Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

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Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
gefördert von der

                Europa als Ziel?
                 Die Zukunft der globalen Migration

an Migration +++ nur ein Bruchteil davon macht sich wirklich auf den Weg +++ Zuwanderer aus Südasien auf dem internationalen Arbeitsmarkt gefragt +++ die
e Erwerbsbevölkerung schrumpft durch Alterung +++ Klimawandel als Migrationstreiber +++ starke Netzwerke zwischen Lateinamerika und der EU +++ den Ar
                                                                                                                                Berlin-Institut 99
Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
gefördert von der

Europa als Ziel?
Die Zukunft der globalen Migration

                                                         Berlin-Institut   1
Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Impressum
Originalausgabe
Juli 2019
                                                                                    Über das Berlin-Institut

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                                                                                    unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und glo-
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                                                                                    wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die
Herausgegeben vom                                                                   Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung                                     schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die
Schillerstraße 59                                                                   Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer
10627 Berlin                                                                        und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen
Telefon: (030) 22 32 48 45
                                                                                    Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Ber-
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Autoren: Jana Aresin, Adrián Carrasco Heiermann, Alisa Kaps, Reiner Klingholz
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Lektorat: Tanja Kiziak
                                                                                    des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt.
Die Autoren danken Rainer Ohliger, Stephan Sievert, Dr. Steffen Angenendt, Anna     Spenden und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar.
Dieterle und Patrick Sabourin für die wissenschaftliche Begleitung der Studie und
wertvolle Kommentare im Schreibprozess.                                             Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und
                                                                                    engagierte Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen zusam-
Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)                      men, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu
Druck: Laserline Berlin                                                             unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter

Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des           www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html
Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt.

ISBN: 978-3-946332-48-0

                                                                                    Stiftung Mercator
Die Studie ist Teil des Projekts „Zuwanderer von morgen“, gefördert durch die
Stiftung Mercator.
                                                                                    Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung. Sie
                                                                                    strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Welt-
                                                                                    offenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Dabei
                                                                                    konzentriert sie sich darauf, Europa zu stärken, den Bildungs-
                                                                                    erfolg benachteiligter Kinder und Jugendlicher insbesondere
                                                                                    mit Migrationshintergrund zu erhöhen, Qualität und Wirkung
                                                                                    kultureller Bildung zu verbessern, Klimaschutz voranzutreiben
                                                                                    und Wissenschaft zu fördern. Die Stiftung Mercator steht für die
                                                                                    Verbindung von wissenschaftlicher Expertise und praktischer
                                                                                    Projekterfahrung. Als eine führende Stiftung in Deutschland ist
                                                                                    sie national wie international tätig. Dem Ruhrgebiet, der Heimat
                                                                                    der Stifterfamilie und dem Sitz der Stiftung, fühlt sie sich beson-
                                                                                    ders verpflichtet.

2   Europa als Ziel?
Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
INHALT
Vorwort......................................................................................................................................................4

Das Wichtigste in Kürze...........................................................................................................................6

Migration ist Teil des Lebens................................................................................................................10

Warum sich Menschen auf Wanderschaft begeben..........................................................................14

Qualität und Quellen von Migrationsdaten........................................................................................26

Die sechs betrachteten Regionen........................................................................................................28

         1 | Subsahara-Afrika.................................................................................................................... 30

         2 | Mena..........................................................................................................................................41

         3 | Südasien...................................................................................................................................51

         4 | Ost- und Südostasien..............................................................................................................61

         5 | Postsowjetischer Raum..........................................................................................................71

         6 | Lateinamerika und Karibik.....................................................................................................81

Quellen....................................................................................................................................................90

                                                                                                                                                                 Berlin-Institut   3
VORWORT
Nüchternheit und Pragmatismus                    Diese uneinheitliche demografische Entwick-       Green-Card-Programms und ermöglicht es
– notwendige Grundlagen für die                  lung hat weitreichende Folgen rund um den         alljährlich 50.000 Menschen weltweit, ein
Migrationsdebatte                                Globus: Erstens deutet sie auf ein Ende des       Dauervisum für die USA zu erhalten.
                                                 Weltbevölkerungswachstums hin, denn die
Die Länder beziehungsweise die Großregio-        Zahl der Länder, in denen die Geburtenziffern     Europa hat keine Lotterie, mit der es Chancen
nen der Welt befinden sich in verschiedenen      unter das Niveau sinken, das für eine stabile     und Lebensoptionen verlost. Aber der Konti-
sozioökonomischen Entwicklungsstadien.           Bevölkerung nötig wäre, steigt kontinuierlich.    nent ist im demografischen Wandel unter den
Deshalb unterscheiden sie sich auch in ihrer     Zweitens erzeugt das Altern und Schrumpfen        Weltregionen am weitesten fortgeschritten.
demografischen Dynamik. Denn wenig entwi-        im reicheren Teil der Welt einen zuneh-           Entsprechend groß ist derzeit der Bedarf an
ckelt bedeutet in der Regel hohe Kinderzah-      menden Bedarf an Arbeitskräften aus dem           Arbeitskräften aus anderen Ländern und er
len und ein entsprechendes Bevölkerungs-         Ausland. Drittens gelingt es den ärmeren          wird künftig noch deutlich größer werden,
wachstum. Ein hoher Entwicklungsstand            Ländern mit starkem Bevölkerungswachs-            selbst wenn sich bisher nicht jedes EU-Land
hingegen ist mit niedrigen Geburtenzahlen        tum selten, den vielen nachkommenden              dies eingesteht. Auch EU-Staaten, die davon
und einer nahezu stagnierenden oder gar          Menschen eine angemessene Versorgung              ausgehen, dass sie Zuwanderer bei Bedarf
schrumpfenden, auf alle Fälle aber alternden     zu garantieren, von Bildungsmöglichkeiten         aus anderen Ländern der Union bekommen
Bevölkerung verbunden. Entscheidend ist          bis hin zu Arbeitsplätzen mit auskömmlicher       können, müssen sich mittelfristig umorientie-
dabei überall der Anteil von Menschen in dem     Bezahlung.                                        ren. Denn innerhalb der EU ist Migration ein
Alter, in welchem sie gemeinhin einer Be-                                                          Nullsummenspiel. Wer aus einem Land ab-
schäftigung nachgehen, also jene Gruppe, die     Die Unterschiede und Ungleichheiten, die          wandert, vergrößert dort die demografischen
in der Regel dafür sorgt, die Volkswirtschaft    sich daraus ergeben, sind in einer globalisier-   Lücken. Zuwanderung aus Drittstaaten muss
am Laufen zu halten und den Wohlstand zu         ten Welt mehr oder weniger überall bekannt.       deshalb das Konzept der Zukunft sein.
mehren.                                          Die Menschen wissen heutzutage, wo ein
                                                 besseres Leben möglich ist. Wanderungen           Das Gute dabei ist: Weil demografische
In den Ländern der OECD schrumpft der            erfolgen gemeinhin entlang eines Einkom-          Entwicklungen eine lange Vorlaufzeit haben,
Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Ge-         mens-, Sicherheits- und Wohlstandsgefälles.       lassen sie sich – theoretisch – frühzeitig
samtbevölkerung schon seit Mitte der 1980er      Deshalb entsteht bei vielen der Wunsch,           erkennen und durch geeignete Interventi-
Jahre. Seit etwa 2010 tut sie das auch in Ost-   jenseits der Heimat ihr Glück zu suchen. Wie      onen abfedern, unter anderem durch eine
asien und um das Jahr 2030 wird Lateiname-       stark er werden kann, zeigt sich in dem für       gesteuerte Migration. Um sie längerfristig zu
rika folgen. Nur in Subsahara-Afrika, jener      afrikanische Verhältnisse vergleichsweise         planen, ist jedoch zunächst eine nüchterne
Weltregion, die das mit Abstand höchste          weit entwickelten Ghana: Dort nahmen im           Analyse des globalen Migrationsangebots
Bevölkerungswachstum erlebt, sowie in Süd-       Jahr 2015 rund 1,7 Millionen Menschen, zehn       wie auch der nationalen Migrationsnachfrage
asien und Teilen des mittleren Ostens wird       Prozent der über 15-jährigen Bevölkerung, an      notwendig.
der Anteil der Menschen im Erwerbsalter          der US-amerikanischen Diversity Lottery teil.
noch mindestens bis 2050 weiter wachsen.         Sie ist ein kleiner Teil des amerikanischen

4   Europa als Ziel?
Praktisch allerdings wird die pragmatische                 Migration eher bremsen. Wie viele Menschen        kassieren“. Dabei waren die Deutschen schon
Debatte um eine organisierte Zuwanderung                   sich – ungefragt oder angeworben – auf den        einmal zuwanderungsfreundlicher, nämlich
von der Diskussion um jene Menschen                        Weg nach Europa machen, hängt auch vom            vor der sogenannten Flüchtlingskrise von
überlagert, die vor Krieg und Vertreibung                  Bedarf in anderen Weltregionen ab. Denn           2015/16. Dies zeigt, dass der Migrations-
fliehen und/oder aus wirtschaftlicher Not das              auch Nordamerika, die Länder Ostasiens oder       diskurs stark von aktuellen Ereignissen und
Risiko einer oftmals gefährlichen Wanderung                der ehemaligen Sowjetunion sind mittlerwei-       politischen Gemengenlagen beeinflusst wird,
auf sich nehmen. Diese Menschen stellen den                le in einer demografischen Situation, in der      statt von der Einsicht in die Notwendigkeit,
Großteil jener, die zunächst einmal irregulär              sie Zuwanderer benötigen. Um Migranten,           sich pragmatisch mit der Frage der Zuwan-
in die EU gekommen sind und sich dort Asyl                 insbesondere um solche, die attraktive Qua-       derung auseinanderzusetzen. So erklärt sich
erhoffen. Sie stammen meist aus Afrika, dem                lifikationen mitbringen wie IT-Spezialisten       letztlich auch die Unfähigkeit der EU, eine
Nahen Osten und Westasien, Regionen, in                    oder Pflegekräfte, ist längst ein internationa-   gemeinsame Migrationspolitik zu entwickeln,
denen die Bevölkerung nach wie vor stark                   ler Wettbewerb ausgebrochen. Mit Sicherheit       obwohl dies dringend notwendig wäre.
wächst. Umfragen belegen, dass sich dort                   ist Europa nicht das einzige Wunschziel der
eine wachsende Zahl von Menschen mit dem                   Migrationswilligen dieser Welt.                   Berlin, im Juli 2019
Gedanken an eine Auswanderung befasst.
                                                           Die Bevölkerung, zumindest in Deutschland,        Reiner Klingholz
Doch wie viele von ihnen sich tatsächlich                  steht der Idee von Zuwanderung generell           Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und
auf den Weg nach Europa machen, ist offen.                 offen gegenüber. Umfragen zufolge glauben         Entwicklung
Wie sich die Migration künftig entwickelt,                 hierzulande 59 Prozent, dass „Zuwanderer
hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die              unser Land durch ihre Arbeit und ihre Talente
vorliegende Studie analysiert die Beweggrün-               stärker machen“. Demgegenüber geben 35
de, welche die Menschen zu einer Wanderung                 Prozent an, sie seien „eine Last, weil sie Ar-
veranlassen, ebenso wie die Hürden, die                    beitsplätze wegnehmen und Sozialleistungen

                                                                 in Prozent
Mehr Entwicklung = mehr Migration                                16

Entgegen landläufiger Meinung wird Europa nicht von              14
den Armen der Welt überrannt. Denn für eine Migration
sind finanzielle Mittel nötig, über welche die meisten           12
Menschen in den wenig entwickelten Ländern kaum
verfügen. Nach der „Migration-hump-Theorie“ werden               10
Wanderungen über größere Distanzen erst wahrschein-
lich, wenn das jährliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf           8
auf etwa 2.000 US-Dollar steigt. Bei 7.000 bis 13.000
Dollar erreichen sie ihren Höhepunkt. Das bedeutet               6
aber auch, dass sich Migration durch Entwicklung nicht
bremsen lässt. Im Gegenteil fördert sie die Wanderungs-          4
bereitschaft.
                                                                 2
Zusammenhang zwischen BIP pro Kopf (jährlicher
Durchschnitt in Kaufkraftparität bei konstanten 2011 US-         0
Dollar, logarithmische Skala) und geschätzter Auswande-               500     1.000   2.000     5.000   10.000 20.000       50.000 100.000
rungsrate, in Prozent, 2015
                                                                                                                   in kaufkraftbereinigten US-Dollar
(Datenquelle: nach European Commission, Joint Research
Centre, 20181)

                                                                                                                                               Berlin-Institut   5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
Im Zeitalter der Migration                       somit dafür sorgen, dass die Nachfrage nach         Warum Migration entsteht
                                                 Zuwanderern im reicheren Teil der Welt, also
Migration ist ein prägendes Phänomen unse-       längst nicht nur in der EU, steigt, während         Ob sich Menschen entschließen zu migrieren,
rer Zeit: Rund 258 Millionen Menschen lebten     sich das Migrationspotenzial aus dem ärme-          hängt von vielen Faktoren ab, die sich ge-
2017 laut den Vereinten Nationen als inter-      ren Teil vergrößert.                                genseitig noch beeinflussen und verstärken
nationale Migranten in einem anderen Land.                                                           können. Im Zentrum steht der grundsätzliche
Darunter fallen auch jene, die vor Konflikten      Die sogenannte Flüchtlingskrise hat be-           Wunsch, das eigene Leben zu verändern, die
geflohen sind oder in anderen Ländern einen      stehende Vorbehalte und Ressentiments ge-           Suche nach Freiheit, Sicherheit oder nach
Asylantrag gestellt haben. Der größte Teil der   genüber Migration, insbesondere gegenüber           einem besseren Einkommen. Manche Men-
internationalen Migranten wandert aber um        Asylsuchenden und Geflüchteten, verstärkt.          schen wandern aus purer Not oder fliehen
anderswo zu arbeiten. Diese Bewegungen           Innerhalb der europäischen Bevölkerungen            vor Kriegen, andere weil sie sich anderenorts
finden auf der ganzen Welt statt und spiegeln    und auf politischer Ebene polarisieren diese        eine höhere Lebensqualität versprechen. Die
den sozialen, politischen und wirtschaftli-      Themen heute stärker als noch vor zehn Jah-         meisten von ihnen wandern nur über kurze
chen Wandel im Rahmen der Globalisierung         ren. Zuwanderung, ob arbeitsmarktorientiert         Distanzen, oft im eigenen Land oder in die
wider. Aus Sicht der Europäischen Union hat      oder von Flucht geprägt, wird deshalb gene-         Nachbarstaaten. Nur ein Teil der Migranten
Migration aus zwei Gründen eine besondere        rell in Frage gestellt. Die EU-Mitgliedsstaaten     begibt sich in eine andere Weltregion, etwa
Bedeutung:                                       nehmen in dieser schwierigen Gemengelage            nach Europa.
                                                 grundlegend unterschiedliche Positionen ein,
  Einige Mitgliedsstaaten sind schon heute       so dass momentan weder eine gemeinsame
auf Zuwanderung angewiesen, um die Alte-         Migrations- noch Asylpolitik absehbar ist.          Zentrale Einflussgrößen
rung der eigenen Bevölkerung abzufedern,         Die Staaten sind sich allenfalls einig, die irre-
die Wirtschaft am Laufen zu halten und die       guläre Migration einzudämmen und stärker            1 Demografische Faktoren
Sozialsysteme weiter zu finanzieren. Ihre        zu kontrollieren und setzen in unterschiedli-
Zahl wird in Zukunft steigen und letztlich       chem Ausmaß auf Abschottungsmaßnahmen.              Eine stark wachsende Bevölkerung und eine
dürften alle EU-Staaten notwendigerweise                                                             große Anzahl von Menschen im Erwerbsalter,
Zuwanderungsländer werden. Bis 2030              Angesichts der Widerstände und Vorbehalte           für die nicht die entsprechenden Arbeitsplät-
dürfte in der gesamten EU der Anteil der         gegenüber Migration stellt sich die Frage:          ze geschaffen werden können, fördern die
erwerbsfähigen Bevölkerung, also der Per-        Wie geht es weiter in Sachen Migration in der       Migration. Hohes Bevölkerungswachstum
sonen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren,        EU? Um die öffentliche Debatte nüchtern zu          geht in der Regel mit wachsender Konkurrenz
um rund sieben Prozent schrumpfen. In            moderieren, ist es zunächst notwendig, eine         um Nahrung und Trinkwasser, um Wohnraum,
absoluten Zahlen bedeutet das für Deutsch-       klare Vorstellung vom heutigen Migrations-          Bildungseinrichtungen und Gesundheits-
land im Vergleich zu 2015 ein Minus von          geschehen zu erhalten und die Migrations-           dienste einher. Aus einer schlechten Versor-
fünf Millionen in dieser Altersgruppe. Noch      potenziale in verschiedenen Weltregionen            gung können soziale Konflikte entstehen,
stärker vom Alterungsprozess betroffen sind      zu analysieren. Die vorliegende Studie              welche den Migrationswunsch verstärken. Bis
die Bevölkerungen in Italien oder Portugal,      untersucht diese anhand verschiedener Ein-          2030 und noch weit darüber hinaus wird sich
Länder, die schon 2030 ein Medianalter           flussgrößen und zieht daraus Rückschlüsse,          das globale Bevölkerungswachstum immer
von über 50 Jahren erreichen werden. Der         wie sich die Wanderungen in die EU über die         mehr auf die Länder südlich der Sahara und
weltweite Durchschnitt wird dann bei etwa        kommenden Jahre entwickeln könnten.                 Teile der Mena-Region konzentrieren. Nigeria
33 Jahren liegen. Auf absehbare Zeit wird                                                            beispielsweise, das einwohnerstärkste Land
die weltweite demografische Entwicklung                                                              Afrikas, dürfte Prognosen zufolge zwischen
                                                                                                     2070 und 2075 die Einwohnerzahl der heuti-
                                                                                                     gen EU erreichen.

6   Europa als Ziel?
2 Bildung                                       4 Netzwerke und Diaspora                          7 Migrationspolitik
Je besser der Bildungsstand, desto höher die    Netzwerke zwischen Abgewanderten und              Die Migrationspolitik der Länder beeinflusst,
Wahrscheinlichkeit, sich woanders erfolg-       ihren Freunden und Verwandten in den              wie viele Menschen mit welchen sozioökono-
reich ein neues Leben aufbauen zu können.       Herkunftsländern fördern weitere Migration        mischen Eigenschaften zuwandern können.
Tendenziell sind es die besser Gebildeten,      auf diesen Kanälen. Sie ist auch im Sinne der     In der EU hat sie spätestens seit der „Flücht-
die sich dazu entschließen abzuwandern          Herkunftsländer, die sie deshalb aktiv un-        lingskrise“ von 2015 das Ziel, (irreguläre)
und dies auch organisieren können. Nur          terstützen, weil die Rücküberweisungen aus        Migration möglichst stark einzuschränken.
indirekt und längerfristig hat Bildung einen    der Diaspora eine wesentliche Finanzquelle        Seither ist die Zahl der Schutzsuchenden
migrationsdämpfenden Effekt: Insbesondere       darstellen.                                       deutlich gesunken. Weil es gleichzeitig kein
bei Frauen ist sie der wichtigste Faktor für                                                      EU-weites Konzept für eine geordnete und re-
sinkende Kinderzahlen. Sie verbessert zudem                                                       guläre Migration aus Drittstaaten gibt, dürfte
die Perspektiven jedes einzelnen Menschen,      5 Konflikte und politische Faktoren               die Politik bis auf weiteres dafür sorgen, dass
sich in der eigenen Heimat eine Existenz                                                          die Wanderungen in naher Zukunft nicht
aufzubauen.                                     Die Zahl der weltweiten, gewaltsamen              annähernd die Werte von 2015 und 2016
                                                Konflikte hat ihren Höchststand seit 1975         erreichen.
                                                erreicht. Dabei geht es nicht nur um Ausein-
3 Wirtschaftliche Faktoren                      andersetzungen zwischen Staaten, sondern
                                                auch um Bürgerkriege oder Terror. Zunächst        Wunsch und Wirklichkeit
Menschen wandern auch entlang eines             suchen die Menschen in umliegenden Lan-
Wohlstandsgefälles. Dieses ist zwischen         desregionen nach sicheren Orten, an denen         Aus Befragungen des Markt- und Meinungs-
den Industrienationen und den weniger           sie darauf warten können zurückzukehren.          forschungs-Instituts Gallup geht hervor, dass
entwickelten Regionen der Welt enorm.           Doch wenn sich Konflikte über Jahre hinzie-       sich weltweit rund 750 Millionen Menschen
Zudem fehlt es dort an Arbeitsplätzen, um       hen, wandern Binnenflüchtlinge auch über          vorstellen können, in ein anderes Land zu
die Nachwuchsjahrgänge mit Beschäftigung        nationale Grenzen. Diese Migration erfolgt        ziehen, sollte die Möglichkeit dazu beste-
zu versorgen. Dieser Umstand befördert den      aus Mangel an regulären Wanderungsmög-            hen – das sind 15 Prozent der erwachsenen
Wunsch nach Migration, vor allem in der         lichkeiten in der Regel ohne rechtliche Grund-    Weltbevölkerung. Am höchsten ist der Migra-
Gruppe der 20- bis 39- jährigen, welche die     lage. Dabei lässt sich selten klar trennen,       tionswunsch mit 33 Prozent in den Ländern
Mehrheit unter den Migranten stellen. Die       wer aus wirtschaftlichen, politischen oder        südlich der Sahara. In Lateinamerika und Ka-
Wanderungswahrscheinlichkeit über Landes-       anderen Gründen seinen Heimatort verlässt.        ribik, wo der Wunsch seit dem Jahr 2010 am
grenzen hinweg steigt allerdings erst ab ei-                                                      stärksten gestiegen ist, sind es immerhin 27
nem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr                                                        Prozent, in der Mena-Region 24 Prozent. Aber
von 2.000 kaufkraftbereinigten US-Dollar an,    6 Umweltfaktoren                                  auch innerhalb der EU tragen sich 21 Prozent
ein Wert, den die ärmsten Länder der Welt                                                         mit dem Gedanken an eine Auswanderung.
gar nicht erreichen. Bis die Menschen weitere   Globale Umweltveränderungen verschlech-           In den verschiedenen Regionen Asiens sind
Wege zurücklegen und auch Europa erreichen      tern vielerorts auf der Welt die Lebensbe-        es hingegen nur 7 bis 8 Prozent. 21 Prozent
können, ist eine Wirtschaftskraft im Bereich    dingungen. Dazu zählen das Versiegen von          der potenziellen Migranten weltweit – das
zwischen 3.000 bis 10.000 Dollar notwen-        Wasserquellen, die Erosion von Ackerflächen,      entspricht 158 Millionen Personen – geben
dig. Der politisch motivierte Versuch über      der Verlust von Wäldern und Biodiversität         die USA als Wunschziel an. Deutschland,
Entwicklung „Fluchtursachen“ zu bekämpfen,      und die Folgen des Klimawandels. Schon            Frankreich und das Vereinigte Königreich
mit dem Ziel, Migration zu reduzieren, kann     heute führen diese Veränderungen zu Versor-       wären für immerhin 42, 36 respektive 34
deshalb kaum funktionieren. Denn Entwick-       gungskrisen sowie dazu, dass Menschen ihre        Millionen Menschen attraktiv.
lung und bessere Einkommensmöglichkeiten        Heimatorte verlassen müssen. Umweltschä-
versetzen zunächst einmal mehr Menschen         den können andere Migrationsursachen ver-
in die Lage, eine Wanderung zu organisieren     stärken, etwa indem sie Verteilungskonflikte
und zu finanzieren.                             schüren oder Regierungen destabilisieren. In
                                                der Regel sind es die ohnehin schon margi-
                                                nalisierten Teile der Bevölkerung, die sich auf
                                                den Weg machen. Diese Umweltmigranten
                                                bleiben aber, mangels anderer Möglichkeiten,
                                                häufig im eigenen Land.

                                                                                                                                Berlin-Institut   7
Auch wenn diese Zahlen für manche alar-          das Migrationspotenzial aus Subsahara-          kalkulierbare Migrationsbewegungen auslö-
mierend klingen, sie spiegeln Wünsche, aber      Afrika deutlich erhöht – wegen des starken      sen. Hinzu kommt, dass Mena die heißeste
keine Wirklichkeit wider: Nicht einmal zehn      Bevölkerungswachstums, weil sich viele der      und trockenste Region der Welt ist und der
Prozent jener Menschen, die sich eine Mig-       Länder in Sachen Bildung und Wohlstand          Klimawandel den ohnehin schon bestehen-
ration vorstellen können, planen eine solche     entwickeln, aber auch aufgrund anhaltender      den Trinkwassermangel deutlich verschärfen
für die kommenden zwölf Monate. Diese            Konflikte und des Klimawandels, der die Ver-    wird. Auch wenn Umweltveränderungen per
Personen sind mehrheitlich männlich, im          sorgungslage vielerorts weiter verschlechtern   se keine weiträumige Migration auslösen,
jungen Erwachsenenalter, stammen aus ei-         dürfte. Das noch auf lange Sicht bestehende     so erhöhen sie bei instabilen politischen
nem urbanen Umfeld und haben in der Regel        Einkommensgefälle zwischen Subsahara-           Gemengelagen die Wahrscheinlichkeit für
mindestens einen sekundären Bildungsab-          Afrika und der EU, die relative Nähe über       Konflikte.
schluss. Schlussendlich ist es weniger als ein   das Mittelmeer sowie die große bestehende
halbes Prozent der erwachsenen Weltbevöl-        Diaspora in Europa begünstigen Wanderun-
kerung, das sind gut 23 Millionen Menschen,      gen dorthin.                                    Südasien
die konkrete Schritte für eine Auswanderung
unternehmen, sich etwa Geld oder Visa für                                                        Bevölkerung (2020): 1,9 Milliarden
die Migration beschaffen.                        Naher Osten und Nordafrika (Mena)               Migranten innerhalb/außerhalb
                                                                                                 der eigenen Region: 9,1/29,3 Millionen
                                                 Bevölkerung (2020): 548,2 Millionen             Migranten in der EU-28: 3,3 Millionen
Regionale Unterschiede                           Migranten innerhalb/außerhalb
                                                 der eigenen Region: 16,9/13,1 Millionen         Die Menschen in Südasien hegen nur zu
Die Ausprägung der wichtigsten Migrations-       Migranten in der EU-28: 9,3 Millionen           einem geringen Anteil Migrationswünsche.
faktoren unterscheidet sich je nach Weltregi-                                                    Angesichts der 1,9 Milliarden Einwohner und
on und dort zwischen den einzelnen Staaten.      In der Mena-Region mit ihren 548 Millionen      des anhaltend hohen Bevölkerungswachs-
Das Migrationspotenzial für die EU fällt         Einwohnern lebt die zweitjüngste Bevölke-       tums in Ländern wie Pakistan oder Afgha-
entsprechend regional verschieden aus.           rung der Welt. Bis 2030 dürfte sie um weitere   nistan bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit
                                                 13 Prozent anwachsen. Die formalen Bil-         ergibt sich daraus trotzdem ein erhebliches
                                                 dungswerte sind in der jüngeren Vergangen-      Migrationspotenzial, das sich aber überwie-
Subsahara-Afrika                                 heit gestiegen, die Kinderzahlen je Frau ge-    gend auf die Nachbarländer erstreckt. Auch
                                                 sunken – eigentlich eine gute Voraussetzung     die Fluchtmigration aus Afghanistan dürfte
Bevölkerung (2020): 1,1 Milliarden               für eine demografische Dividende, einen         sich auf Pakistan und Iran konzentrieren.
Migranten innerhalb/außerhalb der eige-          Entwicklungsschub aufgrund einer günstigen      2017 lebten 3,3 Millionen Menschen aus
nen Region: 18,8/8,3 Millionen                   Altersstruktur. Doch mangelnde Perspektiven     Südasien in der EU. Die meisten von ihnen
Migranten in der EU-28: 4,0 Millionen            für junge Arbeitsuchende und anhaltende         stammen aus Indien, dem zweitbevölke-
                                                 Konflikte in der Region sind die Hauptgründe    rungsreichsten Land der Welt, Pakistan und
Afrika südlich der Sahara erlebt das mit         für den wachsenden Migrationswunsch, der        Bangladesch. Das wichtigste Zielland in der
Abstand höchste Bevölkerungswachstum             sich überwiegend auf Länder der eigenen Re-     EU ist aufgrund der ehemaligen Kolonial-
weltweit und verfügt über die jüngste            gion erstreckt. In Mena leben etwa 7 Prozent    beziehungen das Vereinigte Königreich, wo
Einwohnerschaft. Gegenwärtig leben dort 1,1      der Weltbevölkerung, aber rund 18 Prozent       fast zwei Millionen in Südasien geborene
Milliarden Menschen, bis 2050 dürfte sich        aller Migranten weltweit. Europa ist das        Menschen wohnen. Aufgrund steigender
ihre Zahl fast verdoppeln, wobei der größte      Hauptziel weiträumiger Wanderungen und          Bildungswerte in den wachsenden Mittel-
demografische Druck in West- und Zentral-        dort sind es vor allem die Länder Frankreich,   schichten, vor allem in Indien, und eines
afrika besteht. Der überwiegende Teil der        Deutschland, Belgien und die Niederlande,       Überangebots an Arbeitskräften, dürften
dort lebenden Menschen verfügt nicht über        zu denen die besten Migrationsnetzwerke         von dort weiterhin qualifizierte Menschen
die Mittel und Möglichkeiten, über längere       bestehen. In der EU lebten 2017 rund 9,3 Mil-   abwandern. Weil gut ausgebildete Zuwande-
Distanzen bis nach Europa zu wandern.            lionen Zugewanderte aus dem Mena-Raum,          rer aus der Region immer gefragter auf dem
Der Anteil der Personen in der EU, die in        überwiegend aus der Türkei (2,7 Millionen),     internationalen Arbeitsmarkt werden, stellt
Afrika geboren sind, beträgt nicht einmal ein    Marokko (2,5 Millionen) und Algerien (1,6       sich die Frage, wie viele davon die EU für sich
Prozent. Sie finden sich vor allem in Ländern    Millionen). Konflikte wie in Libyen und Jemen   gewinnen kann. Bislang jedenfalls zieht es
mit kolonialer Vergangenheit, in Frankreich,     sowie die angespannte politische Lage in        diese Menschen eher in die USA und nach
dem Vereinigten Königreich, Belgien und          einwohnerstarken Ländern wie Ägypten und        Kanada.
Portugal. Es ist davon auszugehen, dass sich     Türkei können größere, wenngleich schwer

8   Europa als Ziel?
Ost- und Südostasien                              zwecken sowie überwiegend innerhalb der
                                                  eigenen Region. Dies ist vor allem auf eine
Bevölkerung (2020): 2,3 Milliarden                gemeinsame Sprache, etablierte Netzwerke
Migranten innerhalb/außerhalb                     und eine gute Migrationsinfrastruktur zurück-
der eigenen Region: 14,2/21,5 Millionen           zuführen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich
Migranten in der EU-28: 3,0 Millionen             dies künftig grundlegend ändern wird. Nur
                                                  wenn sich die politische und wirtschaftliche
Für den im internationalen Vergleich nied-        Situation in einzelnen Ländern erheblich
rigen Migrationswunsch innerhalb Ost- und         verschlechtern sollte, könnte die EU für mehr
Südostasiens gibt es verschiedene Gründe:         Menschen zu einem potenziellen Wande-
Vielerorts haben Wirtschaftswachstum und          rungsziel werden. So ist in Russland der
höhere Bildung neue Perspektiven für die          Bevölkerungsanteil mit Migrationswunsch
Menschen geschaffen. Das Bevölkerungs-            zuletzt deutlich gewachsen.
wachstum der Region klingt langsam aus und
dürfte ab 2035 in ein Schrumpfen übergehen.
In Japan, China oder Südkorea wachsen             Lateinamerika und Karibik
längst nicht mehr ausreichend Kinder nach,
um die Jahrgänge zu ersetzen, die sich in         Bevölkerung (2020): 663,5 Millionen
den Ruhestand verabschieden. Diese Länder         Migranten innerhalb/außerhalb
benötigen auf mittlere Sicht selbst Zuwan-        der eigenen Region: 6,0/31,6 Millionen
derung. Die Migration findet größtenteils         Migranten in der EU-28: 4,4 Millionen
innerhalb der Region statt, daneben stehen
Nordamerika und Australien weit oben auf          Für Migranten aus Lateinamerika und der Ka-
der Liste der Wanderungsziele. Erst da-           ribik sind die USA das mit Abstand wichtigste
nach folgt Europa, wo aber immerhin drei          Zielland. Aber auch die EU und dort vor allem
Millionen Menschen aus Ost- und Südostasi-        Spanien, Portugal und Italien sind attraktive
en leben, eine Millionen davon aus China.         Wanderungsziele. Die beiden Regionen sind
Weitere Zuwanderung ist vor allem aus China       durch gemeinsame Sprachen, historische
zu erwarten, auch wenn die Bevölkerung dort       Verflechtungen und eine große Diaspora
nicht mehr wächst, sowie aus Indonesien,          miteinander verbunden. Der demografische
Vietnam und den Philippinen, wo sich das          Abwanderungsdruck in Lateinamerika ist
Bevölkerungswachstum voraussichtlich noch         nur noch gering, weil die Bevölkerung nur
bis etwa 2050 fortsetzen wird.                    noch wenig wächst und vielerorts bereits
                                                  altert. Der Anteil von Personen im wande-
                                                  rungstypischen Alter von 20 bis 39 Jahren
Postsowjetischer Raum                             wird bis 2030 bereits sinken. Der dennoch
                                                  bestehende, vergleichsweise hohe Wan-
Bevölkerung (2020): 290,2 Millionen               derungswunsch beruht auf relativ guten
Migranten innerhalb/außerhalb                     Bildungswerten bei gleichzeitig schlechten
der eigenen Region: 22,0/7,6 Millionen            Arbeitsmarktbedingungen und Einkommens-
Migranten in der EU-28: 5,5 Millionen             möglichkeiten. Krisen und Konflikte wie in
                                                  Nicaragua oder Venezuela erhöhen derzeit
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion         den Wanderungsdruck. Weil sich die USA
liegt der Anteil der Menschen mit Migrations-     zunehmend gegen Zuwanderung vor allem
wunsch konstant bei etwa 15 Prozent und da-       aus Zentralamerika abschotten, könnte sich
mit im Vergleich zu anderen Regionen relativ      ein Teil der Wanderungswilligen Europa zum
niedrig. Die Bevölkerung der Region wächst        neuen Ziel nehmen.
aufgrund niedriger Geburtenziffern nicht
mehr, sie altert vielerorts schon stark und die
Menschen wandern vor allem aus Erwerbs-

                                                                                                  Berlin-Institut   9
MIGRATION IST TEIL DES LEBENS
Die Welt erlebt derzeit die größten demogra-     Auf absehbare Zeit wird es daher in einem          in den Ruhestand. Das bedeutet weniger
fischen Ungleichgewichte der Geschichte. Auf     Teil der Welt eine wachsende Nachfrage nach        Einzahler in die gesetzlichen Rentenkassen,
der einen Seite stehen Länder, die sich früh     Arbeitskräften und im anderen ein steigendes       während mehr Menschen auf deren Leistun-
in Richtung einer Industriegesellschaft entwi-   Angebot geben. Nach der Vorstellung von            gen angewiesen sind und die Kosten für die
ckelt haben. Sie verfügen in der Regel über      Ökonomen würde unter Idealbedingungen              Gesundheits- und Pflegesysteme steigen.2
einen hohen Wohlstand, gute Infrastrukturen      der Markt für einen Ausgleich sorgen und die       So stehen die Gesellschaften der EU vor der
und soziale Absicherung. Dort sind weite         Arbeitskräfte würden dorthin wandern, wo           Herausforderung, ihr Zusammenleben anders
Bevölkerungskreise gut gebildet, die Gleich-     sie gebraucht werden. Das Problem dabei ist,       zu organisieren als bisher.
berechtigung zwischen Frauen und Männern         dass das weltweite Angebot die Nachfrage
ist fortgeschritten, die Menschen können ihre    erheblich übersteigt und auch die Qualifikati-     Ein Mittel, um Alterung und Schrumpfung zu
Leben weitgehend individuell planen – und        on der Wanderungswilligen nicht immer den          verlangsamen, ist Zuwanderung. Welchen
die Kinderzahlen je Frau sind niedrig. Mit       Erfordernissen der Zielländer entspricht.          Effekt sie hat, zeigt ein Blick auf die 11.
Ausnahme von Israel gibt es kein industriali-                                                       koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
siertes Land mit bestandserhaltenden Gebur-      Hier kommt die Politik ins Spiel: Sie sollte Mi-   des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr
tenziffern. Ohne Zuwanderung stagniert in        gration als Teil der globalen wirtschaftlichen     2006. In ihrem mittleren Szenario ging sie
vielen dieser Länder bereits die Bevölkerung,    und gesellschaftlichen Entwicklung regeln          bis 2030 von einem Einwohnerschwund von
sie altert stark und hat mancherorts schon       und dabei vier verschiedene Interessen be-         2 bis 5 Millionen Einwohnern auf 77 bis 80
begonnen zu schrumpfen. Diesen Ländern           rücksichtigen: Erstens sollten die Menschen        Millionen aus und einem wachsenden Anteil
gehen mehr und mehr die Erwerbstätigen           aus den Herkunftsländern die Chance haben,         der über 64-Jährigen an der Bevölkerung von
aus, die den Wohlstand der Gesellschaften        ihr Leben durch die Wanderung zu verbes-           etwas unter 30 Prozent. Weil aber die Zuwan-
erwirtschaften – qualifizierte Fachkräfte für    sern. Zweitens sollten die Zielländer volks-       derung nach Deutschland deutlich stärker
die Unternehmen, Aushilfskräfte im Dienst-       wirtschaftlich von der Migration profitieren       ausfiel als für diese Berechnung angenommen
leistungssektor, medizinisches und Pflege-       können. Drittens sollte Migration die Entwick-     und weil Migranten in der Regel jünger sind,
personal für die Älteren. Die Schwellenländer,   lung in den Herkunftsländern nicht hemmen.         ist heute damit zu rechnen, dass sich die
von China bis Brasilien, folgen diesem Trend     Und viertens muss die Politik die Migration        Einwohnerzahl Deutschlands bis 2030 prak-
sehr schnell.                                    so moderieren, dass die Bevölkerung der Ziel-      tisch nicht verändert und auch dann noch bei
                                                 länder sie gesellschaftlich akzeptiert.            knapp 83 Millionen liegen dürfte, bei einem
Auf der anderen Seite stehen ärmere Länder,                                                         Anteil der über 64-Jährigen von 26 Prozent.3
die erst in den frühen Phasen der sozioöko-
nomischen Entwicklung stehen. Dort liegen        Warum die EU Zuwanderung braucht                   Die EU-Binnenmigration kann den demografi-
die Kinderzahlen noch auf hohem oder sehr                                                           schen Wandel nicht abmildern. Sie hilft zwar
hohem Niveau und die Bevölkerung wächst          Die Bevölkerungen in allen EU-Mitgliedsstaa-       einzelnen Ländern, etwa jenen in Süd- und
entsprechend stark. Das Wachstum verstärkt       ten werden in den kommenden Jahrzehnten            Osteuropa, die nach der letzten Finanzkrise
die ohnehin bestehende Konkurrenz der Men-       aufgrund von anhaltend niedrigen Kinder-           ihre Arbeitsmärkte entlasten konnten, wäh-
schen um Versorgungsleistungen, Bildungs-        zahlen und steigender Lebenserwartung              rend andere, wirtschaftsstarke Länder wie
möglichkeiten und Jobs. Praktisch überall in     deutlich altern. Bis 2030 dürfte das europä-       Deutschland von den zugewanderten Arbeits-
den wenig entwickelten Ländern nimmt die         ische Medianalter, also jenes Alter, welches       kräften profitieren. Aber insgesamt bleiben
Zahl der Menschen im Erwerbsalter schneller      die Bevölkerung in zwei Hälften teilt, von         innereuropäische Wanderungen für die EU ein
zu als die der verfügbaren Arbeitsplätze.        heute 42 auf rund 46 Jahre steigen. Italien        Nullsummenspiel – des einen Landes Gewinn
Verteilungskonflikte und politische Krisen       oder Portugal liegen dann bereits bei über         ist des anderen Verlust.4 Deshalb wächst
sind fast unvermeidbare Folgen.                  50 Jahren. Zum Vergleich: Das weltweite            in der alternden Union die Bedeutung der
                                                 Medianalter beträgt etwa 30 Jahre und dürfte       Migration aus Drittstaaten. Nur mit Menschen
                                                 bis 2030 nur um drei Jahre zulegen.1 Fast flä-     von außerhalb der EU lassen sich Lücken in
                                                 chendeckend gehen immer mehr EU-Bürger             der Erwerbsbevölkerung schließen.

10 Europa als Ziel?
Dieser ökonomischen Notwendigkeit stehen           In der EU ist ein solches Modell, das auf          Herausforderungen für Gesellschaft
Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber:           ethnische Homogenität der Bevölkerung              und Migrationspolitik
2018 äußerten sich rund 53 Prozent der             zielt, nicht realistisch, denn die Millionen
EU-Bürger skeptisch bis negativ über die           Bürger mit Migrationsgeschichte prägen die         In dieser Gemengelage müssen Gesellschaft
Zuwanderung aus nicht-EU Staaten.5 Aufgabe         Gesellschaften schon lange.8 Gerade die früh       und Politik entscheiden, nach welchen Krite-
der Politik ist es deshalb auch, über Sinn und     industrialisierten Zielländer internationaler      rien sie die Türen des Landes öffnen. Es geht
Zweck von Migration mit den Bürgerinnen            Migranten, wie etwa die westeuropäischen           dabei um die Fragen, wie viele Zuwanderer
und Bürgern zu diskutieren. Dazu gehört es,        EU-Staaten, profitieren ökonomisch von der         kommen und welche Qualifikationen sie
aufzuzeigen, welche Konsequenzen es hat,           Zuwanderung. So erwirtschaften Migranten           mitbringen sollen, wie sie bei der Integration
wenn Staaten im demografischen Wandel die          im Saldo meist mehr öffentliche Einnahmen,         in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft
Zuwanderung auf ein Minimum begrenzen,             als sie über Transferleistungen erhalten.9         zu unterstützen sind, welche Maßnahmen für
wie es etwa Japan tut: Dort gab es über Jahr-      Zwar gilt dies nicht immer, doch häufig ist        Ehepartner und Kinder notwendig sind und
zehnte so gut wie keine Zuwanderung, die           dieses Verhältnis nur vorübergehend um-            welche Mittel die Institutionen von der EU bis
Wirtschaft stagniert seit Jahren, die Staats-      gekehrt. Studien zeigen immer wieder, dass         zur Kommune dafür bereitstellen.
verschuldung hat 237 Prozent des Bruttoin-         internationale Migration langfristig zu einem
landsprodukts erreicht und die Renten- und         höheren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei-         Die EU-Mitgliedsstaaten vertreten zu diesen
Gesundheitssysteme stehen vor enormen              trägt.10 Dabei kommt es allerdings – wie auch      Fragen der Migration derzeit grundlegend
Problemen. Die Gesamtbevölkerung wird              bei der einheimischen Bevölkerung – darauf         verschiedene Positionen. Eine gemeinsame
nach offiziellen Schätzungen zwischen 2015         an, welche Bildung und Fähigkeiten die Men-        Migrationspolitik, die Zuwanderung nicht
und 2060 von 127 auf 88 Millionen schrump-         schen mitbringen oder welche Möglichkeiten         primär als Problem begreift, ist in weite
fen. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung im          sie erhalten, ihre Potenziale zu entfalten.        Ferne gerückt. Einige Länder lehnen Zuwan-
Alter von 15 bis 64 Jahren wird von 61 auf         Allzu oft aber gehen mit dem Migrantenstatus       derung grundsätzlich ab, andere halten sie
51 Prozent zurückgehen, während jener der          geringere Einkommen sowie schlechtere              zumindest aus ökonomischer Perspektive für
Generation 65+ von 27 auf 38 Prozent steigt.6      Chancen bei der Bildung einher.11                  notwendig. Einigkeit besteht allenfalls darin,
Dennoch lehnen große Teile der japanischen                                                            die irreguläre Migration einzudämmen und
Bevölkerung Zuwanderung nach wie vor ab                                                               stärker zu kontrollieren. Letztere hat sich
und die Regierung öffnet sich rhetorisch und                                                          aber seit der sogenannten Flüchtlingskrise
nur in winzigen Schritten gegenüber migran-                                                           von 2015 in der öffentlichen Diskussion
tischen Arbeitskräften.7                                                                              in den Vordergrund gedrängt. Der Streit

in Millionen
22

20                                                                                                          Steter Anstieg
18                                                                                              1990        Die EU zählt zu den Weltregionen, in denen
                                                                                                1995        die meisten internationalen Migranten
16                                                                                                          leben. Die Grafik zeigt, wie sich die Zahl an
                                                                                                2000
                                                                                                            Migranten in der EU seit 1990 verändert
14                                                                                              2005        hat und aus welchen Regionen sie kamen.
                                                                                                2010        Die allermeisten Wanderungen fanden
12                                                                                              2015        innerhalb der EU statt und sie haben mit
                                                                                                2017        den EU-Osterweiterungen Mitte der 2000er
10
                                                                                                            Jahre noch einmal zugenommen. Unter den
                                                                                                            Migranten von außerhalb der EU stellen jene
8
                                                                                                            aus der Region Naher Osten und Nordafrika
6                                                                                                           (Mena) mit zuletzt über neun Millionen Per-
                                                                                                            sonen die größte Gruppe. Dort finden sich mit
4                                                                                                           der Türkei, Algerien und Marokko einige der
                                                                                                            wichtigsten Herkunftsländer für Migranten
2                                                                                                           in der EU.

0                                                                                                           Anzahl internationaler Migranten in der
        EU-28        Mena     postsowjetischer Lateinamerika   Subsahara-   Südasien     Ost- und           EU-28 nach Herkunftsregion, 1990 bis 2017
                                   Raum         und Karibik      Afrika                 Südostasien         (Datengrundlage: UN DESA12)

                                                                                                                                      Berlin-Institut 11
um Flucht und Asyl hat eine pragmatische         kommen. Daraus lassen sich Rückschlüsse
Debatte um eine geregelte Zuwanderung            ziehen, wie sich Migrationsbewegungen oder                                Migrationspotenzial ...
weitgehend verhindert.                           auch der Migrationsdruck Richtung EU über
                                                 die kommenden Jahre entwickeln könnte.                                    … beschreibt die Anzahl der Menschen,
Die EU steht vor der Herausforderung,            Wanderungen wie auch Druck hängen von                                     die sich wünschen, in ein anderes Land
rechtlich zwischen Geflüchteten und Mig-         verschiedenen Faktoren ab, vom Bevölke-                                   zu ziehen und dazu auch die Möglich-
ranten unterscheiden zu müssen – das gilt        rungswachstum und den Jobchancen in den                                   keit haben. Das Migrationspotenzial
zumindest für alle Unterzeichner der Genfer      Herkunftsländern, von den bestehenden                                     ist deutlich größer als die tatsächliche
Flüchtlingskonvention von 1951. Für die          sozialen, kulturellen oder historischen                                   Anzahl der Menschen, die wandern.
erste Gruppe besteht ein Rechtsanspruch          Beziehungen zwischen den Ländern, von
auf Unterstützung unabhängig von Herkunft,
Alter, Geschlecht oder Qualifikation. Bei der    Hauptziele innerhalb der Herkunftsregion
zweiten kann jedes Zielland eigene Auswahl-
                                                 Wenn die Menschen ihren Wohnort verlagern, tun sie das meist nur über kurze Distanzen. Die meisten bleiben
kriterien anlegen. In der Realität verschwim-    im eigenen Land, deutlich weniger gehen über eine Grenze und kommen auch dann selten aus ihrer eigenen
men beide Kategorien jedoch zunehmend.           Großregion heraus. International zeigen sich typische Migrationsmuster, die häufig historisch bedingt sind und
Bislang fehlen die richtigen Instrumente, um     sich über den Austausch mit bereits ausgewanderten Landsleuten verstärken. Wie aus der Grafik ersichtlich,
sowohl Geflüchteten Schutz zu bieten, als        bleiben die allermeisten Migranten aus dem postsowjetischen Raum oder aus Subsahara-Afrika in ihrer Region.
                                                 Zu den größten überregionalen Zuwanderergruppen zählen Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten und
auch transparente und reguläre Zuwande-          Personen aus Südasien in der Mena-Region. So leben viele indische Arbeitsmigranten in den Vereinigten Arabi-
rungswege für Migranten zu schaffen.             schen Emiraten (3,3 Millionen) oder in Saudi-Arabien (2,3 Millionen).

                                                                                                              aum
Auf internationaler Ebene haben sich inzwi-                                                              her R 40   50 0    10
                                                                                                   jetisc 0                      20           EU
schen viele Staaten für mehr Kooperation in                                                      ow
                                                                                              sts 20
                                                                                                          3                            30       –2
                                                                                            po                                                40 8
der Migrationspolitik ausgesprochen, um die-                                                 10                                                      50
se Probleme zu überwinden. Der Ende 2018                                                0
verabschiedete Globale Migrationspakt der

                                                                                                                                                           60
                                                                              50

Vereinten Nationen hat sich einerseits zum

                                                                                                                                                                70
Ziel gesetzt, dass Wanderungen aus Not nicht
                                                                  40
                                                             30 rika

mehr stattfinden müssen. Andererseits soll er

                                                                                                                                                                     80
                                                                e
                                                            dam

                                                                                                                                                                        0
dazu beitragen, Migration in sichere, reguläre
                                                         Nor

und geordnete Bahnen zu lenken. Dabei

                                                                                                                                                                          10
                                                              20

                                                                                                                                                                           Subs
stärkt er den zwischenstaatlichen Austausch,

                                                                                                                                                                               ahara-Afr
                                                                                                                                                                                20
                                                           10

fördert die Kooperation in der Migrationspoli-
tik und bietet Unterstützung beim Aufbau von

                                                                                                                                                                                      30
                                                          0

notwendigen Verwaltungsstrukturen.13 Doch

                                                                                                                                                                                        ika
selbst bei diesen Fragen sind die EU-Staaten
                                                     40
                                                     Lateiname

                                                                                                                                                                                            40
weit voneinander entfernt. So stimmten
                                                           30

                                                                                                                                                                             0
Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn
                                                              rika u

gegen den Pakt; Bulgarien, Italien, Lettland

                                                                                                                                                                       10
                                                                 20 Karib

sowie Österreich enthielten sich. Damit
                                                                    nd

haben sich immerhin 20 EU-Mitglieder für
                                                                                                                                                                     20
                                                                       10 k

mehr Kooperation in der Migrationspolitik
                                                                          i

                                                                                                                                                                30
                                                                          05

ausgesprochen.
                                                                            0

                                                                                                                                                           M 0
                                                                              40 O

                                                                                                                                                              a
                                                                                                                                                              4
                                                                                                                                                            en

                                                                                st      3
Um Kompromisse zu finden und letztlich                                            −
                                                                                      un 0                                                            50
                                                                                        d S 20
klare Regeln für Migration aufzustellen, ist                                               üd
                                                                                             ost
                                                                                                                                                60
es zunächst notwendig, eine klare Vorstel-                                                      asi 10                                 0 7
                                                                                                                                          0
                                                                                                   en     0    40                10
lung vom heutigen Migrationsgeschehen zu                                                                            30    20
                                                     internationale Migranten aus                                    Südasien
bekommen und die Migrationspotenziale in
                                                     internationale Migranten in
verschiedenen Weltregionen zu analysieren,
die für eine Wanderung nach Europa in Frage      Internationale Migranten nach ausgewählten Herkunfts- und Zielregionen (Daten geben die Anzahl zur Mitte des
                                                 Jahres an und spiegeln damit vergangene Wanderungen wider), in Millionen, 2017
                                                 (Datengrundlage: UN DESA18)

12 Europa als Ziel?
in Prozent                                                                                        Viele wünschen sich zu wandern,
35                                                                                                wenige tun es
                                                                                2010-2012         Das Meinungsforschungsinstitut Gallup erhebt
30                                                                              2013-2016         regelmäßig und weltweit, wie viele Menschen sich
                                                                                2015-2017         vorstellen können, langfristig in ein anderes Land
                                                                                                  zu ziehen. Weltweit waren es zuletzt rund 750
25                                                                                                Millionen. In den Ländern Subsahara-Afrikas sowie
                                                                                                  in Lateinamerika und Karibik liegt der Anteil der Be-
                                                                                                  völkerung mit Migrationswunsch am höchsten. Auch
20                                                                                                in der EU hegen rund 20 Prozent der Menschen den
                                                                                                  Wunsch, in einem anderen Land zu leben. Allerdings
                                                                                                  zeigen die Zahlen weder, ob die potenziellen Migran-
15                                                                                                ten diesen Wunsch tatsächlich umsetzen (können)
                                                                                                  noch wo sie gerne leben würden.20 Tatsächlich
                                                                                                  treffen deutlich weniger Menschen konkrete Wande-
10                                                                                                rungsvorbereitungen und noch weniger machen sich
                                                                                                  am Ende wirklich auf den weg.21

 5                                                                                                Anteil der Bevölkerung, die auswandern würde,
                                                                                                  wenn sie die Gelegenheit dazu hätte, nach Regionen*
                                                                                                  und Erhebungszeiträumen, in Prozent
 0                                                                                                (Datengrundlage: Gallup World Poll 22)
     Subsahara- Lateinamerika   Mena   EU-28   Gemeinschaft   Südasien   Ostasien   Südostasien
       Afrika    und Karibik                   Unabhängiger                                       Die hier gezeigten Regionen sind eine Auswahl des
                                                                                                  *
                                                  Staaten
                                                                                                  Gallup-Institutes und entsprechen in ihrer Länderzusam-
                                                                                                  mensetzung nicht exakt den in dieser Studie verwendeten.

der Qualifikation und dem Alter der Wan-       sind heute praktisch alle Weltregionen Teil
derungswilligen, aber auch von politischen     des internationalen Migrationsgeschehens.15            Internationale Migranten ...
Verhältnissen, von Krieg, Terror oder von      Diese Bewegungen sind ein Ebenbild des
Umweltveränderungen.                           sozialen, politischen und wirtschaftlichen             … sind laut UN-Definition Personen, die
                                               Wandels auf der Welt, während sie diesen               ihren Lebensmittelpunkt für mindes-
Die vorliegende Studie untersucht, welche      gleichzeitig vorantreiben.16 Mobilität lässt           tens zwölf Monate in ein anderes Land
Faktoren eine Migration begünstigen, welche    sich heute einfacher und billiger organisieren         verlegt haben und dort noch wohnen.
Migrationspotenziale in sechs verschiedenen    als zu früheren Zeiten. Der globale Informa-
Weltregionen existieren und ob sich von        tionsaustausch ermöglicht den Menschen
dort künftig eher mehr oder eher weniger       heute einen Einblick in die Lebensbedin-
Menschen aus den verschiedensten Gründen       gungen von Regionen, in denen es sich              Die meisten Menschen wandern nach wie
auf den Weg nach Europa machen werden.         einfacher und besser leben lässt oder wo sich      vor, um anderswo zu arbeiten. Von den etwa
Dabei ist stets zu unterscheiden, wie viele    neue Chancen auf eine Beschäftigung und            234 Millionen internationalen Migranten im
Menschen sich mit dem Wunsch auszuwan-         Bildungsmöglichkeiten ergeben.                     Alter von über 15 Jahren sind etwa 70 Prozent
dern beschäftigen und wie viele wirkliche                                                         zu Erwerbszwecken in ein anderes Land
Vorbereitungen dazu treffen beziehungswei-     Dass es heute mehr Migration gibt, hat aber        gezogen.19 Abseits dieser dominierenden
se schlussendlich eine Wanderung antreten.     auch einen ganz trivialen Grund – das Bevöl-       Migrationsformen lassen sich heute auch
                                               kerungswachstum: Zwischen 1990 und 2017            vermehrt Menschen im Alter in einem ande-
Wer wandert heute wohin?                       hat sich die Zahl der Menschen von etwa 5,3        ren Land nieder. Andere pendeln zwischen
                                               auf 7,5 Milliarden erhöht, also um 42 Prozent.     verschiedenen Ländern hin und her.
Mehr Menschen denn je sind heute grenz-        Die Zahl der internationalen Migranten hat
überschreitend mobil, 2017 lebten rund 258     sich im selben Zeitraum von 153 auf 258
Millionen Menschen als internationale Mig-     Millionen erhöht, also um 69 Prozent und da-
ranten in einem anderen Land, darunter rund    mit etwas stärker als die Zahl der Menschen
29 Millionen Geflüchtete und Asylsuchende.14   insgesamt.17
Anders als zu Zeiten der Industrialisierung

                                                                                                                                      Berlin-Institut 13
WARUM SICH MENSCHEN AUF
WANDERSCHAFT BEGEBEN
Migration ist ein konstanter Faktor menschli-         wiederum ausgehend von Afrika, seit über                 derungen. Zielgerichtete Migration ist ein
cher Geschichte. Schon immer sind Men-                200.000 Jahren auf Wanderschaft und ha-                  relativ junges Phänomen. So setzten mit der
schen gewandert, um neue Siedlungsgebiete             ben Zug um Zug die ganze Welt besiedelt.1                frühen Industrialisierung große Wanderungs-
für sich und ihre Gemeinschaften zu erschlie-                                                                  bewegungen ein, vor allem aus ländlichen Re-
ßen. So hat sich unser archaischer Vorfahr            Doch diese frühen Wanderungen hatten kein                gionen in die neuen Produktionszentren, wo
Homo erectus vor rund zwei Millionen Jahren           konkretes geografisches Ziel. Sie glichen eher           die Fabriken auf Arbeitskräfte angewiesen
über weite Teile des afrikanischen Kontinents         einer gemächlichen Ausbreitung über Gene-                waren. Als neue Transportmöglichkeiten wie
und dann bis nach Eurasien ausgebreitet.              rationen hinweg oder einer langsamen Flucht              moderne Schiffe, Eisenbahnen und später
Auch die ersten modernen Menschen sind,               vor klimatischen und ökologischen Verän-                 auch Flugzeuge Langstreckenreisen selbst

Wie entsteht Migration?
Es muss Einiges zusammenkommen, bevor Menschen ihren Heimatort verlassen, um woanders ihr Glück zu suchen. Im Zentrum steht meist der Wunsch, das eigene
Leben zu verändern und seinen Kindern bessere Chancen zu bieten, die Suche nach mehr Sicherheit und Freiheit oder nach höherem Einkommen.

         Einflussgrößen                        Wünsche und                                                        Migration?
          auf Migration                        Möglichkeiten

     demografische Faktoren                persönliche Aussichten                       Migrationswunsch                             Migration
                                              im Herkunftsland

             Bildung
                                                                                                                               gescheiterte Migration
     wirtschaftliche Faktoren

    Netzwerke und Diaspora                     Veränderungswunsch?                      andere Lösungen?                  keine Möglichkeit zur Migration

  Konflikte und polit. Faktoren

         Umweltfaktoren

                                           persönliche Lebensziele
        Migrationspolitik                       und -wünsche                         Migrationsinfrastruktur

(Eigene Darstellung nach Carling, 20172)

14 Europa als Ziel?
über Kontinente hinweg möglich machten            werden vertrieben oder suchen nach Orten,       Sahara konzentrieren. So wuchs die Bevöl-
und das Telefon die menschliche Kommu-            wo sie ihre eigenen Lebensziele besser          kerung zwischen 2017 und 2018 in Pakistan
nikation revolutionierte, wandelte sich die       realisieren und ihren Lebensunterhalt sichern   laut UN-Schätzungen um 3,8 Millionen, in Ni-
Migration zu einem globalen Phänomen.             können.6 Manche Menschen wandern aus            geria, dem einwohnerstärksten Land Afrikas,
                                                  purer Not, andere weil sie sich anderenorts     waren es sogar rund 5 Millionen.9
Die großen Migrationstrends in dieser             eine noch höhere Lebensqualität verspre-
Epoche waren nicht auf die Industrialisie-        chen. Meist stehen gleichzeitig verschiedene    Scheitern die Regierungen daran, ihren
rungszentren beschränkt. Zwischen 1846            Faktoren hinter einem Wunsch zu migrieren,      Bürgerinnen und Bürgern gute Lebensbe-
und 1940 verließen schätzungsweise 55 bis         die sich zudem gegenseitig beeinflussen und     dingungen zu verschaffen, dann setzt häufig
58 Millionen Menschen ihre europäische            verstärken können.                              zunächst eine regionale Wanderung ein. Die-
Heimat mit dem Ziel Amerika, was jährlich                                                         se verläuft vor allem von strukturschwachen
mehr als einer halben Million Menschen            Weltweiten repräsentativen Umfragen zufol-      ländlichen Regionen in die urbanen Zentren.
entsprach. Aus Indien und dem südlichen           ge tragen sich zwischen 7 (in Südasien) und     Dort sind die Lebensbedingungen zwar selten
China machten sich in diesem Zeitraum bis zu      33 Prozent (in Subsahara-Afrika) aller Erden-   optimal, denn die meisten Landflüchtigen
52 Millionen Menschen auf den Weg Richtung        bürger mit dem Gedanken an eine Abwan-          finden gerade in wenig entwickelten Ländern
Südostasien. Und aus dem nordöstlichen            derung.7 Diese Ziffer sagt jedoch wenig über    nur Unterschlupf in Armutsvierteln mit
Asien und Russland wanderten bis zu 51            das tatsächliche Migrationsgeschehen. Denn      beengten Verhältnissen, schlechten Hygie-
Millionen Menschen ab, um sich in Sibirien,       am Ende unternimmt weniger als ein Prozent      nebedingungen und hoher Kriminalität. Aber
Zentralasien oder Japan niederzulassen. Die-      aller erwachsenen Menschen weltweit kon-        dennoch ist es dort leichter, (informelle) Be-
se Wanderungsbewegungen geschahen nicht           krete Schritte für eine grenzüberschreitende    schäftigung und Schulen für den Nachwuchs
immer freiwillig, sondern häufig als Folge von    Verlegung ihres Wohnorts.8 Welche Faktoren      zu finden als in den ländlichen Herkunftsre-
Vertreibungen oder Deportationen.3                und Rahmenbedingungen bei der Verwirkli-        gionen. Da sich die gefühlte Lebensqualität
                                                  chung eines Migrationswunsches eine Rolle       und die Aufstiegschancen unterm Strich
Die Zielorte von Migranten profitieren in der     spielen, und wie sie sich auf Wanderungs-       verbessern, ziehen Städte immer mehr Men-
Regel von den neu Zugewanderten.4 Viele           entscheidungen auswirken, beschreiben die       schen aus ländlichen Regionen an.
von ihnen kommen als Arbeitskräfte, gründen       folgenden Absätze.
eigene Unternehmen und sind häufig uner-                                                          Die Urbanisierung schreitet gerade in den
lässlich für die Volkswirtschaften. Sie bringen                                                   ärmeren Weltregionen rasch voran. Während
neue Ideen in Wirtschaft und Gesellschaft         1 Demografische Faktoren                        in Afrika südlich der Sahara 2008 rund 35
ein, regen den kulturellen Austausch an und                                                       Prozent der Menschen in urbanen Gebieten
stärken den globalen Wissensaustausch.5 So        Demografische Faktoren wirken sich vor          lebten, dürften es nach Schätzungen der
finden sich in den Autorenzeilen der Publi-       allem indirekt auf Migrationsentscheidungen     Vereinten Nationen bis 2030 schon 47
kationen großer Forschungsinstitute Namen         aus. Hohes Bevölkerungswachstum bedeutet        Prozent sein.13 Bis dahin sind in Afrika sechs
aus aller Herren Länder und Unternehmen           wachsende Konkurrenz um Ausbildungs-            von weltweit 41 Megastädten mit über zehn
nutzen die Diversität ihrer Mitarbeiterschaft     und Arbeitsplätze, um Infrastrukturen, um       Millionen Einwohnern zu erwarten.14
als strategisches Instrument.                     Nahrung oder Trinkwasser. Insbesondere
                                                  für wenig entwickelte Länder ist dies eine      In den Zentren kommen Menschen leichter an
                                                  enorme Herausforderung, denn dort ist vie-      Informationen, mit denen sich eine weitere
Wünsche und Möglichkeiten                         lerorts die Versorgungslage ohnehin kritisch,   Migration organisieren lässt. Mit besseren
bedingen, ob Menschen wandern                     während die Zahl der Menschen oft schneller     Verdienstchancen und wachsendem Lebens-
                                                  wächst als die Gesundheitsdienste, die Zahl     standard – Rahmenbedingungen, die auch
Die Gründe für einen Ortswechsel sind             der Schulen, der Wohnraum und vor allem die     zu deutlich sinkenden Kinderzahlen je Frau
vielfältig. Natürliche und menschengemachte       verfügbaren Arbeitsplätze.                      führen15 – haben sie zudem andere Möglich-
Umweltveränderungen spielen ebenso eine                                                           keiten, eine Abwanderung in ein anderes
Rolle wie ein Bevölkerungswachstum, mit           Bis 2030 und lange darüber hinaus wird sich     Land zu finanzieren. Die Urbanisierung
dem die Verfügbarkeit von Ressourcen und          das globale Bevölkerungswachstum immer          fördert einerseits die Migrationsbereitschaft,
Infrastrukturen nicht Schritt halten kann.        mehr auf Teile West- und Südasiens und vor      reduziert aber andererseits langfristig den
Menschen fliehen vor Terror und Konflikten,       allem die afrikanischen Länder südlich der      demografischen Druck.16

                                                                                                                                Berlin-Institut 15
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