Es dörf es bitzeli länger si

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Es dörf es bitzeli länger si
POLITIK: AHV 2020

Aktuell fahren zehn Pensionäre, darunter auch eine Frau, für die VBZ Bus oder Tram. Einer davon ist der 66-jährige Thomas Perret. Meist
wird er kurzfristig angefragt und springt ein, wenn es eine Lücke im Arbeitsplan gibt.                                   Bild: Fabian Stamm

Es dörf es bitzeli länger si
Bis vor Kurzem gingen immer mehr Erwerbstätige bereits vor dem AHV-Alter in
Pension. Doch heute arbeiten immer mehr Seniorinnen und Senioren über 65
weiter. Etwa Thomas Perret, Chauffeur bei den Zürcher Verkehrsbetrieben (VBZ).

Nein, nein und nochmals nein. Über eine        gen gestritten wird, ist in der Wirtschaft      hören, auch wenn ich jedes Jahr um
Erhöhung des Rentenalters mögen die            bereits ein Trend im Gange. Am augen-           noch eines älter werde», sagt der 83-jäh-
meisten Schweizerinnen und Schweizer           fälligsten bei den nimmermüden Senio-           rige Genfer Soziologieprofessor und
nicht einmal diskutieren. Doch jede Ver-       rinnen und Senioren, die für sich gleich        UNO-Sonderbeauftragte Jean Ziegler
längerung des Lebensalters bringt die          das Pensionsalter Lebensende deklariert         zumThema Pensionierungsalter. Der auf
ersten beiden Säulen des schweizeri-           haben. Ganz nach dem Vorbild verschie-          Altersfragen spezialisierte 76-jährige So-
schen Vorsorgesystems mehr und mehr            dener Unternehmer, Musiker, Maler und           ziologe Peter Gross bringt es auf den
aus dem Gleichgewicht. Da das Geld,            anderer Künstler, die auch mit 75 und           Punkt: «Es braucht heute in einer freien
das sich in den ersten beidenTöpfen des        mehr Jahren noch regelmässig öffentli-          und offenen Gesellschaft, in der die
helvetischen Vorsorgesystems ansam-            che Auftritte haben, wie beispielsweise         Selbstverantwortung einen hohen Stel-
melt, weniger schnell zunimmt als die          der amerikanische Sänger Neil Diamond           lenwert einnimmt, überhaupt keine Pen-
Lebenserwartung, steht pro Jahr immer          oder der französische Rocker Johnny             sionierungsgrenze.» Seiner Meinung
weniger Geld zur Verfügung. Während            Hallyday. «Meine Arbeit ist Denken, und         nach sollen Erwerbstätige selber ent-
auf politischer Ebene weiter über Lösun-       mit Denken kann man nicht einfach auf-          scheiden, wie lange sie arbeiten wollen.

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    Thomas Perret ist überzeugt, dass ihn die
        Arbeit körperlich und mental fit hält.
                            Bild: Fabian Stamm

Das Pensionierungsalter steigt auch               SBB-Personalpolitik. Der Bundesbetrieb      rich VBZ. Doch auch für sie wird es im-
ohne die Politik                                  hat sich denn auch zum Ziel gesetzt, ein    mer schwieriger, genügend qualifizierte
Und das tun sich auch: Ziegler, Gross,            Umfeld zu schaffen, das es Mitarbeitern     Tram- und Buschauffeure zu finden, um
Emil und Co sind nämlich keineswegs               im fortgeschrittenen Alter ermöglicht, so   die altersbedingten Abgänge zu erset-
bloss Einzelfälle, wie die Zahlen der sta-        lange es geht im Erwerbsleben zu blei-      zen. «Wir stellen jedes Jahr rund 100
tistischen Ämter zeigen. 2016 waren in            ben. Bis vor Kurzem war die Sachlage        neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Schweiz fast 13 Prozent der über              noch genau umgekehrt. Rund 70 Prozent       im Fahrdienst ein. Es ist nicht einfach, so
65-Jährigen noch erwerbstätig, nämlich            der SBB-Beschäftigten gingen vor Errei-     viele neue Kräfte zu rekrutieren», sagt
186 000 Rentnerinnen und Rentner. Das             chen des AHV-Alters in Pension, nicht       VBZ-Betriebsleiter Jürg Widmer. Vor gut
sind so viele wie seit der Einführung des         einmal zwei Prozent der Beschäftigten       zwei Jahren hat das Unternehmen des-
Bundesgesetzes über die berufliche Vor-           sind älter als 65. Mit dem Pensionie-       halb einen Pilotbetrieb, das Projekt
sorge BVG nie mehr. Und gegenüber                 rungs- und Arbeitszeitmodell Activa soll    66plus, gestartet. Es erlaubt bereits
dem Jahr 2000 hat die Zahl der beruflich          nun den älteren Beschäftigten ein länge-    pensionierten oder vor der Pension ste-
noch aktiven Senioren um nicht weniger            res Berufsleben schmackhaft gemacht         henden Tram- und Buschauffeuren, auf
als 80 Prozent zugenommen. Im Kanton              werden. Ab 60 Jahren gibt es neu die        Teilzeit- und Stundenlohnbasis weiterzu-
Zürich betrug die Zuwachsrate allein in           Möglichkeit, das Arbeitspensum schritt-     arbeiten. So hofft die VBZ, die Lücken im
den letzten fünf Jahren mehr als ein              weise zu reduzieren und maximal drei        Arbeitsplan stopfen zu können. Die An-
Drittel. Das vom Bundesamt für Statistik          Jahre über das AHV-Alter hinaus weiter-     stellung ist nach diesem Modell auf ein
(BfS) ausgewiesene mittlere Erwerbs­              zuarbeiten.                                 Jahr befristet und erfolgt nahtlos an die
austrittsalter ist aktuell deshalb bereits                                                    reguläre Beschäftigung. Wiederholte An-
auf 65,5 Jahre gestiegen, das ist fast ein        Die VBZ setzen auf 66plus, das              stellungen sind bis maximal zum 70. Al-
Jahr mehr als noch 2005. Dass sich die-           Chauffeure bis 70 arbeiten lässt            tersjahr möglich, wenn die medizini-
ser Trend weiter verstärkt, ist absehbar:         Nicht ganz so dramatisch ist die Situa-     schen Anforderungen erfüllt sind. Das
Ab 2022 treten die besonders gebur-               tion für andere Transportunternehmen        Arbeitspensum kann zwischen 10 und
tenstarke Jahrgänge ins Rentenalter               wie die Verkehrsbetriebe der Stadt Zü-      40 Prozent betragen.
ein. Viele Arbeitgeber werden dannzu-
mal vor der Frage stehen, wie sie diese
Welle von Pensionierungen auffangen
sollen. Gut möglich also, dass ein höhe-           AHV 2020 mit flexibler Pensionierung zwischen
res Pensionsalter in der Schweiz Fakt ist,
bevor auf politischer Ebene ein Ent-
                                                   62 und 70 Jahren
scheid fällt.
                                                   Die vom eidgenössischen Parlament im März beschlossene Reform der Alters-
SBB wirbt mit Activa für spätere                   vorsorge 2020 soll die Renten sichern und die Altersvorsorge an die gesellschaft-
Pensionierungen                                    liche Entwicklung anpassen. Mit Einsparungen und zusätzlichen Einnahmen soll
Besonders viele Pensionierungen von                die AHV bis Ende des nächsten Jahrzehnts im Gleichgewicht gehalten werden.
Mitarbeitern aus der sogenannten Baby-             Der Mindestumwandlungssatz wird schrittweise gesenkt, um die obligatorische
boomer-Generation kommen auf die                   berufliche Vorsorge zu stabilisieren. Dank Massnahmen in der beruflichen Vor-
SBB zu. Der Bundesbetrieb wird inner-              sorge und einer Erhöhung von neuen AHV-Altersrenten um monatlich 70 Franken
halb von nur 13 Jahren, also von 2022              soll das Niveau der Altersrenten erhalten bleiben. Das Rentenalter der Frauen
bis 2035, rund die Hälfte des Mitarbeiter-         würde schrittweise von heute 64 auf 65 Jahre angehoben. Die Reform ermöglicht
bestands altersbedingt ersetzen müs-               zudem die flexible Pensionierung zwischen 62 und 70 Jahren. Am 24. September
sen. Das Thema Pensionsalter rückt des-            entscheiden die Bürgerinnen und Bürger über die Vorlage an der Urne.        dla
halb immer mehr ins Zentrum der

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Manche brauchen den Zustupf
Jürg Widmer räumt ein, dass nicht alle
Seniorinnen und Senioren aus purer Ar-
beitsfreude beim Projekt mitmachen;
manche seien auch froh um das zusätz-
liche Einkommen: «Bevor wir dieses Pi-
lotprojekt gestartet haben, hatten wir
viele Mitarbeiter, die zu Firmen wechsel-
ten, bei welchen sie länger arbeiten durf-
ten». Aktuell fahren zehn Pensionäre,
darunter auch eine Frau, für die VBZ Bus
oder Tram. Einer davon ist der 66-jährige
Thomas Perret, früher Landwirt und bis
zum Grounding Swissair-Angestellter:
«Ich habe Spass am Arbeiten. Für mich
bedeutet es körperliche und geistige Fit-
ness.» Fitness und Spontaneität sind
auch unabdingbar. Denn meist wird Per-
ret sehr kurzfristig angefragt und muss
dann Einspringen, wenn eine Lücke im
Arbeitsplan entsteht. Für den Pensionär
ist das kein Problem. «Ich bin Single und
ganz unabhängig. Und das Tram- oder
Busfahren ist für mich absolut kein
Krampf. Mir macht es Spass, ein so gros-
ses Fahrzeug durch Zürich zu lenken»,
sagt Perret, der sich auch in seiner Frei-
zeit mit Oldtimer-Trams und Fahrzeugen
beschäftigt. «Ich glaube, wenn ich wei-               Er habe Spass
terarbeite, dann hält mich das nicht nur          am Arbeiten, sagt
körperlich fit, sondern auch mental.»                 der 66-jährige
                                                    ­Thomas Perret.
                            Fredy Gilgen                Bild: F. Stamm

 «Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend»
                                                Wieviele Pensionierte sind                 Die ersten Erfahrungen sind sehr viel-
                                                involviert?                                versprechend. Die Mitarbeitenden im
                                                Aktuell arbeiten zehn Fahrdienstmitar-     Modell 66+ sind fit, machen einen guten
                                                beitende im Modell 66+.Darunter ist        Job, haben Freude an der Arbeit, schät-
                                                auch eine Frau.                            zen den Kontakt zu KollegInnen und
                                                                                           Fahrgästen und verdienen dabei erst
                                                Gibt es Ziele für den Umfang der           noch einen «Zustupf».
                           Jürg Widmer,         Beteiligung am Programm?
                           Leiter Betrieb       Wir schätzen, dass sich rund 30 bis 40     Wie hoch ist das Interesse anderer
                           der VBZ.             Fahrdienstmitarbeitende am Modell          Unternehmen und der Öffentlichkeit
                                   Bild: VBZ   66+ beteiligen könnten.                    am VBZ-Projekt?
                                                                                           Der demografische Wandel und die He-
                                                An welchen Vorbildern hat sich             rausforderung, auch in Zukunft genü-
 Herr Widmer, wie lange ist das das             die VBZ orientiert? Welche ähnlichen       gend geeigneten Nachwuchs rekrutie-
 Projekt 66+ schon im Gang?                     Projekte sind Ihnen bekannt?               ren zu können, ist mittlerweile bei den
 Der Pilotversuch läuft seit dem 1. April       Insbesondere in der Privatindustrie gibt   meisten Unternehmungen angekom-
 2016 und wird bis Ende 2018 dauern.            es bereuts viele Firmen, welche inter-     men. Seitens Medien erhalten wir im-
                                                essierte Mitarbeitende weit über das       mer wieder Anfragen zum Stand des
  Wer hat es initiert?                          Pensionierungsalter beschäftigen.          Projekts.
 Initiiert wurde das Projekt wurde durch
 die VBZ selber, die es dann dem Stadt-         Wie beurteilen Sie die ersten                             Interview: Fredy Gilgen
 rat Zürich beantragt hat.                      Ergebnisse des Projekts?

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