SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT

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SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
SAN 4|20   SWI SS A I D S N E WS
           ZUKUNFT ZUVERSICHT
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
Auf und davon …                                                                Zum Trickfilm
                                                                             und weiteren
                                                                               Informationen

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                 T: 0800 392 286, www.aids.ch/selftest

Die mit dem Regenbogen
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
EDITORIAL

                                                  Zukunft Zuversicht
                                                  Ein Virus geht viral, und Ende Jahr trägt die Welt Maske. Corona-Virus haben
                                                    bereits Fünfjährigel in ihrem Vokabular, Fünfzigjährige diskutieren über
                                                      Begriffe wie Solidarität, Eigenverantwortung, Übersterblichkeit. Dazwischen
                                                        üben Jugendliche den Spagat zwischen «Lassen wir die Sau raus» und
                                                          «Seien wir vernünftig». Die Politik gibt ihr Bestes, und das ist nicht immer
                                                           das Beste. Wissenschaftler_innen vernetzen sich und lernen täglich
                                                           Neues. Das Virus hat alle im Griff, auch die, die es leugnen.
                                                           Ältere Semester erinnern sich an ein Virus, das in den Achtzigerjahren
                                                          die Welt verunsicherte und viel Leid und Trauer verursachte. Sie erinnern
                                                          sich daran, dass man lange keine Ahnung von den Übertragungswegen
                                                         hatte, fieberhaft sichere Tests entwickeln wollte und nach einem Impfstoff
                                                       suchte. Und dass man subito nach Schuldigen suchte – da das Virus sexu-
                                                     ell übertragen wurde. Wenn Sex im Spiel ist, ist auch die Moral nicht weit.
                                                   Schwule Männer mussten in den Anfängen der HIV-Pandemie die ganze Last
                                                  von Krankheit, Ausgrenzung und Stigmatisierung stemmen.
                                                  Inzwischen hat sich die Lage für Menschen, die mit dem HI-Virus leben, nach-
                                                  haltig verbessert. Seit 2002 sinkt in der Schweiz die Anzahl HIV-Diagnosen. Die
                                                  allermeisten Betroffenen erhalten heute eine medikamentöse Therapie, die meis­
                                                  ten haben eine Viruslast unter der Nachweisgrenze. Das bedeutet: HIV-positive
                                                  Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nicht ansteckend.
                                                  Das stimmt zuversichtlich, auch mit Blick in die Zukunft. So lautet der Hefttitel
                                                  dieser Swiss Aids News. Mit Lesestoff, der zuversichtlich macht, ohne die wei-
                                                  terhin notwendigen Verbesserungen zu unterschlagen.
                                                  Wir von den Swiss Aids News wünschen Ihnen fürs neue Jahr eine grosse
                                                  Portion Optimismus und bedanken uns für Ihre Treue. Bleiben Sie wohlauf!

                                                  Brigitta Javurek
Herausgeberin                                     Redaktion der Aids-Hilfe Schweiz
Aids-Hilfe Schweiz (AHS)
Korrektorat
Die Orthografen, Zürich
Alle Illustrationen
                                                  L E B E N M I T HI V
© Daniel Müller, illumueller.ch
Gestaltung                                        Positive Erneuerung: Porträt Gleisson Juvino                        4
Ritz & Häfliger, Basel
                                                  Make HIV sexy                                                      10
SAN Nr. 4, 2020
© Aids-Hilfe Schweiz, Zürich                      Der Positivrat stellt sich vor                                     19
Die SAN erscheinen in folgender
Auflage: D 1750 Expl. / F 710 Expl.               Positive Frauen Schweiz                                            21
Abonnement                                        Diskriminierungen von Menschen mit HIV                             22
san@aids.ch, www.aids.ch
                                                  M E D IZ IN
Korrigendum
In den letzten Swiss Aids News ist uns ein
                                                  Zwei Blicke zurück und einer nach vorn                              8
Fehler unterlaufen. Das Zitat und Bild auf        S E X A R BEI T
Seite 23 gehört zu Jürg und nicht zu Christian.
Wir entschuldigen uns bei Jürg.                   Die Crux mit dem Sex?                                              16
                                                  M IG R AT I ON
                                                  Prävention tut not?                                                17
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
LEBEN MIT HIV

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                 Positive Erneuerung
                               Voller Freude und Stolz setzt sich Gleisson Juvino, ein junger Aktivist der Groupe SIDA
                               Genève, dafür ein, die Bilder vom Leben mit HIV zu dekonstruieren. Die Lebenslauf dieses
                               neuen, non-binären Gesichts des Kampfs ist von den hartnäckigen Vorurteilen aus der
                               Vergangenheit geprägt, erzählt aber auch die Geschichte deren Überwindung.

                               ANTOINE BAL

                               Eine überdimensionierte rote Schleife und fast   kleinen Millennial-Schnäuzchen ist anstec-
                               vierzig Jahre HIV-Geschichte wachen über die-    kend. Gleisson bezeichnet sich selbst als non-
                               ser Begegnung. Mit seinen 28 Jahren ist Gleis-   binär, stört sich aber nicht am «er». Das hänge
                               son jünger als die Epidemie. Weisse Plateau-     immer vom Kontext ab. In diesem grossen Saal
                               Sneakers, Jogginghose mit Druckknöpfen, ein      der Groupe SIDA Genève tauschen sonst Peer-
                               goldener Ohrring. Das Lächeln unter seinem       groups Blicke und Erfahrungen aus. Gleisson

4   Swiss Aids News 4 | 2020
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
ist hier seit zwei Jahren ehrenamtlich tätig.      doch die Ängste, die sich in seinem Kopf ein-
Von hier aus kämpft er dafür, etwas zu ändern,     genistet haben, sind unmittelbar, sozial: «Ich
damit andere nicht dasselbe durchmachen            fragte mich überhaupt nicht, wie ich mich
müssen wie er: das Outen seines HIV-Status,        angesteckt hatte. Aber ich fragte mich: Was
Vorurteile, Schweigen, Stigmatisierung. Gleis-     wird nun aus meinem Leben? Wie werde ich
son hat sich zum Ziel gesetzt, die negativen       mit meiner Familie und den Menschen um
Vorstellungen von seinem Leben – von jedem         mich herum zurechtkommen? Wie soll ich in
Leben – mit HIV zu dekonstruieren. Und der         der Lage sein, offen darüber zu sprechen, im
Name seines Instagram-Blogs, den er seit dem       Wissen, dass ich hier soeben erst Fuss gefasst
ersten Lockdown führt, ist Programm: «Good         habe und noch kaum jemanden kenne?»
HIV vibes only!»
                                                   Trauma und Diskriminierung
Jung, migrantisch, HIV+                            «Leider kamen mir all die Bilder in den Sinn,
Als Gleisson 1992 in Luziânia, ganz in der Nähe    die ich seit meiner Kindheit in mir herum­trage.
von Brasília, als drittes von fünf Kindern zur     Prägende Bilder von Aids.» Diese trauma­tischen
Welt kommt, arbeitet Act Up seit fünf Jahren       Bilder gehören weniger zu ihm selbst als viel-
daran, das Massaker einzudämmen und den            mehr zu einer Geschichte von gesellschaftlich
                                                                                                        «Es war 2015. Der 17. Sep-
weltweiten Kampf gegen HIV voranzutreiben.         geteilten und verinnerlichten Vorstellungen.
Dreifachtherapien gibt es noch nicht. Zwan-        Seit Jahrzehnten halten sie unsere Sexualitäten
                                                                                                        tember. Ich erinnere mich
zig Jahre später, nach einer KV-Ausbildung in      besetzt. «Ich erinnere mich, als sei es gestern      an jedes Detail. Ich erinnere
Brasília, arbeitet er für die FUNAI, die natio-    gewesen, an Wortfetzen, an Gerüchte über die-        mich, wie die Ärztin mir
nale Stiftung zum Schutz der indigenen Bevöl-      sen Jungen aus dem Quartier, wo ich aufgewach-       sagte, ich sei HIV-positiv.
kerung. «Ich bewegte mich bereits in einem         sen bin: den ‹Aidsler›. Eine extrem stigmatisie-     Ich kann ihre Stimme noch
Minderheitenkontext, war durch den Kontakt         rende und beleidigende Bezeichnung. Ohne             immer hören, aber ich sehe
mit diversen indigenen Völkern Brasiliens          seinen Status überhaupt zu kennen, redeten die       sie nicht mehr vor mir.»
sensibilisiert.» Aus dieser Erfahrung nimmt        Leute über ihn, über seinen Körper, über seinen
Gleisson mit, dass Administratives allein nicht    Gewichtsverlust und fragten sich, ob er wohl
genügt. Aus Neugier nimmt er ein Jahr Auszeit,     sterben würde oder nicht.» Für Gleisson gehö-
um in Paris und Genf, wo seine Schwester seit      ren diese Erinnerungen zu einem Prozess der
rund fünfzehn Jahren lebt, Französisch zu ler-     Selbststigmatisierung. «Im selben Augenblick
nen. Eine Liebesbegegnung veranlasst ihn,          beschloss ich, nicht darüber zu reden. Drei Jahre
sich Ende 2013 in Genf niederzulassen. Gleis-      lang habe ich weder mit meiner Familie noch
son und sein Partner, von dem er inzwischen        mit meinen Freunden darüber gesprochen.»
getrennt ist, beginnen ein gemeinsames Leben.         Um zu verdeutlichen, wie stark er sich
Er arbeitet in Cafés und Restaurants, gleichzei-   innerlich eingesperrt fühlte, erzählt Gleisson
tig schreibt er sich an einer französischspra-     vom Weihnachten, das auf seine HIV-Diagnose
chigen Maturitätsschule für Erwachsene ein.        folgte. Nach seinem Besuch in Brasilien kehrt
    «Es war 2015. Der 17. September. Ich erin-     er mit seinen Eltern nach Genf zurück, wo sie
nere mich an jedes Detail. Ich erinnere mich,      eine Zeit lang bei ihm wohnen sollen. Gleisson
wie die Ärztin mir sagte, ich sei HIV-positiv.     fühlt sich in die Enge getrieben. Er hält die Nähe
Ich kann ihre Stimme noch immer hören, aber        der Eltern in seiner Studentenbude kaum aus.
ich sehe sie nicht mehr vor mir.» Gleisson hatte   Unter dem Vorwand, kurz einkaufen zu gehen,
sich schon seit einiger Zeit seltsam schwach       packt er seine Sachen, nimmt den nächsten
gefühlt, weshalb er beschloss, sich unter-         Zug, dann den nächsten Flug nach Thailand, wo
suchen zu lassen. Resultat: niedrige Körper­       sein Partner die Ferien verbringt. Er lässt seine
abwehr, hohe Viruslast. Trotz des Schocks fühlt    Eltern in Genf zurück und erfindet Ausflüchte.
er sich unterstützt, auch von seinem Partner,      «Ich schaffte es weder, es ihnen zu sagen, noch,
der sich am selben Tag als HIV-negativ erweist.    es vor ihnen zu verheimlichen. Ich brauchte
Das Ärzteteam beruhigt ihn auch in Bezug auf       Zeit, um mich zurechtzufinden, um das alles
die Wirksamkeit der Behandlung, auf die wis-       zu verinnerlichen, zu dekonstruieren.»
senschaftlichen Fortschritte. Gleisson wird von       Das Schweigen, die Unfähigkeit zu sprechen,
der Infektiologie begleitet, in wenigen Monaten    wird durch hautnahe Diskriminierungserfah-
ist er undetectable. Ein neues Leben beginnt,      rungen verstärkt. Es sickert durch, dass er HIV-

                                                                                                             Swiss Aids News 4 | 2020   5
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
LEBEN MIT HIV

                                 positiv ist. Die Nachricht macht die Runde und      ‹Regards Croisés› wird mir bewusst, dass der
                                 kommt ihm wieder zu Ohren, als er noch immer        direkte Kontakt mit Menschen, die mit HIV
                                 unfähig ist, frei über seinen Status zu sprechen.   leben, absolut wesentlich ist. Junge Menschen
                                 Die Brutalität des Geoutetwerdens schürt seine      brauchen nicht nur Schulwissen, sondern
                                 schon akute emotionale Not. Gleisson ist em-        auch Identifikation. Wenn sie hier rausgehen,
                                 pört, dass man ihm seine Lebenswirklichkeit         machen sie sich ein neues Bild.»
                                 derart abspricht. Noch schlimmer ist, dass man
                                 in seinem Umfeld das Outing zu verharmlosen         Zur Dekonstruktion gehört auch die Sprache,
                                 versucht. «Wie kann man jemandem so etwas           die Wortwahl. «Was etwa die Diskriminierung
                                 antun? Es war eine Verletzung meiner Person,        von Menschen mit HIV auf Dating-Apps angeht:
                                 ich fühlte mich angegriffen, und ich reichte        In privaten Chats bin ich radikal offen, ich sage
                                 eine Beschwerde ein.» Auch im schulischen           stets, dass ich mit HIV lebe, aber undetectable
«In privaten Chats bin ich       Umfeld kommt es zu Schwierigkeiten aufgrund         bin. Ich nenne die Dinge beim Namen. Aber
radikal offen, ich sage stets,   seines Gesundheitszustands.                         es geht auch darum, andere Ausdrücke zu
dass ich mit HIV lebe, aber                                                          verwenden, zum Beispiel ‹Hast du dich testen
undetectable bin. Ich nenne      Befreiendes Wissen                                  lassen?› statt ‹Bist du clean?›.» Aus Gleissons
die Dinge beim Namen.»           Anonym vertieft er sich zuerst in den sozia-        Sicht müsste das Fachwissen der Menschen mit
                                 len Netzwerken in HIV. Dann entdeckt er die         HIV mobilisiert werden, um die alten stigmati-
                                 Groupe SIDA Genève, auf Rat seines Arztes,          sierenden Reflexe bezüglich HIV-Übertragung
                                 von dem er voller Gefühl erzählt: «Das ist ein      zu vermeiden, die er seit dem Ausbruch der
                                 wertvoller Aspekt meines Lebens mit HIV,            Corona-Krise wahrnimmt.
                                 diese Beziehung zwischen Arzt und Patient.»
                                 In der Groupe SIDA fühlt er sich aufgehoben         Was sind seine Träume? Die Essenz aus seinem
                                 und beginnt sich zu engagieren. «Die Groupe         bisherigen Lebensweg weiterverfolgen, sagt
                                 SIDA, das ist eine Liebesgeschichte. Hier           Gleisson, und das Schlimmste in eine gesell-
                                 habe ich eine zweite Familie gefunden. Ich          schaftliche Kraft verwandeln. «Der Nutzen ist
                                 bin freiwillig Migrant, ich lebe weit weg und       zweifach: für mich und für die andern.» Und
                                 bin froh, Menschen zu haben, die mir so nah         im Herbst der Pandemie voller Stolz an einem
                                 sind.» Als Gleisson sich outet, es zuerst seiner    Strand leben.
                                 Schwester und dann endlich seinen Eltern sagt,
                                 ist er besser in der Lage, sie zu beruhigen –
                                 aber auch überrascht, wie viel seine Mutter
                                 schon darüber weiss. Dieses Familienwissen
                                 erlaubt es Gleisson nicht nur, sich vorbehalt-
                                 los und ganz zu zeigen, sondern auch, Unters-
                                 tützung anzunehmen. «Mir wurde klar, dass ich
                                 Anrecht auf diese Unterstützung hatte. Darin
                                 finde ich im weiteren Sinn auch die nötigen Res-
                                 sourcen, um, statt mich zurückzuziehen, mit
                                 diskriminierenden Situationen fertigzuwerden
                                 – ohne dass ich überreagiere oder die Fassung
                                 verliere.»

                                 Resilienz im Aktivismus
                                 Heute teilt Gleisson seine Erfahrungen in
                                 zahlreichen Austausch-Workshops in der Ge-
                                 meinschaft der HIV-Betroffenen, aber auch im
                                 schulischen Umfeld. Sein junger, aber genera-
                                 tionenübergreifender Lebenslauf, seine Non-
                                 Binarität, seine Situation als Migrant – mit
                                 all diesen Überschneidungen trägt er dazu
                                 bei, neue Bilder, neue Vorstellungen zu schaf-
                                 fen. «In unserem gemeinschaftlichen Projekt

6   Swiss Aids News 4 | 2020
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
MEDIZIN

Zwei Blicke zurück
und einer nach vorn
In keinem medizinischen Fach wurde im vergangenen Jahrzehnt wohl ähn-
lich viel geforscht wie auf dem Gebiet der HIV-Infektion. Vieles wurde dabei
erreicht, die dringendsten Fragen scheinen beantwortet. Dennoch stehen
neue Herausforderungen an. Der folgende Artikel soll einen Überblick über
die grössten Errungenschaften der HIV-Medizin der letzten zehn Jahre geben
und aufzeigen, welche Probleme in Zukunft zu lösen sind.

                                   DOMINIQUE LAURENT BRAUN

                                   Am 30. Januar 2008 veröffentlichte die Eidge-
                                   nössische Kommission für Aids-Fragen einen
                                   Artikel mit einer provokanten Botschaft: Unter
                                   erfolgreicher Therapie können HIV-infizierte
                                   Personen das Virus auf sexuellem Weg nicht
                                   mehr auf andere übertragen.

                                   Das Swiss Statement
                                   Dieses sogenannte Swiss Statement führte da-
                                   mals zu viel Kritik, insbesondere musste es
                                   sich den Vorwurf gefallen lassen, für die Pro-
Trotz der enormen Fort-
                                   klamation dieser Botschaft sei die Datenlage zu
                                                                                      © Marilyn Manser

schritte in der HIV-Medizin        gering. Zwölf Jahre später gilt das Swiss State-
scheint ein Problem nicht          ment als bewiesen: In den zwei sogenannten
wegtherapierbar zu sein:           PARTNER-Studien wurde an Hunderten sero-
die HIV-bedingte Stigmati-         diskordanten heterosexuellen und MSM-Paa-
sierung.                           ren untersucht, wie oft es bei ungeschütztem                          sind weitere Kombinationspräparate auf den
                                   Sexualkontakt zu einer Übertragung von HIV                            Markt gekommen und haben die Therapie un-
                                   kommt, wenn der HIV-positive Partner unter                            zähliger Patient_innen erleichtert. Wie Studi-
                                   einer HIV-Therapie steht und die Viruslast auf                        en zeigen, verbessert sich die Therapietreue
                                   höchstens 200 Kopien pro Milliliter Blut unter-                       dank der einmal täglichen Einnahme und der
                                   drückt ist. Resultat: Bei über 130 000 Sexual-                        reduzierter Pillenzahl – und dies bei gleichblei-
                                   kontakten konnte keine einzige Übertragung                            bender Wirksamkeit. Mittlerweile gibt es STRs,
                                   innerhalb der Paare festgestellt werden. Die                          die nur zwei statt drei Wirkstoffe enthalten
                                   Botschaft U = U («undetectable = untransmit-                          und damit das Potenzial haben, Langzeitne-
                                   table») hat inzwischen das Leben von Millio-                          benwirkungen und Kosten zu verringern. Trotz
                                   nen Menschen, die mit HIV leben, nachhaltig                           dieser Therapieerfolge stehen neue Herausfor-
                                   verändert, Übertragungen verhindert und den                           derungen an: Die am häufigsten eingesetzten
                                   Betroffenen ermöglicht, ihre Sexualität befreit                       HIV-Medikamente können bei bestimmten Per-
                                   und selbstbestimmt zu leben.                                          sonen zu einer starken Gewichtszunahme und
                                                                                                         damit verbunden zu einem erhöhten Risiko
                                   Weniger ist mehr                                                      für Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Die
                                   Im Jahr 2007 kam sie heraus: eine Tablette,                           Frage, wie diese Gewichtszunahme zustande
                                   die drei Wirkstoffe enthielt und unter dem                            kommt und wie man sie voraussagen kann,
                                   Handelsnamen Atripla das erste sogenannte                             ist noch nicht geklärt und beschäftigt Forscher
                                   Single-Tablet Regimen (STR) darstellte. Seither                       auf der ganzen Welt.

8   Swiss Aids News 4 | 2020
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
Der Berlin-Patient                                tion gegen hochresistente Virusstämme einge-
Seit der Entdeckung von HIV im Jahr 1983 wird     setzt werden können und die Behandlung aller
sie herbeigesehnt: die Heilbarkeit von HIV. Was   Patient_innen erlauben werden – sofern der
zu Beginn der HIV-Pandemie schon in greif-        Zugang zu diesen Therapien gewährleistet ist.
barer Nähe schien, stellt auch mehr als drei
Jahrzehnte später eine der grössten Herausfor-    Erfolgreich therapiert,
derungen dar. Wie HIV geheilt werden kann,        aber weiterhin stigmatisiert
erzählt die Geschichte von Timothy Brown, der     Trotz der enormen Fortschritte in der HIV-Me-
als Berlin-Patient berühmt wurde. Brown wur-      dizin scheint ein Problem nicht wegtherapier-
de 1995 mit HIV infiziert und seither mit einer   bar zu sein: die HIV-bedingte Stigmatisierung.
hochwirksamen HIV-Therapie behandelt. Als         Auch im Jahr 2020 werden viele Menschen mit
2006 ein aggressiver Blutkrebs diagnostiziert     HIV in diversen sozialen Bereichen weiterhin
wurde, wurde ihm in Form einer Stammzell-         stigmatisiert – selbst im Gesundheitswesen. Ei-
transplantation das gesunde Immunsystem           ne Untersuchung der Schweizerischen HIV-Ko-
eines HIV-negativen Spenders übertragen. Die-     hortenstudie (SHCS) ermittelte 2015, weshalb
se Stammzellen enthielten einen natürlichen       sich Personen erst im späten Stadium der HIV-
genetischen Defekt, der die Immunzellen resi-     Infektion an das Gesundheitswesen wendeten:
stent gegenüber HIV machte und bei Brown da-      Der Grund war in fast der Hälfte der Fälle die
zu führte, dass HIV aus all seinen Körperzellen   Furcht vor Stigmatisierung im Bekannten- oder
verdrängt wurde. Bis zu seinem Tod 2020 galt      Freundeskreis. Kürzlich hat die SHCS ein neues
Brown als der einzige lebende Beweis, dass ein    Projekt lanciert, das die HIV-bedingte Stigma-
Mensch von HIV geheilt werden kann. Was           tisierung systematisch untersucht. Basierend
bleibt, ist die Erkenntnis, dass eine Heilung     auf den daraus gewonnenen Erkenntnissen
erreicht werden kann, und aufgrund dieses         sollen Interventionen entwickelt werden, um
Wissens die Hoffnung, dass weitere Patienten      die HIV-bedingte Stigmatisierung abzubauen.
Timothy Brown folgen werden.                      Die Botschaft ist klar: Nein zu Stigma, Ja zur
                                                  Solidarität.
Neue Technologien im
Kampf gegen HIV                                   Covid-19 und HIV
Der Fortschritt der letzten zehn Jahre zeigt      Während zu Beginn der Covid-19-Pandemie
sich in der Vielzahl neuer Technologien, die      die Hoffnung bestand, dass mit dem HIV-
zur Behandlung der HIV-Infektion erforscht        Medikament Kaletra eine wirkungsvolle The-
werden. Das Bestreben dahinter ist klar: die      rapie gegen Sars-CoV-2 zur Verfügung steht,
HIV-Therapien noch einfacher zu gestalten und     zerschlug sich diese Hoffnung beim Vorliegen
besser an die Wünsche der Patient_innen anzu-     erster Studienergebnisse rasch: Wie so viele
passen. In einigen Ländern bereits zugelassen     Medikamente, die im späteren Verlauf gegen
sind die sogenannten Long-acting-Substanzen,      Sars-CoV-2 getestet wurden, zeigt Kaletra kei-
wobei zwei Wirkstoffe alle vier bis acht Wochen   nen positiven Effekt auf den Verlauf der Covid-
in den Gesässmuskel appliziert werden. Die        19-Infektion. Noch nicht restlos geklärt ist, ob
Wirksamkeitsstudien zeigen eine Nichtunter-       Menschen mit HIV ein erhöhtes Risiko für ei-
legenheit gegenüber der HIV-Dreifachthera-        nen schweren Covid-19-Verlauf aufweisen; ak-
pie, und glaubt man den Aussagen der Stu-         tuelle Publikationen scheinen dies zu suggerie-
dienteilnehmenden, bevorzugen die meisten         ren. Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie
                                                                                                     Dominique Laurent Braun
diese neue Verabreichungsform gegenüber           ähnelt demjenigen gegen Aids zu Beginn der         Dominique Laurent Braun arbeitet
den zu schluckenden Medikamenten. Andere          Achtzigerjahre: Vieles ist noch zu erforschen,     als Oberarzt mit erweiterter Ver-
weltweit laufende Studien untersuchen die Si-     und das Testen neuer Therapien endet noch          antwortung an der Klinik für Infek-
cherheit und Wirksamkeit von Wirkstoffen, die     zu oft mit einer Enttäuschung. Eins jedoch ist     tionskrankheiten und Spitalhygiene
über Vaginalringe, als Mikro-Patches über das     jetzt schon klar: Noch nie hat die Menschheit      am Universitätsspital Zürich und ist
Unterhautgewebe oder in Form von breit neu-       in so kurzer Zeit so viel Wissen über eine neue    Privatdozent für Infektiologie an der
tralisierenden Antikörpern als Kurzinfusionen     Infektionskrankheit gesammelt. Bei HIV dau-        Universität Zürich. Seit über zehn
in den Körper der Patientin oder des Patienten    erte das bedeutend länger.                         Jahren behandelt und betreut er
abgegeben werden. Am Horizont zeigen sich                                                            Personen, die mit HIV leben.
zudem neue Substanzgruppen, die in Kombina-

                                                                                                           Swiss Aids News 4 | 2020      9
SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
LEBEN MIT HIV

                                                                                                                          © Carlos Gutierrez-Solana
          Make HIV sexy
          Wie Visual AIDS mittels Kunst Krieg führt
                                PHILIPP SPIEGEL

                                Februar 2020                                       Und: «Man muss Kunst studiert haben, um ein
                                Gespannt blicke ich von einem Büro auf die         Künstler zu sein.»
                                Häuserschluchten im Herzen New Yorks. Ich              Als ich einwerfe: «Aber nicht aus Sicht von
                                warte auf meinen Termin mit dem Direktor           Heterosexuellen», werde ich sofort unterbro-
                                einer österreichischen Kulturinstitution. Nach     chen: «Es gab ja den Magic Johnson.» Was der
                                wenigen Minuten werde ich hineingebeten.           Aids-Aktivismus eines Ex-Basketballers mit
                                   Der Vorfreude wird rasch ein Ende gesetzt. In   Kunst zu tun hat, weiss ich bis heute nicht.
                                einem einstündigen Gespräch erhalte ich einen      Aber es wird mir sehr schnell klar, der Herr
                                Eindruck davon, wie es früheren Künstler_in-       Direktor hat nicht nur keinerlei Interesse –
                                nen und Aktivist_innen mit dem Thema Aids          sondern schleudert präzise alle Klischees und
                                in Kunst und Engagement ergangen sein muss.        Vorurteile der 1990er-Jahre in meine Richtung.
                                   Ich war mit der Absicht aufgebrochen, in            Ich wage einen weiteren Versuch: «Humor
                                Zusammenarbeit mit der Kunstorganisation           reinbringen? Eine neue Diskussion anregen?»
                                Visual AIDS eine Ausstellung in New York           – «Humor?! Zum Thema Tod? Bei den Amerika-
                                anzudenken. Nun wurde mir ziemlich schnell         nern?», ruft der Herr Direktor. «Das geht doch
                                in nasalem Wienerisch klargemacht: «Das ist        nicht. Sie kennen sich ja gar nicht aus.» Er räus-
                                ja nichts Neues. Dazu wurde schon alles ge-        pert sich. «Als Wiener, wissens’, trag ich den Tod
                                sagt. Vor allem in der Stadt, die HIV und AIDS     ja ein bisserl mit mir mit …». Offensichtlich stolz
                                quasi erfunden hat!» Die arrogante Blume, die      auf seine Aussage, scheint er Anerkennung zu
                                Designerbrille und das Stecktuch des Herrn         erwarten, weil er den einen oder anderen Wie-
                                Direktor vermitteln die versteckte Botschaft:      ner Kabarettisten kennt oder schon einen Film
                                «Opferkunst interessiert doch niemanden.»          mit Helmut Qualtinger gesehen hat.

10   Swiss Aids News 4 | 2020
Ich bin sprachlos. Gelähmt. Ein Direktor eines        nen versteckt, um irgendwann einen Profit da-
österreichischen Kunstbetriebs sagt, er trage         raus zu schlagen. Sie warten auf den richtigen
– in der Stadt, die «HIV quasi erfunden hat» –        Zeitpunkt.»
den Tod «ja immer ein bisserl» mit sich. Und             Heute ist Carlos auch im Vorstand von Visual
das gegenüber einem HIV-positiven Menschen.           AIDS. Voller Sarkasmus erzählt er: «Und wäh-
Die Sätze werden mich noch Wochen begleiten.          rend die Galerien uns verarschten, benutzte uns
                                                      die Pharmaindustrie als Versuchskaninchen.
Ohnmächtig verlasse ich das direktoriale Bü-          Ich würde deren Scheiss nicht anrühren. So
ro und das Hochhaus. Mit gesenktem Kopf               viele Freunde von mir krepierten so viel schnel-
schlendere ich durch das chaotische Manhat-           ler mit deren Mitteln. Ich schaffte es, mit einer
tan. Meine Umgebung nehme ich nicht mehr              CD4-Zahl von vier durchzuhalten. Aber wenig-
wahr. Ein grauer Nieselregenschleier legt sich        stens habe ich ihnen keine Namen gegeben!» Er
auf die Stadt und mein Gemüt.                         lacht und zwickt Eric, den Mann neben sich.
   Die qualvolle Stunde beim Herrn Direktor              Eric Rhein gesteht: «Ja, ja. Bei der CD4-Zahl
überschattet die nächsten Wochen. Und nährt           zwei habe ich den beiden Namen gegeben. Viel
                                                                                                          So wie HIV seit zwanzig
Zweifel: über mich, meine Intentionen, meine          hatte ich damals ja nicht mehr …».                  Jahren dargestellt wird,
Arbeit. Ich, der Bittsteller. Ich, das Opfer. Wozu                                                        ist es tatsächlich oft eine
mach ich den ganzen Scheiss? Interessiert doch        Carlos und Eric haben viel gemeinsam als Über-      tränenreiche Opferstory,
nicht. Niemanden.                                     lebende von Aids und der Pandemie. Sie waren        untermalt mit krampfhaft
                                                      von Beginn weg mit dabei. Beim Kampf, beim          optimistischen Melodien.
Die 1990er                                            Aktivismus, beim Archivieren. Um die Werke          Sogar mich als Positiven
Am nächsten Tag sollte ich die ersten Künstler        ihrer sterbenden Freunde zu retten.                 kotzt diese Darstellung
von Visual AIDS treffen. Seit 1989 archiviert            Eric ist ein Gründungsmitglied des Archiv-       schon gewaltig an.
diese Organisation Kunst von HIV-positiven            Projekts. Sein Gesicht und seine Sprache sind
Künstlern. Ein Projekt, das in der Not gegründet      von damals gezeichnet. Er hat den Horror er-
wurde, um die Werke der sterbenden Künstler           lebt. Und er hat den uneingeschränkten Drang,
zu retten. Mittlerweile umfasst die Datenbank         die Erinnerung an die Menschen und deren
Hunderte von ihnen. Visual AIDS ist weltweit          Kunst zu erhalten. «Es war ein Kampf gegen die
tätig und organisiert unzählige Veranstal-            Zeit», sagt er ruhig und reflektiert. «Ein Kampf,
tungen, um Galerien und Kunstschaffende               den wir nicht gewinnen konnten. Ich wollte
miteinander zu vernetzen.                             auch meine Werke retten, weil ich dachte, dass
   Das grauenhafte Gespräch im Kopf, depri-           ich nicht überleben würde. Ich wollte nicht
miert über dessen Ausgang, quäle ich mich zum         vergessen werden. Und ich wollte, dass meine
Termin im Galerien-Viertel Chelsea, wo ich ins        Freunde nicht vergessen würden.»
kleine Büro von Visual AIDS geladen bin. Ein
Teil von mir denkt sich: Wozu das Ganze? Die          So Ähnliches Carlos und Eric auch erlebt ha-
Zweifel, die mir der Herr Direktor auf den Weg        ben, so unterschiedlich ist ihr Zugang in vieler
gegeben hat, wiegen immer schwerer.                   Hinsicht. Carlos schimpft über PrEP und die
                                                      ganzen «Idioten da draussen, die so unüberlegt
Ich werde erwartet. Von älteren Herren. Nervös        herumvögeln». Eric ist ein Verfechter von PreP:
und skeptisch setze ich mich an den Tisch. Und        «Wenn wir das nur damals gehabt hätten, wäre
fange ein lockeres Gespräch an.                       vieles anders gewesen.» Carlos will mit erhobe-
    Einerseits ist da Carlos Gutierrez-Solana. Car-   nen Fäusten kämpfen, Eric ruhig, geduldig und
los ist vieles. Künstler, Kurator, Administrator,     überlegt. Ihre Einstellungen spiegeln sich in
ehemaliger Galeriebesitzer, Museumsmitarbei-          ihren Kunstwerken wider: in Carlos’ farbigen,
ter. Und Überlebender. 1989 wurde er diagnosti-       provokanten Kollagen, in Erichs delikaten, in-
ziert. Seither arbeitete er stets mit Themen wie      timen Fotografien.
Körper, Sexualität, Gender und Aids.                     Aber beide sind sich einig: Es war ein Kampf
    «‹Wir wollen keine Opferkunst›? Das wurde         gegen die Zeit. Ein Rennen, um die Erinnerung
uns immer wieder gesagt», sagt er mit lautem,         aufrechtzuerhalten. Und an die Zeit, als Aids
stolzen Brooklyn-Akzent. «Von Galerien, Kura-         durch New York fegte.
toren, anderen Künstlern. Noch heute halten              Eric, der 1987 positiv getestet wurde, wid-
manche Galerien den Status ihrer Künstler_in-         met sich in seiner Kunst dem Menschsein.

                                                                                                               Swiss Aids News 4 | 2020   11
LEBEN MIT HIV

                                 Leaves © Eric Rhein

                                                       Mit Fotografie und Skulpturen dokumentiert         Die 2010er
                                                       er auch seinen eigenen Prozess und seine           Während ich mich mit Carlos und Eric un-
                                                       Emotionen während der Krise. Als das Virus         terhalte, schweigt Eugene am anderen Ende
                                                       ihn langsam niederstreckte. 1996, als die er-      des Tischs. Bis ich versuche, mehr aus ihm
                                                       sten Präparate sein Überleben sicherten und        herauszuholen.
Ich war mit der Absicht                                sich sein Gesundheitszustand sprunghaft ver-          «Die Förderungen und die Materialien, die
aufgebrochen, in Zusammen-                             besserte, begann er sein Projekt «Leaves». Er      Visual AIDS mir zur Verfügung stellten, er-
arbeit mit der Kunstorganisa-                          kreiert Blätter aus filigranem Draht: Jedes ein-   laubten mir, weiterzuarbeiten», sagt Eugene.
tion Visual AIDS eine Ausstel-                         zelne ist einem Freund, einem Künstler, einem      «Ich wurde 2012 diagnostiziert – und hätte
lung in New York anzuden-                              Kollegen gewidmet, der an Aids verstorben ist.     beinahe alles, was Kunst angeht, aufgegeben.
ken. Nun wurde mir ziemlich                            Heute zählt «Leaves» über 300 Blätter.             Visual AIDS hielt mich sozial am Leben. Ich
schnell in klargemacht:                                   «Natürlich habe ich ein paar davon gekauft!»,   fand hier nicht nur finanzielle Unterstützung,
                                                       ruft Carlos und grinst. «Es waren ja auch meine    sondern auch Brücken, die die Organisation
«Das ist ja nichts Neues.»
                                                       Freunde dabei!» Er wird wieder ernst: «Was hatte   aufgebaut hatte: Austausch mit anderen Künst-
                                                       ich seither denn? Ich komme mir vor, als ob ich    lern, Kontakt zu Galerien. Ich fand Verbündete,
                                                       seit meiner Diagnose nie wieder gelebt habe.       eine neue Familie. Und ein Ventil, um meine
                                                       Sondern nur noch überlebt. Tag für Tag.»           Auseinandersetzung mit meiner Diagnose wei-
                                                          «Eigenartig», sage ich zu ihm. «Mir geht es     ter zu verarbeiten.»
                                                       genau umgekehrt.»                                     Mit diesen wenigen Worten fasst Eugene
                                                          Es ist schon seltsam zu sehen, welch unter-     auch mein Bild von Visual AIDS zusammen.
                                                       schiedlichen Umgang die beiden Männer mit             Eugenes Aussagen spiegeln auch meine Ge-
                                                       ihrer so ähnlichen Geschichte haben. Mit ihrer     danken wider. Immer wieder, wenn ich mich
                                                       Konfrontation mit dem Tod, mit ihrem Kampf         mit meiner eigenen HIV-Kunst befasste, kam
                                                       gegen die Zeit. Umgeben vom Leid, das sie doch     mir der Gedanke: «Was mach ich hier eigent-
                                                       irgendwie überlebt haben.                          lich? Wer will schon so etwas sehen? Wozu?»
                                                          Wie fern Aids von meinen eigenen Erfah-         Visual AIDS gab die Antwort: «Deshalb.» Weil
                                                       rungen mit HIV ist. Während des Gesprächs          man Teil von etwas Grösserem ist.
                                                       wird mir bewusst, dass diese Männer von etwas         Eugene verkörpert den Wandel, den es
                                                       anderem sprechen. Von einer anderen Zeit, ei-      bei Visual AIDS und im Kampf gegen HIV
                                                       ner anderen Notwendigkeit und einem völlig         gegeben hat, und erzählt frustriert: «Ist doch
                                                       anderen Verständnis von HIV und Aids. Und          scheissegal, ob man homo, hetero, Mann, Frau,
                                                       ich merke, wie notwendig Visual AIDS damals        bi oder sonst was ist. Dem Virus ist das egal.
                                                       für die beiden war.                                Und mir gehen diese Differenzierungen auch

12   Swiss Aids News 4 | 2020
schon auf die Nerven. Viele beurteilen deine          Drugs, Rock ’n’ Roll. Häufig, ohne HIV konkret
Kunst anhand deiner sexuellen Orientierung            zu thematisieren. Trotzdem kann ich es ein-
oder deines Geschlechts. Aber nie, weil du ein        binden. Mit Zynismus, Dramatik oder Humor
Mensch mit deinen individuellen Erfahrungen           flechte ich Kunst und Texte über HIV in diese
bist. Hier spielt Identitätspolitik keine Rolle –     Themen ein. Damit versuche ich, HIV auf an-
hier geht es um einen gemeinsamen Feind.»             dere Art und Weise sichtbar zu machen.
   Wir können auf den Schlachten und Siegen              Weil wir alle neue Wege finden müssen. Wir                                 Immer wieder, wenn ich
aufbauen, die unsere Vorkämpfer errungen ha-          sind nicht mehr in den 1990ern. Oder in Ost­                                  mich mit meiner eigenen
ben. Die ersten Medikamente waren ein Sieg,           europa. Oder auf dem afrikanischen Kontinent.                                 HIV-Kunst befasste, kam mir
die Nachweisgrenze ebenso. Heute kämpfen              Wir haben keine Schlachten zu schlagen, in                                    der Gedanke: «Was mach
wir gegen das versteckte Leben und gegen die          denen es um Leben und Tod geht. Um CD4-
                                                                                                                                    ich hier eigentlich? Wer
offene Diskriminierung. Die Heilung wird auch         Zahlen, zwei oder vier Zellen.
                                                                                                                                    will schon so etwas sehen?
irgendwann ein Sieg sein. Physisch, aber auch            HIV interessiert tatsächlich sehr wenige
emotional.                                            Leute. Warum sollte es das? Deshalb ist es                                    Wozu?» Visual AIDS gab die
                                                      unsere Aufgabe, dies zu ändern. Wir haben                                     Antwort: «Deshalb.» Weil
Nach drei Stunden intensiver Gespräche ver-           neue Themen zu diskutieren, neue Schlach-                                     man Teil von etwas Grös-
lasse ich das Büro von Visual AIDS wieder.            ten zu kämpfen, neue Überzeugungsarbeit zu                                    serem ist.
Carlos und ich gehen noch ein Bier trinken.           leisten. HIV braucht ein neues Narrativ. Ein
Ich empfinde eine eigenartige Verbundenheit           neues Image. Es liegt an uns, HIV wieder sexy
mit diesen Künstlern und mit ihren Geschich-          zu machen.
ten. Noch nie fühlte ich mich der Vergangen-
heit dieses Virus so nah. So verbunden. Mit
Künstlern, die ich aus Erzählungen und Aus-
stellungen kenne. Sie haben nicht nur ein Ge-
sicht bekommen, sondern auch eine Emotion.
Eine Geschichte, die ich nun auch teile. Ich
fühle mich verpflichtet, sie weiterzutragen.
Und mutiger zu werden.
   Das Gespräch mit dem Herrn Direktor hat
plötzlich ein anderes Gewicht bekommen. Die
Zweifel, die am Vortag gesät wurden, haben
sich in Wut verwandelt. Und in einen Schaffens-
drang. Machen. Schreien. Zeigen. Verändern.
   Niemanden interessiert HIV mehr. Wie oft
wurde mir schon gesagt: «HIV zieht einfach
nicht als Thema.» Im Verlagswesen, in Redak-
tionen, in der Kunst, sogar bei öffentlichen För-
derstellen. «HIV kennen wir schon. Haben wir
alles schon gehört. Ist ja nichts Neues.» Es ist
den Leuten scheissegal – ausser, es ist gerade
Welt-Aids-Tag.
   Und irgendwie kann ich es ja auch verste-
hen. So wie HIV seit zwanzig Jahren dargestellt
wird, ist es tatsächlich oft dasselbe. Eine tränen-
reiche Opferstory, untermalt mit krampfhaft
optimistischen Melodien. Sogar mich als Posi-
tiven kotzt diese Darstellung schon gewaltig an.
   Und daran erinnern mich Carlos und die
anderen Künstler von Visual AIDS. Die Bilder
aus den 80ern und 90ern sind schlichtweg ver-         Birds of a Feather II. Lg_Collage & Drawing, 2015 © Carlos Gutierrez-Solana

altet, werden aber weiterhin fleissig benutzt.
   Seit Jahren gestalte ich Ausstellungen. Aus-
stellungen über Intimität, Sexualität, Mut. Sex,

                                                                                                                                        Swiss Aids News 4 | 2020   13
Arzneimitteltabelle                                                                                                                     HIV-Medikamente

für antiretrovirale Substanzen
Medikamente mit Zulassung in der Schweiz (2020)

Generischer         Marken-       Hersteller / Generikum-   Form               Standarddosis       Relevante                            Einnahme mit / ohne /
Name                name          Hersteller (GH)                              für Erwachsene      Nebenwirkungen                       vor Mahlzeit (MZ)

CCR5-HEMMER
Maraviroc (MVC)     Celsentri     ViiV Healthcare GmbH      Tabletten:         300 mg, 2 x/d       Infektionen der oberen Atem-         egal
                                                            150 mg, 300 mg     oder 150 mg,        wege, Husten, Bauchschmerzen,
                                                                               2 x/d mit geboos-   Durchfall, Muskelentzündungen,
                                                                               teten PIs oder      Ein- und Durchschlafstörungen,
                                                                               600 mg, 2 x/d mit   depressive Störungen
                                                                               EFV oder ETV

REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NUKLEOSIDISCHE (NRTI)
Abacavir (ABC)      Ziagen        ViiV Healthcare GmbH      Tabletten:         300 mg, 2 x/d       Überempfindlichkeitsreaktionen,      egal
                                                            300 mg, Lösung     oder 600 mg,        Erbrechen, Kopfschmerzen,
                                                                               1 x/d               Übelkeit, Durchfall, Appetitlosig-
                                                                                                   keit, Hautausschlag

Emtricitabin (FTC) Emtriva        Gilead Sciences           Kapseln:           200 mg, 1 x/d       Kopfschmerzen, Durchfall,            egal
                                  Switzerland Sàrl          200 mg, Lösung                         Übelkeit, Hautausschlag, Juckreiz

Lamivudin (3TC)     3TC           ViiV Healthcare GmbH /    Tabletten:         150 mg, 2 x/d       Kopfschmerzen, Durchfall,            egal
                                  (GH) Teva Pharma AG       150 mg, 300 mg,    oder 300 mg,        Erbrechen, Hautausschlag,
                                                            Lösung             1 x/d               Polyneuropathie

REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NUKLEOTIDISCHE (NTRTI)
Tenofovir           Nur als       Gilead Sciences           Tabletten: mit     25 mg, 1 x/d        Wie TDF, aber weniger belastend      egal
alafenamid (TAF)    Kombinations- Switzerland Sàrl          10 mg, 25 mg                           für Niere und Knochen
                    präparat
                    erhältlich

Tenofovir           Viread        Gilead Sciences           Tabletten:         245 mg, 1 x/d       Nierenschäden, Osteoporose,          mit MZ
disoproxil (TDF)                  Switzerland Sàrl /        245 mg                                 Durchfall, Übelkeit, Erbrechen,
                                  (GH) Mepha Pharma                                                Bauchschmerzen, Blähungen,
                                  AG, Mylan Pharma                                                 Kopfschmerzen
                                  GmbH, Sandoz
                                  Pharmaceuticals AG

REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NICHT-NUKLEOSIDISCHE (NNRTI)
Doravirin (DOR)     Pifeltro      MSD Merck                 Tabletten:         100 mg, 1 x/d       Durchfall, Schlaflosigkeit,          egal
                                  Sharp & Dohme AG          100 mg                                 Kopfschmerzen

Etravirin (ETV)     Intelence     Janssen-Cilag AG          Tabletten:         200 mg, 2 x/d       Hautausschläge, Durchfall,           nach MZ
                                                            100 mg, 200 mg                         Übelkeit, Bauchschmerzen,
                                                                                                   Erbrechen, Sodbrennen,
                                                                                                   Blähungen, Magenschleimhaut-
                                                                                                   entzündung, Erschöpfung,
                                                                                                   Kribbeln oder Schmerzen in
                                                                                                   Händen oder Füssen, nicht
                                                                                                   geeignet bei Schwangerschaft

Rilpivirin (RPV)    Edurant       Janssen-Cilag AG          Tabletten: 25 mg   25 mg, 1 x/d        Veränderungen bei einem              mit MZ
                                                                                                   Leberwert (Transaminase),
                                                                                                   Einschlafschwierigkeiten,
                                                                                                   Schlafstörungen, Kopfschmerzen,
                                                                                                   Schwindel, Übelkeit

INTEGRASEHEMMER (INSTI)
Bictegravir (BTG)   Nur als       Gilead Sciences           Tabletten: mit     50 mg, 1 x/d        Schlaflosigkeit,                     egal
                    Kombinations- Switzerland Sàrl          50 mg                                  Durchfall, nicht geeignet bei
                    präparat                                                                       Schwangerschaft
                    erhältlich

Dolutegravir        Tivicay       ViiV Healthcare GmbH      Tabletten: 50 mg   50 mg, 1 x/d        Kopfschmerzen, Durchfall,            egal
(DTG)                                                                                              Übelkeit, Hautausschlag,
                                                                                                   Juckreiz, Erbrechen, Schmerzen
                                                                                                   im Oberbauch, Schlafstörungen,
                                                                                                   Schwindelgefühl, abnormes
                                                                                                   Träumen, Depression

Elvitegravir/       Nur als       Gilead Sciences           Tabletten: mit     150 mg EVG und      Übelkeit, Durchfall, abnormes        mit MZ
Cobicistat (EVG/    Kombinations- Switzerland Sàrl          150 mg EVG und     150 mg Cobi,        Träumen, Kopfschmerzen, nicht
Cobi)               präparat                                150 mg Cobi        1 x/d               geeignet bei Schwangerschaft
                    erhältlich

Raltegravir (RGV)   Isentress     MSD Merck                 Tabletten:         400 mg, 2 x/d       Übelkeit, Durchfall, Kopf-           egal
                                  Sharp & Dohme AG          400 mg, 600 mg     oder 600 mg,        schmerzen, Schlafstörungen,
                                                                               1x/d                Hautausschlag
Generischer         Marken-           Hersteller / Generikum-     Form                         Standarddosis     Relevante               Einnahme mit / ohne /
Name                name              Hersteller (GH)                                          für Erwachsene    Nebenwirkungen          vor Mahlzeit (MZ)

PROTEASEHEMMER (PI)
Atazanavir (ATV)    Reyataz           Bristol-Myers Squibb SA /   Kapseln: 150 mg, 200 mg      300 mg + 100 mg   Übelkeit, Gelbsucht,    mit MZ
                                      (GH) Mepha Pharma AG        und 300 mg                   RTV oder 150 mg   Durchfall, Kopf-
                                                                                               Cobi, 1 x/d       schmerzen, Magen-/
                                                                                                                 Darmbeschwerden,
                                                                                                                 Erbrechen,
                                                                                                                 Hautausschlag und
                                                                                                                 -rötung, Anstieg
                                                                                                                 Cholesterin

Darunavir (DRV)     Prezista          Janssen-Cilag AG /          Tabletten: 400 mg, 600 mg    800 mg + 100 mg   Bauchschmerzen,         mit MZ
                                      (GH) Mepha Pharma           und 800 mg, Lösung           RTV, 1 x/d oder   Durchfall, Kopf-
                                      AG, Mylan Pharma                                         600 mg + 100 mg   schmerzen, Übelkeit,
                                      GmbH, Sandoz                                             RTV, 2 x/d oder   Erbrechen,
                                      Pharmaceuticals AG                                       800 mg + 150 mg   Hautausschlag,
                                                                                               Cobi, 1 x/d       Anstieg Cholesterin

BOOSTER
Cobicistat (Cobi)   Tybost            Gilead Sciences             Tabletten: 150 mg            zur Verstärkung   Übelkeit, Gelbsucht,    mit MZ
                                      Switzerland Sàrl                                         («Boosten»)       Anstieg Blutzucker,
                                                                                               anderer           Kopfschmerzen,
                                                                                               Proteasehem-      Bauchschmerzen,
                                                                                               mer: 150 mg       Durchfall, Schlafstö-
                                                                                                                 rungen, Alpträume

Ritonavir (RTV)     Norvir            AbbVie AG                   Tabletten: 100 mg            zur Verstärkung   Anstieg Cholesterin,    mit MZ
                                                                                               («Boosten»)       Anstieg Leberwerte,
                                                                                               anderer           Magen-Darm-
                                                                                               Proteasehem-      Beschwerden
                                                                                               mer: 100 mg

NRTI / NTRTI-KOMBINATIONSPRÄPARATE
ABC & 3TC           Kivexa            ViiV Healthcare GmbH /      Tabletten: mit 600 mg        1 Tbl, 1 x/d      siehe ABC und 3TC       egal
                                      (GH) Mepha Pharma           ABC und 300 mg 3TC
                                      AG, Sandoz Pharmaceu-
                                      ticals AG

TAF & FTC           Descovy           Gilead Sciences             Tabletten: mit 10 mg oder    1 Tbl, 1 x/d      siehe TAF und FTC       egal
                                      Switzerland Sàrl            25 mg TAF und 200 mg FTC

TDF & FTC           Truvada           Gilead Sciences             Tabletten: mit 245 mg TDF    1 Tbl, 1 x/d      siehe TDF und FTC       mit MZ
                                      Switzerland Sàrl            und 200 mg FTC

EIN-TABLETTEN-KOMBINATIONSPRÄPARATE

BTG & TAF & FTC     Bictarvy          Gilead Sciences             Tabletten: mit 50 mg BTG,    1 Tbl, 1 x/d      sieh BTG, TAF und       egal
                                      Switzerland Sàrl            25 mg TAF und 200 mg FTC                       FTC

DOR & TDF & FTC     Delstrigo         MSD Merck                   Tabletten: mit 100 mg DOR,   1 Tbl, 1 x/d      siehe DOR, TDF und      egal
                                      Sharp & Dohme AG            300 mg TDF und 300 mg FTC                      FTC

DRV/c & TAF & FTC Symtuza             Janssen-Cilag AG            Tabletten: mit 800 mg DRV,   1 Tbl, 1 x/d      siehe DRV, Cobi, TAF    egal
                                                                  150 mg Cobi, 10 mg TAF und                     und FTC
                                                                  200 mg FTC

DTG & ABC & 3TC     Triumeq           ViiV Healthcare GmbH        Tabletten: mit 50 mg DTG,    1 Tbl, 1 x/d      siehe DTG, ABC und      egal
                                                                  600 mg ABC und 300 mg 3TC                      3TC

DTG & 3TC           Dovato            ViiV Healthcare GmbH        Tabletten: mit 50 mg DTG     1 Tbl, 1 x/d      siehe DTG und 3TC       egal
                                                                  und 300 mg 3TC

DTG & RPV           Juluca            ViiV Healthcare GmbH        Tabletten: mit 50 mg DTG     1 Tbl, 1 x/d      siehe DTG und RPV       mit MZ
                                                                  und 25 mg RPV

EVG/c & TAF & FTC Genvoya             Gilead Sciences             Tabletten: mit 150 mg EVG,   1 Tbl, 1 x/d      siehe EVG, Cobi, TAF    mit MZ
                                      Switzerland Sàrl            150 mg Cobi, 10 mg TAF und                     und FTC
                                                                  200 mg FTC

RPV & TAF & FTC     Odefsey           Gilead Sciences             Tabletten: mit 25 mg RPV,    1 Tbl, 1 x/d      siehe RPV, TAF und      mit MZ
                                      Switzerland Sàrl            25 mg TAF und 200 mg FTC                       FTC

Die vorliegende Tabelle wurde mit aller gebotenen Sorgfalt erstellt. Alle Angaben sind immer in Zusammenhang mit
dem entsprechenden ärztlichen Rat zu verwenden. Die Tabelle enthält nur eine begrenzte Auswahl der Information
über die antiretroviralen Substanzen. Zur kompletten Beschreibung der Medikamente (Nebenwirkungen usw.) fragen
Sie Ihren Arzt, lesen Sie die Packungsbeilage oder gehen Sie auf die Website www.swissmedicinfo.ch.

Die Tabelle finden Sie zum Herunterladen auf www.shop.aids.ch/hivpos.
6., aktualisierte Auflage 2020 (online verfügbar) D/F

Aids-Hilfe Schweiz                         Spendenkonto
Stauffacherstrasse 101, 8004 Zürich        Zürich, Postkonto 30-10900-5
www.aids.ch
SEXARBEIT

            Die Crux mit dem Sex
                                       Mit dem langfristigen Ziel, die Prostitution gänzlich abzuschaffen, verabschiedete das
                                       schwedische Parlament 1998 ein Gesetzespaket mit dem sinnigen Namen «Frauenfrieden».
                                       Am 1. Januar 1999 trat es in Kraft. Doch mit dessen Einführung stellte sich kein Frieden
                                       für die Menschen in der Sexarbeit ein. Die Aids-Hilfe Schweiz stellt sich entschieden
                                       gegen das sogenannte «Schwedenmodell».

                                                 SABINA DÜRINGER | Aids-Hilfe Schweiz
                                                 Programmleiterin Sexarbeit & Migration

                                                     Seit der Einführung des Gesetzes         um damit Geld zu verdienen. «Arbeit» ist in
                                                       kann in Schweden zu einer Geld-        den meisten Berufen abhängig von diversen
                                                        oder Gefängnisstrafe verurteilt       Fähigkeiten, sozialen Umständen, gesetzlichen
                                                        werden, «wer sich für eine Ge-        Rahmenbedingungen und der Marktlage. Das
                                                        genleistung kurzzeitige sexuel-       will heissen: Sexarbeit ist normal und nicht mo-
                                                        le Verbindungen verschafft». Zu       ralisch schlechter als anderes, was Menschen
                                                       diesem Zweck enthält es drei zen-      tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
                                                     trale Regelungen: Es verbietet jede      Prostitution ist hingegen negativ konnotiert.
                                                    Form von Zuhälterei oder Kuppelei,        Das Wort kommt aus dem Lateinischen und
                                                 stellt den Kauf von Sex für die Freier       bedeutet «nach vorn zu stellen», also sich preis-
                                             unter Strafe und verpflichtet Vermieter          zugeben und auszustellen. Eine Prostituierte
                                        und Vermieterinnen, Wohnungen zu kündigen,            tut demnach etwas, was Frau nicht tun sollte,
                                        die von der Bewohnerin oder dem Bewohner              und das auch noch gegen Geld. Das ist verpönt.
                                        zur Ausübung von Prostitution genutzt werden.            Ausserdem gibt es «die Sexarbeiterin» nicht.
                                            Auf dem Papier mag dies gerecht(er) wirken,       Männer und Frauen, sowohl cisgender als auch
                                        in der Realität ist jedoch das Gegenteil der Fall:    transgender, machen diese Arbeit. Es gibt die
                                        Sexarbeitende werden kriminalisiert, weiterhin        «Escortfrau» und den «Callboy», Sexarbeit wird
                                        stigmatisiert und in den Untergrund gedrängt.         in Salons, in Privatwohnungen und in Autos
                                        Welche Sexarbeiterin meldet Übergriffe, wenn          angeboten. Die Formen und Rahmenbedin-
                                        sie fürchten muss, aus ihrer Wohnung rausge-          gungen sind vielfältig, manche werden von
Sexarbeit ist in der Schweiz            worfen zu werden? Zu denken, dass es die Se-          der Gesellschaft «akzeptiert», andere moralisch
legal, dennoch ist sie kein Beruf       xarbeit infolge der Einführung eines Verbots          verurteilt. Was Sexarbeitende brauchen, ist
wie die anderen. Vorurteile, mora-      – etwa in Form der Freierkriminalisierung –           die Wahrung der Menschenwürde und Men-
lische Bedenken, Stigmatisierung        nicht mehr geben wird, ist illusorisch. Sexar-        schenrechte. Sie entscheiden selbst, was sie
und Diskriminierung machen das          beit ist eine soziale und ökonomische Realität.       entwürdigt und was nicht. Und um begangenes
Leben von Menschen, die Sexarbeit       Diverse Studien zeigen, dass Sexarbeit auch in        Unrecht, das keineswegs kleingeredet werden
ausüben, nicht einfach. Meist wird      Ländern, in denen sie kriminalisiert wird oder        will, zu bekämpfen, sind keine Verbote nötig,
über Sexarbeitende diskutiert, sel-     verboten ist, weiterhin besteht. In der Illegalität   sondern Rechte, die auch durchgesetzt und
ten kommen sie selbst zu Wort           sind Sexarbeitende aber mit erhöhter Verletz-         angewendet werden.
oder erhalten eine Plattform für        lichkeit und Stigmatisierung konfrontiert. Ein
ihre Anliegen.
                                        Sexkaufverbot verschlechtert ihre Situation
«Ich bin eine Sexar­bei­terin» lässt
                                                                                                                                   fien

                                        und schwächt ihre Rechte. Wenn sich Kunden
                                                                                                                                en,

Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter
                                                                                                                           Fotogra

                                        strafbar machen, müssen Sexarbeitende grös-
                                                                                                                        60 Seit

zu Wort kommen. In eindrück-
lichen Porträts erzählt es von ihren
                                        sere Risiken eingehen. Dies erhöht nicht zuletzt
                                                                                                                   te, mit

                                        das Gesundheitsrisiko – der Sexarbeitenden
                                                                                                                 sano. 1

Lebensrealitäten, Sichtweisen und
                                                                                                                 2020.

Problemen. Und zeigt auf, dass die      und ihrer Kundschaft, aber auch der Gesamt-
                                                                                                           und Tex

                                        bevölkerung.
                                                                                                         hiko Ku

Gründe für Sexarbeit so vielfältig
                                                                                                         Verlag,

sind wie die Menschen, die sie              Sexarbeit und Prostitution sind nicht dassel-
                                                                                                 Por träts

                                        be. Sexarbeit beschreibt eine Dienstleistung,
                                                                                                von Yos

ausüben.
                                                                                                Limmat

16   Swiss Aids News 4 | 2020
M I G R AT I O N

Prävention tut not
Seit rund 15 Jahren engagiert sich die Aids-Hilfe Schweiz in der HIV-Prävention bei Men-
schen mit Migrationshintergrund. Unsere Ziele: über Stigma und Diskriminierung von
HIV-betroffenen Migranten und Migrantinnen in der Schweiz sprechen und dazu beizutra-
gen, die Übertragungsraten von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen
in der Migrationsbevölkerung zu reduzieren.

Migrantinnen und Migranten sind häufiger von        Aber nicht alle Migrant_innen befinden sich in
Krankheiten betroffen als die Allgemeinbevöl-       einer Lebenssituation mit erhöhter gesundheit-
kerung. Als jüngstes Beispiel dient Covid-19:       licher Gefährdung. Und bei denjenigen, die stär-
Wie die OECD festgestellt hat, gibt es bei den      ker vom Infektionsrisiko betroffen sind, sind
Covid-19-Fällen und bei der Sterblichkeit eine      die Gründe dafür unterschiedlich. Es braucht
systematische Überrepräsentanz der migran-          also einen breiten Fächer von Angeboten und
tischen Bevölkerung. Ein ähnliches Bild zeigt       Massnahmen, um ihre Situation zu verbessern
sich auch bezüglich HIV. Von den HIV-Betrof-        und eine wirkungsvolle HIV-Prävention leisten
fenen mit bekannter Nationalität waren in der       zu können. Und wir müssen diese Menschen
Schweiz im Jahr 2018 rund die Hälfte Menschen       dort erreichen, wo sie leben, und zwar so, dass
mit ausländischer Nationalität. Neuere Publi-       sie uns verstehen.
kationen weisen zudem darauf hin, dass sich
Menschen, die in die Schweiz migrieren, zum         Das Programm Migration der Aids-Hilfe Schweiz
Grossteil erst nach der Migration infizieren. Die   steht für ein ganzes Bündel an Massnahmen,
Fachleute sind sich einig: Zurückzuführen sind      die das Thema HIV- und STI-Prävention bei der
die im Vergleich zu anderen Personengruppen
höheren Ansteckungszahlen auf die sozioöko-         Nicht alle Migrant_innen befinden
nomischen Strukturen der Migrant_innen.             sich in einer Lebenssituation mit er-
Wohnsituation, Arbeitssituation, Sprachkennt-       höhter gesundheitlicher Gefährdung.
nisse, Aufenthaltsstatus und weitere Faktoren
                                                    Und bei denjenigen, die stärker vom
machen diese Menschen vulnerabel und da-
                                                    Infektionsrisiko betroffen sind, sind
durch anfälliger für Infektionen.
                                                    die Gründe dafür unterschiedlich.
  Migranten bewegen sich oft in kleinen Com-
                                                                                                       Der Begriff Migrantin respek-
  munitys. HIV-Neuinfektionen können sich in        Migrationsbevölkerung bearbeiten, pflegen
                                                                                                       tive Migrant (der sich vom
  diesen Netzwerken sehr schnell ausbreiten.        und weiterentwickeln. Wir bauen Zugänge zu
                                                                                                       lateinischen Verb «migrare»,
  Menschen aus gewissen Regionen (Sub­              den unterschiedlichen Communitys auf: durch        wandern, ableitet) ist unpräzis.
  sahara, Osteuropa) haben eine erhöhte Prä-        Projekte in und mit den Communitys, durch          Gemeint ist ein Mensch, der
  valenz. Das Risiko, sich bei ungeschütztem        die Bereitstellung von Informationen in ver-       sich einen neuen Ort zum Leben
  Geschlechtsverkehr mit HIV zu infizieren,         schiedenen Sprachen und über verschiedene          sucht. Die WHO präzisiert:
  ist hier grösser.                                 Kanäle und, als wichtigstes Instrument, durch      «Auf internationaler Ebene
  Viele Migrant_innen kommen aus einem              die Arbeit mit Mediator_innen vor Ort, von         gibt es keine allgemein akzep-
  religiös geprägten Umfeld, in dem das Spre-       denen viele die Sprache(n) der Migrationsbe-       tierte Definition des Begriffs
  chen über Sexualität tabuisiert ist.              völkerung sprechen. Und nicht zuletzt wollen       ‹Migrant›. Migranten_innen kön-
  Die sprachlichen Hürden erschweren den            wir die Migrant_innen auf individueller Ebene      nen im Heimat- oder Gastland
  Migrantinnen und Migranten den Zugang             stärken – durch Weiterbildung, Austausch und       bleiben (‹Siedler_innen›), in
  zu relevanter Information, Prävention und         Empowerment-Projekte.                              ein anderes Land weiterziehen
                                                                                                       (‹Transitmigrant_innen›) oder
  Testangeboten.
                                                                                                       zwischen den Ländern hin-
                                                                                                       und herwandern ­(‹zirkuläre
                                                                                                       Migrant_innen› wie
                                                                                                       Saisonarbeiter_innen).»

                                                                                                            Swiss Aids News 4 | 2020   17
SAMMELSURIUM

      AUSSTELLUNG

     «Der erschöpfte Mann»
     Welchem Ideal soll der Mann 2020 entsprechen? Keinem oder einfach seinem eigenen? Das Landes-
     museum Zürich unternimmt einen Streifzug durch die europäische Kulturgeschichte des Mannes. An-
     hand von rund 200 kultur- und kunstgeschichtlichen Objekten zeigt «Der erschöpfte Mann», wie sich
     die Männlichkeitsideale im Lauf der Jahrhunderte verändert haben. Wir stehen vor dem griechischen
     Priester Laokoon, der für seine Arroganz bestraft wurde, bestaunen das Männerideal im Mittelalter,
     blicken auf den Ausnahmefussballer Zinédine und kommen in der Gegenwart an. Eine Ausstellung für
     alle Menschen ab zwölf, kostenlos für alle Schulklassen aus der ganzen Schweiz.
     www.landesmuseum.ch

                                                                                                                                                                           London 2015, Ed.1/3, Giclée-Druck, 152.4 x 241.3 cm.
                                                                                                                  Juergen Teller, Self-portrait for Business of Fashion,

                                                                                                                                                                                                                                  © Juergen Teller

                            WANDER-TIPP

                           Wandern in der Schweiz
                           Was für eine Gratwanderung das Jahr 2020 doch war! Warum nicht auch einmal eine Grenz-
                           wanderung unternehmen? Auf dem Chemin du Jura zum Beispiel. Dieser verläuft von Lucelle
                           aus entlang der französisch-schweizerischen Grenze. Der Roc au Corbeau bietet einen tollen
                           Ausblick auf das südliche Elsass. Danach geht es durch die Wälder der Ajoie nach Porrentruy,
                           wo die Altstadt und das Schloss unbedingt einen Besuch wert sind.
                           Diese und viele weitere Wanderungen finden sich auf der kostenlosen App «SchweizMobil».
                           Für alle, die draussen unterwegs sind – egal ob im Sommer oder im Winter.
                           www.schweizmobil.ch

18   Swiss Aids News 4 | 2020
LEBEN MIT HIV

Der Positivrat – warum wir
da sind und was wir wollen
Unser kleiner Verein wurde vor zehn Jahren gegründet, seit einem Jahr sind wir Mitglied der
Aids-Hilfe Schweiz. Das wichtigste Anliegen des Positivrats: Die Perspektive der Menschen, die mit
HIV und/oder einer viralen Hepatitis leben, muss in alle gesundheitspolitischen Entscheidungen
einfliessen, die diese Menschen betreffen. Die gelebte Erfahrung der Betroffenen miteinzubezie-
hen, ist seit bald vierzig Jahren eine zentrale Forderung der HIV-Bewegung. Bereits 1983 trafen
sich HIV-betroffene schwule Männer aus New York und San Francisco in Denver, und sie machten
dieses Anliegen unter dem Titel «Nothing about us without us» zu ihrem Manifest.

                  DAVID HAERRY

                  Was heisst das für uns heute in der Schweiz?     Swissmedic ist zuständig für die Zulassung
                  Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie ver-       neuer Medikamente und die Marktüberwa-
                  schreibt hierzulande drei Viertel aller HIV-     chung bestehender Substanzen und Medi-
                  Medikamente. Diese Beobachtungsstudie            zinprodukte. Vor acht Jahren fragten wir die
                  wurde 1988 gegründet, sie erfasst die meisten    Behörde an, ob sie bereit wäre, Patient_innen
                  Menschen mit HIV in der Schweiz. Im wissen-      und Betroffene besser in ihre Prozesse einzu-
                  schaftlichen Vorstand der Kohorte beteiligen     binden, so wie es die europäische Behörde EMA
                  sich zwei Vertreter des Positivrats. Ist der     seit vielen Jahren tut. Unser Anliegen stiess
                  Fragebogen zu Stigma relevant, werden alle       bei Swissmedic auf Interesse, und heute gibt
                  möglichen Probleme sensibel genug abgefragt      es eine etablierte Arbeitsgruppe mit Konsu-
                  und erfasst? Welche Drogen spielen beim Sex      menten- und Patientenorganisationen, die
                  eine Rolle, wie wirken sie sich auf den Alltag   sich drei- bis viermal jährlich trifft. Wir stel-
                  der Betroffenen aus? Wie sollen die Kliniken     len eine Ko-Leitung von Patientenseite. Diese
                  mit solchen Fragen umgehen? Wie können wir       Arbeitsgruppe hat zum Beispiel angeregt, dass
                  die Therapiequalität aufrechterhalten, wenn in   Patient_innen Nebenwirkungen direkt bei
                  den Kliniken immer weniger Zeit da ist? Mit      Swissmedic melden können, sie begutachtet
                  diesen Fragen beschäftigen wir uns an minde-     die Texte von Packungsbeilagen auf Verständ-
                  stens vier Sitzungen pro Jahr.                   lichkeit und hat erreicht, dass PrEP-Nutzer für
                                                                   drei Monate generisches Truvada importieren
                  Die HIV-Kohortenstudie spielt auch inso-         konnten, solange in der Schweiz keine bezahl-
                  fern eine wichtige Rolle, als die Population     bare Lösung vorhanden war.
                  der HIV-positiven Menschen kontinuierlich
                  älter wird. Heute ist bereits die Hälfte von     Die Eidgenössische Kommission für sexuell
                  ihnen über fünfzig. Die Langzeitbehandlung       übertragbare Infektionen (EKSI) berät die
                  durch die antiretrovirale Therapie kann den      Bundesverwaltung auf strategischer Ebene zur
                  Alterungsprozess beschleunigen. Ebenso er-       Verhütung und Bekämpfung von HIV, viraler
                  höht sich das Risiko für Nebenwirkungen          Hepatitis und anderen sexuell übertragbaren
                  und Begleiterkrankungen. Dies stellt die Be-     Infektionen. Aktiv sind wir vom Positivrat
                  treuenden wie auch die Betroffenen vor neue      heute vor allem in der dortigen ­Arbeitsgruppe
                  Herausforderungen im Umgang mit HIV. Die         Klinik und Therapie. In der Vergangenheit
                  Kohortenstudie begleitet alternde HIV-posi-      haben wir uns besonders für den Einsatz der
                  tive Menschen auf hohem wissenschaftlichen       Prä­expositionsprophylaxe (PrEP) und die Auf-
                  Niveau über viele Jahre und bietet massge-       nahme der viralen Hepatitis in den Aufgaben-
                  schneiderte Therapien.                           bereich der Kommission eingesetzt.

                                                                                     Swiss Aids News 4 | 2020    19
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