Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? - Zum Vorstoß der EU-Kommission - Gutachten 06/2020 - Zum Vorstoß der ...

 
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Gutachten
                                 06/2020

Ende der Einstimmigkeit
in Steuerfragen? –
Zum Vorstoß der EU-Kommission
Ende der Einstimmigkeit
in Steuerfragen? –
Zum Vorstoß der EU-Kommission

Wissenschaftlicher Beirat
beim Bundesministerium der Finanzen
Gutachten 06/2020
Inhaltsverzeichnis

1. Die Forderung nach qualifizierter Mehrheitsentscheidung in
   Steuerfragen___________________________________________________1

2. Die Argumente der Kommission________________________________4

3. Eine Diskussion der Argumente________________________________5
  3.1 Kompetenzverteilung____________________________________________________________________ 5
  3.2 Vetoposition und Zügigkeit der Beschlussfassung________________________________________ 6
  3.3 Implikationen des Brexits________________________________________________________________ 8
  3.4 Rechtliche Fragen________________________________________________________________________ 9

4. Schlussfolgerungen____________________________________________12

5. Literatur______________________________________________________14

Mitgliederverzeichnis________________________________________________ 16
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Die Forderung nach qualifizierter Mehrheitsentscheidung in Steuerfragen
                                                                                             Zum Vorstoß der EU-Kommission

1. Die Forderung nach qualifizierter
   Mehrheitsentscheidung in Steuerfragen

Seit den römischen Verträgen entscheidet der                               Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstüt-
(Minister-)Rat der EU in Abhängigkeit von den dis-                         zung in Fragen des Steuerbetrugs, der Steuerhin-
kutierten Politikfeldern entweder mit qualifizier-                         terziehung und um administrative Initiativen bei
ter Mehrheit oder mit Einstimmigkeit. Im Lauf der                          der Unternehmensbesteuerung geht. In einem
Entwicklung der Verträge haben die Mehrheits-                              zweiten Schritt sollen Mehrheitsabstimmungen
entscheidungen dabei zugenommen.1 Sowohl die                               auch in Bereichen erlaubt werden, in denen Steu-
Einheitliche Europäische Akte von 1987 als auch                            ern benutzt werden, um andere politische Ziele zu
der Vertrag von Lissabon (in Kraft getreten 2009)                          verfolgen, etwa beim Umweltschutz oder bei der
haben für einige Politikfelder die Abkehr von der                          öffentlichen Gesundheit. Schritt drei sieht nach
Einstimmigkeit und den Übergang zu Mehrheits-                              den Vorschlägen der Kommission Mehrheitsab-
abstimmungen gebracht.                                                     stimmungen bei Fragen der indirekten Besteue-
                                                                           rung vor. In einem letzten und vierten Schritt sol-
Zu den Politikfeldern, bei denen weiterhin die Ein-                        len qualifizierte Mehrheitsabstimmungen auch
stimmigkeit für Ratsbeschlüsse erforderlich ist,                           bei der Unternehmensbesteuerung (Gemeinsame
gehören die Bereiche Besteuerung, soziale Siche-                           konsolidierte     Körperschaftsteuerbemessungs-
rung, die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten, die                             grundlage GKKB) und Fragen einer fairen und
Außen- und Sicherheitspolitik und die polizei-                             wettbewerbsorientierten Besteuerung Anwen-
liche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Bei                              dung finden. Diese „Stufung“ des Kommissions-
allen diesen Fragen stehen Souveränitätsvorbe-                             vorschlags impliziert ganz unterschiedliche Aus-
halte der Mitgliedstaaten hinter dem Einstim-                              maße der Regelungstiefe, die hier schrittweise
migkeitserfordernis: Entweder geht es um finan-                            der Mehrheitsentscheidung unterworfen wer-
zielle Fragen (Besteuerung, soziale Sicherung), um                         den sollen. Während die erste Stufe eher klein-
klassische Agenden der Außenpolitik (Aufnahme                              teiligen Korrekturbedarf abbilden dürfte, könn-
neuer Mitgliedstaaten, Außen- und Sicherheitspo-                           ten über die zweite Stufe qualitativ wie quantitativ
litik) oder um die innere Souveränität (polizeiliche                       ganz weitreichende Entscheidungen gefällt wer-
Zusammenarbeit).                                                           den. Demgegenüber wären die mitgliedstaatlichen
                                                                           Souveränitätsvorbehalte hinsichtlich des ohne-
Die EU-Kommission ist im Januar 2019 mit der                               hin weit harmonisierten und vergemeinschafte-
Forderung an die Öffentlichkeit gegangen, bei                              ten Mehrwertsteuersystems, d.h. bezogen auf die
Entscheidungen zu Steuerfragen von der Ein-                                dritte Stufe, wieder eher begrenzt. Eine Änderung
stimmigkeit zur qualifizierten Mehrheitsabstim-                            im vierten Schritt, wenn es um Fragen zur „fairen
mung überzugehen (COM (2019) 8 final). Dabei                               und wettbewerbsorientierten“ Besteuerung geht,
schlägt sie ein vierstufiges Vorgehen vor. In einem                        dürfte faktisch die gesamte Besteuerungskompe-
ersten Schritt sollen qualifizierte Mehrheitsab-                           tenz der Mitgliedstaaten betreffen, da Steuerfra-
stimmungen eingeführt werden, wenn es um die                               gen meist untrennbar von Inzidenz- und Umver-
                                                                           teilungsaspekten sind und damit Fairnessfragen
                                                                           implizieren.
1   Zu politischen Konflikten des schrittweisen Übergangs
    von Einstimmigkeits- zu Mehrheitsentscheidungen in
    Politikfeldern der Integration siehe Haltern (2017), Bd. 1, Rdnr.
    98, 101, 132 ff., 173.

                                                                          1
Die Forderung nach qualifizierter Mehrheitsentscheidung in Steuerfragen
                                                                                       Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                                                Zum Vorstoß der EU-Kommission

Die Kommission schlägt für den Übergang von                                Hauptmotiv, fiskalische Erwägungen dürfen nur
einstimmigen Entscheidungen zu Mehrheits-                                  Nebenzweck sein.
entscheidungen keine Änderung der Verträge
vor, sondern schließt sich der Meinung des sei-                            In jüngerer Zeit wird verstärkt über den Einsatz
nerzeitigen Kommissionsvorsitzenden Juncker                                von Art. 116 AEUV zur Lösung des Problems dis-
an, dass hierzu eine sogenannte „Passerelle-                               kutiert. Diese bisher bedeutungslose Norm stellt
Regelung“ (Brückenklausel), die in den Verträgen                           der EU ein repressives Verfahren zur Reaktion
bereits existiert, als Grundlage für den Übergang                          auf Störungen im Binnenmarkt zur Verfügung:
ausreicht.                                                                 Wenn vorhandene Rechtsunterschiede die Wett-
                                                                           bewerbsbedingungen verfälschen und dadurch
Die von der Kommission in Stellung gebrachte                               eine beseitigungsbedürftige Verzerrung entsteht,
Brückenklausel ist in Art. 48 Abs. 7 EUV enthalten.                        kann – nach erfolglosen Verhandlungen mit dem
Danach kann der Rat einstimmig vorschlagen,                                oder den betroffenen Mitgliedstaaten – im Wege
dass bislang der Einstimmigkeit unterworfene                               des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, d.h.
Themen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen                             unter Einbeziehung des Europäischen Parlaments,
werden können. Widerspricht innerhalb von sechs                            reagiert werden. Ursprünglich diente die Vor-
Monaten kein nationales Parlament, wird nach                               schrift in der Tat auch dazu, die als unüberwind-
Zustimmung des Europäischen Parlaments auf                                 lich wahrgenommene Einstimmigkeitshürde –
Einstimmigkeit verzichtet, ohne dass dies einer                            wie sie zu Beginn der europäischen Integration der
zeitlichen Befristung unterworfen wäre.                                    Regelfall war – in einem vereinfachten Verfahren
                                                                           zu überwinden. Zwar gab es schon Verhandlungen
Der herangezogene Artikel des Vertrages erlaubt                            auf der Grundlage von Absatz 1 dieses Artikels,
europarechtlich nicht nur den Übergang zur quali-                          von der Rechtsetzungskompetenz nach Absatz 2
fizierten Mehrheitsentscheidung. Er eröffnet auch                          wurde bisher jedoch noch kein Gebrauch gemacht.
den Weg zum Standardgesetzgebungsverfahren
(dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach                              In der Literatur wird vertreten, dass Art. 116
Art. 294 AEUV) anstatt des ansonsten in Steuer-                            AEUV für den Steuerbereich keine Anwendung
fragen vorgesehenen besonderen Gesetzgebungs-                              finden könne (Tietje, in: Grabitz u. a. (2018), Art.
verfahrens, bei dem das Europäische Parlament                              116 Rdnr. 3;2 Gröpl, in: Dauses (2015), Kapitel J
nur beratende Funktion hat (Konsultationsver-                              Rdnr. 613). Voraussetzung ist in jedem Fall das Vor-
fahren). Der Übergang zu Mehrheitsabstimmun-                               liegen einer Wettbewerbsverzerrung. Ganz über-
gen ist aber nicht zwingend mit dem Übergang                               wiegend wird darunter eine „spezifische“, nicht
zum Standardgesetzgebungsverfahren verbun-                                 eine „allgemeine“ Wettbewerbsverzerrung, d.h.
den, sondern ist nach Art. 48 Abs. 7 EUV auch ohne
einen solchen Übergang denkbar.
                                                                           2   Die Anwendung sei „zweifelhaft“, ohne dass eine nähere
                                                                               Begründung gegeben wird.
Art. 48 Abs. 7 EUV ist nicht die einzige denkbare
Möglichkeit zur Abkehr von der Einstimmigkeit,                             3   Der Befund basiert auf einem entstehungsgeschichtlichen
                                                                               Argument. Durch die Einheitliche Europäische Akte von 1987
ohne dass dafür Verträge geändert werden müs-                                  sei der ehemalige Art. 99 EGV-Maastricht (nunmehr Art. 113
sen. Daneben nennt die Kommission auch den                                     AEUV) insoweit geändert worden, als der dort angebrachte
                                                                               Vorbehalt zugunsten von Maßnahmen nach den ehem. Art.
Weg über Art. 192 Abs. 2 AEUV, der sogar ohne                                  100 und 101 EGV-Maastricht (nunmehr Art. 115, 116 AEUV)
die Duldung durch nationale Parlamente einen                                   entfallen sei; dies führe zu dem Schluss, dass steuerliche
Übergang zum Standardgesetzgebungsverfah-                                      Maßnahmen der Union für indirekte und direkte Steuern nur
                                                                               noch durch einstimmigen Ratsbeschluss auf der Grundlage
ren erlaubt, wenn der Rat das mit Einstimmigkeit                               der Art. 113 und 115 AEUV, ggf. auch auf der Grundlage
beschließt. Allerdings ist diese Möglichkeit auf                               von Art. 352 AEUV getroffen werden könnten. Art. 116 Abs.
                                                                               2 AEUV sehe demgegenüber durch den Verweis auf das
das Politikfeld der Umweltpolitik begrenzt. Vor                                ordentliche Gesetzgebungsverfahren einen Ratsbeschluss mit
allem muss der Intention nach der Umweltschutz                                 qualifizierter Mehrheit vor und scheide damit für Steuern aus.

                                                                          2
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Die Forderung nach qualifizierter Mehrheitsentscheidung in Steuerfragen
                                                                                                Zum Vorstoß der EU-Kommission

eine nicht gerechtfertigte Besser- oder Schlechter-                           AEUV bleibt daher im Folgenden außer Betracht.
stellung einzelner Wirtschaftszweige, nicht hin-                              Andererseits ließe sich, wenn man die bisherige
gegen die „unterschiedlichen globalen Kostenbe-                               restriktive Auslegung von Art. 116 AEUV auf-
lastungen der einzelnen Volkswirtschaften (etwa                               weicht, letztlich jede steuerrechtliche Maßnahme
durch unterschiedliche Steuern oder Soziallas-                                auf diese Regelung stützen, denn potentiell wer-
ten)“, verstanden (Schröder, in: Streinz (2018), Art.                         den die Wettbewerbsbedingungen durch jeden
116 Rdnr. 8; Korte, in: Calliess/Ruffert (2016), Art.                         Unterschied in den mitgliedsstaatlichen Steuer-
116 Rdnr. 8). „Der Sinn des Art. 116 AEUV besteht                             systemen verzerrt. Denken könnte man auch an
darin zu verhindern, dass Mitgliedstaaten ein                                 die Aktivierung der verstärkten Zusammenarbeit
für bestimmte (eigene) Unternehmen oder Wirt-                                 nach den Art. 20 EUV, 326 ff. AEUV, wie er für die
schaftszweige günstiges Rechtsgefälle perpetuie-                              Finanztransaktionsteuer versucht wird. Ein sol-
ren.“ (Khan, in: Geiger u. a. (2017), Art. 116 Rdnr.                          ches Verfahren kommt nach Art. 20 Abs. 2 EUV
4). Es geht mithin stets um einzelne Wirtschafts-                             jedoch nur „als letztes Mittel“ in Betracht , wenn
zweige (Rossi, in: Vedder u. a. (2018), Art. 116 Rdnr.                        der Rat feststellt, dass das angestrebte Ziel sonst
3), um „punktuelles“, nicht um „systematisches“                               nicht in einem vertretbaren Zeitraum erreicht
Reagieren der EU (Korte, in: Calliess/Ruffert                                 werden kann und sich mindestens neun Mitglied-
(2016), Art. 116 Rdnr. 3). Außerdem wird man eine                             staaten beteiligen. Zumeist wird dafür zunächst
gewisse Intensität der Beeinträchtigung fordern                               das Scheitern eines Richtlinienvorschlags für
müssen, wie ein Vergleich mit dem Regelrechtset-                              sämtliche Mitgliedstaaten verlangt (Pechstein, in:
zungsverfahren des Art. 115 AEUV zeigt. Das alles                             Streinz (2018), Art. 20 EUV Rdnr. 13). Nach Art. 333
ist nicht die typische Konstellation für einen gene-                          AEUV besteht auch für die verstärkte Zusammen-
rellen Übergang von der Einstimmigkeit zu Mehr-                               arbeit eine spezielle Brückenklausel für den Über-
heitsentscheidungen im Bereich der Besteuerung.                               gang vom Einstimmigkeitsprinzip zu Mehrheits-
Hinzu kommt, dass Art. 116 AEUV subsidiär zur                                 entscheidungen, die dann konsequenterweise bei
Beseitigung des Verstoßes durch andere Maß-                                   deutscher Beteiligung den gleichen Anforderun-
nahmen, wie bei Verstößen gegen Grundfreihei-                                 gen unterliegt, wie die „normale“ Rechtsetzung
ten oder das Beihilfenregime, ist (Classen, in: von                           (unten unter 3.4).
der Groeben u. a. (2015), Art. 116 Rdnr. 33). Art. 116

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Die Argumente der Kommission
                                                                Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                         Zum Vorstoß der EU-Kommission

2. Die Argumente der Kommission

Die Europäische Kommission argumentiert, dass          “Moving to qualified majority decision-making
in Steuerfragen die Einstimmigkeit ernsthafte          would not in any manner reduce the competences of
Probleme im Entscheidungsverfahren berge. Die          the Member States on taxation or change the com-
Einstimmigkeit bringe zum einen Schwierigkei-          petence of the EU in this matter. It would however
ten mit sich, einen Kompromiss zu finden. Sie          provide for more efficient decision-making to exer-
führe darüber hinaus zu einer Neigung hin zum          cise pooled sovereignty at EU level, offering Member
kleinsten gemeinsamen Nenner. Einzelne Staaten         States the strength to address shared challenges ...”
könnten aufgrund der Einstimmigkeit hohe Preise        (COM(2019) 8 final, S. 3).
für ihre Zustimmung einfordern. Schließlich gebe
es eine Angst, dass aufgrund der Einstimmigkeit        Große Vorteile von Mehrheitsabstimmungen wer-
einmal gefasste Beschlüsse nur schwer wieder           den nach Einschätzung der Kommission dadurch
abzuändern seien. Diese Angst vor der Unabän-          begründet, dass die Kosten der Untätigkeit in ver-
derlichkeit von neuen Steuerregelungen führe zu        schiedenen Bereichen, etwa bei der gemeinsa-
starker Vorsicht.                                      men harmonisierten Körperschaftsbesteuerung,
                                                       bei Änderungen beim System der Mehrwert-
Die Kommission (COM (2019) 8, final, S. 10) fordert    steuer, bei der Finanztransaktionsteuer sowie bei
nach eigenem Bekunden ferner keine Verände-            der Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle, mit
rung der Kompetenzzuteilung in Steuerfragen. Bei       hohen Milliardenbeträgen zu beziffern seien. Für
einem Übergang zu qualifizierten Mehrheitsent-         die Finanztransaktionsteuer führt die Kommis-
scheidungen würde diese Kompetenz nur mittels          sion aus, dass sich Steuerausfälle in Höhe von 57
eines anderen Entscheidungsverfahrens ausgeübt.        Mrd. Euro ergäben.

                                                      4
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Eine Diskussion der Argumente
                                                                           Zum Vorstoß der EU-Kommission

3. Eine Diskussion der Argumente

3.1 Kompetenzverteilung                                  objektiven Nettoprinzips führen, was in Abhän-
                                                         gigkeit von der nationalen Rechtsprechung zu ver-
Bei der Beurteilung der Vorschläge muss im Aus-          fassungsrechtlichen Konflikten führen kann.
gangspunkt zwischen den Kompetenzen der EU
auf dem Gebiet der Besteuerung und der Aus-              Solche Konflikte sind grundsätzlich auch bei
übung dieser Kompetenzen unterschieden wer-              nicht-steuerlichen Fragen denkbar. Allerdings
den. Richtig ist, dass auch heute schon auf euro-        gehen steuerliche Regelungen in ganz besonde-
päischer Ebene Steuerregelungen erlassen werden          rem Maße mit umverteilenden Effekten unter den
können, die aktuelle und zukünftige nationale            Steuerzahlern einher. Die Frage, inwiefern sol-
Regierungen sowie die Geltung nationaler Gesetze         che umverteilenden Effekte dem Gerechtigkeits-
einschränken. Trotzdem erscheint das Argument            empfinden und der inneren Logik der Gleichbe-
recht formal. Zwar gibt es eine konkurrierende           handlung von Steuerzahlern Genüge tun, dürfte
Rechtsetzungskompetenz im Bereich der Besteu-            weit eher auf der Basis der nationalen Ebene zu
erung bereits, jedoch impliziert bislang die Ein-        entscheiden sein. Ähnlich wie bei Ausgabenent-
stimmigkeit in Steuerfragen, dass kein Mitglied-         scheidungen kann auch bei steuerlichen Entschei-
staat gegen seinen politischen Willen gezwungen          dungen durch Dezentralisierung eine bessere
werden kann, eine Neuregelung in Steuerfragen            Anpassung an die lokalen Präferenzen erreicht
zu akzeptieren. Die Einstimmigkeit stellt sicher,        werden (Lipatov und Weichenrieder, 2016). Gleich-
dass keine steuerliche Regelung gegen die Stimme         zeitig werden Diskriminierungen zwischen
eines Mitgliedstaates ergriffen werden kann. Die         EU-Bürgern im Gemeinschaftsrecht schon heute
Kompetenzzuweisung ist de facto beim Mitglied-           hinreichend adressiert.
staat und wird ggfs. freiwillig abgegeben. Bei
Mehrheitsentscheidungen ist diese Freiwilligkeit         Die Kompetenzausübung wird maßgeblich vom
nicht mehr sichergestellt. Vor diesem Hintergrund        jeweils anzuwendenden Gesetzgebungsverfahren
sind Kompetenzverteilung und Kompetenzaus-               mitgeprägt. Insbesondere (aber nicht ausschließ-
übung stark verzahnt, stehen in Wechselwirkung           lich) beim letzten und vierten Schritt, unter dem
zueinander. Das Einstimmigkeitserfordernis kann          auch die Einführung neuer EU-Steuern mög-
eine bestimmte Kompetenzaufteilung zwischen              lich wäre (und von der Kommission im Falle der
EU und Mitgliedstaaten legitimieren; entfällt sie,       Finanztransaktionsteuer auch gewünscht ist),
muss auch die Kompetenzverteilung u. U. neu              werden Fragen der angemessenen Vertretung der
bedacht werden.4                                         Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament auf-
                                                         geworfen, weil dort die Regel “one (wo)man, one
Die Aufhebung der Einstimmigkeit geht insbeson-          vote” verletzt ist. Kleine Länder werden nicht nur
dere dort mit möglichen Kompetenzkonflikten              im Ministerrat überrepräsentiert, sondern wegen
einher, wo überstimmte Mitgliedstaaten Regeln            der nicht gewährleisteten Erfolgswertgleichheit
übernehmen müssen, die gegen die nationale Ver-          auch im Europäischen Parlament. Erfolgswert-
fassung bzw. die höchstrichterliche Rechtspre-           gleichheit verlangt hingegen, dass jede Stimme
chung verstoßen. So könnte beispielsweise eine           gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des
europäische Richtlinie zu einer Verletzung des

4 Vgl. auch Marquardsen (2020, S. 31 ff).

                                                     5
Eine Diskussion der Argumente
                                                                                    Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                                             Zum Vorstoß der EU-Kommission

Parlaments haben muss.5 Strikte Wahlrechts-                          hypothetisch) kompensieren können. Zum ande-
gleichheit bei den Wahlen zum Europäischen                           ren sollen sie möglichst verhindern, dass Projekte
Parlament ist, anders als nach dem Grundgesetz                       und Gesetze, bei denen dies nicht der Fall ist, nicht
für Bundestagswahlen, unionsrechtlich nicht                          zustande kommen. Sind die potentiellen Gewinne
postuliert.                                                          und Verluste einer Entscheidung symmetrisch
                                                                     verteilt, spricht viel für eine absolute Mehrheit.7
Diese Inkaufnahme des Verzichts auf Erfolgswert-                     Bei einer symmetrischen Verteilung, bei der jeder
gleichheit der Wahlstimmen zum Europäischen                          Verlierer im Schnitt so viel verliert wie ein durch-
Parlament weicht von dem in föderalen Gebilden                       schnittlicher Gewinner gewinnt, ist ein aggre-
üblichen Modus ab, kleine Gebietskörperschaften                      gierter Nettogewinn nämlich dann zu erwarten,
regelmäßig nur in einer Kammer (Senat, Stände-                       wenn die Zahl der Gewinner die Verlierer über-
rat, Bundesrat) zu bevorzugen.6 Gerade im Bereich                    steigt. Geht es indes um Fragen des Grundrecht-
der Besteuerung ist die adäquate Repräsentation                      schutzes, kann indes von einer symmetrischen
seit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewe-                         Verteilung nicht ausgegangen werden und quali-
gung im 18. Jahrhundert ein wiederkehrendes und                      fizierte Mehrheiten können wünschenswert sein.
wichtiges Junktim im demokratischen Zusam-                           Dabei bietet Einstimmigkeit den stärksten Schutz
menhang. Vor diesem Hintergrund kann es ange-                        von Minderheiten.
bracht erscheinen, einer etwaigen Ausdehnung
der Mehrheitsentscheidung auf Steuerfragen in
der EU eine eingehende Debatte vorauszuschalten.                        3.2 Vetoposition und Zügigkeit der
Ist eine doppelte Abweichung von “one-(wo)man-                              Beschlussfassung
one-vote“, d.h. eine zweimalige Übergewichtung
von kleinen Staaten in Mehrheitsabstimmungen,                           Die Kommission argumentiert durchaus nach-
gerechtfertigt, wenn diese Stimmengewichte auch                         vollziehbar, dass es mitunter misslich ist, wenn
auf Entscheidungen zu Steuerfragen angewendet                           wichtige Beschlüsse in Steuerfragen an einem ein-
werden?                                                                 zigen Mitgliedstaat scheitern, weil jedem einzel-
                                                                        nen Land ein Vetorecht zusteht. Die Ausübung
Aus ökonomischer Sicht wird üblicherweise                               des Vetorechts mag besonders dann problema-
betont, dass Mehrheitsregeln zum einen dafür                            tisch erscheinen, wenn ein Mitgliedstaat sich nicht
sorgen sollen, dass möglichst Projekte und                              aus dem Schutz eigener, starker Interessen in der
Gesetze beschlossen werden, bei denen die Gewin-                        betreffenden Steuerregelung heraus ablehnend
ner eines Beschlusses die Verlierer (zumindest                          verhält, sondern stattdessen versucht, Zugeständ-
                                                                        nisse oder finanzielle Vorteile in Verhandlun-
                                                                        gen zu erreichen, die in keinem sachlichen Bezug
5   Die Unterscheidung zwischen Zähl- und Erfolgswertgleichheit
    stammt aus der Rechtsprechung des deutschen                         stehen.8
    Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsgleichheit.
    Zählwertgleichheit bedeutet, dass jeder Wähler und jede
    Wählerin eine Stimme hat; Erfolgswertgleichheit bedeutet,
                                                                        Hier könnte es sinnvoll sein, eine zweite quali-
    dass sich jede dieser Stimmen grundsätzlich in gleicher Weise       fizierte Mehrheit einzuführen, die n-1 Staaten
    auf die Zusammensetzung der zu wählenden Körperschaft               umfassen würde. Dadurch würde die Monopolsi-
    auswirkt.
                                                                        tuation eines einzelnen Landes verschwinden und
6   Im föderalen Deutschland genießen kleine Länder im
    Bundesrat ein Stimmengewicht, das gemessen am                       das Erpressungspotential signifikant abnehmen.
    Bevölkerungsanteil überproportional ist, nicht jedoch im
    Bundestag. In den USA haben auch kleine Bundesstaaten
    zwei Senatoren, während nach der Verfassung das
                                                                        7 Vgl. Guttman (1989).
    Repräsentantenhaus proportional zu besetzen ist, wenngleich
    mit der Einschränkung, dass auch kleine Staaten mindestens          8   Italien machte im Jahr 2003 beispielweise seine Zustimmung
    einen Repräsentanten haben sollen. Entsprechendes gilt für              zur Zinsrichtlinie zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
    die Schweiz, die insofern dem bundesstaatlichen Modell der              von Zugeständnissen bei Strafzahlungen italienischer
    USA folgt.                                                              Milchbauern abhängig.

                                                                    6
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Eine Diskussion der Argumente
                                                                                          Zum Vorstoß der EU-Kommission

Eine Koalition zweier Länder, die unter Umstän-                      könnte jedoch bei der Abschaffung von steuerli-
den versuchen könnte, ansonsten allseits vor-                        chen Richtlinien vorgesehen werden. Hier könnte
teilhafte Steuerlösungen zu verhindern, könnte                       nach dem Vorschlag bereits eine qualifizierte
destabilisiert werden, da sich zwischen den beiden                   Mehrheit ausreichen. Damit würde den Mitglieds-
Koalitionsländern eine Konkurrenz um den güns-                       staaten die Angst genommen, einem steuerlichen
tigsten Preis der Zustimmung herstellen ließe. In                    Systemwechsel zuzustimmen, in dem man mit
einer solchen Konkurrenz könnte der Preis der                        sehr hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Ein-
Zustimmung auf die echten Nachteile des Geset-                       stimmigkeit gefangen ist, selbst wenn sich nach-
zesvorschlags für das am stärksten negativ betrof-                   träglich schwerwiegende Fehler herausstellen.
fene Land gesenkt werden. Ein „erpresserisches“
Zustimmungsverhalten dürfte damit vermieden                          Alternativ könnte man auch ohne Änderung der
werden.                                                              Abstimmungsregeln den Mut für steuerpolitische
                                                                     Änderungen erhöhen, indem man einstimmig
Umgekehrt wäre bei der Aufgabe der Einstim-                          getroffene Richtlinien mit einem Verfallsdatum
migkeit selbst bei einer n-1 Regel nicht mehr aus-                   ausstattet. Für ihre Verlängerung wäre dann wie-
geschlossen, dass europäische Regeln eingeführt                      derum ein einstimmiger Beschluss im Minister-
werden, die im Konflikt mit nationalen Verfas-                       rat erforderlich. Mit diesen Änderungsvorschlä-
sungsinterpretationen stehen. Zudem wäre eine                        gen würde sich zumindest einer der Kritikpunkte
solche Änderung nicht ohne die Änderung der                          am Status Quo adressieren lassen.
Europäischen Verträge erreichbar.
                                                                     Fraglich ist, wie hoch die bisherigen Kosten der
Auch ohne opportunistisches Verhalten einzelner                      Untätigkeit wirklich sind. Bei einigen bedeutsa-
Länder kann eine Einstimmigkeitsregel zu einer                       men Vorschlägen, die nach der EU-Kommission
Verlängerung von Entscheidungsprozessen füh-                         bislang wegen der Einstimmigkeit gescheitert sind,
ren. Abgesehen davon, dass Verhandlungen durch                       hat der Beirat es bislang als begrüßenswert erach-
Vetorechte der einzelnen Länder langwieriger                         tet, dass die Vorschläge nicht Realität werden,
sind, 9 besteht auch die Gefahr, dass Neuregelun-                    etwa bei der Digitalsteuer oder der Gemeinsamen
gen aus Furcht vor deren Quasi-Unabänderlich-                        Konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungs-
keit abgelehnt werden. Diese Furcht kann entste-                     grundlage (GKKB).10 Auch bei der Finanztransak-
hen, weil es durch die Einstimmigkeit schwer ist,                    tionsteuer gibt es von ökonomischer Seite eher
auf Fehler in der Gesetzgebung bzw. auf geänderte                    Vorbehalte, inwiefern die Ziele, etwa die Stabilisie-
Realitäten in angemessener Zeit zu reagieren.                        rung des Finanzsektors, tatsächlich erreicht wer-
                                                                     den können.11
Eine Lösung, die sich von dem allgemeinen Über-
gang zur qualifizierten Mehrheit unterschei-                         In jedem Fall sind die von der Kommission genann-
det und diesen Punkt adressiert, wurde vor die-                      ten Kosten zu hinterfragen. Bei der Finanztrans-
sem Hintergrund kürzlich von Schön (2018) und                        aktionsteuer werden von der EU-Kommission zu
Richter (2019) vorgeschlagen. Um die Hemmung                         den Kosten Steuerausfälle einer nicht erhobenen
der Mitgliedstaaten zu reduzieren, sich auf neue                     Steuer von 57 Mrd. Euro gerechnet. Der Verlust von
steuerpolitische Lösungen in der EU einzulassen,                     Steuereinnahmen ist aber für sich in dieser Höhe
könnte man es zwar bei der Einstimmigkeit belas-                     kein volkswirtschaftlicher Kostenfaktor, weil den
sen, wenn es um die Einführung neuer Regeln                          Steuerausfällen an anderer Stelle in gleicher Höhe
geht. Eine Novellierung der Abstimmungsregeln

                                                                     10    Siehe Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der
                                                                          Finanzen (2007, 2018).
9   Experimentelle Evidenz zur Rolle von Vetomacht für den
    Zeitbedarf von Verhandlungen bieten Kagel, Sung und Winter       11    Siehe Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der
    (2010).                                                               Finanzen (2020).

                                                                 7
Eine Diskussion der Argumente
                                                                Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                         Zum Vorstoß der EU-Kommission

verbliebenes Einkommen entgegensteht. Die Dar-         Um ein Maß für die Wahlmacht anzugeben,
stellung der Kommission ist daher so nicht richtig.    wird etwa auf den Banzhaf Index zurückgegrif-
                                                       fen. Bei diesem werden alle Länderkombinatio-
                                                       nen betrachtet, die sich gemäß den herrschen-
3.3 Implikationen des Brexits                          den Mehrheitsregeln durchsetzen können. Darauf
                                                       aufbauend fragt der Banzhaf Index, wie häufig ein
Bei einem Übergang zur Abstimmung mit quali-           Land eine gewinnende Koalition durch Verlassen
fizierter Mehrheit wäre zu beachten, dass sich die     in eine verlierende Koalition verwandeln kann
Machtverhältnisse durch den Brexit verschieben.        und damit einen sogenannten Swing auslöst. Setzt
Ein Übergang von der Einstimmigkeit zur qua-           man die möglichen Swings eines Landes in Bezie-
lifizierten Mehrheit hat daher nach dem Austritt       hung zu allen möglichen Swings, erhält man den
des Vereinigten Königreichs (VK) möglicherweise        Indexwert für das Land.
andere Implikationen als in einer EU unter Ein-
schluss des VK.                                        Kirsch (2016) und Szczypińska (2018) berechnen
                                                       den Banzhaf Index der EU-Länder vor und nach
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde eine qualifi-       einem Brexit. Wie in vielen anderen Studien wer-
zierte (doppelte) Mehrheit festgelegt, nach der für    den dabei nur die Stimmenverhältnisse im Minis-
Vorschläge, die durch die Kommission eingebracht       terrat beachtet. Die Zustimmung im Europäischen
werden, 55 % der Mitgliedstaaten, die zusammen         Parlament wird implizit als gegeben angesehen,
65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren, zustim-        wenn eine Mehrheit im Ministerrat zustande
men müssen.                                            kommt.

Vielfach wird argumentiert, dass die qualifi-
zierte doppelte Mehrheitsregel, so wie sie jetzt
besteht, als politischer Kompromiss zwischen
Süd und Nord im Vertrag von Lissabon austariert
wurde unter der aus damaliger Sicht realistischen
Annahme, dass das VK der EU angehört, vgl. z. B.
Issing (2019). Diesen Kompromiss auf zusätzliche
Politikfelder auszudehnen, wenn die Geschäfts-
grundlage durch den Austritt des VK ein Stück
weit entfällt, ist zu diskutieren und eine Zustim-
mung für nördliche EU-Staaten nicht unbedingt
vorteilhaft.

Es gibt offensichtlich Befürchtungen, dass bei
einem Brexit der Einfluss Deutschlands in qua-
lifizierten Mehrheitsabstimmungen sinkt. Aller-
dings gibt es auch Stimmen, die dem auf der Basis
von formalen Machtindizes widersprechen. Bei
der Berechnung solcher Machtindizes wird übli-
cherweise von unterschiedlichen Präferenzen der
Länder, so wie sie sich in der Realität etwa durch
die Nettozahlerposition oder durch geschichtliche
Erfahrungen ergeben können, abstrahiert.

                                                      8
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Eine Diskussion der Argumente
                                                                             Zum Vorstoß der EU-Kommission

  Abbildung 1: Relative Veränderung des Banzhaf Index durch BREXIT

  30%

  25%

  20%

  15%

  10%

    5%

    0%

  -5%
          PL ES FR IT DE RO NL BE CZ EL PT SE HU AT BU DK SK FI IE HR LT SI LV EE CY LU MT

 Quelle: Szczypińska (2018).

Die Abstimmungsregeln im Ministerrat hängen                Mitgliedstaaten auch ein Anstieg des Bevölke-
davon ab, ob ein Vorschlag durch die Kommis-               rungsanteils innerhalb der EU. Im Falle Deutsch-
sion bzw. den Hohen Vertreter für die Gemein-              lands errechnet Kirsch (2016) einen Anstieg von
same Außen- und Sicherheitspolitik eingebracht             15,9 % auf 18,3 %. Der normalisierte Banzhaf
wird oder ob dies nicht der Fall ist. Im Folgen-           Index hinkt mit einem Anstieg von 10,2 % auf
den wird vom Normalfall eines Kommissionsvor-              11,9 % dem deutschen Bevölkerungsanteil weiter-
schlags bzw. des Hohen Vertreters ausgegangen.             hin hinterher.
Grundsätzlich gilt, dass der Einfluss eines Landes
tendenziell zunimmt, wenn die Zahl der Länder              Abseits dieser spezifischen Entwicklung für
sinkt. Bei einem Brexit gilt dies allerdings nur für       Deutschland dürfte es den traditionellen Net-
die größeren Länder, nicht für die kleineren Län-          toempfängerländern in der EU nach dem Bre-
der. Die prozentual höchsten Zuwächse des Banz-            xit leichter fallen, eine vetorelevante Koalition zu
haf Index verzeichnen Polen, Spanien, Frankreich,          bilden (Szczypińska, 2018). Die Betrachtung von
Italien und Deutschland in dieser Reihenfolge              Machtindizes, die von zufälligen Präferenzunter-
(Szczypińska, 2018). Abbildung 1 verdeutlicht die          schieden ausgehen, kann hier in die Irre führen.
Relationen. Für kleinere Länder kommt es zu einer
Verringerung des Indexes. Der Grund liegt darin,
dass diese Länder für eine erfolgreiche Koalition          3.4 Rechtliche Fragen
unbedingt Partner benötigen, ein wichtiger gro-
ßer Partner aber mit dem VK ausscheidet. Ähnli-            In Staatstheorie und Verfassungsrecht ist das
che Ergebnisse finden sich bei der Verwendung des          Mehrheitsprinzip als Ausdruck gleicher politi-
Shapley-Shubik-Index (Kóczy, 2016).                        scher Mitwirkungsfreiheit aller Bürger gedeutet
                                                           und begründet worden (Hillgruber 2013). Danach
Gleichzeitig mit dem tendenziellen Anstieg                 vermag nur das Mehrheitsprinzip den Anspruch
des normalisierten Banzhaf Index ergibt sich               einzulösen, Gemeinschaftsentscheidungen der
mit einem Austritt des VK für die verbliebenen             Gleichen und Freien hervorzubringen. Gleichzeitig

                                                       9
Eine Diskussion der Argumente
                                                                                   Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                                            Zum Vorstoß der EU-Kommission

wird betont, dass dieses Mehrheitsprinzip an Vor-                     werden.13 Bestünde hier eine wirksame Grenze
aussetzungen gebunden ist. Neben der prinzipi-                        der Tätigkeit der Union in deren politischer Pra-
ellen Freiheit und Offenheit des politischen Pro-                     xis, könnte dies die Akzeptanz ihres Handelns ggf.
zesses, klaren Verfahrensregeln und der Chance                        erhöhen. Eine spürbare Wirksamkeit des Prinzips
der Minderheit, zur Mehrheit zu werden, gehört                        ist jedoch kaum zu erkennen.
dazu die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidun-
gen: „Mehrheitsentscheidungen können in einem                         Demgegenüber stellt es verfassungsrechtlich all-
politischen System nur dann ergehen, wenn die                         gemein kein unüberwindliches Problem dar,
getroffene Entscheidung von der Gesamtheit der                        wenn eine heutige Mehrheit auch Entscheidungen
Bürger akzeptiert, ihre Verbindlichkeit von allen                     in der Zukunft bindet, indem etwa das Entschei-
wenigstens hingenommen wird. Die Anerken-                             dungsverfahren verändert wird. Das geschieht im
nung der Mehrheitsentscheidungen bleibt des-                          Prinzip bei jeder Verfassungsgebung. Das Bundes-
wegen an die Legitimität des politischen Systems                      verfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung
insgesamt sowie an einzelne besondere Voraus-                         zu den Grenzen der europäischen Integration
setzungen gebunden, die sich aus der Struktur                         aus dem Grundgesetz freilich hier einige Grenz-
des Mehrheitsprinzips insofern erklären, als der                      steine für die europäische Ebene hervorgehoben:
obsiegenden Mehrheit immer eine unterliegende                         So muss durch den nationalen Zustimmungsakt
Minderheit, die die Mehrheitsentscheidung nicht                       klar sein, welche Kompetenzen übertragen wur-
trägt, korrespondiert, als das Gemeinwesen sich                       den und welche nicht (BVerfGE 58, 1 (37); 89, 155
in Mehrheit und Minderheit spaltet. ... Das Mehr-                     (187); 123, 267 (351)). Das gilt auch für das Zusam-
heitsprinzip beruht auf diesen Voraussetzungen,                       menspiel von Kompetenz- und Entscheidungsver-
weil sie der Integration der Minderheit in die poli-                  fahren. In dem Urteil zum Vertrag von Lissabon
tische Ordnung dienen, in der das Mehrheitsprin-                      vom 30. Juni 2009 hat sich das Bundesverfassungs-
zip ein wesentliches Element bildet, und auf diese                    gericht speziell mit den sog. Brückenklauseln im
Weise Mehrheitsentscheidungen erst ermögli-                           EU-Recht befasst, die den Übergang von der Ein-
chen.“ (Heun 1983, S. 175). Insofern sind ein gewis-                  stimmigkeit zur qualifizierten Mehrheitsentschei-
ser Grundkonsens und gewisse Homogenitäts-                            dung oder den Übergang von besonderen zum
anforderungen unerlässlich (vgl. auch BVerfGE                         ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ermögli-
89, 155 (185)). Die Beurteilung von Mehrheitsent-                     chen (BVerfGE 123, 267 (388 ff.)). Ein solches Vor-
scheidungen auf EU-Ebene muss von vornherein                          gehen wurde insoweit gebilligt, als zum Zeitpunkt
berücksichtigen, dass es hier nicht um Mitwir-                        der Zustimmung – hier: zum Vertrag von Lissa-
kungsrechte von Bürgern, sondern von Mitglied-                        bon – dem Deutschen Bundestag die Folgen hin-
staaten geht. Die dargelegte Argumentation ist                        reichend erkennbar waren, um seiner Integrati-
daher nicht eins-zu-eins übertragbar. Die Recht-                      onsverantwortung nachzukommen (BVerfGE 123,
fertigung politischer Mitwirkungsrechte von                           267 (391 f.)). Insbesondere, da nach Art. 48 Abs. 7
Bürgern wird in der Demokratie auf ihr Person-                        EUV einerseits Einstimmigkeit im Rat erforderlich
sein, auf ihre moralische autonome Personali-                         ist, andererseits die nationalen Parlamente – in
tät zurückgeführt.12 Das ist bei Mitwirkungsrech-                     Deutschland also Bundestag und Bundesrat – ein
ten von Staaten so nicht der Fall. Auch die Frage                     Vetorecht besitzen (Cremer, in: Calliess/Ruffert
der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen                             (2016) Art. 48 EUV Rdnr. 14), mithin nicht gegen
muss für die EU-Ebene gesondert beurteilt wer-                        deutschen Willen der Übergang vollzogen werden
den. Keine Hoffnung darf dabei auf das in sei-                        kann, müssen nicht stets unüberwindliche ver-
ner Anwendung weitgehend leerlaufende Subsi-                          fassungsrechtlichen Hürden entgegenstehen. In
diaritätsprinzip auf europäischer Ebene gesetzt                       der Bundesrepublik wurden die entsprechenden

                                                                      13    Zu den Schwächen der Kontrolle des Prinzips in der Praxis:
12   Habermas (1998, S. 122 ff.); Unruh (2002, S. 7 ff., 340 ff).          Siehe Haltern (2017, Bd. 1 Rdnr. 853).

                                                                    10
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Eine Diskussion der Argumente
                                                                                    Zum Vorstoß der EU-Kommission

Verfahren im Integrationsverantwortungsge-                    Unabsehbarkeit der haushaltswirtschaftlichen
setz installiert (Cremer, in: Calliess/Ruffert (2016),        Auswirkungen jedoch vermutlich verfassungs-
Art. 48 EUV Rdnr. 17). § 4 Abs. 1 dieses Gesetzes             rechtlich unzulässig, auch wenn das Verfahren
lautet: „Der deutsche Vertreter im Europäischen               des Integrationsverantwortungsgesetzes beach-
Rat darf einem Beschlussvorschlag gemäß Art.                  tet würde. Eine solche substantielle Auswirkung
48 Absatz 7 Unterabsatz 1 oder Unterabsatz 2 des              auf den Bundeshaushalt wäre bei partiellem Über-
Vertrags über die Europäische Union nur zustim-               gang zur Mehrheitsentscheidung nicht notwen-
men oder sich bei der Beschlussfassung enthal-                dig gegeben. Die Abgrenzung lässt sich wie üblich
ten, nachdem hierzu ein Gesetz gemäß Art. 23                  nur schwer quantifizieren, im Streitfall könnten
Absatz 1 des Grundgesetzes in Kraft getreten ist.             gleichwohl entsprechende Kriterien entwickelt
Ohne ein solches Gesetz muss der deutsche Ver-                werden.15
treter im Europäischen Rat den Beschlussvor-
schlag ablehnen.“14 Für den vorliegenden Bereich
sind jedoch ergänzende Überlegungen anzustel-
len. Bei einem generellen Übergang zu Mehrheits-
entscheidungen in der Steuerpolitik der EU mit
Zustimmung des Deutschen Bundestages nach
den Regeln des Integrationsverantwortungsge-
setzes wären substanzielle Auswirkungen auf die
deutschen Haushalte vorprogrammiert. In die-
sem Zusammenhang wird relevant, dass das Bun-
desverfassungsgericht die Integrationsverantwor-
tung durch mehrere Entscheidungen im Kontext
der europäischen Verschuldungskrise um die
sog. Budgetverantwortung des Deutschen Bun-
destages erweitert und ergänzt hat (BVerfGE 123,
267 (351 ff.); insgesamt Schorkopf, in: Kahl u. a.
(2020), Art. 23 Rdnr. 129 ff.). Schon im Lissabon-
urteil wurde die Haushaltsautonomie des Parla-
ments als Integrationsgrenze ausgeformt: „Eine
das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum
Deutschen Bundestag in seinem substantiellen
Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung
des Budgetrechts des Bundestages läge vor, wenn
die Festlegung über Art und Höhe der den Bür-
ger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang
supranationalisiert würde. Der Deutsche Bundes-
tag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über
die Summe der Belastungen der Bürger entschei-
den.“ (BVerfGE 123, 267 (361 f.)). Das lässt durchaus
Spielräume zu (vgl. BVerfGE 132, 195 (244); DVBl.
2014, 640 (644)). Ein mehr oder weniger vollstän-
diger Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in
                                                              15    Zur rechtlichen Quantifizierungsproblematik allgemein siehe
der europäischen Steuerpolitik wäre wegen der                      von Aswege (2016); ein paralleler Fall aus der Rechtsprechung
                                                                   ist die Beurteilung einer substantiellen Auswirkung auf
                                                                   den Landeshaushalt bei sog. Finanzausschlussklauseln
                                                                   in Verfahren direkter Demokratie durch die
14 Vgl. auch Marquardsen (2020, S. 22).                            Landesverfassungsgerichte.

                                                         11
Schlussfolgerungen
                                                                   Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                            Zum Vorstoß der EU-Kommission

4. Schlussfolgerungen

Bei der ökonomischen wie juristischen Beurtei-            (2) Unterscheidung zwischen Schaffung und
lung des Übergangs vom Einstimmigkeitsprin-               Abschaffung steuerlicher Regelungen: Denkbar
zip zu Mehrheitsentscheidungen auf dem Feld des           wäre auch, für die Einführung neuer Regelungen
Steuerrechts gilt es nach der jeweiligen Ausgestal-       es bei dem Einstimmigkeitserfordernis zu belas-
tung des Vorschlags zu differenzieren. Der Kom-           sen, für Änderungen oder für die Abschaffung
missionvorschlag möchte in vier Stufen jeweils            dieser Regelungen, zu (qualifizierten) Mehrheits-
eine generelle, d.h. dauerhafte Abkehr von der            entscheidungen überzugehen (Schön, 2018, S. 340).
Einstimmigkeit erreichen. Wie einleitend festge-          Durch eine solche Regelung wäre das Problem,
stellt, besitzt dieser Ansatz bei teilweise verständ-     einmal mit Einstimmigkeit getroffene Steuerre-
lichem Grundanliegen systematische Schwächen.             gelungen kaum wieder beseitigen oder nachbes-
Zudem könnte – wie dargelegt – bei vollständi-            sern zu können, weitgehend entschärft. Probleme
ger Verwirklichung die Haushaltsautonomie des             könnten sich in der Praxis jedoch dadurch ergeben,
Deutschen Bundestages u.U. nicht mehr gewähr-             dass die Abgrenzung zwischen einer Neuregelung
leistet werden.                                           und einer Modifikation unscharf werden kann.
                                                          Solche Abgrenzungsprobleme sind den Rechts-
Unterhalb dieser Schwellen gäbe es andere Mög-            ordnungen jedoch bekannt und könnten bewäl-
lichkeiten, um einen Teil der Nachteile von Ein-          tigt werden. Auch eine solche Regelung wäre von
stimmigkeitserfordernissen zu vermeiden oder              Art. 48 Abs. 7 AEUV gedeckt (Schön, 2018, S. 341);
zumindest abzuschwächen. Leitlinie bei der recht-         die verfassungsrechtlichen Anforderungen nach
lichen Bewertung der Vorschläge ist es, dass ein          der Lissabon-Rechtsprechung des Bundesverfas-
„Weniger“ als ein genereller Übergang zu Mehr-            sungsgerichts wären für die jeweilige deutsche
heitsentscheidungen in einem Sachbereich regel-           Entscheidung die gleichen, wie bei einem generel-
mäßig ebenfalls von Art. 48 Abs. 7 AEUV gedeckt           len Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, d.h.
wäre. Dessen Regelungen müssten freilich beach-           die Vorgaben des Integrationsverantwortungsge-
tet werden. Bei den Anforderungen hinsichtlich            setzes sind zu beachten und die Auswirkungen auf
des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen aus              die Haushalte dürfen nicht zu einem substanziel-
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-               lem Entzug der parlamentarischen Haushaltsau-
richts zu den Grenzen der europäischen Integra-           tonomie führen.
tion kommt es auf den konkreten Einzelfall an.
                                                          (3) Opt-out-Möglichkeiten zur Entlastung der Ein-
(1) Unterscheidung zwischen generellem und nur            stimmigkeit bei der Einführung steuerlicher Rege-
punktuellem Übergang zu Mehrheitsentschei-                lungen: Ferner könnte das Einstimmigkeitserfor-
dungen: Denkbar wäre etwa, für Einzelfälle vorab          dernis dadurch abgeschwächt werden, dass zwar
festzulegen, dass ein bestimmtes, konkretes Sach-         wie bei der vorherigen Variante Neuregelungen
problem mit Mehrheit entschieden werden soll.             weiterhin nur einstimmig beschlossen werden,
Das wäre sowohl von Art. 48 Abs. 7 EUV gedeckt            dann jedoch in der entsprechenden Richtlinie vor-
und stellte auch vor dem deutschen Grundgesetz            gesehen wird, dass einzelne Mitgliedstaaten sich
kein Problem dar, sofern die Vorgaben des Integra-        davon dispensieren können (sog. opt-out-Klau-
tionsverantwortungsgesetzes beachtet werden. Im           sel). Das ist nicht völlig vorbildlos. Die Mehrwert-
Steuerbereich wäre hier an administrative Fragen          steuersystemrichtlinie enthält in Abschnitt XIII
der Steuererhebung und an grenzüberschreitende            zahlreiche, zum Teil auf einzelne Mitgliedstaa-
Fragen zu denken.                                         ten individualisierte Ausnahmebestimmungen,

                                                        12
Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Schlussfolgerungen
                                                                               Zum Vorstoß der EU-Kommission

die Abweichungen von Einzelregelungen erlau-              (4) Schließlich könnte man an sog. sunset-legis-
ben. Deutlich wird, dass auch innerhalb des har-          lation denken, d.h. an Rechtssätze mit Verfalls-
monisierten Rechts Flexibilisierungsmöglichkei-           datum. Diese wurden ursprünglich einmal für
ten bestehen.                                             Geldleistungsgesetze angedacht, die nach einer
                                                          gewissen Zeit auslaufen sollten, sofern sie nicht
Ein solcher Ansatz näherte sich dem Modell des            erneuert werden16. Hierfür gibt es auf EU-Ebene
Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen durch                mit dem EU-Schiedsübereinkommen bereits ein
eine Gruppe von Mitgliedstaaten im Verfahren              erfolgreiches steuerliches Beispiel.17 Verschiedene
der verstärkten Zusammenarbeit an und teilte              Varianten der Ausgestaltung wären denkbar: Zum
mit diesem den Nachteil, dass dann insofern               einen das Erfordernis, dass nach Ablauf der fest-
gerade keine einheitlichen Regelungen im Bin-             gelegten Zeit der Rechtsakt außer Kraft tritt; für
nenmarkt vorlägen. Während jedoch bei der ver-            eine Erneuerung wäre dann erneut ein einstim-
stärkten Zusammenarbeit mit einer Teilgruppe              miger Beschluss der Mitgliedstaaten erforderlich.
der Mitgliedstaaten ein Projekt begonnen würde,           Zum anderen die automatische Verlängerung, falls
wäre die opt-out-Lösung eine nachträgliche                sich kein Mitgliedstaat dagegen ausspricht. In bei-
Abkehr einheitlicher Regelungen in der gesamten           den Fällen könnten faktisch-politische Zustim-
EU. Für die Festlegung derartiger Abweichungs-            mungshürden hinsichtlich des einstimmig zu fas-
und Opt-out-Möglichkeiten im Rahmen einzel-               senden Ausgangsrechtsakts gesenkt werden. Der
ner steuerrechtlicher Richtlinien würde zudem             entscheidende Nachteil besteht jedoch darin, dass
weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip gelten.              derartige „Verfallsdaten“ bei langfristig angeleg-
Die Gefahr fehlender Ernstlichkeit der Zustim-            ten Projekten hochproblematisch sind. Man denke
mung zu einer Richtlinie, die nur partiell bin-           nur etwa an die Harmonisierungsrechtsakte im
dend ist, ließe sich entgegenwirken, indem die            Bereich von Mehrwert- und Verbrauchsteuern.
Opt-out-Möglichkeit erst nach einer mehrjährigen          Im Steuerbereich scheint das Instrument grund-
Erprobungsphase eröffnet wird. Gleichzeitig muss          sätzlich unpassend zu sein; das in seinem Anwen-
angemerkt werden, dass eine Opt-out-Möglichkeit           dungsbereich begrenzte Schiedsübereinkommen
die unterschiedlichsten strategischen Anreize mit         stellt insofern eine Ausnahme dar. Allenfalls für
sich bringen kann. Insbesondere bei steuerlichen          eng begrenzte Regelungen mit Experimentiercha-
Regeln, die einen aggressiven Steuerwettbewerb            rakter mag sich im Einzelfall eine solche Regelung
einschränken sollen, wäre eine Opt-out-Möglich-           anbieten.
keit eher nicht dienlich.
                                                          Dafür bestehen für ein derartiges Vorgehen weder
Ein Vorteil gegenüber dem Institut der verstärk-          unionsrechtliche Hindernisse, noch Schranken
ten Zusammenarbeit wäre, dass hier kein ulti-             aus dem deutschen Verfassungsrecht, da einer-
ma-ratio-Erfordernis bestünde. Das kann man als           seits nicht vom Einstimmigkeitserfordernis abge-
Erleichterung sehen, es stellte in gewisser Weise         wichen wird und andererseits die Souveränität der
jedoch auch eine Umgehung des bewusst eng                 Mitgliedstaaten gerade geschont wird.
geführten Instruments der verstärkten Zusam-
menarbeit mit ihren differenzierten Folgen für die
Integration dar. Für zentrale steuerliche Regelun-
gen mit ausgeprägtem Bezug zum Gemeinsamen
Markt/Binnenmarkt stellen sich schnell Funkti-
onsgrenzen ein.
                                                          16    Zur sunset-legislation insgesamt etwa Funke (2011) und
                                                               Zimmermann (2003).
Eine solche Regelung wäre nicht Gegenstand von            17    Übereinkommen über die Beseitigung der
Art. 48 Abs. 7 AEUV. Der deutsche Beschluss unter-             Doppelbesteuerung verbundener Unternehmen, 90/436/
                                                               EWG, dort Art. 20; dazu etwa Weber-Grellet, in: Musil/Weber-
läge nicht dem Integrationsverantwortungsgesetz.               Grellet (2019, S. 447 ff).

                                                     13
Literatur
                                                                  Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                                           Zum Vorstoß der EU-Kommission

(5) Im Rahmen der bestehenden institutionel-            möglich. Ökonomisch wäre zu überlegen, wie ein
len Struktur der Europäischen Union wäre unter          derart ideales Modell aussehen könnte. Das über-
Beachtung der unionsrechtlichen (Art. 48 Abs. 7         steigt jedoch die hiesige Fragestellung.
EUV) und der deutschen verfassungsrechtlichen
Vorgaben die erste der von der Kommission vor-          Zu bedenken bleibt im Hinblick auf eine umfas-
geschlagenen Stufen realisierbar, d.h. sofern es um     sendere Ausweitung der Mehrheitsabstimmun-
die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unter-          gen in Steuerfragen, dass sowohl im Rat als auch
stützung in Fragen des Steuerbetrugs, der Steuer-       im Europäischen Parlament eine ungewöhnliche
hinterziehung und um administrative Initiativen         doppelte Bevorzugung kleiner Länder existiert. Es
bei der Unternehmensbesteuerung geht. In einem          spricht viel dafür, dem Übergang zu Mehrheits-
anderen institutionellen Rahmen, der eine unan-         abstimmungen in Steuerfragen eine offene Dis-
greifbare demokratische Legitimation auch der           kussion über die Verletzung des “One-(wo)man-
Steuerrechtsetzung im Unionsrecht gewährleis-           one-vote-Prinzips” im Europäischen Parlament
tete, wären demgegenüber auch im steuerlichen           vorzuschalten.
Bereich (qualifizierte) Mehrheitsentscheidungen

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Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
Literatur
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Mitgliederverzeichnis
                                                  Ende der Einstimmigkeit in Steuerfragen? –
                                                           Zum Vorstoß der EU-Kommission

Verzeichnis der Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium der Finanzen

 Prof. Marcel Thum (Vorsitzender)                        Dresden
 Prof. Jörg Rocholl (Stellv. Vorsitzender)               Berlin
 Prof. Klaus Adam                                        Mannheim
 Prof. Dieter Brümmerhoff                                Rostock
 Prof. Thiess Büttner                                    Nürnberg-Erlangen
 Prof. Lars P. Feld                                      Freiburg/Br.
 Prof. Lutz Fischer                                      Hamburg
 Prof. Nicola Fuchs-Schündeln                            Frankfurt/M.
 Prof. Clemens Fuest                                     München
 Prof. Klaus Dirk Henke                                  Berlin
 Prof. Joachim Hennrichs                                 Köln
 Prof. Johanna Hey                                       Köln
 Prof. Bernd Friedrich Huber                             München
 Prof. Wolfgang Kitterer                                 Köln
 Prof. Kai A. Konrad                                     München
 Prof. Jan Pieter Krahnen                                Frankfurt/M.
 Prof. Alois Oberhauser                                  Freiburg/Br.
 Prof. Andreas Peichl                                    München
 Prof. Helga Pollak                                      Göttingen
 Prof. Wolfram F. Richter                                Dortmund
 Prof. Nadine Riedel                                     Münster
 Prof. Kerstin Roeder                                    Augsburg
 Prof. Ronnie Schöb                                      Berlin
 Prof. Ulrich Schreiber                                  Mannheim
 Prof. Hartmut Söhn                                      Passau
 Prof. Christoph Spengel                                 Mannheim
 Prof. Klaus Stern                                       Köln
 Prof. Christoph Trebesch                                Kiel
 Prof. Christian Waldhoff                                Berlin
 Prof. Alfons Weichenrieder                              Frankfurt/M
 Prof. Dietmar Wellisch                                  Hamburg
 Prof. Wolfgang Wiegard                                  Regensburg
 Prof. Volker Wieland                                    Frankfurt/M.
 Prof. Berthold Wigger                                   Karlsruhe
 Prof. Horst Zimmermann                                  Marburg/Lahn

Stand: 26.02.2020

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