
     kratischen Wahlerfolge des endenden 19. Jahr­         Mit dem 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats
     hunderts hochrechnete, träumte er schließlich       der Widerstandskämpfer um Graf von Stauf­
     von einer revolutionären Volksarmee.                fenberg auf Hitler, begann eine entscheidende
                                                         Phase der Zivilisierung des Militärs, seine kon­
       In der Weimarer Republik kam es dann              sequente Unterordnung unter Politik und Par­
     ganz anders. Im Versailler Friedensvertrag          lament. Gerade im Handeln der Regimegegner
     war die bewaffnete Macht des Deutschen Rei­         aus der Wehrmacht wird das Spannungsver­
     ches zu einer Schrumpfgröße mutiert: Ein            hältnis zwischen Gehorsam und Widerspruch,
     100 000-Mann-Heer, keine Luftwaffe und              Gefolgschaft und Widerstand sichtbar. Dies
     eine Reichsmarine, deren größte Schiffseinhei­      sollte bedenken, wer sich zur Wehrpflicht als
     ten man „Westentaschenpanzerschiffe“ nann­          Ausdruck demokratischer Ordnung bekennt.
     te, waren die Folge. Im Kapp-Putsch von 1920,       Die längste Zeit lag die Wehrpflicht im Inte­
     der ersten großen Krise der Weimarer Repu­          resse des Obrigkeitsstaates und der Diktatur.
     blik, hatte sich die Reichswehr geweigert, in die   Gerade das Kaiserreich, der Nationalsozialis­
     innenpolitischen Kämpfe einzugreifen. Frei­         mus und die DDR machen deutlich, dass die
     korps prägten das Bild. Sie verstanden sich als     Wehrpflicht keineswegs eine Garantie bietet,
     Träger eines demokratischen Verteidigungs­          die bewaffnete Macht zu einem Bestandteil
     willens, hassten aber die demokratisch ge­          der zivilen Gesellschaft werden zu lassen. Die
     wählte Reichsregierung. Sie wollten an die Zeit     Zivilität der bewaffneten Macht hängt allein
     der sogenannten Befreiungskriege anknüpfen,         vom Selbstverständnis der militärischen Füh­
     ohne deren Orientierung an den Grundsätzen          rung, vom Bekenntnis zur Menschenwür­
     einer Bürgergesellschaft zu teilen. „Truppe         de als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt
     schießt nicht auf Truppe“, erklärte Hans von        und von einer politischen Führung ab, die sich
     Seeckt, der wenig später zum Chef der Hee­          die letzte Verantwortung für das Militär nicht
     resleitung der Reichswehr ernannt wurde, und        streitig machen lässt, sondern auf dem Primat
     verstärkte so die Tendenz der Abkapselung der       des Politischen besteht.
     bewaffneten Macht. Staat im Staate sollte und
     wollte sie sein und wurde doch nur Spielball          Die Bundeswehr gilt heute als eine bewaff­
     im Kampf um die Republik.                           nete Macht, die fest in verfassungsstaatliche
                                                         Strukturen eingebunden ist – vielleicht erst­
       Sieger waren 1920 letztlich die entschiedenen     mals in der deutschen Geschichte. Soldaten
     Gegner der Republik, deren Republikfeind­           sind als Bürger in Uniform anerkannt, und da­
     schaft später Hitler artikulierte. Er wusste,       bei unterscheidet man nicht nach Freiwilligen,

14    APuZ 48/2011
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