Engagiert aus eigener Erfahrung - Theresa Lippok setzt sich ein für - 2,20 EUR
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2,20 EUR davon 1,10 EUR # 283 für die Ver- November 2019 käufer/innen Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein Engagiert aus eigener Erfahrung Theresa Lippok setzt sich ein für Menschen mit besonderen Interessen
Liebe Leserinnen, liebe Leser, viele, viel zu viele Menschen sind nicht nur in Deutschland wohnungslos. Vor zwei Jahren hat sich deshalb eine schottische Initiative vorgenommen, mit einem ganz besonderen und jedes Jahr stattfindenden weltweiten Event auf diese Tatsache hin- zuweisen und Änderungen zu bewirken – mit einem winterlichen »sleep out« unter freiem Himmel. Dabei eingesammelte Spendengelder fließen in sogenannte Housing- first-Unterkünfte für Obdachlose. Bislang sind fantastische zehn Millionen Dollar zusammengekommen. In diesem Jahr findet dieses weltgrößte Event in der Nacht von Samstag, 7. Dezember auf Sonntag, 8. Dezember an 50 Orten zeitgleich statt. Auch wir von HEMPELS machen erstmals und als einziger deutscher Veranstalter mit, organisiert zusammen mit den Machern des Wacken Open Air auf deren Festivalge- lände. Wie Sie daran teilnehmen und mithelfen können, lesen Sie ab Seite 26. Etwa 30 Prozent der Erwachsenen in Deutschland wurden schon mal gemobbt. Die 24-jährige Theresa Lippok aus Kiel ist als Kind gehänselt und ausgegrenzt worden, weil sie sich für ungewöhnliche Zeichentrickfilme interessierte. Im Erwach- senenalter hat sie vor ein paar Jahren zusammen mit Freunden und Verwandten einen gemeinnützigen Verein gegründet: Nerdlicht e.V. Gemeinsam engagieren sie sich gegen Mobbing und Ausgrenzung. Ab Seite 10. Ihre HEMPELS -Redaktion gewinnspiel sofarätsel Gewinne Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt 3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im Oktober war das kleine sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann Sofa auf Seite 16 versteckt. Die Gewinner werden im Dezember schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de veröffentlicht. oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns Im September haben gewonnen: ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird. Gerhard Dold (Altenholz), Christian Meier (Bergenhusen) und Christel Wenzel (Flensburg) je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Allen Einsendeschluss ist der 30.11.2019. Gewinnern herzlichen Glückwunsch! Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen. 2 | inh a lt Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Titel NICHT ALLEIN Viele Menschen sind von Mobbing betroffen. Auch die 24-jährige Theresa Lippok aus Kiel ist als Kind gehänselt Titelfoto: Peter Werner und ausgegrenzt worden, weil sie sich für ungewöhnliche Zeichentrickfilme interessierte. Um sich gegen Mobbing und Ausgrenzung zu engagieren, hat sie zusammen mit anderen einen gemeinnützigen Verein namens Nerdlicht gegründet. Ein Besuch. se i t e 10 das Leben in zahlen auf dem sofa 4 Ein etwas anderer Blick 34 Unser Verkäufer Achim auf den Alltag aus Lübeck bild des monats Inhalt 6 Wir zwei 2 Editorial 31 rezept 32 CD-Tipp; Buchtipp; Kinotipp 33 Service: Mietrecht; Sozialrecht Schleswig-Holstein Sozial 36 Leserbriefe; Impressum 8 Meldungen 37 Verk äufer in anderen LÄNDERN; Meldung 9 Darf ich das? Gewissensfragen im Alltag 38 Sudoku; K arik atur 17 Wohnen als Menschenrecht 18 Gefangene schreiben in HEMPELS 39 Satire: Scheibners Spot 26 Weltgrößtes »sleep out«: HEMPELS lädt nach Wacken ein 30 Wie ich es sehe: Kolumne von Hans-Uwe Rehse Bitte kaufen Sie HEMPELS nur bei Verkäufern, die diesen Ausweis sichtbar tragen He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 inh a lt | 3
das leben in zahlen Befristete Arbeitsver- hältnisse weit verbreitet Im vergangenen Jahr 2018 waren laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 2,7 Millionen Menschen ab 25 Jahren befristet beschäftigt, was 8 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entspricht. 1,5 Millionen hatten einen Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit von weniger als einem Jahr. In jedem 5. Fall betrug die Befristung ein bis unter zwei Jahre. Jeder 3. Beschäftigte ist ein befristetes Arbeitsverhältnis nur deshalb eingegangen, weil er oder sie keine Dauerstelle gefunden hat. pb 2,7 Mio. 1,5 Mio. Befristungen insgesamt unter 1 Jahr 4 | das l ebe n in z a hl en Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Vollzeitbeschäftigung für Niedriglohn weit verbreitet 4,14 Millionen Menschen – 19,3 Prozent aller Beschäftigten – müssen in Deutschland für einen Niedriglohn arbeiten. Das ergab die Antwort des Berliner Arbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl. Die sogenannte Niedriglohnschwelle beträgt in Deutschland 2203 Euro brutto. Jeder 5. Arbeitnehmer in Deutschland verdient damit weniger als 2203 Euro brutto im Monat. PB Foto: Pixabay He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 das l ebe n in z a hl e n | 5
Augen auf bei der Partnerwahl! Das gilt nicht nur in beruflichen Zusammen- hängen; diese professionellen Eistänzer jedenfalls machen schon den Eindruck, dass sie gut zueinander passen. Im pri- vaten Leben manch anderer Menschen hingegen ist das ja manchmal so eine Sache: Da hat man es monate-, gele- gentlich sogar jahrelang miteinander versucht, hat alle Schwüre der Welt ge- leistet, welch prima Beziehungsgespann man doch sei, und dann – peng, aus und vorbei, die Beziehung endet in einem Scherbenhaufen, selbst die schicksten Tigerhöschen helfen nicht mehr. Worauf wir hinauswollen: Wenn eine Beziehung den Geist aufgegeben hat, folgt häufig die nächste. Und wer jetzt denkt, das oberste Primat bei der Suche nach diesem neuen Partner müsste be- stimmt doch lauten, bloß nicht wieder auf so einen Dösbaddel reinzufallen wie die oder den vorherigen, der irrt. Und zwar gewaltig. Jedenfalls haben kanadi- sche Psychologen mit einer Vergleichs- studie herausgefunden, dass wir Men- schen dazu neigen, bei der Partnerwahl immer wieder auf ähnliche Persönlich- keitstypen zurückzugreifen. Es scheint, dass wir in unseren Köpfen eine mehr oder weniger klare Vorstellung vom ei- genen Beuteschema haben und von den Eigenschaften einer Person, der wir uns tiefer hingeben möchten. Warum das so ist, warum wir uns trotz schlechter Erfahrungen ausge- rechnet wieder einen ähnlichen Dep- pen an die Backe heften? Steckste nich' wirklich drin, sagen die Wissenschaft- Foto: REUTERS / Issei Kato ler. Vielleicht ja einfach deshalb, weil Menschen ihr gewohntes soziales Um- feld insgesamt wichtig ist. Und das – das Bedürfnis nach Vertrautheit unterein- ander, also aufgepasst bei der Partner- wahl! – wäre dann doch tatsächlich auch eine ziemlich positive Nachricht. PB He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 bil d de s mon at s | 7
meldungen +++ +++ Bundesregierung beschließt Einführung von Statistik zu Studie: Arme und Arbeitslose haben höchstes Sterberisiko Wohnungslosigkeit Forscher vom Max-Planck-Institut für demografische For- Die Bundesregierung hat die Einführung einer bundeswei- schung in Rostock haben errechnet, dass Arbeitslose und ten Statistik zur Wohnungslosigkeit beschlossen. Ein jetzt Arme das höchste Sterberisiko in Deutschland haben. Sie vorgelegter Gesetzentwurf sieht vor, dass das Statistische nutzten dafür einen anonymisierten Datensatz der Deutschen Bundesamt ab 2022 jährlich eine Statistik über untergebrachte Rentenversicherung, der 27 Millionen Versicherte umfasst. Bei Wohnungslose vorlegt. Erfasst werden sollen dabei Woh- Männern des am schlechtesten verdienenden Fünftels lag die nungslose, die Leistungen zur Unterbringung in Anspruch Sterblichkeit um 150 Prozent über dem des am besten ver- nehmen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe dienenden Fünftels. Schlechtere Bildung erhöhte das Sterbe- hat den vorgelegten Gesetzentwurf begrüßt. Sie schätzt, dass risiko für Männer um etwa 30 Prozent. Bei den Frauen seien in Deutschland rund 650.000 Menschen wohnungslos sind. pb die Unterschiede vor allem beim Einkommen weniger stark ausgeprägt. epd +++ +++ Schere zwischen Arm und Reich wird größer Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Deutschland weiter Segeberg: Einen Teil des Einkaufs der Tafel spenden auseinander. Laut einer neuen Studie des Wirtschafts- und So- In Bad Segeberg können Kunden in einem Edeka-Supermarkt zialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung hat im Zuge eines Modellprojektes jetzt einen Teil ihres Einkaufs die Ungleichheit bei den Einkommen einen neuen Höchststand der örtlichen Tafel spenden. Zweimal in der Woche kommt erreicht. Immer mehr Einkommen konzentriere sich bei den ein Mitarbeiter der Tafel und holt die Waren ab. Wenn das sehr Reichen. Hingegen sei die Zahl der Haushalte, die weniger Pilotprojekt erfolgreich ist, soll es bald auf weitere Tafeln in als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben Hamburg und Schleswig-Holstein ausgedehnt werden. Der und deshalb als arm gelten, zwischen 2010 und 2016 von 14,2 Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisiert dies auf 16,7 Prozent gestiegen. pb als »Geschäftemacherei mit der Not der Menschen«. Es sei zudem »nicht die Aufgabe von Kunden dazu beizutragen, dass +++ arme Menschen etwas zu essen bekommen«. epd Schleswig-Holstein fördert Frauenhäuser +++ Das Land Schleswig-Holstein will die Hilfestrukturen für von Gewalt betroffene Frauen weiter verbessern. Frauenhäuser seien dabei ein unverzichtbarer und wichtiger Bestandteil, so Gleich- stellungsministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) anlässlich der Übergabe eines Förderbescheids für ein neues Frauenhaus Weitere Nachrichten finden Sie auf unserer Homepage: mit 18 Plätzen in Itzehoe. Weitere Frauenhäuser würden folgen, www.hempels-sh.de bereits in wenigen Wochen ein Neubau in Rendsburg. Insge- samt stünden für Investitionen in Frauenhäuser 6,8 Millionen Euro Fördermittel zur Verfügung. pb HEMPELS IM RADIO Jeden ersten Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster Sendetermin ist am 4. November ab 17.05 bis 18 Uhr. Wiederholt wird die Sendung am darauf folgenden Dienstag ab 10 Uhr. Das HEMPELS-Radio bietet einen Überblick über einige wichtige Themen des aktuellen Heftes und will zugleich Einblicke in weitere soziale Themen aus der Hansestadt ermöglichen. Zu empfangen ist der Offene Kanal im Großraum Lübeck über UKW Frequenz 98,8. Oder online über den Link »Livestream« auf www.okluebeck.de 8 | me l dungen Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
gewissensfragen im alltag Darf ich das? Foto: Luitgardis Parsie Foto: Dirk Sander Foto: NDR Klaus Hampe Luitgardis Parasie Sabine Hornbostel Frage eines Mannes: Mir gehen immer mehr die vielen Unglück, dass sich nun mal nicht verhindern lässt. Und Glück, Menschen auf die Nerven, die ständig darüber jammern, das sich nicht erzwingen lässt. was alles schwierig ist in ihrem Leben, aber nicht bereit Sie scheinen eine besondere Sensibilität für Menschen sind, irgendetwas zu verändern. Mich macht das nur zu haben, die klagen und jammern. Vielleicht ist es ja auch noch ärgerlich. Schließlich ist doch jeder seines Glückes bei manchen übertrieben. Aber auch das Klagen muss Raum Schmied, oder? bekommen im Leben. Denn gemeinsam in ein Klagelied über die Ungereimtheiten des Alltags einzustimmen, das schafft Sabine Hornbostel: Ist das wirklich so? Ist jeder seines Nähe. Das verbindet. Andere leiden also genauso wie ich. Die- Glückes Schmied? Ich höre daraus: Du bist selbst schuld, wenn ses Erlebnis schafft Entlastung. Außerdem ist dieses Glück- es dir schlecht geht. Also los, tu was, nimm dein Schicksal schmieden gar nicht leicht. Denn das bedeutet Veränderung. in die Hand. Aber: Wenn das wirklich so ist, sind wir dann Und Veränderung macht oft Angst. Veränderung heißt auch auch verantwortlich für das eigene Un-Glück? Wie ist das mit immer, etwas Vertrautes zu beenden, loszulassen. Darum drü- Menschen, deren Leben aus vielerlei Gründen einfach nicht cken sich viele vor Veränderung. Und legen nicht gleich jede gelingen will? Die arbeitslose Kassiererin zum Beispiel, bei der Unzufriedenheit ins Schmiedefeuer. Und manchmal braucht es großen Unternehmensfusion wurde sie entlassen. Oder die auch Hilfe und Anleitung, um aus lähmender Unzufriedenheit an Krebs erkrankte junge Mutter? Haben sie wirklich alle ihr heraus die Veränderung zu wagen. Glück nicht richtig geschmiedet? »Jeder sei seines Glückes Schmied«, diese Variante finde ich Psychologisch nennt man so eine Haltung »Angstabwehr«. viel schöner. Denn damit wird uns in die Hand gelegt, aus dem, Ich suche nach Gründen, warum mir persönlich dieses Un- was Gott uns anvertraut hat, das Beste zu machen. glück nicht passieren kann. So schaffe ich Distanz. Und damit bin ich raus aus der Verantwortung, die wir auch füreinander haben. Denn – wenn das Glück schmiedbar ist, dann muss ja auch das Unglück handhabbar sein. Wer das glaubt, leugnet allerdings die Tatsache, dass es so etwas wie Schicksal gibt. »Darf ich das ? Gewissensfragen im Alltag« ist ein Nachdruck einer R adio-Rubrik der E vangelischen K irche im NDR. Im regelmäS Sigen Wechsel beantworten K l aus Hampe, L eiter der Öffentlichkeitsarbeit des E vangelisch- lutherischen Missionswerks in Niedersachsen, Luitg ardis Par asie, Pastorin und Buchautorin, sowie Sabine Hornbos tel , L ektorin und T herapeutin, F ragen zur Alltagsethik . Mehr dazu unter www.radiokirche.de He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 ge wis sensf r age n im A l ltag | 9
Rubrik titel Nicht allein Als Schülerin wurde Theresa Lippok gehänselt und ausgegrenzt, weil sie sich für ungewöhnliche Zeichentrickfilme interessierte. Als Erwachsene hat sie nun einen Verein gegründet, der sich für Menschen mit besonderen Interessen engagiert TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: PETER WERNER Am frühen Freitagabend ist nicht Interessen haben. Und sich mit ihren viel los an der Kieler Uni. Nur wenige Interessen ungewöhnlich stark iden- Studierende schlendern noch über den tifizieren. Menschen, die deshalb bei Campus. Und nur vereinzelt scheinen vielen als Nerds gelten – sie möchte Lichter aus sonst dunklen Häuserfas- Theresa Lippok unterstützen. Darum saden. Eines dieser Lichter hat Theresa ist sie hier. Lippok angeknipst. »Kein Zweifel: Ich bin ein Nerd«, Obwohl auch die Deutsch- und Päd- sagt die 24-Jährige. Ein was? Wiki- genauer: abwertend meist. Doch man agogik-Studentin um diese Zeit keine pedia definiert Nerd als Begriff für kann es auch anders sehen: »Wir inte- Kurse mehr hat, sitzt sie in einem Se- Menschen mit Spezialinteressen sowie ressieren uns für einige Dinge einfach minarraum. Der Grund: Sie setzt sich sozialen Defiziten. Und laut Duden mehr als andere – mehr hat es mit un- für Menschen ein, die erlebt haben, werden so intelligente, jedoch sozial serem Nerd-Sein nicht auf sich«, sagt was sie erlebt hat. Die ausgegrenzt und isolierte Computerfans bezeichnet. Theresa Lippok. Im Fall der Kielerin gehänselt wurden, weil sie besondere Der Begriff ist also wertend gemeint – sind diese Dinge vor allem Disney-Fil- 10 | t i t el Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
»Theater spielen« steht heute auf dem Nerdlicht-Programm. Mit dabei: Werner Erich, Luis Uhde, Theresa Lippok und Max Niewöhner (v.l.n.r.). me und -comics sowie Animes, japani- te Nerds sind, begeistern sich etwa für nur ein bisschen interessieren, sondern in sche Zeichentrickfilme. Harry-Potter-Bücher, Superhelden-Fil- unserem Interesse aufgehen – uns darin Worauf sich Nerd-Leidenschaft bezie- me oder Computerspiele. »Mein Freund verwirklichen wollen.« Sie meinen es, so hen kann, ist divers: Freunde von The- liebt Fantasy; das ist eher nicht so meins.« könnte man vielleicht zusammenfassen, resa Lippok, die ebenfalls selbsternann- Was alle verbindet? »Dass wir uns nicht einfach sehr ernst damit. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 t i t e l | 11
Rubrik titel Um sich für andere Nerds einzusetzen, hat Theresa Lippok zusammen mit Freunden und Verwandten Nerdlicht e.V. gegründet. Bereits im Kindergarten-Alter war aufgedruckten Comic- oder Compu- Theresa Lippok großer Fan von Zei- terspiel-Figuren. Einige Mitschülern chentrickserien. fanden das merkwürdig – zu merk- würdig: Sie wurde angefeindet und gemobbt, wurde zur Außenseiterin. »Ständig musste ich mich dafür recht- »Ständig musste ich mich fertigen, warum ich so bin wie ich bin.« Doch es gab auch einen Ort, an rechtfertigen, warum ich dem sie das nicht musste. An dem je- der wusste, warum sie so ist wie sie so bin wie ich bin« ist. Dieser Ort waren die Treffen von Anime-Fans in Kiel. Als Neuntkläss- lerin besuchte Theresa Lippok sie zum ersten Mal und traf dort Menschen, die gefunden. Das gab mir die Kraft, wei- Es waren Serien, die viele Kinder Zeichentrickfilme aus Japan so leiden- ter zur Schule zu gehen, obwohl ich mochten. »Doch ich war fanatischer: schaftlich liebten wie sie. »Da habe ich mich dort so unwohl gefühlt habe.« So wollte ich mich von morgens bis begriffen: Ich bin gar nicht so merk- Zu wissen, dass man nicht allein ist, abends mit nichts anderem als diesen würdig wie meine Mitschüler behaup- hilft. Das hat Theresa Lippok erfahren. Serien beschäftigen – und konnte nicht ten.« Für sie war das ein Wendepunkt »Und ich möchte, dass das noch mehr begreifen, dass es nicht allen so geht.« in ihrem Leben: »Auf den Fan-Treffen Menschen mit ungewöhnlichen Inte- Zur Schule trug sie dann Shirts mit habe ich Gleichgesinnte und Freunde ressen erfahren.« Darum hat sie 2017 12 | t i t e l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Theresa Lippok, Luis Uhde und Werner Erich (v.l.n.r.) lachen während einer improvisierten Theater-Szene. Trotzdem wird es niemals albern – jeder nimmt seine Rolle ernst. zusammen mit Freunden und Ver- Events, bei denen sich Gleichgesinnte gemeinsam zu K-Pop, koreanischspra- wandten einen gemeinnützigen Verein treffen, um sich über ihre Interessen chiger Popmusik. Fast alle Events fin- gegründet: Nerdlicht e.V. – benannt auszutauschen und zusammen Spaß zu den in Räumlichkeiten der Kieler Uni nach einem Wortspiel aus Nordlicht haben. statt, die sie kostenlos nutzen dürfen. und Nerd. Im Verein engagieren sich Bei den Treffen spielen sie Compu- Die meisten der 14- bis 50-jährigen rund 30 Mitglieder sowie etwa 60 wei- ter- oder Brettspiele. Sie veranstalten Mitglieder stammen aus Kiel oder tere Unterstützende gegen Mobbing Quiz-Shows zu Nerd-Themen oder dem Umland und viele von ihnen stu- und Ausgrenzung. Sie organisieren Zeichenwettbewerbe. Oder sie tanzen dieren hier. Im Seminarraum, in dem He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 t i t e l | 13
titel der HEMPELS-Reporter einst Latein lernte, schiebt Theresa Lippok nun das Dozenten-Pult beiseite. »Da habe ich begriffen: Ich bin gar nicht so merkwürdig« Der freie Raum wird als Bühne be- nötigt – »Theater spielen« steht heute auf dem Nerdlicht-Programm. Mit da- bei ist Luis Uhde. »Es macht einfach Spaß, andere Nerds zu treffen«, sagt der 33-Jährige. Auf Anweisung von Spiel- leiterin Theresa Lippok müssen sieben Gemeinsam mit seiner Tochter engagiert sich Stefan Lippok im Nerdlicht e.V.: Teilnehmende verschiedene Szenen »Ja, ich bin wohl auch Nerd – wie auch meine Frau und meine andere Tochter.« »Kein Zweifel: Ich bin ein Nerd«: Deutsch- und Pädagogik-Studentin Theresa Lippok im HEMPELS-Interview. 14 | t i t e l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
improvisieren: einen Schwertkampf, eine kirchliche Trauung, die Arbeit von Weihnachtswichteln oder einen Yoga- Kurs. Was auffällt: Alle lachen, aber Mobbing niemand wird während seiner Dar- bietung ausgelacht. Und obwohl einige bezeichnet wiederholte und zielge- in Deutschland schon einmal gemobbt. Szenen sehr skurril sind, wird es nie- richtete Angriffe oder Demütigungen Hilfesuchende können sich etwa an mals albern – jeder nimmt seine Rolle gegen eine Person durch eine Grup- das Mobbingnetzwerk-Nord wenden ernst. pe. Das Ziel der Mobbenden ist die – im Internet unter www.mobbingbe- Während des Schauspiels fragt sich Ausgrenzung der betroffenen Person. ratungsstelle.de oder telefonisch unter der HEMPELS-Reporter, ob er nicht Mobbing gibt es beispielsweise in Schu- (04 31) 26 09 99 16. Rund 100 bis 200 auch ein Nerd war. Theresa Lippok len, am Arbeitsplatz, in Familien, in überwiegend weibliche Betroffene aus hatte zuvor als Beispiel für ihr Nerd- der Nachbarschaft oder als sogenann- allen Altersstufen melden sich pro Jahr Sein erzählt, dass sie ihre Kinderzim- tes Cybermobbing im Internet. Folgen beim Mobbingnetzwerk-Nord. MGG mer-Wände einst lückenlos mit Postern von Mobbing können unter anderem von »Findet Nemo«, einem Animati- Selbstzweifel, ein sozialer Rückzug, onsfilm über einen Clownfisch, vollge- Angstzustände oder Depressionen sein. hängt hatte. Das war beim HEMPELS- Einer Studie von 2018 vom »Bündnis Reporter früher ähnlich; nur waren auf gegen Cybermobbing« zufolge wur- den Postern keine animierten Fische den etwa 30 Prozent der Erwachsenen zu sehen, sondern Fußball-Stars. Als merkwürdig galt das nie. Vielleicht ist Luis Uhde (li.) und Max Niewöhner beim Theater-Abend von Nerdlicht: Auf Anweisung von Spielleiterin Theresa Lippok müssen sie eine Szene improvisieren. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 titel | 15
titel ein wichtiges Nerd-Kriterium bloß die er seiner Tochter dabei, das Brettspiel- Antwort auf die Frage: Entspricht das Treffen vorzubereiten, das nach dem eigene Interesse dem der Mehrheit – »Man darf auch ohne Theater stattfinden soll. »Ja, ich bin oder weicht es davon ab? wohl auch Nerd – wie auch meine Frau Nicht alle Mitglieder und Unter- schlechte Erfahrungen bei und meine andere Tochter«, sagt der stützende werden oder wurden ausge- 52-jährige Stefan Lippok und lacht. grenzt. Luis Uhde etwa, der vor allem uns Spaß haben« Früher schaute die ganze Familie ge- auf Science-Fiction, Fantasy und Brett- meinsam Science-Fiction-Serien und spiele steht, trifft auch außerhalb von spielte zusammen Videospiele. Heute Nerdlicht-Veranstaltungen oft Gleich- sind sie alle Mitglieder bei Nerdlicht. gesinnte. Und auch andere Teilnehmen- Ihr Engagement würde Theresa Lip- Auch an diesem frühen Freitag- de des Theater-Abends wurden nie we- pok gerne zu ihrem Beruf machen. Sie abend, an dem sonst kaum etwas los gen ihrer Interessen gemobbt. Zwar hat ist ausgebildete Erzieherin und betreut ist an der Kieler Uni, verbringen Vater Theresa Lippok ihren Verein gegrün- neben ihrem Studium Kinder und Ju- und Tochter Zeit miteinander. Weil sie det, um Menschen zu unterstützen, die gendliche einer Kieler Gemeinschafts- Nerds sind. Und weil sie sich für ande- das erlebt haben – »aber natürlich darf schule. Ihr Zukunftstraum: »Ein Ju- re Nerds einsetzen. man auch ohne schlechte Erfahrungen gendhaus eröffnen, in dem ich mich bei uns Spaß haben«. Mit vielen Ver- für Kinder mit ungewöhnlichen Inte- einsmitgliedern hat sie darüber gespro- ressen einsetze – am liebsten natürlich chen, was es bedeuten kann, wenn man in Verbindung mit Nerdlicht.« bei anderen als merkwürdig gilt: »Vie- Und Nerd wird sie wohl auch selbst len ging es so wie mir – anderen noch bleiben. Zumal das keine Altersfrage schlimmer: Sie wurden verprügelt, weil zu sein scheint. Denn neben ihr im Se- sie Nerds sind.« minarraum sitzt ihr Vater. Zuvor half 16 | t i t el Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Wohnen muss Menschenrecht sein Alles und alle werden heutzutage vermessen, statistisch erfasst, in Tabellen gesteckt. Nur eine Gruppe scheint nicht zu interessieren: die Obdachlosen. Auch wenn wir keine Zahlen kennen, gefühlt werden es immer mehr. Auch erwerbstätige, gesunde, ehrliche und fleißige Menschen werden obdachlos. Schnell steigende Mieten, ein rückgängiger Bestand von bezahlbarem Wohnraum, immer größere Entfernungen zwischen Wohnen und Arbeiten tun das Ihre. Wir nähern uns amerikanischen Verhältnissen. Bis in die Mittelschicht hinein ist dort zu hören, wie nahe man der Obdachlosigkeit ist. Wohnen muss ein Menschenrecht sein. Dazu gehören bezahlbarer Wohnraum, ausreichende Einkommen, ein höherer Mindestlohn, die Sicherung und Anpassung des Wohngelds. Wir brauchen mehr und bessere Unterkünfte für Obdachlose, die sicherer und auch für Partner oder Tiere zugänglich sind. Hilfsstrukturen müssen an die Bedarfe angepasst und auch Erwerbstätigen offenstehen. JUTTA ALLMENDINGER, 63, PR ÄSIDEN- TIN WISSENSCHAFTSZENTRUM BERLIN FÜR SOZIALFORSCHUNG (WZB) Zitiert aus: Süddeutsche Zeitung Foto: Inga Haar He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 17
Schleswig-holstein sozial Gefangene schreiben in HEMPELS Neue Texte aus den Justizvollzugsanstalten in Neumünster und Lübeck ILLUSTRATIONEN: TIM ECKHORST Mit welchen besonderen Emotionen haben Gefangene in Bereits seit Frühjahr 2011 arbeitet eine solche Schreib- Haft zu tun? Wie erleben sie ihre Situation, was hilft ihnen, da- werkstatt in der JVA Lübeck, seit diesem Frühjahr nun auch mit umzugehen? Und auch: Wie helfen ihnen Haft und Teilnah- in der JVA Neumünster. Angeleitet werden beide Gruppen me an Gruppenangeboten, sich auf ein straffreies Leben nach von dem Journalisten und HEMPELS-Redaktionsleiter Peter der Haft vorzubereiten? Mit solchen Fragen beschäftigen sich Brandhorst. In der dargebotenen Form sind beide Schreib- immer wieder die Teilnehmer der von HEMPELS mittlerweile werkstätten einmalig in Deutschland. 2015 wurde HEMPELS in zwei Schleswig-Holsteinischen Justizvollzugsanstalten an- dafür mit dem Ingeborg-Drewitz-Preis ausgezeichnet. gebotenen Schreibwerkstätten. In dieser Ausgabe veröffentli- chen wir eine Auswahl dort entstandener Gefangenentexte. Du und ihr Uwe ist in U-Haft und denkt an die Zeit vorher mit Frau und Kindern Ich sitze in meinem Haftraum am Schreibtisch, Liste. Die Wochenenden sollten der Familie gehören. schau mir die Bilder meiner Familie an, mein Blick geht Und dann klingelte das Telefon. Schnell waren Frau durch das Fenster nach draußen. Immer wieder stelle und Kinder vertröstet, und man war wieder unterwegs. ich mir die Frage, was in dieser besonderen Situation Mal eben schnell helfen, mal eben ganz schnell. Sätze, für mich jetzt wichtig ist. die eigentlich schon fast täglich fielen. Ich bin nun 46 Jahre alt. Eigentlich ein Alter, wo man Essen, leben, lieben, lachen sollte meist unsere Zeit geerdet ist und fest auf dem Boden steht. Man trägt am Abend bestimmen, die Stunden, bevor wir ins Bett Verantwortung, nicht nur für sich, sondern auch für gingen. Sehr oft aber blieb dafür keine Zeit. Wie oft Freunde und natürlich für die Familie. Zeit zum Aus- habt ihr auf mich gewartet und mir blieb nur, die schla- ruhen zu haben stand immer ganz oben auf meiner fenden Kinder ins Bett zu bringen und mir eine Decke 18 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
zu nehmen, um mich zu dir, meiner lieben Frau, aufs bin jetzt fünf Monate weg, die Post wird weniger, be- Sofa zu legen. Trotzdem noch kurz eine Nachricht an ziehungsweise: Kaum noch erreicht mich ein Brief. die Freunde, ich bin jetzt zu Hause. Viele Freunde haben sich abgewendet, sie wollen den Ein Kuss weckte mich häufig um vier Uhr in der Prozess abwarten. Kaum einer schreibt beziehungs- Frühe. Du musstest aufstehen, dein Dienst begann weise glaubt mir unbesehen, was ich sage. bald. Ich durfte aber noch zwei Stunden schlafen. Meine Tür wird aufgeschlossen, der Riegel knallt Dann wie immer derselbe Trott. Arbeiten, ein, zwei nach hinten. Ich beeile mich, ans Telefon zu kommen. Überstunden, dann noch mal eben schnell kurz hel- Du sitzt mit den Kindern auf dem Sofa und wartest fen, es ist 20 Uhr am Abend und ich fahre endlich auf meinen Anruf. nach Hause. Die Kinder schlafen, ich nehme meine Decke und lege mich zu dir. Uwe (Vorname geändert), 46. In der JVA Ich sitze hier nun an meinem kleinen Schreibtisch Neumünster in U-Haft wegen einer Ge- in meiner Zelle. Nur wenig Post erreicht mich. Ich waltstraftat. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 19
Schleswig-holstein sozial Was wird dann sein? Wie der Gefangene Peter an den Moment seiner Entlassung denkt Was ist heute für ein Tag, wer bin ich, was bin ich? re Gedanken; ich habe sie für mich allein. Wer werde Wer war ich? Was wird heute sein, was war gestern, ich am Tag der Entlassung sein, was werde ich sein? was wird morgen sein? Was tun andere Menschen Wird die Sonne scheinen oder wird es regnen? Werden heute, was werden sie morgen oder übermorgen tun? die Menschen reden oder schweigen? Worüber reden sie, worüber werden sie reden? Wird Im Moment glaube ich, ich möchte nach der Entlas- morgen die Sonne scheinen oder wird es regnen? sung lieber unsichtbar sein. Denkt man an mich oder hat manch einer mich schon längst vergessen? Was denkt man über mich? Peter (Vorname geändert), 54, Gefangener Was wird man über mich denken? Was dachte man in der JVA Neumünster. Wegen Körper- überhaupt über mich? Früher kannte man mich, wie verletzung und Betruges zu vier Jahren wird es später sein? Wird man mich dann sehen oder Haft verurteilt. bin ich unsichtbar? Wird man mit mir reden oder nur über mich? Wird man vielleicht schweigen? Wer bin ich, was bin ich, wer war ich? Wer werde ich sein? Fragen, die ich mir seit 33 Monaten stelle. Frage ich mich das einfach nur so? Nein, seit 33 Monaten bin ich im Knast, seit 33 Monaten habe ich diese und ande- 2 0 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
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Schleswig-holstein sozial Alles sprudelt dann auf das Blatt Papier Wie Schreiben dem Gefangenen Alexander hilft Kloß im Hals wird kleiner, ich bekomme sogar gefühlt mehr Luft. Luft der Hoffnung! Mei- ne Suche nach dem Sinn des Lebens wird für mich klarer. Ich gehe im Geiste meine Ziele durch und überlege, wie ich sie Stück für Stück errei- chen kann. Ich überlege, was ich tun muss, um sie erreichen zu können. Und was sollte ich lieber lassen? Manchmal mer- ke ich, dass ich für meine Ziele auch Opfer bringen muss oder etwas aufgeben. All diese Fra- gen machen mir nicht mehr so viel Angst, seit ich sie auf- schreibe. Ich werde selbstbe- wusster und habe Zuversicht. Durch das Schreiben öff- nen sich mir die Augen. Es ist wie eine Sitzung beim Psy- Ich schreibe hier in Haft viel, praktisch jeden Tag. chologen des Vertrauens. Mir geht es spürbar besser, ja Aber warum schreibe ich, was macht das Schreiben mit sogar mein Umfeld profitiert davon. Denn ich bin we- mir? Für mich geht es um das Aufschreiben von Ängs- niger depressiv und spürbar selbstbewusster. Ich habe ten, Gedanken, Gefühlen und allem, was mir wichtig ist. sogar schon einige meiner Ziele und Veränderungen er- Dabei stelle ich jedes Mal fest, wie konzentriert ich beim reicht; ich weiß inzwischen was ich will und was nicht. Schreiben werde und wie unwichtig alles um mich he- Ich erwarte keine Wunder mehr, sondern arbeite an mir rum. Die Rufe und der Lärm auf dem Flur und an den und meinem ICH. Gitterfenstern blende ich dann aus. Jeder von uns hat ein Päckchen zu tragen, der eine ein Beim Schreiben bin ich in einer Art »Meditation«, da- größeres, der andere ein kleineres. Wichtig ist, wie man bei aber total konzentriert. Ich schreibe aus dem Bauch damit umgeht. Ich habe meinen Weg gefunden, weiß heraus einfach drauflos; alles was mich beschäftigt, auch aber genau, dass ich immer noch am Anfang bin. meine angestaute Wut, das alles sprudelt dann auf das Blatt Papier. Ich schreibe auch über das Ungewisse, das Alexander (Vorname geändert), 31. In der jeder hier kennt und jeden bedrückt und die Gefangenen JVA Neumünster in U-Haft wegen Dieb- sogar Dinge tun lässt, die sie in Freiheit sonst nicht tun stahls. würden, zum Beispiel sich selbst zu verletzen. Selbstver- letzungen sehe ich hier häufiger. Durch das Aufschreiben merke ich, wie sich bei mir etwas verändert. Meine Stimmung wird besser, der 2 2 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Größtes Glück und größter Schmerz Nachdem Levin in Haft kam, erfuhr er, bald Vater zu werden Ich werde Vater, und jetzt sollte man denken, das wäre Wünsche endet vorerst in Verzweiflung, Ohnmacht ein Grund zur Freude. Aber ich sitze im Gefängnis. und Hilflosigkeit. Ich wollte immer erst dann Vater Ich bin nicht zum ersten Mal im Knast, aber ich wer- werden, wenn mein Leben in geregelten Bahnen läuft de zum ersten Mal Vater. Und jeden Tag frage ich mich, und ich meinem Kind eine Perspektive bieten kann. wie wird es sein? Wie wird es sein, wenn ich die Geburt Und jetzt stehe ich am Abgrund. Mein größtes Glück verpasse? Wie wird es sein, wenn ich meinem Kind hier ist gleichzeitig mein größter Schmerz. hinter den Gefängnismauern begegne? Will ich mein Kind in dieser Umgebung überhaupt sehen? Levin (Vorname geändert), 29. In der JVA Das größte Wunder der Biologie, die größte Freude, Neumünster in U-Haft wegen Einbruch- die man verspüren kann – und einer meiner größten diebstahls. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 2 3
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Ein weiterer Schritt voran Was Manfred über die Haft und die Mitarbeit in der Schreibgruppe denkt Wäre ich nicht in Haft gekommen, hätte ich nie je so Die Schreibgruppe hat mir gutgetan. Ich bedanke über meine Zukunft nachgedacht, so wie ich das heute mich, dass ich an ihr teilnehmen konnte und durfte. In tue. Ein ganz klares Nein! Vielleicht hätte mich irgend- drei Wochen werde ich auf Therapie gehen. Ein weite- wann der Alkohol dahingerafft, obwohl ich immer ge- rer Schritt auf meinem neuen Lebensweg. sagt habe, dass ich kein Alkoholiker bin. Das hat sich für mich ja auch immer gut angehört, doch die Wirk- Manfred (Vorname geändert), 54. Gefan- lichkeit sah anders aus. gener in der JVA Lübeck, wegen Trunken- Das soll aber nicht heißen, dass ich mich im Knast heit im StraSSenverkehr zu zwei Jahren wohlgefühlt habe, auf keinen Fall. Jeder Tag war für Haft verurteilt. mich ein schwerer Tag, ich habe geflucht, geschimpft und gebetet. Aber ich habe hier an ein paar Gruppen teilgenommen und aus jeder meinen Teil fürs Leben mitgenommen. Jede Gruppe hat ihren eigenen Charak- ter, die Schreibgruppe ist für mich die ruhige Gruppe (aber nur, wenn S. mal kurz den Mund hält – grins). Man freut sich auf die Sitzungen, ich persönlich habe immer das Gefühl: Man sieht den Gruppenleiter, und von mir fällt die Last der letzten Tage ab. Für mich strahlt er Ruhe, himmlische Ruhe aus. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 25
Schleswig-holstein sozial HEMPELS bei weltgrößtem Event gegen Wohnungs losigkeit dabei Am 7. Dezember organisieren wir mit den Machern des Wacken Open Air ein »sleep out« unter freiem Himmel. Mitmachen kann jeder TEXT: LUTZ REGENBERG FOTOS: JEFF HOLMES, EUAN ROBERTSON (1) Soviel ist schon jetzt sicher: Es wird Wacken Open Air mit einem Über- Event gegen Wohnungslosigkeit. Mit- eine ungewöhnliche Veranstaltung an nachtungsprojekt auf das wachsende machen können bis zu 300 Personen. einem besonderen Ort werden. Denn Problem der Obdachlosigkeit aufmerk- Die Teilnehmer nehmen vor Ort ab 16 am Samstag, 7. Dezember, machen wir sam. Unsere Veranstaltung wird ein- Uhr teil an Konzerten, Lesungen und von HEMPELS auf dem Gelände des gebettet sein in das derzeit weltgrößte Gesprächsrunden und verbringen an- schließend die Nacht in einem selbst mitgebrachten Schlafsack. Aber der Reihe nach: Seit zwei Jah- ren organisiert die Initiative »World's Big Sleep Out« (WBSO) in Schottland jeden Winter ein Draußenschlafen, um auf die Not obdachloser und woh- nungsloser Menschen aufmerksam zu machen. Die bisher 10.000 Teilnehmer an mehreren Orten haben dabei Spen- den gesammelt, mit denen beispiels- weise Housing-first-Unterkünfte für Obdachlose gefördert werden. Fantas- tische zehn Millionen Dollar sind so bereits zusammengekommen. In die- sem Jahr findet diese Initiative weltweit bereits an über 50 Orten zeitgleich un- ter freiem Himmel statt, Wacken wird die einzige Veranstaltung in Deutsch- Musik und Kultur als fester Bestandteil: Impression vom ersten »sleep out« 2017 in Edinburgh. land sein. Auch wir wollen bei unserer 26 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Vor zwei Jahren hat die schottische Initiative erstmals zu einem »sleep out« in Edinburgh eingeladen. Rund zweitausend Menschen nahmen bereits damals daran teil. Übernachtungsveranstaltung Spenden haben gleich ihr eigenes Gelände ange- sammeln. boten. »Die Veranstaltung steigt genau »Als wir von der Aktion hörten, wa- Eine Herzensangelegenheit dort, wo das legendäre Wacken Open ren wir schnell Feuer und Flamme«, Air 1990 angefangen hat und jetzt die so HEMPELS-Vorstand Jo Tein, »zu- Für die Wacken Open Air Veranstalter Künstler untergebracht sind«, so HEM- sätzlich zur Straßenzeitung sind wir ja Thomas Jensen und Holger Hübner ist PELS-Vorstand Jo Tein. bereits lange als Träger vieler Angebo- diese Veranstaltung eine Herzensan- Das Programm des Abends steht noch te für Wohnungslose aktiv. Unter an- gelegenheit. »Wir sind betrübt über die nicht komplett fest. Sicher ist, dass mit derem haben wir mit unserer Stiftung enorme Zahl wohnungsloser Menschen dem Musiker Moritz »Mutz« Hempel 'HEMPELS hilft wohnen' vor zwei Jah- und hoffen, dass wir zusammen mit ein Wacken-Open-Air-Veteran dabei ren in Kiel ein Haus mit mehreren Woh- HEMPELS dabei helfen können, mehr sein wird. Zugesagt hat auch bereits der nungen gekauft für Menschen, die sonst Bewusstsein für diese Problematik zu Kieler Musiker und Autor Heinz Ratz. keine Chance auf Wohnraum haben.« erwecken«, erklären Jensen und Hübner. Außerdem wird sich Hollywoodstar Natürlich können wir von HEM- »Wir sind uns unserer sozialen Verant- Will Smith auf allen 50 Veranstaltungen PELS eine solche Übernachtungsveran- wortung bewusst und arbeiten bereits per Videoleinwand melden. Teilnehmer staltung wie vom 7. auf den 8. Dezem- erfolgreich mit Organisationen wie 'En- können sich für eine Registrierungsge- ber in Wacken nicht allein auf die Beine gel in den Straßen' oder 'Hanseatic Help' bühr von 18 Euro bei www.bigsleepout. stellen. Deshalb haben wir uns einen zusammen. Nun möchten wir unser En- com anmelden und werden dabei un- starken Partner gesucht und ihn mit der gagement auch durch die Teilnahme beim terstützt, bei Kollegen, Freunden und ICS Festival Service GmbH gefunden, World’s Big Sleep Out weiter vertiefen.« Bekannten Spenden einzuwerben. Der den Machern des Wacken Open Air. Sie gesamte Erlös wird zu einer Hälfte in He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 2 7
Schleswig-holstein sozial eine Ausweitung unseres HEMPELS- Wohnprojektes fließen, die andere Hälf- te ist für die weltweiten Projekte des Rund 650.000 Menschen schottischen Initiativträgers bestimmt. »Im Dezember bei weniger als zehn sind in Deutschland wohnungslos laut Wohnungslosigkeit betroffen. Eine Lö- Grad und möglicherweise Nieselregen einer Schätzung der Bundesarbeits- sung ist die Schaffung von Wohnraum, die Nacht unter freiem Himmel zu ver- gemeinschaft Wohnungslosenhilfe, in der für die Betroffenen bezahl- und er- bringen, ist sicherlich eine besondere Schleswig-Holstein sind laut Diakonie reichbar ist. Vor diesem Hintergrund Herausforderung«, so unser Vorstand 10.000 bereits tatsächlich wohnungslos engagiert sich HEMPELS mit seinem Tein. »Aber für viele Menschen ist das oder davon bedroht. Im nördlichsten Stiftungsprojekt »HEMPELS hilft leider Normalität.« Insofern ist jeder Bundesland hat die Zahl der Betroffe- wohnen« und schafft Wohnraum für Gast aufgefordert, Schlafsack und Iso- nen seit 2014 um mindestens 50 Pro- Menschen, die auf dem Wohnungs- matte mitzubringen. »Sollte es wirklich zent zugenommen. Insbesondere in der markt sonst keine Chance haben. regnen, werden die Gäste bei uns vor kalten Jahreszeit sind Tagestreffs und Ort Schlafsack-Regenschutzüberzüge Notunterkünfte entsprechend über- erhalten können.« belegt. Brennpunkte im Land sind Lü- beck, Kiel, Flensburg und Neumünster. Anmeldungen zur Teilnahme über: Aber auch der ländliche Bereich ist von www.bigsleepout.com Das Publikum beim »sleep out« 2018 in Glasgow. Insgesamt bereits 10.000 Menschen haben in den ersten zwei Jahren des Bestehens an den Veranstaltungen teilgenommen. Unser Termin am 7. Dezember auf dem Wacken Open Air wird der erste in Deutschland sein. 2 8 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Weihnachtsgrüße mit HEMPELS Sie suchen nach einer ungewöhnlichen Möglichkeit, Ihren Angehörigen, Freunden, Bekannten, Kollegen weihnachtliche Grüße schicken und damit gleichzeitig Menschen in Not helfen zu können? Dann haben wir eine ganz besondere Idee für Sie: Weihnachtsgrüße mit der bekannten Comicfigur Werner, erstellt von dem Zeichner Brösel. Bei unseren landesweit 250 Verkäuferinnen und Verkäufern für nur 2,20 Euro erhältlich als Klapp- kartenset mit drei verschiedenen Motiven. He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 a nze ige | 2 9
WIE ICH ES SEHE Hassreden lösen keine Probleme von hans-uwe rehse Schimpfen tut gut! Da kann man rauslassen, was einen är- da, wo Kritik notwendig ist. Bloße Beschimpfungen oder gar gert. Von mir aus auch laut werden dabei. Hauptsache, es ver- Hassreden lösen keine Probleme. Sie verbessern nichts, son- schafft einem Luft. Man braucht das manchmal, um wieder zu dern vergiften nur das Miteinander. Das dient niemandem – einem inneren Ausgleich zu kommen. Immer nur ausgewogen nicht mal denen, die sich über etwas ärgern. und sachlich zu bleiben – das geht einfach nicht. Schließlich Insofern ist es gut, dass es verschiedene Initiativen gibt, die sind in uns starke Emotionen lebendig. Die kann man nicht dem Hass im Netz etwas entgegensetzen. Ich hoffe, dass sie ständig einsperren und unter Kontrolle halten. Auch wo von vielen unterstützt werden. Und dass viele Leute sich um man sich um Sachlichkeit bemüht, finden sie einen Weg an eine förderliche Gesprächskultur bemühen. Man kann ja auch die Oberfläche. Dann machen sie sich in Andeutungen und dabei Klartext reden. Wenn man denn um Lösungen bemüht Spitzen bemerkbar. Und schon bestimmen sie die Gesprächs- ist. Und nicht nur beim Schimpfen bleibt. atmosphäre. Insofern ist es besser, sie mal frei laufen zu las- sen. Hinterher kann man wieder freier denken und überleg- ter handeln. Allerdings sollten die ärgerlichen Gefühle auch rechtzeitig wieder eingefangen werden. Was der eigenen Psychohygiene guttun mag, ist der öffentli- chen Kommunikation selten förderlich. Mir fällt das bei vielen Kommentaren im Internet auf. Da wird oft geschimpft: über Autofahrer und Radfahrer, über unfähige Politiker und Mi- granten, über den Klimawandel und die Fridays-for-Future- Bewegung. Ihnen fallen bestimmt noch mehr Themen ein. Hans -Uwe Rehse is t Pas tor im Große Empörung kommt da zum Ausdruck und ein absolutes Ruhe s tand und war Ge schäf t s - Unverständnis für das, was in der Welt geschieht. Natürlich führer der Vorwerk er Diakonie werden auch die Personen beschimpft, die damit zu tun haben. in Lübeck . SEINE KOLUMNE Sie seien unfähig, rücksichtslos, machten selber nicht, was sie ER SCHEINT JEDEN MONAT von anderen fordern, machten alles falsch ... Wo der Ärger kei- ne Grenzen mehr kennt, kommt es sogar zu Hetzereien und Hasstiraden. Es ist erschreckend, wie schnell über andere geurteilt wird, ohne dass man die genauen Hintergründe für ihr Handeln kennt. Offensichtlich spielt der Respekt vor einem Menschen keine Rolle mehr, wenn man seinem Ärger freien Lauf lässt. Ich meine: So geht es nicht! Da hat das Schimpfen eine Gren- ze. Die Würde eines Menschen muss geachtet werden – auch 30 | Schl e s wig - hol s t e in s ozi a l Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
Rezept Fladenbrotpizza von Mike Für 4 Personen: · 1 – 2 Fladenbrote dazu alles, was der Kühlschrank hergibt: · Tomatenketchup oder Dosentomaten · Käse · Salami, Speckscheiben oder Foto: Pixabay andere Wurst · Pilze, Tomaten etc. · Oregano, Salz, Pfeffer, Basilikum Seit neun Jahren arbeitet Mike in Kiel-Gaarden vor Rossmann als HEM- PELS-Verkäufer, kurz vor Weihnachten wird er 40 Jahre alt. Seine Arbeit macht ihm viel Spaß. Zu Hause kocht Mike mit seiner Frau oft einfache und trotzdem leckere Essen. Beide achten dabei sehr darauf, auch Reste aus dem Kühlschrank zu verwerten. Unseren Leserinnen und Lesern empfiehlt Mike diesen Monat deshalb eine Fladenbrotpizza, die sich für die Verwertung übrig gebliebener Lebensmittel bestens eignet. Das Fladenbrot in zwei Scheiben aufschneiden und die glatte Seite mit ver- wertbaren Dingen belegen, die sich noch im Kühlschrank befinden. Wer mag, gibt als Grundlage Tomatenketchup, Tomatenmark oder Dosentomaten auf die Brothälften. Darauf passen Salami, Speckscheiben, Käse, Pilze, Tomaten, Zwiebeln. Wer will, kann sich auch eine vegetarische Fladenbrotpizza zube- reiten. Mit etwas Oregano, Salz und Pfeffer bestreuen, auch Basilikumblätter passen. Für 15 bis 20 Minuten in den auf 180 Grad vorgeheizten Ofen, bis der Käse schön goldbraun wird. Mike wünscht guten Appetit! He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 re ze p t | 3 1
Tipps Zugehört Durchgelesen Angeschaut »Musik für Jugendliche« »Zu Staub« »Systemsprenger« Rocko Schamoni Jane Harper Nora Fingscheidt Endlich. Rocko Schamoni ist zurück Zwei Brüder, Nathan und Lee, treffen »Verpiss Dich! Leck mich! Scheißtyp! auf dem Plattenteller. Der vielseitige sich am Zaun, der ihre riesigen Rinder- Fotze! Fick Dich!« Das schreit Benny Künstler widmet sich nach Buchprojek- farmen voneinander trennt. Mitten im jedem ins Gesicht, wenn sie wieder ein- ten und Lese-Tourneen, Gag-Ausflügen Nirgendwo, im isoliertesten Teil Austra- mal ausflippt, egal, ob es andere Kinder mit der fiktiven Gruppe »Fraktus« und liens, tief im Outback, sind sie einander sind, ihr Betreuer, ihr Schulbegleiter Anarchistenhumor-Trio »Studio Braun« die einzigen Nachbarn. Ihre Häuser lie- oder ihre Mutter. Auch Sachen sind vor nun wieder der Musik. Die Fans haben gen vier Stunden Autofahrt voneinander ihrer Wut und Aggressivität nicht si- lange genug gewartet, nach zwölf Jahren entfernt. Zu ihren Füßen liegt Cam, ihr cher. Sicherheitsglas? Na warte! Dabei verzaubert uns jetzt ein neues Album: mittlerer Bruder, der die Familienranch ist sie ein liebenswertes, neun Jahre al- »Musik für Jugendliche« heißt es, das verwaltete und dort mit seiner Mutter, tes, intelligentes Mädchen und möchte Cover zeigt den jungen Tobias Albrecht seiner Frau und den zwei Töchtern leb- einfach nur geliebt werden. Von ihrer selbst, so der bürgerliche Name des En- te. Cam ist scheinbar allein in der Hitze Mama. Doch die hat als Alleinerzie- tertainers Rocko Schamoni. Ein Porträt, gestorben. hende schon genug mit ihren anderen das sein kürzlich verstorbener Vater auf- Die beiden Männer bringen ihren beiden Kindern zu tun und obendrein nahm. Bruder heim auf die Ranch und rufen Angst vor Benny. Und deswegen wurde Ein trauriger Junge ist es, der uns die Polizei, der Sergeant kommt einige die einige Jahre zuvor dem Jugendamt entgegenblickt, und die Melancholie be- Stunden später mit dem Sanitäter. Auch übergeben. stimmt auch die Tonart des Albums. Es sie finden auf den ersten Blick nichts, was Seitdem fliegt sie regelmäßig aus al- geht um Verlust und Erinnerungen, und den Tod von Cam erklärt. Am nächsten len Heimen, Jugendgruppen, Schulen wie immer schafft Schamoni die Grat- Tag finden die beiden Brüder Cams Auto und Pflegefamilien. Wie ein brodeln- wanderung zwischen Kitsch und groovy unverschlossen in einer Entfernung, die der Vulkan ist sie scheinbar von nichts Songs; immer dabei die Retrosounds der Cam unmöglich zu Fuß zurückgelegt und niemandem zu bändigen. Es droht 1960er. Dramatische Bläser-Arrange- haben konnte. Wenige Tage später ist die geschlossene Psychiatrie. Als sie zu ments und mehrstimmige Chöre sorgen die Beerdigung auf dem Grundstück, ihrem Schulbegleiter Micha Vertrauen etwa bei »Dein Gesicht« für ein wenig die Nachbarn kommen aus weiter Ferne. fasst und dem Projekt zustimmt, mit musikalischen Größenwahn, doch der Die Familie bleibt allein zurück, und in ihm drei Wochen in einem einsamen Text ist so traurig-zart, dass es nie zu viel der tiefen Trauer wächst das Misstrauen. Haus im Wald ohne Stromanschluss zu wird. Was, wenn Cam keines natürlichen To- leben, keimt kurz Hoffnung auf, doch Es sind diese interessanten Brüche aus des gestorben ist? Was, wenn Isolation danach möchte sie nicht wieder in ihre zuckersüßem Soul und tiefsinnigen Tex- und Einsamkeit hier im Nirgendwo die Wohngruppe. Und so macht Micha den ten, die Rocko Schamoni einfach drauf Menschen verändern – zum Bösen? Fehler, sie eine Nacht bei ihrer Familie hat. Schlageranleihen verarbeitet er bei- Bildreich und gekonnt erzählt Jane übernachten zu lassen. spielsweise bei »Mark Hollis«, einem Harper eine Geschichte der Isolation Dieser Film hat mich mit seiner Song, mit dem er dem verstorbenen Talk- und der Belastung, die sie selbst auf den Wucht, seiner Gewalt, seiner Traurig- Talk-Sänger ein Denkmal zum Mitwip- stärksten Charakter ausübt. Fesselnd keit, der Hilflosigkeit der Mutter und pen schafft. Bei »Der Regen« hören wir und atmosphärisch dicht blättert sie ein der Betreuer richtiggehend überfahren. Jacques Brel heraus, düsterer Chanson, Drama nach dem anderen im heißen Die schauspielerische Leistung von He- ins Deutsche übertragen. Wüstenstaub auf. lena Zagel (Benny): hammergut. Aber Kein Album, das massentauglich ist, auch alle anderen Rollen sind exzellent aber eines, das bei jedem Hören weitere gecastet. Eine zweistündige emotionale Facetten aufzeigt. Achterbahnfahrt, die lange nachwirkt. Musiktipp buchtipp Filmtipp von Michaela Drenovakovic von Ulrike Fetköter von Oliver Zemke 3 2 | t ipp s Hempel s # 2 8 3 11/2 0 19
alles was recht ist Experten vom Mieterverein zu Mietrechtsfragen Rechte und Pflichten bei Feuchtigkeitsschäden und Schimmel Insbesondere in der kalten und nassen Jahreszeit kann es durch Isolationsmängel. Erst wenn eindeutig geklärt ist, dass vermehrt zu Feuchtigkeits- und Schimmelbildung kommen. kein Baumangel vorliegt, stellt sich die Frage, ob der Mieter zu Dann sollten Mieter einen Blick in ihren Mietvertrag werfen. wenig geheizt und gelüftet hat. Bei Raumtemperaturen von 20 Allerdings befreit die Übergabe eines Merkblattes zum rich- bis 22 Grad Celsius und mehrfacher Stoßlüftung (Durchzug) tigen Heizen und Lüften der Wohnung beim Mietvertragsab- am Tag kann dem Mieter aber kein Vorwurf gemacht werden. schluss den Vermieter nicht von seiner Verantwortung und Der Vermieter muss den Wohnungsmangel »Schimmel« abstel- seinen Gewährleistungspflichten für Schimmel und ähnliche len. Das gilt selbst dann, wenn ein Gutachter feststellt, dass die Schäden, entschied das Landgericht Berlin (65 S 400/15). Fra- nachts geschlossene Schlafzimmertür mit ursächlich für die gen rund um Feuchtigkeitsschäden und Schimmelpilz spielen Feuchtigkeitsschäden gewesen sei. Das Landgericht Bochum (I- eine immer größere Rolle. Schätzungsweise 20 Prozent der 11 S 33/16) stellte fest, dass das Offenhalten der Schlafzimmer- deutschen Haushalte kämpfen einer Studie zufolge mit Schim- tür während der Nacht kein übliches, von einem durchschnitt- mel. Betroffen sind vor allem Bäder und die Schlafzimmer. lichen Mieter zu erwartendes Lüftungsverhalten darstelle. Viele Vermieter machen es sich einfach, sehen ihre Mieter in der Verantwortung, sprechen von falschem Heiz- und/oder Lüftungsverhalten. Aber so einfach geht das nicht. Ein Mieter Expert/innen des Kieler Mietervereins schreiben muss seinen Vermieter beim Auftreten von Feuchtigkeitsschä- zu aktuellen Mietrechtsfragen. Lesen Sie diesen den oder Schimmelpilzbefall unverzüglich informieren, am Monat eine Kolumne des Geschäftsführers besten schriftlich. Dann muss sich der Vermieter um die Män- Carsten Wendt. Bei Anregungen und Fragen gel der Mietsache kümmern. Er muss notfalls mit Hilfe eines können sich unsere Leser/innen direkt an den Sachverständigen abklären, ob die Schäden baubedingt sind, Mieterverein wenden. Eine Mitgliedschaft ist ob die Feuchtigkeit von außen kommt, zum Beispiel durch un- erforderlich, Bezieher von Sozialleistungen dichte Stellen in Mauerwerk oder Dach, oder ob ein verdeckter erhalten einen Beitragsnachlass von 30 Prozent. Wasserrohrbruch vorliegt. Denkbar als Ursache sind auch eine Mieterverein in Kiel, Eggerstedtstr. 1, schlechte Wärmedämmung oder sogenannte Wärmebrücken Tel.: (04 31) 97 91 90. Wichtige Urteile zum Sozialrecht Arbeitsplatzaufgabe im Ausland vor Rückzug nach Deutschland nicht sozialwidrig Gemäß § 34 SGB II ist derjenige, der vorsätzlich oder grob Entscheidung. Die Familie habe bereits nicht »sozialwidrig« fahrlässig die Voraussetzungen für einen ALG-II-Anspruch gehandelt. § 34 SGB II erfordere eine nach den Wertungen ohne wichtigen Grund herbeiführt, zum Ersatz des deswe- des SGB II besonders zu missbilligende Verhaltensweise. gen gezahlten ALG II verpflichtet. In dem vom BSG entschie- Eine solche liege nicht vor, wenn deutsche Staatsangehörige denen Fall war eine Familie mit deutscher Staatsbürgerschaft eine im Ausland ausgeübte Beschäftigung aufgeben und mit unter Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse in Polen nach ihren Kindern nach Deutschland ziehen, ohne sich zuvor um Deutschland gezogen. Das Jobcenter stellte mit sogenannten eine Existenzgrundlage im Bundesgebiet bemüht zu haben. Grundlagenbescheiden fest, die Eheleute hätten durch die (BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 50/18 R) Aufgabe ihrer Arbeitsplätze zum Zwecke der Einreise nach Deutschland »sozialwidrig« gehandelt und sie zum Ersatz des an sie ausgezahlten ALG II verpflichtet. Denn sie hätten sich von Polen aus um neue Arbeitsstellen in Deutschland Wir veröffentlichen jeden Monat ein Urteil, bemühen können. Mit darauffolgenden sogenannten Leis- das für Bezieher von Hartz IV und anderen tungsbescheiden setzte das Jobcenter Ersatzansprüche in Sozialleistungen von Bedeutung ist. Unsere Höhe von rund 32.000 Euro gegen die Familie fest. Servicerubrik entsteht in Zusammenarbeit Hatte das SG die Klage der Familie gegen die Grundla- mit dem Experten für Sozialrecht Helge genbescheide noch abgewiesen, gab das LSG der Familie Hildebrandt, Rechtsanwalt in Kiel. recht: Ihr Verhalten sei vom Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG gedeckt. Das BSG bestätigte diese He mpe l s # 2 8 3 11/2 0 19 ser vice | 3 3
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