SAN 4|20 SWISS AIDS NEWS - ZUKUNFT ZUVERSICHT
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EDITORIAL Zukunft Zuversicht Ein Virus geht viral, und Ende Jahr trägt die Welt Maske. Corona-Virus haben bereits Fünfjährigel in ihrem Vokabular, Fünfzigjährige diskutieren über Begriffe wie Solidarität, Eigenverantwortung, Übersterblichkeit. Dazwischen üben Jugendliche den Spagat zwischen «Lassen wir die Sau raus» und «Seien wir vernünftig». Die Politik gibt ihr Bestes, und das ist nicht immer das Beste. Wissenschaftler_innen vernetzen sich und lernen täglich Neues. Das Virus hat alle im Griff, auch die, die es leugnen. Ältere Semester erinnern sich an ein Virus, das in den Achtzigerjahren die Welt verunsicherte und viel Leid und Trauer verursachte. Sie erinnern sich daran, dass man lange keine Ahnung von den Übertragungswegen hatte, fieberhaft sichere Tests entwickeln wollte und nach einem Impfstoff suchte. Und dass man subito nach Schuldigen suchte – da das Virus sexu- ell übertragen wurde. Wenn Sex im Spiel ist, ist auch die Moral nicht weit. Schwule Männer mussten in den Anfängen der HIV-Pandemie die ganze Last von Krankheit, Ausgrenzung und Stigmatisierung stemmen. Inzwischen hat sich die Lage für Menschen, die mit dem HI-Virus leben, nach- haltig verbessert. Seit 2002 sinkt in der Schweiz die Anzahl HIV-Diagnosen. Die allermeisten Betroffenen erhalten heute eine medikamentöse Therapie, die meis ten haben eine Viruslast unter der Nachweisgrenze. Das bedeutet: HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nicht ansteckend. Das stimmt zuversichtlich, auch mit Blick in die Zukunft. So lautet der Hefttitel dieser Swiss Aids News. Mit Lesestoff, der zuversichtlich macht, ohne die wei- terhin notwendigen Verbesserungen zu unterschlagen. Wir von den Swiss Aids News wünschen Ihnen fürs neue Jahr eine grosse Portion Optimismus und bedanken uns für Ihre Treue. Bleiben Sie wohlauf! Brigitta Javurek Herausgeberin Redaktion der Aids-Hilfe Schweiz Aids-Hilfe Schweiz (AHS) Korrektorat Die Orthografen, Zürich Alle Illustrationen L E B E N M I T HI V © Daniel Müller, illumueller.ch Gestaltung Positive Erneuerung: Porträt Gleisson Juvino 4 Ritz & Häfliger, Basel Make HIV sexy 10 SAN Nr. 4, 2020 © Aids-Hilfe Schweiz, Zürich Der Positivrat stellt sich vor 19 Die SAN erscheinen in folgender Auflage: D 1750 Expl. / F 710 Expl. Positive Frauen Schweiz 21 Abonnement Diskriminierungen von Menschen mit HIV 22 san@aids.ch, www.aids.ch M E D IZ IN Korrigendum In den letzten Swiss Aids News ist uns ein Zwei Blicke zurück und einer nach vorn 8 Fehler unterlaufen. Das Zitat und Bild auf S E X A R BEI T Seite 23 gehört zu Jürg und nicht zu Christian. Wir entschuldigen uns bei Jürg. Die Crux mit dem Sex? 16 M IG R AT I ON Prävention tut not? 17
LEBEN MIT HIV © Diego Sanchez Positive Erneuerung Voller Freude und Stolz setzt sich Gleisson Juvino, ein junger Aktivist der Groupe SIDA Genève, dafür ein, die Bilder vom Leben mit HIV zu dekonstruieren. Die Lebenslauf dieses neuen, non-binären Gesichts des Kampfs ist von den hartnäckigen Vorurteilen aus der Vergangenheit geprägt, erzählt aber auch die Geschichte deren Überwindung. ANTOINE BAL Eine überdimensionierte rote Schleife und fast kleinen Millennial-Schnäuzchen ist anstec- vierzig Jahre HIV-Geschichte wachen über die- kend. Gleisson bezeichnet sich selbst als non- ser Begegnung. Mit seinen 28 Jahren ist Gleis- binär, stört sich aber nicht am «er». Das hänge son jünger als die Epidemie. Weisse Plateau- immer vom Kontext ab. In diesem grossen Saal Sneakers, Jogginghose mit Druckknöpfen, ein der Groupe SIDA Genève tauschen sonst Peer- goldener Ohrring. Das Lächeln unter seinem groups Blicke und Erfahrungen aus. Gleisson 4 Swiss Aids News 4 | 2020
ist hier seit zwei Jahren ehrenamtlich tätig. doch die Ängste, die sich in seinem Kopf ein- Von hier aus kämpft er dafür, etwas zu ändern, genistet haben, sind unmittelbar, sozial: «Ich damit andere nicht dasselbe durchmachen fragte mich überhaupt nicht, wie ich mich müssen wie er: das Outen seines HIV-Status, angesteckt hatte. Aber ich fragte mich: Was Vorurteile, Schweigen, Stigmatisierung. Gleis- wird nun aus meinem Leben? Wie werde ich son hat sich zum Ziel gesetzt, die negativen mit meiner Familie und den Menschen um Vorstellungen von seinem Leben – von jedem mich herum zurechtkommen? Wie soll ich in Leben – mit HIV zu dekonstruieren. Und der der Lage sein, offen darüber zu sprechen, im Name seines Instagram-Blogs, den er seit dem Wissen, dass ich hier soeben erst Fuss gefasst ersten Lockdown führt, ist Programm: «Good habe und noch kaum jemanden kenne?» HIV vibes only!» Trauma und Diskriminierung Jung, migrantisch, HIV+ «Leider kamen mir all die Bilder in den Sinn, Als Gleisson 1992 in Luziânia, ganz in der Nähe die ich seit meiner Kindheit in mir herumtrage. von Brasília, als drittes von fünf Kindern zur Prägende Bilder von Aids.» Diese traumatischen Welt kommt, arbeitet Act Up seit fünf Jahren Bilder gehören weniger zu ihm selbst als viel- daran, das Massaker einzudämmen und den mehr zu einer Geschichte von gesellschaftlich «Es war 2015. Der 17. Sep- weltweiten Kampf gegen HIV voranzutreiben. geteilten und verinnerlichten Vorstellungen. Dreifachtherapien gibt es noch nicht. Zwan- Seit Jahrzehnten halten sie unsere Sexualitäten tember. Ich erinnere mich zig Jahre später, nach einer KV-Ausbildung in besetzt. «Ich erinnere mich, als sei es gestern an jedes Detail. Ich erinnere Brasília, arbeitet er für die FUNAI, die natio- gewesen, an Wortfetzen, an Gerüchte über die- mich, wie die Ärztin mir nale Stiftung zum Schutz der indigenen Bevöl- sen Jungen aus dem Quartier, wo ich aufgewach- sagte, ich sei HIV-positiv. kerung. «Ich bewegte mich bereits in einem sen bin: den ‹Aidsler›. Eine extrem stigmatisie- Ich kann ihre Stimme noch Minderheitenkontext, war durch den Kontakt rende und beleidigende Bezeichnung. Ohne immer hören, aber ich sehe mit diversen indigenen Völkern Brasiliens seinen Status überhaupt zu kennen, redeten die sie nicht mehr vor mir.» sensibilisiert.» Aus dieser Erfahrung nimmt Leute über ihn, über seinen Körper, über seinen Gleisson mit, dass Administratives allein nicht Gewichtsverlust und fragten sich, ob er wohl genügt. Aus Neugier nimmt er ein Jahr Auszeit, sterben würde oder nicht.» Für Gleisson gehö- um in Paris und Genf, wo seine Schwester seit ren diese Erinnerungen zu einem Prozess der rund fünfzehn Jahren lebt, Französisch zu ler- Selbststigmatisierung. «Im selben Augenblick nen. Eine Liebesbegegnung veranlasst ihn, beschloss ich, nicht darüber zu reden. Drei Jahre sich Ende 2013 in Genf niederzulassen. Gleis- lang habe ich weder mit meiner Familie noch son und sein Partner, von dem er inzwischen mit meinen Freunden darüber gesprochen.» getrennt ist, beginnen ein gemeinsames Leben. Um zu verdeutlichen, wie stark er sich Er arbeitet in Cafés und Restaurants, gleichzei- innerlich eingesperrt fühlte, erzählt Gleisson tig schreibt er sich an einer französischspra- vom Weihnachten, das auf seine HIV-Diagnose chigen Maturitätsschule für Erwachsene ein. folgte. Nach seinem Besuch in Brasilien kehrt «Es war 2015. Der 17. September. Ich erin- er mit seinen Eltern nach Genf zurück, wo sie nere mich an jedes Detail. Ich erinnere mich, eine Zeit lang bei ihm wohnen sollen. Gleisson wie die Ärztin mir sagte, ich sei HIV-positiv. fühlt sich in die Enge getrieben. Er hält die Nähe Ich kann ihre Stimme noch immer hören, aber der Eltern in seiner Studentenbude kaum aus. ich sehe sie nicht mehr vor mir.» Gleisson hatte Unter dem Vorwand, kurz einkaufen zu gehen, sich schon seit einiger Zeit seltsam schwach packt er seine Sachen, nimmt den nächsten gefühlt, weshalb er beschloss, sich unter- Zug, dann den nächsten Flug nach Thailand, wo suchen zu lassen. Resultat: niedrige Körper sein Partner die Ferien verbringt. Er lässt seine abwehr, hohe Viruslast. Trotz des Schocks fühlt Eltern in Genf zurück und erfindet Ausflüchte. er sich unterstützt, auch von seinem Partner, «Ich schaffte es weder, es ihnen zu sagen, noch, der sich am selben Tag als HIV-negativ erweist. es vor ihnen zu verheimlichen. Ich brauchte Das Ärzteteam beruhigt ihn auch in Bezug auf Zeit, um mich zurechtzufinden, um das alles die Wirksamkeit der Behandlung, auf die wis- zu verinnerlichen, zu dekonstruieren.» senschaftlichen Fortschritte. Gleisson wird von Das Schweigen, die Unfähigkeit zu sprechen, der Infektiologie begleitet, in wenigen Monaten wird durch hautnahe Diskriminierungserfah- ist er undetectable. Ein neues Leben beginnt, rungen verstärkt. Es sickert durch, dass er HIV- Swiss Aids News 4 | 2020 5
LEBEN MIT HIV positiv ist. Die Nachricht macht die Runde und ‹Regards Croisés› wird mir bewusst, dass der kommt ihm wieder zu Ohren, als er noch immer direkte Kontakt mit Menschen, die mit HIV unfähig ist, frei über seinen Status zu sprechen. leben, absolut wesentlich ist. Junge Menschen Die Brutalität des Geoutetwerdens schürt seine brauchen nicht nur Schulwissen, sondern schon akute emotionale Not. Gleisson ist em- auch Identifikation. Wenn sie hier rausgehen, pört, dass man ihm seine Lebenswirklichkeit machen sie sich ein neues Bild.» derart abspricht. Noch schlimmer ist, dass man in seinem Umfeld das Outing zu verharmlosen Zur Dekonstruktion gehört auch die Sprache, versucht. «Wie kann man jemandem so etwas die Wortwahl. «Was etwa die Diskriminierung antun? Es war eine Verletzung meiner Person, von Menschen mit HIV auf Dating-Apps angeht: ich fühlte mich angegriffen, und ich reichte In privaten Chats bin ich radikal offen, ich sage eine Beschwerde ein.» Auch im schulischen stets, dass ich mit HIV lebe, aber undetectable «In privaten Chats bin ich Umfeld kommt es zu Schwierigkeiten aufgrund bin. Ich nenne die Dinge beim Namen. Aber radikal offen, ich sage stets, seines Gesundheitszustands. es geht auch darum, andere Ausdrücke zu dass ich mit HIV lebe, aber verwenden, zum Beispiel ‹Hast du dich testen undetectable bin. Ich nenne Befreiendes Wissen lassen?› statt ‹Bist du clean?›.» Aus Gleissons die Dinge beim Namen.» Anonym vertieft er sich zuerst in den sozia- Sicht müsste das Fachwissen der Menschen mit len Netzwerken in HIV. Dann entdeckt er die HIV mobilisiert werden, um die alten stigmati- Groupe SIDA Genève, auf Rat seines Arztes, sierenden Reflexe bezüglich HIV-Übertragung von dem er voller Gefühl erzählt: «Das ist ein zu vermeiden, die er seit dem Ausbruch der wertvoller Aspekt meines Lebens mit HIV, Corona-Krise wahrnimmt. diese Beziehung zwischen Arzt und Patient.» In der Groupe SIDA fühlt er sich aufgehoben Was sind seine Träume? Die Essenz aus seinem und beginnt sich zu engagieren. «Die Groupe bisherigen Lebensweg weiterverfolgen, sagt SIDA, das ist eine Liebesgeschichte. Hier Gleisson, und das Schlimmste in eine gesell- habe ich eine zweite Familie gefunden. Ich schaftliche Kraft verwandeln. «Der Nutzen ist bin freiwillig Migrant, ich lebe weit weg und zweifach: für mich und für die andern.» Und bin froh, Menschen zu haben, die mir so nah im Herbst der Pandemie voller Stolz an einem sind.» Als Gleisson sich outet, es zuerst seiner Strand leben. Schwester und dann endlich seinen Eltern sagt, ist er besser in der Lage, sie zu beruhigen – aber auch überrascht, wie viel seine Mutter schon darüber weiss. Dieses Familienwissen erlaubt es Gleisson nicht nur, sich vorbehalt- los und ganz zu zeigen, sondern auch, Unters- tützung anzunehmen. «Mir wurde klar, dass ich Anrecht auf diese Unterstützung hatte. Darin finde ich im weiteren Sinn auch die nötigen Res- sourcen, um, statt mich zurückzuziehen, mit diskriminierenden Situationen fertigzuwerden – ohne dass ich überreagiere oder die Fassung verliere.» Resilienz im Aktivismus Heute teilt Gleisson seine Erfahrungen in zahlreichen Austausch-Workshops in der Ge- meinschaft der HIV-Betroffenen, aber auch im schulischen Umfeld. Sein junger, aber genera- tionenübergreifender Lebenslauf, seine Non- Binarität, seine Situation als Migrant – mit all diesen Überschneidungen trägt er dazu bei, neue Bilder, neue Vorstellungen zu schaf- fen. «In unserem gemeinschaftlichen Projekt 6 Swiss Aids News 4 | 2020
MEDIZIN Zwei Blicke zurück und einer nach vorn In keinem medizinischen Fach wurde im vergangenen Jahrzehnt wohl ähn- lich viel geforscht wie auf dem Gebiet der HIV-Infektion. Vieles wurde dabei erreicht, die dringendsten Fragen scheinen beantwortet. Dennoch stehen neue Herausforderungen an. Der folgende Artikel soll einen Überblick über die grössten Errungenschaften der HIV-Medizin der letzten zehn Jahre geben und aufzeigen, welche Probleme in Zukunft zu lösen sind. DOMINIQUE LAURENT BRAUN Am 30. Januar 2008 veröffentlichte die Eidge- nössische Kommission für Aids-Fragen einen Artikel mit einer provokanten Botschaft: Unter erfolgreicher Therapie können HIV-infizierte Personen das Virus auf sexuellem Weg nicht mehr auf andere übertragen. Das Swiss Statement Dieses sogenannte Swiss Statement führte da- mals zu viel Kritik, insbesondere musste es sich den Vorwurf gefallen lassen, für die Pro- Trotz der enormen Fort- klamation dieser Botschaft sei die Datenlage zu © Marilyn Manser schritte in der HIV-Medizin gering. Zwölf Jahre später gilt das Swiss State- scheint ein Problem nicht ment als bewiesen: In den zwei sogenannten wegtherapierbar zu sein: PARTNER-Studien wurde an Hunderten sero- die HIV-bedingte Stigmati- diskordanten heterosexuellen und MSM-Paa- sierung. ren untersucht, wie oft es bei ungeschütztem sind weitere Kombinationspräparate auf den Sexualkontakt zu einer Übertragung von HIV Markt gekommen und haben die Therapie un- kommt, wenn der HIV-positive Partner unter zähliger Patient_innen erleichtert. Wie Studi- einer HIV-Therapie steht und die Viruslast auf en zeigen, verbessert sich die Therapietreue höchstens 200 Kopien pro Milliliter Blut unter- dank der einmal täglichen Einnahme und der drückt ist. Resultat: Bei über 130 000 Sexual- reduzierter Pillenzahl – und dies bei gleichblei- kontakten konnte keine einzige Übertragung bender Wirksamkeit. Mittlerweile gibt es STRs, innerhalb der Paare festgestellt werden. Die die nur zwei statt drei Wirkstoffe enthalten Botschaft U = U («undetectable = untransmit- und damit das Potenzial haben, Langzeitne- table») hat inzwischen das Leben von Millio- benwirkungen und Kosten zu verringern. Trotz nen Menschen, die mit HIV leben, nachhaltig dieser Therapieerfolge stehen neue Herausfor- verändert, Übertragungen verhindert und den derungen an: Die am häufigsten eingesetzten Betroffenen ermöglicht, ihre Sexualität befreit HIV-Medikamente können bei bestimmten Per- und selbstbestimmt zu leben. sonen zu einer starken Gewichtszunahme und damit verbunden zu einem erhöhten Risiko Weniger ist mehr für Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Die Im Jahr 2007 kam sie heraus: eine Tablette, Frage, wie diese Gewichtszunahme zustande die drei Wirkstoffe enthielt und unter dem kommt und wie man sie voraussagen kann, Handelsnamen Atripla das erste sogenannte ist noch nicht geklärt und beschäftigt Forscher Single-Tablet Regimen (STR) darstellte. Seither auf der ganzen Welt. 8 Swiss Aids News 4 | 2020
Der Berlin-Patient tion gegen hochresistente Virusstämme einge- Seit der Entdeckung von HIV im Jahr 1983 wird setzt werden können und die Behandlung aller sie herbeigesehnt: die Heilbarkeit von HIV. Was Patient_innen erlauben werden – sofern der zu Beginn der HIV-Pandemie schon in greif- Zugang zu diesen Therapien gewährleistet ist. barer Nähe schien, stellt auch mehr als drei Jahrzehnte später eine der grössten Herausfor- Erfolgreich therapiert, derungen dar. Wie HIV geheilt werden kann, aber weiterhin stigmatisiert erzählt die Geschichte von Timothy Brown, der Trotz der enormen Fortschritte in der HIV-Me- als Berlin-Patient berühmt wurde. Brown wur- dizin scheint ein Problem nicht wegtherapier- de 1995 mit HIV infiziert und seither mit einer bar zu sein: die HIV-bedingte Stigmatisierung. hochwirksamen HIV-Therapie behandelt. Als Auch im Jahr 2020 werden viele Menschen mit 2006 ein aggressiver Blutkrebs diagnostiziert HIV in diversen sozialen Bereichen weiterhin wurde, wurde ihm in Form einer Stammzell- stigmatisiert – selbst im Gesundheitswesen. Ei- transplantation das gesunde Immunsystem ne Untersuchung der Schweizerischen HIV-Ko- eines HIV-negativen Spenders übertragen. Die- hortenstudie (SHCS) ermittelte 2015, weshalb se Stammzellen enthielten einen natürlichen sich Personen erst im späten Stadium der HIV- genetischen Defekt, der die Immunzellen resi- Infektion an das Gesundheitswesen wendeten: stent gegenüber HIV machte und bei Brown da- Der Grund war in fast der Hälfte der Fälle die zu führte, dass HIV aus all seinen Körperzellen Furcht vor Stigmatisierung im Bekannten- oder verdrängt wurde. Bis zu seinem Tod 2020 galt Freundeskreis. Kürzlich hat die SHCS ein neues Brown als der einzige lebende Beweis, dass ein Projekt lanciert, das die HIV-bedingte Stigma- Mensch von HIV geheilt werden kann. Was tisierung systematisch untersucht. Basierend bleibt, ist die Erkenntnis, dass eine Heilung auf den daraus gewonnenen Erkenntnissen erreicht werden kann, und aufgrund dieses sollen Interventionen entwickelt werden, um Wissens die Hoffnung, dass weitere Patienten die HIV-bedingte Stigmatisierung abzubauen. Timothy Brown folgen werden. Die Botschaft ist klar: Nein zu Stigma, Ja zur Solidarität. Neue Technologien im Kampf gegen HIV Covid-19 und HIV Der Fortschritt der letzten zehn Jahre zeigt Während zu Beginn der Covid-19-Pandemie sich in der Vielzahl neuer Technologien, die die Hoffnung bestand, dass mit dem HIV- zur Behandlung der HIV-Infektion erforscht Medikament Kaletra eine wirkungsvolle The- werden. Das Bestreben dahinter ist klar: die rapie gegen Sars-CoV-2 zur Verfügung steht, HIV-Therapien noch einfacher zu gestalten und zerschlug sich diese Hoffnung beim Vorliegen besser an die Wünsche der Patient_innen anzu- erster Studienergebnisse rasch: Wie so viele passen. In einigen Ländern bereits zugelassen Medikamente, die im späteren Verlauf gegen sind die sogenannten Long-acting-Substanzen, Sars-CoV-2 getestet wurden, zeigt Kaletra kei- wobei zwei Wirkstoffe alle vier bis acht Wochen nen positiven Effekt auf den Verlauf der Covid- in den Gesässmuskel appliziert werden. Die 19-Infektion. Noch nicht restlos geklärt ist, ob Wirksamkeitsstudien zeigen eine Nichtunter- Menschen mit HIV ein erhöhtes Risiko für ei- legenheit gegenüber der HIV-Dreifachthera- nen schweren Covid-19-Verlauf aufweisen; ak- pie, und glaubt man den Aussagen der Stu- tuelle Publikationen scheinen dies zu suggerie- dienteilnehmenden, bevorzugen die meisten ren. Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie Dominique Laurent Braun diese neue Verabreichungsform gegenüber ähnelt demjenigen gegen Aids zu Beginn der Dominique Laurent Braun arbeitet den zu schluckenden Medikamenten. Andere Achtzigerjahre: Vieles ist noch zu erforschen, als Oberarzt mit erweiterter Ver- weltweit laufende Studien untersuchen die Si- und das Testen neuer Therapien endet noch antwortung an der Klinik für Infek- cherheit und Wirksamkeit von Wirkstoffen, die zu oft mit einer Enttäuschung. Eins jedoch ist tionskrankheiten und Spitalhygiene über Vaginalringe, als Mikro-Patches über das jetzt schon klar: Noch nie hat die Menschheit am Universitätsspital Zürich und ist Unterhautgewebe oder in Form von breit neu- in so kurzer Zeit so viel Wissen über eine neue Privatdozent für Infektiologie an der tralisierenden Antikörpern als Kurzinfusionen Infektionskrankheit gesammelt. Bei HIV dau- Universität Zürich. Seit über zehn in den Körper der Patientin oder des Patienten erte das bedeutend länger. Jahren behandelt und betreut er abgegeben werden. Am Horizont zeigen sich Personen, die mit HIV leben. zudem neue Substanzgruppen, die in Kombina- Swiss Aids News 4 | 2020 9
LEBEN MIT HIV © Carlos Gutierrez-Solana Make HIV sexy Wie Visual AIDS mittels Kunst Krieg führt PHILIPP SPIEGEL Februar 2020 Und: «Man muss Kunst studiert haben, um ein Gespannt blicke ich von einem Büro auf die Künstler zu sein.» Häuserschluchten im Herzen New Yorks. Ich Als ich einwerfe: «Aber nicht aus Sicht von warte auf meinen Termin mit dem Direktor Heterosexuellen», werde ich sofort unterbro- einer österreichischen Kulturinstitution. Nach chen: «Es gab ja den Magic Johnson.» Was der wenigen Minuten werde ich hineingebeten. Aids-Aktivismus eines Ex-Basketballers mit Der Vorfreude wird rasch ein Ende gesetzt. In Kunst zu tun hat, weiss ich bis heute nicht. einem einstündigen Gespräch erhalte ich einen Aber es wird mir sehr schnell klar, der Herr Eindruck davon, wie es früheren Künstler_in- Direktor hat nicht nur keinerlei Interesse – nen und Aktivist_innen mit dem Thema Aids sondern schleudert präzise alle Klischees und in Kunst und Engagement ergangen sein muss. Vorurteile der 1990er-Jahre in meine Richtung. Ich war mit der Absicht aufgebrochen, in Ich wage einen weiteren Versuch: «Humor Zusammenarbeit mit der Kunstorganisation reinbringen? Eine neue Diskussion anregen?» Visual AIDS eine Ausstellung in New York – «Humor?! Zum Thema Tod? Bei den Amerika- anzudenken. Nun wurde mir ziemlich schnell nern?», ruft der Herr Direktor. «Das geht doch in nasalem Wienerisch klargemacht: «Das ist nicht. Sie kennen sich ja gar nicht aus.» Er räus- ja nichts Neues. Dazu wurde schon alles ge- pert sich. «Als Wiener, wissens’, trag ich den Tod sagt. Vor allem in der Stadt, die HIV und AIDS ja ein bisserl mit mir mit …». Offensichtlich stolz quasi erfunden hat!» Die arrogante Blume, die auf seine Aussage, scheint er Anerkennung zu Designerbrille und das Stecktuch des Herrn erwarten, weil er den einen oder anderen Wie- Direktor vermitteln die versteckte Botschaft: ner Kabarettisten kennt oder schon einen Film «Opferkunst interessiert doch niemanden.» mit Helmut Qualtinger gesehen hat. 10 Swiss Aids News 4 | 2020
Ich bin sprachlos. Gelähmt. Ein Direktor eines nen versteckt, um irgendwann einen Profit da- österreichischen Kunstbetriebs sagt, er trage raus zu schlagen. Sie warten auf den richtigen – in der Stadt, die «HIV quasi erfunden hat» – Zeitpunkt.» den Tod «ja immer ein bisserl» mit sich. Und Heute ist Carlos auch im Vorstand von Visual das gegenüber einem HIV-positiven Menschen. AIDS. Voller Sarkasmus erzählt er: «Und wäh- Die Sätze werden mich noch Wochen begleiten. rend die Galerien uns verarschten, benutzte uns die Pharmaindustrie als Versuchskaninchen. Ohnmächtig verlasse ich das direktoriale Bü- Ich würde deren Scheiss nicht anrühren. So ro und das Hochhaus. Mit gesenktem Kopf viele Freunde von mir krepierten so viel schnel- schlendere ich durch das chaotische Manhat- ler mit deren Mitteln. Ich schaffte es, mit einer tan. Meine Umgebung nehme ich nicht mehr CD4-Zahl von vier durchzuhalten. Aber wenig- wahr. Ein grauer Nieselregenschleier legt sich stens habe ich ihnen keine Namen gegeben!» Er auf die Stadt und mein Gemüt. lacht und zwickt Eric, den Mann neben sich. Die qualvolle Stunde beim Herrn Direktor Eric Rhein gesteht: «Ja, ja. Bei der CD4-Zahl überschattet die nächsten Wochen. Und nährt zwei habe ich den beiden Namen gegeben. Viel So wie HIV seit zwanzig Zweifel: über mich, meine Intentionen, meine hatte ich damals ja nicht mehr …». Jahren dargestellt wird, Arbeit. Ich, der Bittsteller. Ich, das Opfer. Wozu ist es tatsächlich oft eine mach ich den ganzen Scheiss? Interessiert doch Carlos und Eric haben viel gemeinsam als Über- tränenreiche Opferstory, nicht. Niemanden. lebende von Aids und der Pandemie. Sie waren untermalt mit krampfhaft von Beginn weg mit dabei. Beim Kampf, beim optimistischen Melodien. Die 1990er Aktivismus, beim Archivieren. Um die Werke Sogar mich als Positiven Am nächsten Tag sollte ich die ersten Künstler ihrer sterbenden Freunde zu retten. kotzt diese Darstellung von Visual AIDS treffen. Seit 1989 archiviert Eric ist ein Gründungsmitglied des Archiv- schon gewaltig an. diese Organisation Kunst von HIV-positiven Projekts. Sein Gesicht und seine Sprache sind Künstlern. Ein Projekt, das in der Not gegründet von damals gezeichnet. Er hat den Horror er- wurde, um die Werke der sterbenden Künstler lebt. Und er hat den uneingeschränkten Drang, zu retten. Mittlerweile umfasst die Datenbank die Erinnerung an die Menschen und deren Hunderte von ihnen. Visual AIDS ist weltweit Kunst zu erhalten. «Es war ein Kampf gegen die tätig und organisiert unzählige Veranstal- Zeit», sagt er ruhig und reflektiert. «Ein Kampf, tungen, um Galerien und Kunstschaffende den wir nicht gewinnen konnten. Ich wollte miteinander zu vernetzen. auch meine Werke retten, weil ich dachte, dass Das grauenhafte Gespräch im Kopf, depri- ich nicht überleben würde. Ich wollte nicht miert über dessen Ausgang, quäle ich mich zum vergessen werden. Und ich wollte, dass meine Termin im Galerien-Viertel Chelsea, wo ich ins Freunde nicht vergessen würden.» kleine Büro von Visual AIDS geladen bin. Ein Teil von mir denkt sich: Wozu das Ganze? Die So Ähnliches Carlos und Eric auch erlebt ha- Zweifel, die mir der Herr Direktor auf den Weg ben, so unterschiedlich ist ihr Zugang in vieler gegeben hat, wiegen immer schwerer. Hinsicht. Carlos schimpft über PrEP und die ganzen «Idioten da draussen, die so unüberlegt Ich werde erwartet. Von älteren Herren. Nervös herumvögeln». Eric ist ein Verfechter von PreP: und skeptisch setze ich mich an den Tisch. Und «Wenn wir das nur damals gehabt hätten, wäre fange ein lockeres Gespräch an. vieles anders gewesen.» Carlos will mit erhobe- Einerseits ist da Carlos Gutierrez-Solana. Car- nen Fäusten kämpfen, Eric ruhig, geduldig und los ist vieles. Künstler, Kurator, Administrator, überlegt. Ihre Einstellungen spiegeln sich in ehemaliger Galeriebesitzer, Museumsmitarbei- ihren Kunstwerken wider: in Carlos’ farbigen, ter. Und Überlebender. 1989 wurde er diagnosti- provokanten Kollagen, in Erichs delikaten, in- ziert. Seither arbeitete er stets mit Themen wie timen Fotografien. Körper, Sexualität, Gender und Aids. Aber beide sind sich einig: Es war ein Kampf «‹Wir wollen keine Opferkunst›? Das wurde gegen die Zeit. Ein Rennen, um die Erinnerung uns immer wieder gesagt», sagt er mit lautem, aufrechtzuerhalten. Und an die Zeit, als Aids stolzen Brooklyn-Akzent. «Von Galerien, Kura- durch New York fegte. toren, anderen Künstlern. Noch heute halten Eric, der 1987 positiv getestet wurde, wid- manche Galerien den Status ihrer Künstler_in- met sich in seiner Kunst dem Menschsein. Swiss Aids News 4 | 2020 11
LEBEN MIT HIV Leaves © Eric Rhein Mit Fotografie und Skulpturen dokumentiert Die 2010er er auch seinen eigenen Prozess und seine Während ich mich mit Carlos und Eric un- Emotionen während der Krise. Als das Virus terhalte, schweigt Eugene am anderen Ende ihn langsam niederstreckte. 1996, als die er- des Tischs. Bis ich versuche, mehr aus ihm sten Präparate sein Überleben sicherten und herauszuholen. Ich war mit der Absicht sich sein Gesundheitszustand sprunghaft ver- «Die Förderungen und die Materialien, die aufgebrochen, in Zusammen- besserte, begann er sein Projekt «Leaves». Er Visual AIDS mir zur Verfügung stellten, er- arbeit mit der Kunstorganisa- kreiert Blätter aus filigranem Draht: Jedes ein- laubten mir, weiterzuarbeiten», sagt Eugene. tion Visual AIDS eine Ausstel- zelne ist einem Freund, einem Künstler, einem «Ich wurde 2012 diagnostiziert – und hätte lung in New York anzuden- Kollegen gewidmet, der an Aids verstorben ist. beinahe alles, was Kunst angeht, aufgegeben. ken. Nun wurde mir ziemlich Heute zählt «Leaves» über 300 Blätter. Visual AIDS hielt mich sozial am Leben. Ich schnell in klargemacht: «Natürlich habe ich ein paar davon gekauft!», fand hier nicht nur finanzielle Unterstützung, ruft Carlos und grinst. «Es waren ja auch meine sondern auch Brücken, die die Organisation «Das ist ja nichts Neues.» Freunde dabei!» Er wird wieder ernst: «Was hatte aufgebaut hatte: Austausch mit anderen Künst- ich seither denn? Ich komme mir vor, als ob ich lern, Kontakt zu Galerien. Ich fand Verbündete, seit meiner Diagnose nie wieder gelebt habe. eine neue Familie. Und ein Ventil, um meine Sondern nur noch überlebt. Tag für Tag.» Auseinandersetzung mit meiner Diagnose wei- «Eigenartig», sage ich zu ihm. «Mir geht es ter zu verarbeiten.» genau umgekehrt.» Mit diesen wenigen Worten fasst Eugene Es ist schon seltsam zu sehen, welch unter- auch mein Bild von Visual AIDS zusammen. schiedlichen Umgang die beiden Männer mit Eugenes Aussagen spiegeln auch meine Ge- ihrer so ähnlichen Geschichte haben. Mit ihrer danken wider. Immer wieder, wenn ich mich Konfrontation mit dem Tod, mit ihrem Kampf mit meiner eigenen HIV-Kunst befasste, kam gegen die Zeit. Umgeben vom Leid, das sie doch mir der Gedanke: «Was mach ich hier eigent- irgendwie überlebt haben. lich? Wer will schon so etwas sehen? Wozu?» Wie fern Aids von meinen eigenen Erfah- Visual AIDS gab die Antwort: «Deshalb.» Weil rungen mit HIV ist. Während des Gesprächs man Teil von etwas Grösserem ist. wird mir bewusst, dass diese Männer von etwas Eugene verkörpert den Wandel, den es anderem sprechen. Von einer anderen Zeit, ei- bei Visual AIDS und im Kampf gegen HIV ner anderen Notwendigkeit und einem völlig gegeben hat, und erzählt frustriert: «Ist doch anderen Verständnis von HIV und Aids. Und scheissegal, ob man homo, hetero, Mann, Frau, ich merke, wie notwendig Visual AIDS damals bi oder sonst was ist. Dem Virus ist das egal. für die beiden war. Und mir gehen diese Differenzierungen auch 12 Swiss Aids News 4 | 2020
schon auf die Nerven. Viele beurteilen deine Drugs, Rock ’n’ Roll. Häufig, ohne HIV konkret Kunst anhand deiner sexuellen Orientierung zu thematisieren. Trotzdem kann ich es ein- oder deines Geschlechts. Aber nie, weil du ein binden. Mit Zynismus, Dramatik oder Humor Mensch mit deinen individuellen Erfahrungen flechte ich Kunst und Texte über HIV in diese bist. Hier spielt Identitätspolitik keine Rolle – Themen ein. Damit versuche ich, HIV auf an- hier geht es um einen gemeinsamen Feind.» dere Art und Weise sichtbar zu machen. Wir können auf den Schlachten und Siegen Weil wir alle neue Wege finden müssen. Wir Immer wieder, wenn ich aufbauen, die unsere Vorkämpfer errungen ha- sind nicht mehr in den 1990ern. Oder in Ost mich mit meiner eigenen ben. Die ersten Medikamente waren ein Sieg, europa. Oder auf dem afrikanischen Kontinent. HIV-Kunst befasste, kam mir die Nachweisgrenze ebenso. Heute kämpfen Wir haben keine Schlachten zu schlagen, in der Gedanke: «Was mach wir gegen das versteckte Leben und gegen die denen es um Leben und Tod geht. Um CD4- ich hier eigentlich? Wer offene Diskriminierung. Die Heilung wird auch Zahlen, zwei oder vier Zellen. will schon so etwas sehen? irgendwann ein Sieg sein. Physisch, aber auch HIV interessiert tatsächlich sehr wenige emotional. Leute. Warum sollte es das? Deshalb ist es Wozu?» Visual AIDS gab die unsere Aufgabe, dies zu ändern. Wir haben Antwort: «Deshalb.» Weil Nach drei Stunden intensiver Gespräche ver- neue Themen zu diskutieren, neue Schlach- man Teil von etwas Grös- lasse ich das Büro von Visual AIDS wieder. ten zu kämpfen, neue Überzeugungsarbeit zu serem ist. Carlos und ich gehen noch ein Bier trinken. leisten. HIV braucht ein neues Narrativ. Ein Ich empfinde eine eigenartige Verbundenheit neues Image. Es liegt an uns, HIV wieder sexy mit diesen Künstlern und mit ihren Geschich- zu machen. ten. Noch nie fühlte ich mich der Vergangen- heit dieses Virus so nah. So verbunden. Mit Künstlern, die ich aus Erzählungen und Aus- stellungen kenne. Sie haben nicht nur ein Ge- sicht bekommen, sondern auch eine Emotion. Eine Geschichte, die ich nun auch teile. Ich fühle mich verpflichtet, sie weiterzutragen. Und mutiger zu werden. Das Gespräch mit dem Herrn Direktor hat plötzlich ein anderes Gewicht bekommen. Die Zweifel, die am Vortag gesät wurden, haben sich in Wut verwandelt. Und in einen Schaffens- drang. Machen. Schreien. Zeigen. Verändern. Niemanden interessiert HIV mehr. Wie oft wurde mir schon gesagt: «HIV zieht einfach nicht als Thema.» Im Verlagswesen, in Redak- tionen, in der Kunst, sogar bei öffentlichen För- derstellen. «HIV kennen wir schon. Haben wir alles schon gehört. Ist ja nichts Neues.» Es ist den Leuten scheissegal – ausser, es ist gerade Welt-Aids-Tag. Und irgendwie kann ich es ja auch verste- hen. So wie HIV seit zwanzig Jahren dargestellt wird, ist es tatsächlich oft dasselbe. Eine tränen- reiche Opferstory, untermalt mit krampfhaft optimistischen Melodien. Sogar mich als Posi- tiven kotzt diese Darstellung schon gewaltig an. Und daran erinnern mich Carlos und die anderen Künstler von Visual AIDS. Die Bilder aus den 80ern und 90ern sind schlichtweg ver- Birds of a Feather II. Lg_Collage & Drawing, 2015 © Carlos Gutierrez-Solana altet, werden aber weiterhin fleissig benutzt. Seit Jahren gestalte ich Ausstellungen. Aus- stellungen über Intimität, Sexualität, Mut. Sex, Swiss Aids News 4 | 2020 13
Arzneimitteltabelle HIV-Medikamente für antiretrovirale Substanzen Medikamente mit Zulassung in der Schweiz (2020) Generischer Marken- Hersteller / Generikum- Form Standarddosis Relevante Einnahme mit / ohne / Name name Hersteller (GH) für Erwachsene Nebenwirkungen vor Mahlzeit (MZ) CCR5-HEMMER Maraviroc (MVC) Celsentri ViiV Healthcare GmbH Tabletten: 300 mg, 2 x/d Infektionen der oberen Atem- egal 150 mg, 300 mg oder 150 mg, wege, Husten, Bauchschmerzen, 2 x/d mit geboos- Durchfall, Muskelentzündungen, teten PIs oder Ein- und Durchschlafstörungen, 600 mg, 2 x/d mit depressive Störungen EFV oder ETV REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NUKLEOSIDISCHE (NRTI) Abacavir (ABC) Ziagen ViiV Healthcare GmbH Tabletten: 300 mg, 2 x/d Überempfindlichkeitsreaktionen, egal 300 mg, Lösung oder 600 mg, Erbrechen, Kopfschmerzen, 1 x/d Übelkeit, Durchfall, Appetitlosig- keit, Hautausschlag Emtricitabin (FTC) Emtriva Gilead Sciences Kapseln: 200 mg, 1 x/d Kopfschmerzen, Durchfall, egal Switzerland Sàrl 200 mg, Lösung Übelkeit, Hautausschlag, Juckreiz Lamivudin (3TC) 3TC ViiV Healthcare GmbH / Tabletten: 150 mg, 2 x/d Kopfschmerzen, Durchfall, egal (GH) Teva Pharma AG 150 mg, 300 mg, oder 300 mg, Erbrechen, Hautausschlag, Lösung 1 x/d Polyneuropathie REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NUKLEOTIDISCHE (NTRTI) Tenofovir Nur als Gilead Sciences Tabletten: mit 25 mg, 1 x/d Wie TDF, aber weniger belastend egal alafenamid (TAF) Kombinations- Switzerland Sàrl 10 mg, 25 mg für Niere und Knochen präparat erhältlich Tenofovir Viread Gilead Sciences Tabletten: 245 mg, 1 x/d Nierenschäden, Osteoporose, mit MZ disoproxil (TDF) Switzerland Sàrl / 245 mg Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, (GH) Mepha Pharma Bauchschmerzen, Blähungen, AG, Mylan Pharma Kopfschmerzen GmbH, Sandoz Pharmaceuticals AG REVERSE-TRANSKRIPTASE-HEMMER: NICHT-NUKLEOSIDISCHE (NNRTI) Doravirin (DOR) Pifeltro MSD Merck Tabletten: 100 mg, 1 x/d Durchfall, Schlaflosigkeit, egal Sharp & Dohme AG 100 mg Kopfschmerzen Etravirin (ETV) Intelence Janssen-Cilag AG Tabletten: 200 mg, 2 x/d Hautausschläge, Durchfall, nach MZ 100 mg, 200 mg Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Sodbrennen, Blähungen, Magenschleimhaut- entzündung, Erschöpfung, Kribbeln oder Schmerzen in Händen oder Füssen, nicht geeignet bei Schwangerschaft Rilpivirin (RPV) Edurant Janssen-Cilag AG Tabletten: 25 mg 25 mg, 1 x/d Veränderungen bei einem mit MZ Leberwert (Transaminase), Einschlafschwierigkeiten, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit INTEGRASEHEMMER (INSTI) Bictegravir (BTG) Nur als Gilead Sciences Tabletten: mit 50 mg, 1 x/d Schlaflosigkeit, egal Kombinations- Switzerland Sàrl 50 mg Durchfall, nicht geeignet bei präparat Schwangerschaft erhältlich Dolutegravir Tivicay ViiV Healthcare GmbH Tabletten: 50 mg 50 mg, 1 x/d Kopfschmerzen, Durchfall, egal (DTG) Übelkeit, Hautausschlag, Juckreiz, Erbrechen, Schmerzen im Oberbauch, Schlafstörungen, Schwindelgefühl, abnormes Träumen, Depression Elvitegravir/ Nur als Gilead Sciences Tabletten: mit 150 mg EVG und Übelkeit, Durchfall, abnormes mit MZ Cobicistat (EVG/ Kombinations- Switzerland Sàrl 150 mg EVG und 150 mg Cobi, Träumen, Kopfschmerzen, nicht Cobi) präparat 150 mg Cobi 1 x/d geeignet bei Schwangerschaft erhältlich Raltegravir (RGV) Isentress MSD Merck Tabletten: 400 mg, 2 x/d Übelkeit, Durchfall, Kopf- egal Sharp & Dohme AG 400 mg, 600 mg oder 600 mg, schmerzen, Schlafstörungen, 1x/d Hautausschlag
Generischer Marken- Hersteller / Generikum- Form Standarddosis Relevante Einnahme mit / ohne / Name name Hersteller (GH) für Erwachsene Nebenwirkungen vor Mahlzeit (MZ) PROTEASEHEMMER (PI) Atazanavir (ATV) Reyataz Bristol-Myers Squibb SA / Kapseln: 150 mg, 200 mg 300 mg + 100 mg Übelkeit, Gelbsucht, mit MZ (GH) Mepha Pharma AG und 300 mg RTV oder 150 mg Durchfall, Kopf- Cobi, 1 x/d schmerzen, Magen-/ Darmbeschwerden, Erbrechen, Hautausschlag und -rötung, Anstieg Cholesterin Darunavir (DRV) Prezista Janssen-Cilag AG / Tabletten: 400 mg, 600 mg 800 mg + 100 mg Bauchschmerzen, mit MZ (GH) Mepha Pharma und 800 mg, Lösung RTV, 1 x/d oder Durchfall, Kopf- AG, Mylan Pharma 600 mg + 100 mg schmerzen, Übelkeit, GmbH, Sandoz RTV, 2 x/d oder Erbrechen, Pharmaceuticals AG 800 mg + 150 mg Hautausschlag, Cobi, 1 x/d Anstieg Cholesterin BOOSTER Cobicistat (Cobi) Tybost Gilead Sciences Tabletten: 150 mg zur Verstärkung Übelkeit, Gelbsucht, mit MZ Switzerland Sàrl («Boosten») Anstieg Blutzucker, anderer Kopfschmerzen, Proteasehem- Bauchschmerzen, mer: 150 mg Durchfall, Schlafstö- rungen, Alpträume Ritonavir (RTV) Norvir AbbVie AG Tabletten: 100 mg zur Verstärkung Anstieg Cholesterin, mit MZ («Boosten») Anstieg Leberwerte, anderer Magen-Darm- Proteasehem- Beschwerden mer: 100 mg NRTI / NTRTI-KOMBINATIONSPRÄPARATE ABC & 3TC Kivexa ViiV Healthcare GmbH / Tabletten: mit 600 mg 1 Tbl, 1 x/d siehe ABC und 3TC egal (GH) Mepha Pharma ABC und 300 mg 3TC AG, Sandoz Pharmaceu- ticals AG TAF & FTC Descovy Gilead Sciences Tabletten: mit 10 mg oder 1 Tbl, 1 x/d siehe TAF und FTC egal Switzerland Sàrl 25 mg TAF und 200 mg FTC TDF & FTC Truvada Gilead Sciences Tabletten: mit 245 mg TDF 1 Tbl, 1 x/d siehe TDF und FTC mit MZ Switzerland Sàrl und 200 mg FTC EIN-TABLETTEN-KOMBINATIONSPRÄPARATE BTG & TAF & FTC Bictarvy Gilead Sciences Tabletten: mit 50 mg BTG, 1 Tbl, 1 x/d sieh BTG, TAF und egal Switzerland Sàrl 25 mg TAF und 200 mg FTC FTC DOR & TDF & FTC Delstrigo MSD Merck Tabletten: mit 100 mg DOR, 1 Tbl, 1 x/d siehe DOR, TDF und egal Sharp & Dohme AG 300 mg TDF und 300 mg FTC FTC DRV/c & TAF & FTC Symtuza Janssen-Cilag AG Tabletten: mit 800 mg DRV, 1 Tbl, 1 x/d siehe DRV, Cobi, TAF egal 150 mg Cobi, 10 mg TAF und und FTC 200 mg FTC DTG & ABC & 3TC Triumeq ViiV Healthcare GmbH Tabletten: mit 50 mg DTG, 1 Tbl, 1 x/d siehe DTG, ABC und egal 600 mg ABC und 300 mg 3TC 3TC DTG & 3TC Dovato ViiV Healthcare GmbH Tabletten: mit 50 mg DTG 1 Tbl, 1 x/d siehe DTG und 3TC egal und 300 mg 3TC DTG & RPV Juluca ViiV Healthcare GmbH Tabletten: mit 50 mg DTG 1 Tbl, 1 x/d siehe DTG und RPV mit MZ und 25 mg RPV EVG/c & TAF & FTC Genvoya Gilead Sciences Tabletten: mit 150 mg EVG, 1 Tbl, 1 x/d siehe EVG, Cobi, TAF mit MZ Switzerland Sàrl 150 mg Cobi, 10 mg TAF und und FTC 200 mg FTC RPV & TAF & FTC Odefsey Gilead Sciences Tabletten: mit 25 mg RPV, 1 Tbl, 1 x/d siehe RPV, TAF und mit MZ Switzerland Sàrl 25 mg TAF und 200 mg FTC FTC Die vorliegende Tabelle wurde mit aller gebotenen Sorgfalt erstellt. Alle Angaben sind immer in Zusammenhang mit dem entsprechenden ärztlichen Rat zu verwenden. Die Tabelle enthält nur eine begrenzte Auswahl der Information über die antiretroviralen Substanzen. Zur kompletten Beschreibung der Medikamente (Nebenwirkungen usw.) fragen Sie Ihren Arzt, lesen Sie die Packungsbeilage oder gehen Sie auf die Website www.swissmedicinfo.ch. Die Tabelle finden Sie zum Herunterladen auf www.shop.aids.ch/hivpos. 6., aktualisierte Auflage 2020 (online verfügbar) D/F Aids-Hilfe Schweiz Spendenkonto Stauffacherstrasse 101, 8004 Zürich Zürich, Postkonto 30-10900-5 www.aids.ch
SEXARBEIT Die Crux mit dem Sex Mit dem langfristigen Ziel, die Prostitution gänzlich abzuschaffen, verabschiedete das schwedische Parlament 1998 ein Gesetzespaket mit dem sinnigen Namen «Frauenfrieden». Am 1. Januar 1999 trat es in Kraft. Doch mit dessen Einführung stellte sich kein Frieden für die Menschen in der Sexarbeit ein. Die Aids-Hilfe Schweiz stellt sich entschieden gegen das sogenannte «Schwedenmodell». SABINA DÜRINGER | Aids-Hilfe Schweiz Programmleiterin Sexarbeit & Migration Seit der Einführung des Gesetzes um damit Geld zu verdienen. «Arbeit» ist in kann in Schweden zu einer Geld- den meisten Berufen abhängig von diversen oder Gefängnisstrafe verurteilt Fähigkeiten, sozialen Umständen, gesetzlichen werden, «wer sich für eine Ge- Rahmenbedingungen und der Marktlage. Das genleistung kurzzeitige sexuel- will heissen: Sexarbeit ist normal und nicht mo- le Verbindungen verschafft». Zu ralisch schlechter als anderes, was Menschen diesem Zweck enthält es drei zen- tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. trale Regelungen: Es verbietet jede Prostitution ist hingegen negativ konnotiert. Form von Zuhälterei oder Kuppelei, Das Wort kommt aus dem Lateinischen und stellt den Kauf von Sex für die Freier bedeutet «nach vorn zu stellen», also sich preis- unter Strafe und verpflichtet Vermieter zugeben und auszustellen. Eine Prostituierte und Vermieterinnen, Wohnungen zu kündigen, tut demnach etwas, was Frau nicht tun sollte, die von der Bewohnerin oder dem Bewohner und das auch noch gegen Geld. Das ist verpönt. zur Ausübung von Prostitution genutzt werden. Ausserdem gibt es «die Sexarbeiterin» nicht. Auf dem Papier mag dies gerecht(er) wirken, Männer und Frauen, sowohl cisgender als auch in der Realität ist jedoch das Gegenteil der Fall: transgender, machen diese Arbeit. Es gibt die Sexarbeitende werden kriminalisiert, weiterhin «Escortfrau» und den «Callboy», Sexarbeit wird stigmatisiert und in den Untergrund gedrängt. in Salons, in Privatwohnungen und in Autos Welche Sexarbeiterin meldet Übergriffe, wenn angeboten. Die Formen und Rahmenbedin- sie fürchten muss, aus ihrer Wohnung rausge- gungen sind vielfältig, manche werden von Sexarbeit ist in der Schweiz worfen zu werden? Zu denken, dass es die Se- der Gesellschaft «akzeptiert», andere moralisch legal, dennoch ist sie kein Beruf xarbeit infolge der Einführung eines Verbots verurteilt. Was Sexarbeitende brauchen, ist wie die anderen. Vorurteile, mora- – etwa in Form der Freierkriminalisierung – die Wahrung der Menschenwürde und Men- lische Bedenken, Stigmatisierung nicht mehr geben wird, ist illusorisch. Sexar- schenrechte. Sie entscheiden selbst, was sie und Diskriminierung machen das beit ist eine soziale und ökonomische Realität. entwürdigt und was nicht. Und um begangenes Leben von Menschen, die Sexarbeit Diverse Studien zeigen, dass Sexarbeit auch in Unrecht, das keineswegs kleingeredet werden ausüben, nicht einfach. Meist wird Ländern, in denen sie kriminalisiert wird oder will, zu bekämpfen, sind keine Verbote nötig, über Sexarbeitende diskutiert, sel- verboten ist, weiterhin besteht. In der Illegalität sondern Rechte, die auch durchgesetzt und ten kommen sie selbst zu Wort sind Sexarbeitende aber mit erhöhter Verletz- angewendet werden. oder erhalten eine Plattform für lichkeit und Stigmatisierung konfrontiert. Ein ihre Anliegen. Sexkaufverbot verschlechtert ihre Situation «Ich bin eine Sexarbeiterin» lässt fien und schwächt ihre Rechte. Wenn sich Kunden en, Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter Fotogra strafbar machen, müssen Sexarbeitende grös- 60 Seit zu Wort kommen. In eindrück- lichen Porträts erzählt es von ihren sere Risiken eingehen. Dies erhöht nicht zuletzt te, mit das Gesundheitsrisiko – der Sexarbeitenden sano. 1 Lebensrealitäten, Sichtweisen und 2020. Problemen. Und zeigt auf, dass die und ihrer Kundschaft, aber auch der Gesamt- und Tex bevölkerung. hiko Ku Gründe für Sexarbeit so vielfältig Verlag, sind wie die Menschen, die sie Sexarbeit und Prostitution sind nicht dassel- Por träts be. Sexarbeit beschreibt eine Dienstleistung, von Yos ausüben. Limmat 16 Swiss Aids News 4 | 2020
M I G R AT I O N Prävention tut not Seit rund 15 Jahren engagiert sich die Aids-Hilfe Schweiz in der HIV-Prävention bei Men- schen mit Migrationshintergrund. Unsere Ziele: über Stigma und Diskriminierung von HIV-betroffenen Migranten und Migrantinnen in der Schweiz sprechen und dazu beizutra- gen, die Übertragungsraten von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen in der Migrationsbevölkerung zu reduzieren. Migrantinnen und Migranten sind häufiger von Aber nicht alle Migrant_innen befinden sich in Krankheiten betroffen als die Allgemeinbevöl- einer Lebenssituation mit erhöhter gesundheit- kerung. Als jüngstes Beispiel dient Covid-19: licher Gefährdung. Und bei denjenigen, die stär- Wie die OECD festgestellt hat, gibt es bei den ker vom Infektionsrisiko betroffen sind, sind Covid-19-Fällen und bei der Sterblichkeit eine die Gründe dafür unterschiedlich. Es braucht systematische Überrepräsentanz der migran- also einen breiten Fächer von Angeboten und tischen Bevölkerung. Ein ähnliches Bild zeigt Massnahmen, um ihre Situation zu verbessern sich auch bezüglich HIV. Von den HIV-Betrof- und eine wirkungsvolle HIV-Prävention leisten fenen mit bekannter Nationalität waren in der zu können. Und wir müssen diese Menschen Schweiz im Jahr 2018 rund die Hälfte Menschen dort erreichen, wo sie leben, und zwar so, dass mit ausländischer Nationalität. Neuere Publi- sie uns verstehen. kationen weisen zudem darauf hin, dass sich Menschen, die in die Schweiz migrieren, zum Das Programm Migration der Aids-Hilfe Schweiz Grossteil erst nach der Migration infizieren. Die steht für ein ganzes Bündel an Massnahmen, Fachleute sind sich einig: Zurückzuführen sind die das Thema HIV- und STI-Prävention bei der die im Vergleich zu anderen Personengruppen höheren Ansteckungszahlen auf die sozioöko- Nicht alle Migrant_innen befinden nomischen Strukturen der Migrant_innen. sich in einer Lebenssituation mit er- Wohnsituation, Arbeitssituation, Sprachkennt- höhter gesundheitlicher Gefährdung. nisse, Aufenthaltsstatus und weitere Faktoren Und bei denjenigen, die stärker vom machen diese Menschen vulnerabel und da- Infektionsrisiko betroffen sind, sind durch anfälliger für Infektionen. die Gründe dafür unterschiedlich. Migranten bewegen sich oft in kleinen Com- Der Begriff Migrantin respek- munitys. HIV-Neuinfektionen können sich in Migrationsbevölkerung bearbeiten, pflegen tive Migrant (der sich vom diesen Netzwerken sehr schnell ausbreiten. und weiterentwickeln. Wir bauen Zugänge zu lateinischen Verb «migrare», Menschen aus gewissen Regionen (Sub den unterschiedlichen Communitys auf: durch wandern, ableitet) ist unpräzis. sahara, Osteuropa) haben eine erhöhte Prä- Projekte in und mit den Communitys, durch Gemeint ist ein Mensch, der valenz. Das Risiko, sich bei ungeschütztem die Bereitstellung von Informationen in ver- sich einen neuen Ort zum Leben Geschlechtsverkehr mit HIV zu infizieren, schiedenen Sprachen und über verschiedene sucht. Die WHO präzisiert: ist hier grösser. Kanäle und, als wichtigstes Instrument, durch «Auf internationaler Ebene Viele Migrant_innen kommen aus einem die Arbeit mit Mediator_innen vor Ort, von gibt es keine allgemein akzep- religiös geprägten Umfeld, in dem das Spre- denen viele die Sprache(n) der Migrationsbe- tierte Definition des Begriffs chen über Sexualität tabuisiert ist. völkerung sprechen. Und nicht zuletzt wollen ‹Migrant›. Migranten_innen kön- Die sprachlichen Hürden erschweren den wir die Migrant_innen auf individueller Ebene nen im Heimat- oder Gastland Migrantinnen und Migranten den Zugang stärken – durch Weiterbildung, Austausch und bleiben (‹Siedler_innen›), in zu relevanter Information, Prävention und Empowerment-Projekte. ein anderes Land weiterziehen (‹Transitmigrant_innen›) oder Testangeboten. zwischen den Ländern hin- und herwandern (‹zirkuläre Migrant_innen› wie Saisonarbeiter_innen).» Swiss Aids News 4 | 2020 17
SAMMELSURIUM AUSSTELLUNG «Der erschöpfte Mann» Welchem Ideal soll der Mann 2020 entsprechen? Keinem oder einfach seinem eigenen? Das Landes- museum Zürich unternimmt einen Streifzug durch die europäische Kulturgeschichte des Mannes. An- hand von rund 200 kultur- und kunstgeschichtlichen Objekten zeigt «Der erschöpfte Mann», wie sich die Männlichkeitsideale im Lauf der Jahrhunderte verändert haben. Wir stehen vor dem griechischen Priester Laokoon, der für seine Arroganz bestraft wurde, bestaunen das Männerideal im Mittelalter, blicken auf den Ausnahmefussballer Zinédine und kommen in der Gegenwart an. Eine Ausstellung für alle Menschen ab zwölf, kostenlos für alle Schulklassen aus der ganzen Schweiz. www.landesmuseum.ch London 2015, Ed.1/3, Giclée-Druck, 152.4 x 241.3 cm. Juergen Teller, Self-portrait for Business of Fashion, © Juergen Teller WANDER-TIPP Wandern in der Schweiz Was für eine Gratwanderung das Jahr 2020 doch war! Warum nicht auch einmal eine Grenz- wanderung unternehmen? Auf dem Chemin du Jura zum Beispiel. Dieser verläuft von Lucelle aus entlang der französisch-schweizerischen Grenze. Der Roc au Corbeau bietet einen tollen Ausblick auf das südliche Elsass. Danach geht es durch die Wälder der Ajoie nach Porrentruy, wo die Altstadt und das Schloss unbedingt einen Besuch wert sind. Diese und viele weitere Wanderungen finden sich auf der kostenlosen App «SchweizMobil». Für alle, die draussen unterwegs sind – egal ob im Sommer oder im Winter. www.schweizmobil.ch 18 Swiss Aids News 4 | 2020
LEBEN MIT HIV Der Positivrat – warum wir da sind und was wir wollen Unser kleiner Verein wurde vor zehn Jahren gegründet, seit einem Jahr sind wir Mitglied der Aids-Hilfe Schweiz. Das wichtigste Anliegen des Positivrats: Die Perspektive der Menschen, die mit HIV und/oder einer viralen Hepatitis leben, muss in alle gesundheitspolitischen Entscheidungen einfliessen, die diese Menschen betreffen. Die gelebte Erfahrung der Betroffenen miteinzubezie- hen, ist seit bald vierzig Jahren eine zentrale Forderung der HIV-Bewegung. Bereits 1983 trafen sich HIV-betroffene schwule Männer aus New York und San Francisco in Denver, und sie machten dieses Anliegen unter dem Titel «Nothing about us without us» zu ihrem Manifest. DAVID HAERRY Was heisst das für uns heute in der Schweiz? Swissmedic ist zuständig für die Zulassung Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie ver- neuer Medikamente und die Marktüberwa- schreibt hierzulande drei Viertel aller HIV- chung bestehender Substanzen und Medi- Medikamente. Diese Beobachtungsstudie zinprodukte. Vor acht Jahren fragten wir die wurde 1988 gegründet, sie erfasst die meisten Behörde an, ob sie bereit wäre, Patient_innen Menschen mit HIV in der Schweiz. Im wissen- und Betroffene besser in ihre Prozesse einzu- schaftlichen Vorstand der Kohorte beteiligen binden, so wie es die europäische Behörde EMA sich zwei Vertreter des Positivrats. Ist der seit vielen Jahren tut. Unser Anliegen stiess Fragebogen zu Stigma relevant, werden alle bei Swissmedic auf Interesse, und heute gibt möglichen Probleme sensibel genug abgefragt es eine etablierte Arbeitsgruppe mit Konsu- und erfasst? Welche Drogen spielen beim Sex menten- und Patientenorganisationen, die eine Rolle, wie wirken sie sich auf den Alltag sich drei- bis viermal jährlich trifft. Wir stel- der Betroffenen aus? Wie sollen die Kliniken len eine Ko-Leitung von Patientenseite. Diese mit solchen Fragen umgehen? Wie können wir Arbeitsgruppe hat zum Beispiel angeregt, dass die Therapiequalität aufrechterhalten, wenn in Patient_innen Nebenwirkungen direkt bei den Kliniken immer weniger Zeit da ist? Mit Swissmedic melden können, sie begutachtet diesen Fragen beschäftigen wir uns an minde- die Texte von Packungsbeilagen auf Verständ- stens vier Sitzungen pro Jahr. lichkeit und hat erreicht, dass PrEP-Nutzer für drei Monate generisches Truvada importieren Die HIV-Kohortenstudie spielt auch inso- konnten, solange in der Schweiz keine bezahl- fern eine wichtige Rolle, als die Population bare Lösung vorhanden war. der HIV-positiven Menschen kontinuierlich älter wird. Heute ist bereits die Hälfte von Die Eidgenössische Kommission für sexuell ihnen über fünfzig. Die Langzeitbehandlung übertragbare Infektionen (EKSI) berät die durch die antiretrovirale Therapie kann den Bundesverwaltung auf strategischer Ebene zur Alterungsprozess beschleunigen. Ebenso er- Verhütung und Bekämpfung von HIV, viraler höht sich das Risiko für Nebenwirkungen Hepatitis und anderen sexuell übertragbaren und Begleiterkrankungen. Dies stellt die Be- Infektionen. Aktiv sind wir vom Positivrat treuenden wie auch die Betroffenen vor neue heute vor allem in der dortigen Arbeitsgruppe Herausforderungen im Umgang mit HIV. Die Klinik und Therapie. In der Vergangenheit Kohortenstudie begleitet alternde HIV-posi- haben wir uns besonders für den Einsatz der tive Menschen auf hohem wissenschaftlichen Präexpositionsprophylaxe (PrEP) und die Auf- Niveau über viele Jahre und bietet massge- nahme der viralen Hepatitis in den Aufgaben- schneiderte Therapien. bereich der Kommission eingesetzt. Swiss Aids News 4 | 2020 19
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