"Es wäre handelspolitisch mehr möglich gewesen" - Merkels Internationale Wirtschaftspolitik - 24. September 2021

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"Es wäre handelspolitisch mehr möglich gewesen" - Merkels Internationale Wirtschaftspolitik - 24. September 2021
Merkels Internationale Wirtschaftspolitik – 24. September 2021

„Es wäre handelspolitisch mehr möglich gewesen“
Ökonomische Bilanz der Ära Merkel: Seit 2005 erlebte die Bundesrepublik tiefe
Krisen, aber auch beispiellosen Wohlstand. Es wäre die beste Zeit gewesen, um
Deutschland fit zu machen für die Zukunft. Doch Angela Merkel verlor früh ihren
Reformeifer.
von Prof. Gabriel Felbermayr

In einer Hinsicht ist Angela Merkel einer deutschen Tradition treu geblieben: geoökonomischer
Zurückhaltung und Anspruchslosigkeit. Unter ihrer Führung hat sich Deutschland nicht mit einer
mutigen internationalen Wirtschaftsstrategie hervorgewagt. Geschweige denn mit einer klaren
geoökonomischen Vision. Im Gegenteil. In Merkels Regierungszeit fallen große geostrategische
und handelspolitische Niederlagen und Fehleinschätzungen.

Dabei passt diese Tradition deutscher Zurückhaltung nicht mehr in die Zeit. In keinem anderen
Land der G7 hängt der Wohlstand so stark am Außenhandel wie in Deutschland. Zudem hat Berlin
eine der gewichtigsten Stimmen in der EU-Handelspolitik. Wenn Deutschland Druck macht, sind
Durchbrüche möglich - manchmal auch überraschende. Das zeigt zum Beispiel das Ende 2020
ausverhandelte Investitionsabkommen mit China, selbst wenn es schon wieder auf Eis liegt. Es
wäre in den letzten 16 Jahren handelspolitisch mehr möglich gewesen.

Als Merkel 2005 Kanzlerin wurde, war Deutschland vor allem mit sich selbst beschäftigt: mit
Massenarbeitslosigkeit, der Umsetzung der Hartz-Gesetze, einer schwierigen Haushaltslage. Die
Handelspolitik spielte keine entscheidende Rolle. Das politische Konzept der Kanzlerin war damals
aber klar marktliberal ausgerichtet, das bezog sich im Grundsatz auch auf den Außenhandel.

Das wichtigste Freihandelsabkommen, das in der frühen Zeit der Kanzlerschaft verhandelt wurde
und 2011 in Kraft trat, ist jenes mit der Republik Korea. Wirtschaftlich ein sehr erfolgreiches
Abkommen, das den bilateralen Handel stark angetrieben hat. Abkommen mit einzelnen Asean-
Staaten folgten. Multilaterale Impulse vermochte Merkel aber auch damals nicht zu setzen.

Als 2008 die Weltwirtschafts- und Finanzkrise hereinbrach und die Euro-Zone für einige Jahre in
Schieflage geriet, ging der Kanzlerin der klare marktliberale Kompass allmählich verloren, ohne
dass eine neue, tragfähige außenwirtschaftspolitische Strategie an seine Stelle trat. Dies wurde
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insbesondere bei dem größten und wirtschaftlich wertvollsten handelspolitischen Projekt der Ära
Merkel deutlich, der Idee eines transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens - TTIP.

Die Verhandlungen dazu begannen formal 2013, der Schock der Finanzkrise war gerade verdaut.
Allen Beteiligten muss klar gewesen sein, dass das reine Narrativ einer Marktliberalisierung
gesellschaftlich nicht mehr tragfähig war. Die Versuche, das Abkommen schließlich als
geostrategisch motivierte Wertepartnerschaft darzustellen, als gemeinsame
Regulierungsanstrengung gegen den Staatskapitalismus aus dem Osten, nicht als
Deregulierungsagenda, kamen zu spät, zu zögerlich und mit wenig Überzeugung.

Sie kamen auch nicht von Merkel selbst, die ihr politisches Gewicht nie für TTIP in die Waagschale
geworfen hat, sondern noch am ehesten vom damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD).
Als die Diskussionen um die eigentlich höchst nebensächlichen Themen Chlorhühnchen und
Schiedsgerichte nicht abflauten, distanzierte sich die Kanzlerin.

Ein Handelskrieg mit Donald Trump und ein Umdenken mit Blick auf Chinas geostrategische
Ambitionen führte zuletzt zwar zu neuen Vorstößen für ein transatlantisches Handelsabkommen,
allerdings mit weiterhin höchst unsicherem Ausgang. Das Abkommen mit Kanada (Ceta), das von
2009 bis 2014 verhandelt wurde, ist bisher nur provisorisch in Kraft, weil die Kanzlerin bisher
keine Mehrheit für dessen Ratifikation im Bundestag organisieren konnte.

Ähnlich zögerlich ist Merkels Agieren in den Verhandlungen um ein Abkommen mit den
südamerikanischen Mercosur-Staaten - wirtschaftlich wie geostrategisch ein potenziell wichtiger
Hebel. Es bietet die Chance, in einer Region Einfluss zu nehmen, die immer stärker zu China neigt.
Doch die Kanzlerin war auch hier nicht bereit, politisches Kapital einzusetzen, obwohl seit 2000
verhandelt wurde und seit 2019 ein politischer Abschluss vorliegt.

Ein zentrales Problem ist, dass erst sehr spät in Merkels Kanzlerschaft geostrategische
Überlegungen eine Rolle zu spielen begannen - obwohl schon Mitte der 2010er-Jahre die
Enttäuschung darüber wuchs, dass der WTO-Beitritt Chinas dort nicht die erhofften demokratischen
und marktwirtschaftlichen Reformen in Gang setzte und damit klar wurde, dass die westliche
Wertegemeinschaft neue Antworten brauchte. Doch statt Berlin gibt vor allem Paris in
geoökonomischen Strategiefragen in der EU den Takt vor.

In Summe hat Merkel außenwirtschaftspolitisch also wenig Erfolge vorzuweisen. Blickt man auf
den für Deutschland mit Abstand wichtigsten Wirtschaftsraum - die EU und ihren Binnenmarkt -
sind es gar dramatische Misserfolge.

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Der Streit mit Russland über eine Einbindung einiger UdSSR-Nachfolgestaaten in die EU und die
Nato eskalierte, führte zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und zu seit 2014 als
katastrophal zu bezeichnenden wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland. Wie mit Weißrussland
außenwirtschaftspolitisch umzugehen ist, wenn der "letzte Diktator Europas" Lukaschenko die
Segel streicht, ist unklar.

Auch gegenüber der Türkei hat Merkel keine strategische Perspektive entwickelt. Die
Bundeskanzlerin blieb gefangen in tagespolitischen Querelen und den schwierigen Umständen der
Flüchtlingskrise. Es ist ihr nicht gelungen, das Verhältnis der EU mit der Türkei zu modernisieren.
Dazu würde das Eingeständnis gehören, dass die Türkei in absehbarer Zeit kein Vollmitglied der
EU sein wird, dass die seit 1996 existierende Zollunion zunehmend schlecht funktioniert und dass
eine grundlegende Neuordnung des bilateralen Verhältnisses auf Basis eines modernen
Handelsabkommens überfällig ist.

Das größte handelspolitische Debakel der Amtszeit Merkels aber ist zweifellos der Brexit. Mit dem
Austritt des Vereinigten Königreichs hat die EU ihr zweitgrößtes Mitglied, den zweitgrößten
Nettozahler und einen attraktiven Wirtschaftsstandort verloren. Abermals war das Drama von
Fehleinschätzungen geprägt. Zunächst schien Merkel darauf zu setzen, dass Cameron es nicht
wirklich zu einem Referendum kommen lassen würde. Dann ging sie davon aus, dass die Mehrheit
der Briten keinen Austritt will, schließlich dass eine harte Verhandlungsführung die Briten zum
Umdenken bringen würde. Dreimal lag sie falsch.

Die Realität ist nun, dass das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt ausgeschieden ist, dass
Deutschland finanziell belastet wird und dass der geostrategische Einfluss der EU deutlich
geschrumpft ist. Denn dieser ist proportional zur Größe und Dynamik des Binnenmarkts. Dass sich
nun auch die Schweiz zunehmend distanziert und den von der EU vorgeschlagenen Rahmenvertrag
ablehnt, ist ein weiteres Problem.

Was der EU fehlt, ist ein Angebot an Länder, die wirtschaftlich stark und attraktiv sind, an enger
wirtschaftlicher Kooperation, aber nicht an politischer Integration interessiert sind. Kein anderes
Mitglied kann daran ein größeres Interesse haben als die Exportnation Deutschland. Dafür bräuchte
es eine strategische Idee und ein mutiges Konzept der Umsetzung, das man der EU-Kommission
und den anderen Mitgliedstaaten näherbringt. Solche weitsichtigen Würfe aber waren nie die Sache
von Angela Merkel. Wer auch immer ihre Nachfolge antritt, wird hier gefordert sein.

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Auslandsreisen: Kanzlerin on Tour

Angela Merkel hat in ihren 16 Jahren als Bundeskanzlerin die Welt gesehen. 533 Auslandsreisen
unternahm sie. Dass die meisten sie nach Belgien führten, liegt nicht an einer geheimen Vorliebe
der Kanzlerin für Pommes und Pralinen, sondern ist der schlichten Tatsache geschuldet, dass die
EU-Gipfel in Brüssel stattfinden. Und davon gab es einige in ihrer Amtszeit. Besonders viele
Krisengipfel.

Rechnet man Brüssel raus, ist nach wie vor Frankreich das Land, das Merkel als deutsche
Bundeskanzlerin am häufigsten besuchte. Auch sonst standen Reisen zu Bündnispartnern wie den
USA im Vordergrund, auch in Moskau schaute Merkel öfter vorbei. Doch bei Merkels
Reisetagebuch wird auch die wachsende Bedeutung Chinas ganz offensichtlich: Insgesamt zwölf
Mal fuhr Merkel in ihrer Amtszeit nach China. Helmut Kohl flog in seinen 16 Jahren als Kanzler
dagegen nur vier Mal in die Volksrepublik.

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Handelsbeziehungen: Wandel im Handel

Insbesondere der Aufstieg Chinas hat in den vergangenen 16 Jahren die Weltwirtschaft nachhaltig
verändert. Deutschland als großes Exportland ist bislang einer der größten Profiteure dieser
Entwicklung. Seit Jahren ist der chinesische Hunger nach Waren "Made in Germany" ungebrochen,
insbesondere Autos, Maschinen oder Chemieprodukte sind gefragt, mit denen Peking die heimische
Wirtschaft weiter aufbauen will. Entsprechend haben sich über die Jahre die Koordinaten der
deutschen Handelsbeziehungen verschoben.

Seit 1975 war Frankreich der wichtigste Handelspartner Deutschlands gewesen. 2015 lösten die
Vereinigten Staaten Frankreich ab, aber nur für ein Jahr. Schon 2016 stieg dann China zum
wichtigsten Handelspartner Deutschlands auf. Angela Merkel hat die Interessen der deutschen
Wirtschaft in China immer stark vertreten. Menschenrechtsverletzungen sprach sie bei Besuchen in
Peking zwar an, aber immer so, dass die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern keinen
Schaden nehmen.

Dass 2020 auch Polen unter den Top fünf der wichtigsten Handelspartner auftaucht, zeigt zudem,
wie sehr Deutschland vom Aufschwung in Osteuropa profitiert - wie überhaupt von der
Globalisierung der Weltwirtschaft.

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