Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration - Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
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gefördert von der Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration an Migration +++ nur ein Bruchteil davon macht sich wirklich auf den Weg +++ Zuwanderer aus Südasien auf dem internationalen Arbeitsmarkt gefragt +++ die e Erwerbsbevölkerung schrumpft durch Alterung +++ Klimawandel als Migrationstreiber +++ starke Netzwerke zwischen Lateinamerika und der EU +++ den Ar Berlin-Institut 99
Impressum Originalausgabe Juli 2019 Über das Berlin-Institut © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und glo- Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. baler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Herausgegeben vom Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Schillerstraße 59 Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer 10627 Berlin und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen Telefon: (030) 22 32 48 45 Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Ber- Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org lin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen www.berlin-institut.org Entscheidungsprozess auf. Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Newsletter „Demos“ Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut). zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. Autoren: Jana Aresin, Adrián Carrasco Heiermann, Alisa Kaps, Reiner Klingholz Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Konzeptionelle Beratung: Rainer Ohliger Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Datenrecherche: Rebaz Ahmad, Jana Aresin, Adrián Carrasco Heiermann Unterstützung. Projektförderungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolgreiche Arbeit Lektorat: Tanja Kiziak des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Die Autoren danken Rainer Ohliger, Stephan Sievert, Dr. Steffen Angenendt, Anna Spenden und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar. Dieterle und Patrick Sabourin für die wissenschaftliche Begleitung der Studie und wertvolle Kommentare im Schreibprozess. Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen zusam- Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de) men, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu Druck: Laserline Berlin unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt. ISBN: 978-3-946332-48-0 Stiftung Mercator Die Studie ist Teil des Projekts „Zuwanderer von morgen“, gefördert durch die Stiftung Mercator. Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Welt- offenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Dabei konzentriert sie sich darauf, Europa zu stärken, den Bildungs- erfolg benachteiligter Kinder und Jugendlicher insbesondere mit Migrationshintergrund zu erhöhen, Qualität und Wirkung kultureller Bildung zu verbessern, Klimaschutz voranzutreiben und Wissenschaft zu fördern. Die Stiftung Mercator steht für die Verbindung von wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung. Als eine führende Stiftung in Deutschland ist sie national wie international tätig. Dem Ruhrgebiet, der Heimat der Stifterfamilie und dem Sitz der Stiftung, fühlt sie sich beson- ders verpflichtet. 2 Europa als Ziel?
INHALT Vorwort......................................................................................................................................................4 Das Wichtigste in Kürze...........................................................................................................................6 Migration ist Teil des Lebens................................................................................................................10 Warum sich Menschen auf Wanderschaft begeben..........................................................................14 Qualität und Quellen von Migrationsdaten........................................................................................26 Die sechs betrachteten Regionen........................................................................................................28 1 | Subsahara-Afrika.................................................................................................................... 30 2 | Mena..........................................................................................................................................41 3 | Südasien...................................................................................................................................51 4 | Ost- und Südostasien..............................................................................................................61 5 | Postsowjetischer Raum..........................................................................................................71 6 | Lateinamerika und Karibik.....................................................................................................81 Quellen....................................................................................................................................................90 Berlin-Institut 3
VORWORT Nüchternheit und Pragmatismus Diese uneinheitliche demografische Entwick- Green-Card-Programms und ermöglicht es – notwendige Grundlagen für die lung hat weitreichende Folgen rund um den alljährlich 50.000 Menschen weltweit, ein Migrationsdebatte Globus: Erstens deutet sie auf ein Ende des Dauervisum für die USA zu erhalten. Weltbevölkerungswachstums hin, denn die Die Länder beziehungsweise die Großregio- Zahl der Länder, in denen die Geburtenziffern Europa hat keine Lotterie, mit der es Chancen nen der Welt befinden sich in verschiedenen unter das Niveau sinken, das für eine stabile und Lebensoptionen verlost. Aber der Konti- sozioökonomischen Entwicklungsstadien. Bevölkerung nötig wäre, steigt kontinuierlich. nent ist im demografischen Wandel unter den Deshalb unterscheiden sie sich auch in ihrer Zweitens erzeugt das Altern und Schrumpfen Weltregionen am weitesten fortgeschritten. demografischen Dynamik. Denn wenig entwi- im reicheren Teil der Welt einen zuneh- Entsprechend groß ist derzeit der Bedarf an ckelt bedeutet in der Regel hohe Kinderzah- menden Bedarf an Arbeitskräften aus dem Arbeitskräften aus anderen Ländern und er len und ein entsprechendes Bevölkerungs- Ausland. Drittens gelingt es den ärmeren wird künftig noch deutlich größer werden, wachstum. Ein hoher Entwicklungsstand Ländern mit starkem Bevölkerungswachs- selbst wenn sich bisher nicht jedes EU-Land hingegen ist mit niedrigen Geburtenzahlen tum selten, den vielen nachkommenden dies eingesteht. Auch EU-Staaten, die davon und einer nahezu stagnierenden oder gar Menschen eine angemessene Versorgung ausgehen, dass sie Zuwanderer bei Bedarf schrumpfenden, auf alle Fälle aber alternden zu garantieren, von Bildungsmöglichkeiten aus anderen Ländern der Union bekommen Bevölkerung verbunden. Entscheidend ist bis hin zu Arbeitsplätzen mit auskömmlicher können, müssen sich mittelfristig umorientie- dabei überall der Anteil von Menschen in dem Bezahlung. ren. Denn innerhalb der EU ist Migration ein Alter, in welchem sie gemeinhin einer Be- Nullsummenspiel. Wer aus einem Land ab- schäftigung nachgehen, also jene Gruppe, die Die Unterschiede und Ungleichheiten, die wandert, vergrößert dort die demografischen in der Regel dafür sorgt, die Volkswirtschaft sich daraus ergeben, sind in einer globalisier- Lücken. Zuwanderung aus Drittstaaten muss am Laufen zu halten und den Wohlstand zu ten Welt mehr oder weniger überall bekannt. deshalb das Konzept der Zukunft sein. mehren. Die Menschen wissen heutzutage, wo ein besseres Leben möglich ist. Wanderungen Das Gute dabei ist: Weil demografische In den Ländern der OECD schrumpft der erfolgen gemeinhin entlang eines Einkom- Entwicklungen eine lange Vorlaufzeit haben, Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Ge- mens-, Sicherheits- und Wohlstandsgefälles. lassen sie sich – theoretisch – frühzeitig samtbevölkerung schon seit Mitte der 1980er Deshalb entsteht bei vielen der Wunsch, erkennen und durch geeignete Interventi- Jahre. Seit etwa 2010 tut sie das auch in Ost- jenseits der Heimat ihr Glück zu suchen. Wie onen abfedern, unter anderem durch eine asien und um das Jahr 2030 wird Lateiname- stark er werden kann, zeigt sich in dem für gesteuerte Migration. Um sie längerfristig zu rika folgen. Nur in Subsahara-Afrika, jener afrikanische Verhältnisse vergleichsweise planen, ist jedoch zunächst eine nüchterne Weltregion, die das mit Abstand höchste weit entwickelten Ghana: Dort nahmen im Analyse des globalen Migrationsangebots Bevölkerungswachstum erlebt, sowie in Süd- Jahr 2015 rund 1,7 Millionen Menschen, zehn wie auch der nationalen Migrationsnachfrage asien und Teilen des mittleren Ostens wird Prozent der über 15-jährigen Bevölkerung, an notwendig. der Anteil der Menschen im Erwerbsalter der US-amerikanischen Diversity Lottery teil. noch mindestens bis 2050 weiter wachsen. Sie ist ein kleiner Teil des amerikanischen 4 Europa als Ziel?
Praktisch allerdings wird die pragmatische Migration eher bremsen. Wie viele Menschen kassieren“. Dabei waren die Deutschen schon Debatte um eine organisierte Zuwanderung sich – ungefragt oder angeworben – auf den einmal zuwanderungsfreundlicher, nämlich von der Diskussion um jene Menschen Weg nach Europa machen, hängt auch vom vor der sogenannten Flüchtlingskrise von überlagert, die vor Krieg und Vertreibung Bedarf in anderen Weltregionen ab. Denn 2015/16. Dies zeigt, dass der Migrations- fliehen und/oder aus wirtschaftlicher Not das auch Nordamerika, die Länder Ostasiens oder diskurs stark von aktuellen Ereignissen und Risiko einer oftmals gefährlichen Wanderung der ehemaligen Sowjetunion sind mittlerwei- politischen Gemengenlagen beeinflusst wird, auf sich nehmen. Diese Menschen stellen den le in einer demografischen Situation, in der statt von der Einsicht in die Notwendigkeit, Großteil jener, die zunächst einmal irregulär sie Zuwanderer benötigen. Um Migranten, sich pragmatisch mit der Frage der Zuwan- in die EU gekommen sind und sich dort Asyl insbesondere um solche, die attraktive Qua- derung auseinanderzusetzen. So erklärt sich erhoffen. Sie stammen meist aus Afrika, dem lifikationen mitbringen wie IT-Spezialisten letztlich auch die Unfähigkeit der EU, eine Nahen Osten und Westasien, Regionen, in oder Pflegekräfte, ist längst ein internationa- gemeinsame Migrationspolitik zu entwickeln, denen die Bevölkerung nach wie vor stark ler Wettbewerb ausgebrochen. Mit Sicherheit obwohl dies dringend notwendig wäre. wächst. Umfragen belegen, dass sich dort ist Europa nicht das einzige Wunschziel der eine wachsende Zahl von Menschen mit dem Migrationswilligen dieser Welt. Berlin, im Juli 2019 Gedanken an eine Auswanderung befasst. Die Bevölkerung, zumindest in Deutschland, Reiner Klingholz Doch wie viele von ihnen sich tatsächlich steht der Idee von Zuwanderung generell Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und auf den Weg nach Europa machen, ist offen. offen gegenüber. Umfragen zufolge glauben Entwicklung Wie sich die Migration künftig entwickelt, hierzulande 59 Prozent, dass „Zuwanderer hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die unser Land durch ihre Arbeit und ihre Talente vorliegende Studie analysiert die Beweggrün- stärker machen“. Demgegenüber geben 35 de, welche die Menschen zu einer Wanderung Prozent an, sie seien „eine Last, weil sie Ar- veranlassen, ebenso wie die Hürden, die beitsplätze wegnehmen und Sozialleistungen in Prozent Mehr Entwicklung = mehr Migration 16 Entgegen landläufiger Meinung wird Europa nicht von 14 den Armen der Welt überrannt. Denn für eine Migration sind finanzielle Mittel nötig, über welche die meisten 12 Menschen in den wenig entwickelten Ländern kaum verfügen. Nach der „Migration-hump-Theorie“ werden 10 Wanderungen über größere Distanzen erst wahrschein- lich, wenn das jährliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 8 auf etwa 2.000 US-Dollar steigt. Bei 7.000 bis 13.000 Dollar erreichen sie ihren Höhepunkt. Das bedeutet 6 aber auch, dass sich Migration durch Entwicklung nicht bremsen lässt. Im Gegenteil fördert sie die Wanderungs- 4 bereitschaft. 2 Zusammenhang zwischen BIP pro Kopf (jährlicher Durchschnitt in Kaufkraftparität bei konstanten 2011 US- 0 Dollar, logarithmische Skala) und geschätzter Auswande- 500 1.000 2.000 5.000 10.000 20.000 50.000 100.000 rungsrate, in Prozent, 2015 in kaufkraftbereinigten US-Dollar (Datenquelle: nach European Commission, Joint Research Centre, 20181) Berlin-Institut 5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE Im Zeitalter der Migration somit dafür sorgen, dass die Nachfrage nach Warum Migration entsteht Zuwanderern im reicheren Teil der Welt, also Migration ist ein prägendes Phänomen unse- längst nicht nur in der EU, steigt, während Ob sich Menschen entschließen zu migrieren, rer Zeit: Rund 258 Millionen Menschen lebten sich das Migrationspotenzial aus dem ärme- hängt von vielen Faktoren ab, die sich ge- 2017 laut den Vereinten Nationen als inter- ren Teil vergrößert. genseitig noch beeinflussen und verstärken nationale Migranten in einem anderen Land. können. Im Zentrum steht der grundsätzliche Darunter fallen auch jene, die vor Konflikten Die sogenannte Flüchtlingskrise hat be- Wunsch, das eigene Leben zu verändern, die geflohen sind oder in anderen Ländern einen stehende Vorbehalte und Ressentiments ge- Suche nach Freiheit, Sicherheit oder nach Asylantrag gestellt haben. Der größte Teil der genüber Migration, insbesondere gegenüber einem besseren Einkommen. Manche Men- internationalen Migranten wandert aber um Asylsuchenden und Geflüchteten, verstärkt. schen wandern aus purer Not oder fliehen anderswo zu arbeiten. Diese Bewegungen Innerhalb der europäischen Bevölkerungen vor Kriegen, andere weil sie sich anderenorts finden auf der ganzen Welt statt und spiegeln und auf politischer Ebene polarisieren diese eine höhere Lebensqualität versprechen. Die den sozialen, politischen und wirtschaftli- Themen heute stärker als noch vor zehn Jah- meisten von ihnen wandern nur über kurze chen Wandel im Rahmen der Globalisierung ren. Zuwanderung, ob arbeitsmarktorientiert Distanzen, oft im eigenen Land oder in die wider. Aus Sicht der Europäischen Union hat oder von Flucht geprägt, wird deshalb gene- Nachbarstaaten. Nur ein Teil der Migranten Migration aus zwei Gründen eine besondere rell in Frage gestellt. Die EU-Mitgliedsstaaten begibt sich in eine andere Weltregion, etwa Bedeutung: nehmen in dieser schwierigen Gemengelage nach Europa. grundlegend unterschiedliche Positionen ein, Einige Mitgliedsstaaten sind schon heute so dass momentan weder eine gemeinsame auf Zuwanderung angewiesen, um die Alte- Migrations- noch Asylpolitik absehbar ist. Zentrale Einflussgrößen rung der eigenen Bevölkerung abzufedern, Die Staaten sind sich allenfalls einig, die irre- die Wirtschaft am Laufen zu halten und die guläre Migration einzudämmen und stärker 1 Demografische Faktoren Sozialsysteme weiter zu finanzieren. Ihre zu kontrollieren und setzen in unterschiedli- Zahl wird in Zukunft steigen und letztlich chem Ausmaß auf Abschottungsmaßnahmen. Eine stark wachsende Bevölkerung und eine dürften alle EU-Staaten notwendigerweise große Anzahl von Menschen im Erwerbsalter, Zuwanderungsländer werden. Bis 2030 Angesichts der Widerstände und Vorbehalte für die nicht die entsprechenden Arbeitsplät- dürfte in der gesamten EU der Anteil der gegenüber Migration stellt sich die Frage: ze geschaffen werden können, fördern die erwerbsfähigen Bevölkerung, also der Per- Wie geht es weiter in Sachen Migration in der Migration. Hohes Bevölkerungswachstum sonen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren, EU? Um die öffentliche Debatte nüchtern zu geht in der Regel mit wachsender Konkurrenz um rund sieben Prozent schrumpfen. In moderieren, ist es zunächst notwendig, eine um Nahrung und Trinkwasser, um Wohnraum, absoluten Zahlen bedeutet das für Deutsch- klare Vorstellung vom heutigen Migrations- Bildungseinrichtungen und Gesundheits- land im Vergleich zu 2015 ein Minus von geschehen zu erhalten und die Migrations- dienste einher. Aus einer schlechten Versor- fünf Millionen in dieser Altersgruppe. Noch potenziale in verschiedenen Weltregionen gung können soziale Konflikte entstehen, stärker vom Alterungsprozess betroffen sind zu analysieren. Die vorliegende Studie welche den Migrationswunsch verstärken. Bis die Bevölkerungen in Italien oder Portugal, untersucht diese anhand verschiedener Ein- 2030 und noch weit darüber hinaus wird sich Länder, die schon 2030 ein Medianalter flussgrößen und zieht daraus Rückschlüsse, das globale Bevölkerungswachstum immer von über 50 Jahren erreichen werden. Der wie sich die Wanderungen in die EU über die mehr auf die Länder südlich der Sahara und weltweite Durchschnitt wird dann bei etwa kommenden Jahre entwickeln könnten. Teile der Mena-Region konzentrieren. Nigeria 33 Jahren liegen. Auf absehbare Zeit wird beispielsweise, das einwohnerstärkste Land die weltweite demografische Entwicklung Afrikas, dürfte Prognosen zufolge zwischen 2070 und 2075 die Einwohnerzahl der heuti- gen EU erreichen. 6 Europa als Ziel?
2 Bildung 4 Netzwerke und Diaspora 7 Migrationspolitik Je besser der Bildungsstand, desto höher die Netzwerke zwischen Abgewanderten und Die Migrationspolitik der Länder beeinflusst, Wahrscheinlichkeit, sich woanders erfolg- ihren Freunden und Verwandten in den wie viele Menschen mit welchen sozioökono- reich ein neues Leben aufbauen zu können. Herkunftsländern fördern weitere Migration mischen Eigenschaften zuwandern können. Tendenziell sind es die besser Gebildeten, auf diesen Kanälen. Sie ist auch im Sinne der In der EU hat sie spätestens seit der „Flücht- die sich dazu entschließen abzuwandern Herkunftsländer, die sie deshalb aktiv un- lingskrise“ von 2015 das Ziel, (irreguläre) und dies auch organisieren können. Nur terstützen, weil die Rücküberweisungen aus Migration möglichst stark einzuschränken. indirekt und längerfristig hat Bildung einen der Diaspora eine wesentliche Finanzquelle Seither ist die Zahl der Schutzsuchenden migrationsdämpfenden Effekt: Insbesondere darstellen. deutlich gesunken. Weil es gleichzeitig kein bei Frauen ist sie der wichtigste Faktor für EU-weites Konzept für eine geordnete und re- sinkende Kinderzahlen. Sie verbessert zudem guläre Migration aus Drittstaaten gibt, dürfte die Perspektiven jedes einzelnen Menschen, 5 Konflikte und politische Faktoren die Politik bis auf weiteres dafür sorgen, dass sich in der eigenen Heimat eine Existenz die Wanderungen in naher Zukunft nicht aufzubauen. Die Zahl der weltweiten, gewaltsamen annähernd die Werte von 2015 und 2016 Konflikte hat ihren Höchststand seit 1975 erreichen. erreicht. Dabei geht es nicht nur um Ausein- 3 Wirtschaftliche Faktoren andersetzungen zwischen Staaten, sondern auch um Bürgerkriege oder Terror. Zunächst Wunsch und Wirklichkeit Menschen wandern auch entlang eines suchen die Menschen in umliegenden Lan- Wohlstandsgefälles. Dieses ist zwischen desregionen nach sicheren Orten, an denen Aus Befragungen des Markt- und Meinungs- den Industrienationen und den weniger sie darauf warten können zurückzukehren. forschungs-Instituts Gallup geht hervor, dass entwickelten Regionen der Welt enorm. Doch wenn sich Konflikte über Jahre hinzie- sich weltweit rund 750 Millionen Menschen Zudem fehlt es dort an Arbeitsplätzen, um hen, wandern Binnenflüchtlinge auch über vorstellen können, in ein anderes Land zu die Nachwuchsjahrgänge mit Beschäftigung nationale Grenzen. Diese Migration erfolgt ziehen, sollte die Möglichkeit dazu beste- zu versorgen. Dieser Umstand befördert den aus Mangel an regulären Wanderungsmög- hen – das sind 15 Prozent der erwachsenen Wunsch nach Migration, vor allem in der lichkeiten in der Regel ohne rechtliche Grund- Weltbevölkerung. Am höchsten ist der Migra- Gruppe der 20- bis 39- jährigen, welche die lage. Dabei lässt sich selten klar trennen, tionswunsch mit 33 Prozent in den Ländern Mehrheit unter den Migranten stellen. Die wer aus wirtschaftlichen, politischen oder südlich der Sahara. In Lateinamerika und Ka- Wanderungswahrscheinlichkeit über Landes- anderen Gründen seinen Heimatort verlässt. ribik, wo der Wunsch seit dem Jahr 2010 am grenzen hinweg steigt allerdings erst ab ei- stärksten gestiegen ist, sind es immerhin 27 nem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr Prozent, in der Mena-Region 24 Prozent. Aber von 2.000 kaufkraftbereinigten US-Dollar an, 6 Umweltfaktoren auch innerhalb der EU tragen sich 21 Prozent ein Wert, den die ärmsten Länder der Welt mit dem Gedanken an eine Auswanderung. gar nicht erreichen. Bis die Menschen weitere Globale Umweltveränderungen verschlech- In den verschiedenen Regionen Asiens sind Wege zurücklegen und auch Europa erreichen tern vielerorts auf der Welt die Lebensbe- es hingegen nur 7 bis 8 Prozent. 21 Prozent können, ist eine Wirtschaftskraft im Bereich dingungen. Dazu zählen das Versiegen von der potenziellen Migranten weltweit – das zwischen 3.000 bis 10.000 Dollar notwen- Wasserquellen, die Erosion von Ackerflächen, entspricht 158 Millionen Personen – geben dig. Der politisch motivierte Versuch über der Verlust von Wäldern und Biodiversität die USA als Wunschziel an. Deutschland, Entwicklung „Fluchtursachen“ zu bekämpfen, und die Folgen des Klimawandels. Schon Frankreich und das Vereinigte Königreich mit dem Ziel, Migration zu reduzieren, kann heute führen diese Veränderungen zu Versor- wären für immerhin 42, 36 respektive 34 deshalb kaum funktionieren. Denn Entwick- gungskrisen sowie dazu, dass Menschen ihre Millionen Menschen attraktiv. lung und bessere Einkommensmöglichkeiten Heimatorte verlassen müssen. Umweltschä- versetzen zunächst einmal mehr Menschen den können andere Migrationsursachen ver- in die Lage, eine Wanderung zu organisieren stärken, etwa indem sie Verteilungskonflikte und zu finanzieren. schüren oder Regierungen destabilisieren. In der Regel sind es die ohnehin schon margi- nalisierten Teile der Bevölkerung, die sich auf den Weg machen. Diese Umweltmigranten bleiben aber, mangels anderer Möglichkeiten, häufig im eigenen Land. Berlin-Institut 7
Auch wenn diese Zahlen für manche alar- das Migrationspotenzial aus Subsahara- kalkulierbare Migrationsbewegungen auslö- mierend klingen, sie spiegeln Wünsche, aber Afrika deutlich erhöht – wegen des starken sen. Hinzu kommt, dass Mena die heißeste keine Wirklichkeit wider: Nicht einmal zehn Bevölkerungswachstums, weil sich viele der und trockenste Region der Welt ist und der Prozent jener Menschen, die sich eine Mig- Länder in Sachen Bildung und Wohlstand Klimawandel den ohnehin schon bestehen- ration vorstellen können, planen eine solche entwickeln, aber auch aufgrund anhaltender den Trinkwassermangel deutlich verschärfen für die kommenden zwölf Monate. Diese Konflikte und des Klimawandels, der die Ver- wird. Auch wenn Umweltveränderungen per Personen sind mehrheitlich männlich, im sorgungslage vielerorts weiter verschlechtern se keine weiträumige Migration auslösen, jungen Erwachsenenalter, stammen aus ei- dürfte. Das noch auf lange Sicht bestehende so erhöhen sie bei instabilen politischen nem urbanen Umfeld und haben in der Regel Einkommensgefälle zwischen Subsahara- Gemengelagen die Wahrscheinlichkeit für mindestens einen sekundären Bildungsab- Afrika und der EU, die relative Nähe über Konflikte. schluss. Schlussendlich ist es weniger als ein das Mittelmeer sowie die große bestehende halbes Prozent der erwachsenen Weltbevöl- Diaspora in Europa begünstigen Wanderun- kerung, das sind gut 23 Millionen Menschen, gen dorthin. Südasien die konkrete Schritte für eine Auswanderung unternehmen, sich etwa Geld oder Visa für Bevölkerung (2020): 1,9 Milliarden die Migration beschaffen. Naher Osten und Nordafrika (Mena) Migranten innerhalb/außerhalb der eigenen Region: 9,1/29,3 Millionen Bevölkerung (2020): 548,2 Millionen Migranten in der EU-28: 3,3 Millionen Regionale Unterschiede Migranten innerhalb/außerhalb der eigenen Region: 16,9/13,1 Millionen Die Menschen in Südasien hegen nur zu Die Ausprägung der wichtigsten Migrations- Migranten in der EU-28: 9,3 Millionen einem geringen Anteil Migrationswünsche. faktoren unterscheidet sich je nach Weltregi- Angesichts der 1,9 Milliarden Einwohner und on und dort zwischen den einzelnen Staaten. In der Mena-Region mit ihren 548 Millionen des anhaltend hohen Bevölkerungswachs- Das Migrationspotenzial für die EU fällt Einwohnern lebt die zweitjüngste Bevölke- tums in Ländern wie Pakistan oder Afgha- entsprechend regional verschieden aus. rung der Welt. Bis 2030 dürfte sie um weitere nistan bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit 13 Prozent anwachsen. Die formalen Bil- ergibt sich daraus trotzdem ein erhebliches dungswerte sind in der jüngeren Vergangen- Migrationspotenzial, das sich aber überwie- Subsahara-Afrika heit gestiegen, die Kinderzahlen je Frau ge- gend auf die Nachbarländer erstreckt. Auch sunken – eigentlich eine gute Voraussetzung die Fluchtmigration aus Afghanistan dürfte Bevölkerung (2020): 1,1 Milliarden für eine demografische Dividende, einen sich auf Pakistan und Iran konzentrieren. Migranten innerhalb/außerhalb der eige- Entwicklungsschub aufgrund einer günstigen 2017 lebten 3,3 Millionen Menschen aus nen Region: 18,8/8,3 Millionen Altersstruktur. Doch mangelnde Perspektiven Südasien in der EU. Die meisten von ihnen Migranten in der EU-28: 4,0 Millionen für junge Arbeitsuchende und anhaltende stammen aus Indien, dem zweitbevölke- Konflikte in der Region sind die Hauptgründe rungsreichsten Land der Welt, Pakistan und Afrika südlich der Sahara erlebt das mit für den wachsenden Migrationswunsch, der Bangladesch. Das wichtigste Zielland in der Abstand höchste Bevölkerungswachstum sich überwiegend auf Länder der eigenen Re- EU ist aufgrund der ehemaligen Kolonial- weltweit und verfügt über die jüngste gion erstreckt. In Mena leben etwa 7 Prozent beziehungen das Vereinigte Königreich, wo Einwohnerschaft. Gegenwärtig leben dort 1,1 der Weltbevölkerung, aber rund 18 Prozent fast zwei Millionen in Südasien geborene Milliarden Menschen, bis 2050 dürfte sich aller Migranten weltweit. Europa ist das Menschen wohnen. Aufgrund steigender ihre Zahl fast verdoppeln, wobei der größte Hauptziel weiträumiger Wanderungen und Bildungswerte in den wachsenden Mittel- demografische Druck in West- und Zentral- dort sind es vor allem die Länder Frankreich, schichten, vor allem in Indien, und eines afrika besteht. Der überwiegende Teil der Deutschland, Belgien und die Niederlande, Überangebots an Arbeitskräften, dürften dort lebenden Menschen verfügt nicht über zu denen die besten Migrationsnetzwerke von dort weiterhin qualifizierte Menschen die Mittel und Möglichkeiten, über längere bestehen. In der EU lebten 2017 rund 9,3 Mil- abwandern. Weil gut ausgebildete Zuwande- Distanzen bis nach Europa zu wandern. lionen Zugewanderte aus dem Mena-Raum, rer aus der Region immer gefragter auf dem Der Anteil der Personen in der EU, die in überwiegend aus der Türkei (2,7 Millionen), internationalen Arbeitsmarkt werden, stellt Afrika geboren sind, beträgt nicht einmal ein Marokko (2,5 Millionen) und Algerien (1,6 sich die Frage, wie viele davon die EU für sich Prozent. Sie finden sich vor allem in Ländern Millionen). Konflikte wie in Libyen und Jemen gewinnen kann. Bislang jedenfalls zieht es mit kolonialer Vergangenheit, in Frankreich, sowie die angespannte politische Lage in diese Menschen eher in die USA und nach dem Vereinigten Königreich, Belgien und einwohnerstarken Ländern wie Ägypten und Kanada. Portugal. Es ist davon auszugehen, dass sich Türkei können größere, wenngleich schwer 8 Europa als Ziel?
Ost- und Südostasien zwecken sowie überwiegend innerhalb der eigenen Region. Dies ist vor allem auf eine Bevölkerung (2020): 2,3 Milliarden gemeinsame Sprache, etablierte Netzwerke Migranten innerhalb/außerhalb und eine gute Migrationsinfrastruktur zurück- der eigenen Region: 14,2/21,5 Millionen zuführen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Migranten in der EU-28: 3,0 Millionen dies künftig grundlegend ändern wird. Nur wenn sich die politische und wirtschaftliche Für den im internationalen Vergleich nied- Situation in einzelnen Ländern erheblich rigen Migrationswunsch innerhalb Ost- und verschlechtern sollte, könnte die EU für mehr Südostasiens gibt es verschiedene Gründe: Menschen zu einem potenziellen Wande- Vielerorts haben Wirtschaftswachstum und rungsziel werden. So ist in Russland der höhere Bildung neue Perspektiven für die Bevölkerungsanteil mit Migrationswunsch Menschen geschaffen. Das Bevölkerungs- zuletzt deutlich gewachsen. wachstum der Region klingt langsam aus und dürfte ab 2035 in ein Schrumpfen übergehen. In Japan, China oder Südkorea wachsen Lateinamerika und Karibik längst nicht mehr ausreichend Kinder nach, um die Jahrgänge zu ersetzen, die sich in Bevölkerung (2020): 663,5 Millionen den Ruhestand verabschieden. Diese Länder Migranten innerhalb/außerhalb benötigen auf mittlere Sicht selbst Zuwan- der eigenen Region: 6,0/31,6 Millionen derung. Die Migration findet größtenteils Migranten in der EU-28: 4,4 Millionen innerhalb der Region statt, daneben stehen Nordamerika und Australien weit oben auf Für Migranten aus Lateinamerika und der Ka- der Liste der Wanderungsziele. Erst da- ribik sind die USA das mit Abstand wichtigste nach folgt Europa, wo aber immerhin drei Zielland. Aber auch die EU und dort vor allem Millionen Menschen aus Ost- und Südostasi- Spanien, Portugal und Italien sind attraktive en leben, eine Millionen davon aus China. Wanderungsziele. Die beiden Regionen sind Weitere Zuwanderung ist vor allem aus China durch gemeinsame Sprachen, historische zu erwarten, auch wenn die Bevölkerung dort Verflechtungen und eine große Diaspora nicht mehr wächst, sowie aus Indonesien, miteinander verbunden. Der demografische Vietnam und den Philippinen, wo sich das Abwanderungsdruck in Lateinamerika ist Bevölkerungswachstum voraussichtlich noch nur noch gering, weil die Bevölkerung nur bis etwa 2050 fortsetzen wird. noch wenig wächst und vielerorts bereits altert. Der Anteil von Personen im wande- rungstypischen Alter von 20 bis 39 Jahren Postsowjetischer Raum wird bis 2030 bereits sinken. Der dennoch bestehende, vergleichsweise hohe Wan- Bevölkerung (2020): 290,2 Millionen derungswunsch beruht auf relativ guten Migranten innerhalb/außerhalb Bildungswerten bei gleichzeitig schlechten der eigenen Region: 22,0/7,6 Millionen Arbeitsmarktbedingungen und Einkommens- Migranten in der EU-28: 5,5 Millionen möglichkeiten. Krisen und Konflikte wie in Nicaragua oder Venezuela erhöhen derzeit In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion den Wanderungsdruck. Weil sich die USA liegt der Anteil der Menschen mit Migrations- zunehmend gegen Zuwanderung vor allem wunsch konstant bei etwa 15 Prozent und da- aus Zentralamerika abschotten, könnte sich mit im Vergleich zu anderen Regionen relativ ein Teil der Wanderungswilligen Europa zum niedrig. Die Bevölkerung der Region wächst neuen Ziel nehmen. aufgrund niedriger Geburtenziffern nicht mehr, sie altert vielerorts schon stark und die Menschen wandern vor allem aus Erwerbs- Berlin-Institut 9
MIGRATION IST TEIL DES LEBENS Die Welt erlebt derzeit die größten demogra- Auf absehbare Zeit wird es daher in einem in den Ruhestand. Das bedeutet weniger fischen Ungleichgewichte der Geschichte. Auf Teil der Welt eine wachsende Nachfrage nach Einzahler in die gesetzlichen Rentenkassen, der einen Seite stehen Länder, die sich früh Arbeitskräften und im anderen ein steigendes während mehr Menschen auf deren Leistun- in Richtung einer Industriegesellschaft entwi- Angebot geben. Nach der Vorstellung von gen angewiesen sind und die Kosten für die ckelt haben. Sie verfügen in der Regel über Ökonomen würde unter Idealbedingungen Gesundheits- und Pflegesysteme steigen.2 einen hohen Wohlstand, gute Infrastrukturen der Markt für einen Ausgleich sorgen und die So stehen die Gesellschaften der EU vor der und soziale Absicherung. Dort sind weite Arbeitskräfte würden dorthin wandern, wo Herausforderung, ihr Zusammenleben anders Bevölkerungskreise gut gebildet, die Gleich- sie gebraucht werden. Das Problem dabei ist, zu organisieren als bisher. berechtigung zwischen Frauen und Männern dass das weltweite Angebot die Nachfrage ist fortgeschritten, die Menschen können ihre erheblich übersteigt und auch die Qualifikati- Ein Mittel, um Alterung und Schrumpfung zu Leben weitgehend individuell planen – und on der Wanderungswilligen nicht immer den verlangsamen, ist Zuwanderung. Welchen die Kinderzahlen je Frau sind niedrig. Mit Erfordernissen der Zielländer entspricht. Effekt sie hat, zeigt ein Blick auf die 11. Ausnahme von Israel gibt es kein industriali- koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung siertes Land mit bestandserhaltenden Gebur- Hier kommt die Politik ins Spiel: Sie sollte Mi- des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr tenziffern. Ohne Zuwanderung stagniert in gration als Teil der globalen wirtschaftlichen 2006. In ihrem mittleren Szenario ging sie vielen dieser Länder bereits die Bevölkerung, und gesellschaftlichen Entwicklung regeln bis 2030 von einem Einwohnerschwund von sie altert stark und hat mancherorts schon und dabei vier verschiedene Interessen be- 2 bis 5 Millionen Einwohnern auf 77 bis 80 begonnen zu schrumpfen. Diesen Ländern rücksichtigen: Erstens sollten die Menschen Millionen aus und einem wachsenden Anteil gehen mehr und mehr die Erwerbstätigen aus den Herkunftsländern die Chance haben, der über 64-Jährigen an der Bevölkerung von aus, die den Wohlstand der Gesellschaften ihr Leben durch die Wanderung zu verbes- etwas unter 30 Prozent. Weil aber die Zuwan- erwirtschaften – qualifizierte Fachkräfte für sern. Zweitens sollten die Zielländer volks- derung nach Deutschland deutlich stärker die Unternehmen, Aushilfskräfte im Dienst- wirtschaftlich von der Migration profitieren ausfiel als für diese Berechnung angenommen leistungssektor, medizinisches und Pflege- können. Drittens sollte Migration die Entwick- und weil Migranten in der Regel jünger sind, personal für die Älteren. Die Schwellenländer, lung in den Herkunftsländern nicht hemmen. ist heute damit zu rechnen, dass sich die von China bis Brasilien, folgen diesem Trend Und viertens muss die Politik die Migration Einwohnerzahl Deutschlands bis 2030 prak- sehr schnell. so moderieren, dass die Bevölkerung der Ziel- tisch nicht verändert und auch dann noch bei länder sie gesellschaftlich akzeptiert. knapp 83 Millionen liegen dürfte, bei einem Auf der anderen Seite stehen ärmere Länder, Anteil der über 64-Jährigen von 26 Prozent.3 die erst in den frühen Phasen der sozioöko- nomischen Entwicklung stehen. Dort liegen Warum die EU Zuwanderung braucht Die EU-Binnenmigration kann den demografi- die Kinderzahlen noch auf hohem oder sehr schen Wandel nicht abmildern. Sie hilft zwar hohem Niveau und die Bevölkerung wächst Die Bevölkerungen in allen EU-Mitgliedsstaa- einzelnen Ländern, etwa jenen in Süd- und entsprechend stark. Das Wachstum verstärkt ten werden in den kommenden Jahrzehnten Osteuropa, die nach der letzten Finanzkrise die ohnehin bestehende Konkurrenz der Men- aufgrund von anhaltend niedrigen Kinder- ihre Arbeitsmärkte entlasten konnten, wäh- schen um Versorgungsleistungen, Bildungs- zahlen und steigender Lebenserwartung rend andere, wirtschaftsstarke Länder wie möglichkeiten und Jobs. Praktisch überall in deutlich altern. Bis 2030 dürfte das europä- Deutschland von den zugewanderten Arbeits- den wenig entwickelten Ländern nimmt die ische Medianalter, also jenes Alter, welches kräften profitieren. Aber insgesamt bleiben Zahl der Menschen im Erwerbsalter schneller die Bevölkerung in zwei Hälften teilt, von innereuropäische Wanderungen für die EU ein zu als die der verfügbaren Arbeitsplätze. heute 42 auf rund 46 Jahre steigen. Italien Nullsummenspiel – des einen Landes Gewinn Verteilungskonflikte und politische Krisen oder Portugal liegen dann bereits bei über ist des anderen Verlust.4 Deshalb wächst sind fast unvermeidbare Folgen. 50 Jahren. Zum Vergleich: Das weltweite in der alternden Union die Bedeutung der Medianalter beträgt etwa 30 Jahre und dürfte Migration aus Drittstaaten. Nur mit Menschen bis 2030 nur um drei Jahre zulegen.1 Fast flä- von außerhalb der EU lassen sich Lücken in chendeckend gehen immer mehr EU-Bürger der Erwerbsbevölkerung schließen. 10 Europa als Ziel?
Dieser ökonomischen Notwendigkeit stehen In der EU ist ein solches Modell, das auf Herausforderungen für Gesellschaft Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber: ethnische Homogenität der Bevölkerung und Migrationspolitik 2018 äußerten sich rund 53 Prozent der zielt, nicht realistisch, denn die Millionen EU-Bürger skeptisch bis negativ über die Bürger mit Migrationsgeschichte prägen die In dieser Gemengelage müssen Gesellschaft Zuwanderung aus nicht-EU Staaten.5 Aufgabe Gesellschaften schon lange.8 Gerade die früh und Politik entscheiden, nach welchen Krite- der Politik ist es deshalb auch, über Sinn und industrialisierten Zielländer internationaler rien sie die Türen des Landes öffnen. Es geht Zweck von Migration mit den Bürgerinnen Migranten, wie etwa die westeuropäischen dabei um die Fragen, wie viele Zuwanderer und Bürgern zu diskutieren. Dazu gehört es, EU-Staaten, profitieren ökonomisch von der kommen und welche Qualifikationen sie aufzuzeigen, welche Konsequenzen es hat, Zuwanderung. So erwirtschaften Migranten mitbringen sollen, wie sie bei der Integration wenn Staaten im demografischen Wandel die im Saldo meist mehr öffentliche Einnahmen, in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft Zuwanderung auf ein Minimum begrenzen, als sie über Transferleistungen erhalten.9 zu unterstützen sind, welche Maßnahmen für wie es etwa Japan tut: Dort gab es über Jahr- Zwar gilt dies nicht immer, doch häufig ist Ehepartner und Kinder notwendig sind und zehnte so gut wie keine Zuwanderung, die dieses Verhältnis nur vorübergehend um- welche Mittel die Institutionen von der EU bis Wirtschaft stagniert seit Jahren, die Staats- gekehrt. Studien zeigen immer wieder, dass zur Kommune dafür bereitstellen. verschuldung hat 237 Prozent des Bruttoin- internationale Migration langfristig zu einem landsprodukts erreicht und die Renten- und höheren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei- Die EU-Mitgliedsstaaten vertreten zu diesen Gesundheitssysteme stehen vor enormen trägt.10 Dabei kommt es allerdings – wie auch Fragen der Migration derzeit grundlegend Problemen. Die Gesamtbevölkerung wird bei der einheimischen Bevölkerung – darauf verschiedene Positionen. Eine gemeinsame nach offiziellen Schätzungen zwischen 2015 an, welche Bildung und Fähigkeiten die Men- Migrationspolitik, die Zuwanderung nicht und 2060 von 127 auf 88 Millionen schrump- schen mitbringen oder welche Möglichkeiten primär als Problem begreift, ist in weite fen. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung im sie erhalten, ihre Potenziale zu entfalten. Ferne gerückt. Einige Länder lehnen Zuwan- Alter von 15 bis 64 Jahren wird von 61 auf Allzu oft aber gehen mit dem Migrantenstatus derung grundsätzlich ab, andere halten sie 51 Prozent zurückgehen, während jener der geringere Einkommen sowie schlechtere zumindest aus ökonomischer Perspektive für Generation 65+ von 27 auf 38 Prozent steigt.6 Chancen bei der Bildung einher.11 notwendig. Einigkeit besteht allenfalls darin, Dennoch lehnen große Teile der japanischen die irreguläre Migration einzudämmen und Bevölkerung Zuwanderung nach wie vor ab stärker zu kontrollieren. Letztere hat sich und die Regierung öffnet sich rhetorisch und aber seit der sogenannten Flüchtlingskrise nur in winzigen Schritten gegenüber migran- von 2015 in der öffentlichen Diskussion tischen Arbeitskräften.7 in den Vordergrund gedrängt. Der Streit in Millionen 22 20 Steter Anstieg 18 1990 Die EU zählt zu den Weltregionen, in denen 1995 die meisten internationalen Migranten 16 leben. Die Grafik zeigt, wie sich die Zahl an 2000 Migranten in der EU seit 1990 verändert 14 2005 hat und aus welchen Regionen sie kamen. 2010 Die allermeisten Wanderungen fanden 12 2015 innerhalb der EU statt und sie haben mit 2017 den EU-Osterweiterungen Mitte der 2000er 10 Jahre noch einmal zugenommen. Unter den Migranten von außerhalb der EU stellen jene 8 aus der Region Naher Osten und Nordafrika 6 (Mena) mit zuletzt über neun Millionen Per- sonen die größte Gruppe. Dort finden sich mit 4 der Türkei, Algerien und Marokko einige der wichtigsten Herkunftsländer für Migranten 2 in der EU. 0 Anzahl internationaler Migranten in der EU-28 Mena postsowjetischer Lateinamerika Subsahara- Südasien Ost- und EU-28 nach Herkunftsregion, 1990 bis 2017 Raum und Karibik Afrika Südostasien (Datengrundlage: UN DESA12) Berlin-Institut 11
um Flucht und Asyl hat eine pragmatische kommen. Daraus lassen sich Rückschlüsse Debatte um eine geregelte Zuwanderung ziehen, wie sich Migrationsbewegungen oder Migrationspotenzial ... weitgehend verhindert. auch der Migrationsdruck Richtung EU über die kommenden Jahre entwickeln könnte. … beschreibt die Anzahl der Menschen, Die EU steht vor der Herausforderung, Wanderungen wie auch Druck hängen von die sich wünschen, in ein anderes Land rechtlich zwischen Geflüchteten und Mig- verschiedenen Faktoren ab, vom Bevölke- zu ziehen und dazu auch die Möglich- ranten unterscheiden zu müssen – das gilt rungswachstum und den Jobchancen in den keit haben. Das Migrationspotenzial zumindest für alle Unterzeichner der Genfer Herkunftsländern, von den bestehenden ist deutlich größer als die tatsächliche Flüchtlingskonvention von 1951. Für die sozialen, kulturellen oder historischen Anzahl der Menschen, die wandern. erste Gruppe besteht ein Rechtsanspruch Beziehungen zwischen den Ländern, von auf Unterstützung unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht oder Qualifikation. Bei der Hauptziele innerhalb der Herkunftsregion zweiten kann jedes Zielland eigene Auswahl- Wenn die Menschen ihren Wohnort verlagern, tun sie das meist nur über kurze Distanzen. Die meisten bleiben kriterien anlegen. In der Realität verschwim- im eigenen Land, deutlich weniger gehen über eine Grenze und kommen auch dann selten aus ihrer eigenen men beide Kategorien jedoch zunehmend. Großregion heraus. International zeigen sich typische Migrationsmuster, die häufig historisch bedingt sind und Bislang fehlen die richtigen Instrumente, um sich über den Austausch mit bereits ausgewanderten Landsleuten verstärken. Wie aus der Grafik ersichtlich, sowohl Geflüchteten Schutz zu bieten, als bleiben die allermeisten Migranten aus dem postsowjetischen Raum oder aus Subsahara-Afrika in ihrer Region. Zu den größten überregionalen Zuwanderergruppen zählen Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten und auch transparente und reguläre Zuwande- Personen aus Südasien in der Mena-Region. So leben viele indische Arbeitsmigranten in den Vereinigten Arabi- rungswege für Migranten zu schaffen. schen Emiraten (3,3 Millionen) oder in Saudi-Arabien (2,3 Millionen). aum Auf internationaler Ebene haben sich inzwi- her R 40 50 0 10 jetisc 0 20 EU schen viele Staaten für mehr Kooperation in ow sts 20 3 30 –2 po 40 8 der Migrationspolitik ausgesprochen, um die- 10 50 se Probleme zu überwinden. Der Ende 2018 0 verabschiedete Globale Migrationspakt der 60 50 Vereinten Nationen hat sich einerseits zum 70 Ziel gesetzt, dass Wanderungen aus Not nicht 40 30 rika mehr stattfinden müssen. Andererseits soll er 80 e dam 0 dazu beitragen, Migration in sichere, reguläre Nor und geordnete Bahnen zu lenken. Dabei 10 20 Subs stärkt er den zwischenstaatlichen Austausch, ahara-Afr 20 10 fördert die Kooperation in der Migrationspoli- tik und bietet Unterstützung beim Aufbau von 30 0 notwendigen Verwaltungsstrukturen.13 Doch ika selbst bei diesen Fragen sind die EU-Staaten 40 Lateiname 40 weit voneinander entfernt. So stimmten 30 0 Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn rika u gegen den Pakt; Bulgarien, Italien, Lettland 10 20 Karib sowie Österreich enthielten sich. Damit nd haben sich immerhin 20 EU-Mitglieder für 20 10 k mehr Kooperation in der Migrationspolitik i 30 05 ausgesprochen. 0 M 0 40 O a 4 en st 3 Um Kompromisse zu finden und letztlich − un 0 50 d S 20 klare Regeln für Migration aufzustellen, ist üd ost 60 es zunächst notwendig, eine klare Vorstel- asi 10 0 7 0 en 0 40 10 lung vom heutigen Migrationsgeschehen zu 30 20 internationale Migranten aus Südasien bekommen und die Migrationspotenziale in internationale Migranten in verschiedenen Weltregionen zu analysieren, die für eine Wanderung nach Europa in Frage Internationale Migranten nach ausgewählten Herkunfts- und Zielregionen (Daten geben die Anzahl zur Mitte des Jahres an und spiegeln damit vergangene Wanderungen wider), in Millionen, 2017 (Datengrundlage: UN DESA18) 12 Europa als Ziel?
in Prozent Viele wünschen sich zu wandern, 35 wenige tun es 2010-2012 Das Meinungsforschungsinstitut Gallup erhebt 30 2013-2016 regelmäßig und weltweit, wie viele Menschen sich 2015-2017 vorstellen können, langfristig in ein anderes Land zu ziehen. Weltweit waren es zuletzt rund 750 25 Millionen. In den Ländern Subsahara-Afrikas sowie in Lateinamerika und Karibik liegt der Anteil der Be- völkerung mit Migrationswunsch am höchsten. Auch 20 in der EU hegen rund 20 Prozent der Menschen den Wunsch, in einem anderen Land zu leben. Allerdings zeigen die Zahlen weder, ob die potenziellen Migran- 15 ten diesen Wunsch tatsächlich umsetzen (können) noch wo sie gerne leben würden.20 Tatsächlich treffen deutlich weniger Menschen konkrete Wande- 10 rungsvorbereitungen und noch weniger machen sich am Ende wirklich auf den weg.21 5 Anteil der Bevölkerung, die auswandern würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte, nach Regionen* und Erhebungszeiträumen, in Prozent 0 (Datengrundlage: Gallup World Poll 22) Subsahara- Lateinamerika Mena EU-28 Gemeinschaft Südasien Ostasien Südostasien Afrika und Karibik Unabhängiger Die hier gezeigten Regionen sind eine Auswahl des * Staaten Gallup-Institutes und entsprechen in ihrer Länderzusam- mensetzung nicht exakt den in dieser Studie verwendeten. der Qualifikation und dem Alter der Wan- sind heute praktisch alle Weltregionen Teil derungswilligen, aber auch von politischen des internationalen Migrationsgeschehens.15 Internationale Migranten ... Verhältnissen, von Krieg, Terror oder von Diese Bewegungen sind ein Ebenbild des Umweltveränderungen. sozialen, politischen und wirtschaftlichen … sind laut UN-Definition Personen, die Wandels auf der Welt, während sie diesen ihren Lebensmittelpunkt für mindes- Die vorliegende Studie untersucht, welche gleichzeitig vorantreiben.16 Mobilität lässt tens zwölf Monate in ein anderes Land Faktoren eine Migration begünstigen, welche sich heute einfacher und billiger organisieren verlegt haben und dort noch wohnen. Migrationspotenziale in sechs verschiedenen als zu früheren Zeiten. Der globale Informa- Weltregionen existieren und ob sich von tionsaustausch ermöglicht den Menschen dort künftig eher mehr oder eher weniger heute einen Einblick in die Lebensbedin- Menschen aus den verschiedensten Gründen gungen von Regionen, in denen es sich Die meisten Menschen wandern nach wie auf den Weg nach Europa machen werden. einfacher und besser leben lässt oder wo sich vor, um anderswo zu arbeiten. Von den etwa Dabei ist stets zu unterscheiden, wie viele neue Chancen auf eine Beschäftigung und 234 Millionen internationalen Migranten im Menschen sich mit dem Wunsch auszuwan- Bildungsmöglichkeiten ergeben. Alter von über 15 Jahren sind etwa 70 Prozent dern beschäftigen und wie viele wirkliche zu Erwerbszwecken in ein anderes Land Vorbereitungen dazu treffen beziehungswei- Dass es heute mehr Migration gibt, hat aber gezogen.19 Abseits dieser dominierenden se schlussendlich eine Wanderung antreten. auch einen ganz trivialen Grund – das Bevöl- Migrationsformen lassen sich heute auch kerungswachstum: Zwischen 1990 und 2017 vermehrt Menschen im Alter in einem ande- Wer wandert heute wohin? hat sich die Zahl der Menschen von etwa 5,3 ren Land nieder. Andere pendeln zwischen auf 7,5 Milliarden erhöht, also um 42 Prozent. verschiedenen Ländern hin und her. Mehr Menschen denn je sind heute grenz- Die Zahl der internationalen Migranten hat überschreitend mobil, 2017 lebten rund 258 sich im selben Zeitraum von 153 auf 258 Millionen Menschen als internationale Mig- Millionen erhöht, also um 69 Prozent und da- ranten in einem anderen Land, darunter rund mit etwas stärker als die Zahl der Menschen 29 Millionen Geflüchtete und Asylsuchende.14 insgesamt.17 Anders als zu Zeiten der Industrialisierung Berlin-Institut 13
WARUM SICH MENSCHEN AUF WANDERSCHAFT BEGEBEN Migration ist ein konstanter Faktor menschli- wiederum ausgehend von Afrika, seit über derungen. Zielgerichtete Migration ist ein cher Geschichte. Schon immer sind Men- 200.000 Jahren auf Wanderschaft und ha- relativ junges Phänomen. So setzten mit der schen gewandert, um neue Siedlungsgebiete ben Zug um Zug die ganze Welt besiedelt.1 frühen Industrialisierung große Wanderungs- für sich und ihre Gemeinschaften zu erschlie- bewegungen ein, vor allem aus ländlichen Re- ßen. So hat sich unser archaischer Vorfahr Doch diese frühen Wanderungen hatten kein gionen in die neuen Produktionszentren, wo Homo erectus vor rund zwei Millionen Jahren konkretes geografisches Ziel. Sie glichen eher die Fabriken auf Arbeitskräfte angewiesen über weite Teile des afrikanischen Kontinents einer gemächlichen Ausbreitung über Gene- waren. Als neue Transportmöglichkeiten wie und dann bis nach Eurasien ausgebreitet. rationen hinweg oder einer langsamen Flucht moderne Schiffe, Eisenbahnen und später Auch die ersten modernen Menschen sind, vor klimatischen und ökologischen Verän- auch Flugzeuge Langstreckenreisen selbst Wie entsteht Migration? Es muss Einiges zusammenkommen, bevor Menschen ihren Heimatort verlassen, um woanders ihr Glück zu suchen. Im Zentrum steht meist der Wunsch, das eigene Leben zu verändern und seinen Kindern bessere Chancen zu bieten, die Suche nach mehr Sicherheit und Freiheit oder nach höherem Einkommen. Einflussgrößen Wünsche und Migration? auf Migration Möglichkeiten demografische Faktoren persönliche Aussichten Migrationswunsch Migration im Herkunftsland Bildung gescheiterte Migration wirtschaftliche Faktoren Netzwerke und Diaspora Veränderungswunsch? andere Lösungen? keine Möglichkeit zur Migration Konflikte und polit. Faktoren Umweltfaktoren persönliche Lebensziele Migrationspolitik und -wünsche Migrationsinfrastruktur (Eigene Darstellung nach Carling, 20172) 14 Europa als Ziel?
über Kontinente hinweg möglich machten werden vertrieben oder suchen nach Orten, Sahara konzentrieren. So wuchs die Bevöl- und das Telefon die menschliche Kommu- wo sie ihre eigenen Lebensziele besser kerung zwischen 2017 und 2018 in Pakistan nikation revolutionierte, wandelte sich die realisieren und ihren Lebensunterhalt sichern laut UN-Schätzungen um 3,8 Millionen, in Ni- Migration zu einem globalen Phänomen. können.6 Manche Menschen wandern aus geria, dem einwohnerstärksten Land Afrikas, purer Not, andere weil sie sich anderenorts waren es sogar rund 5 Millionen.9 Die großen Migrationstrends in dieser eine noch höhere Lebensqualität verspre- Epoche waren nicht auf die Industrialisie- chen. Meist stehen gleichzeitig verschiedene Scheitern die Regierungen daran, ihren rungszentren beschränkt. Zwischen 1846 Faktoren hinter einem Wunsch zu migrieren, Bürgerinnen und Bürgern gute Lebensbe- und 1940 verließen schätzungsweise 55 bis die sich zudem gegenseitig beeinflussen und dingungen zu verschaffen, dann setzt häufig 58 Millionen Menschen ihre europäische verstärken können. zunächst eine regionale Wanderung ein. Die- Heimat mit dem Ziel Amerika, was jährlich se verläuft vor allem von strukturschwachen mehr als einer halben Million Menschen Weltweiten repräsentativen Umfragen zufol- ländlichen Regionen in die urbanen Zentren. entsprach. Aus Indien und dem südlichen ge tragen sich zwischen 7 (in Südasien) und Dort sind die Lebensbedingungen zwar selten China machten sich in diesem Zeitraum bis zu 33 Prozent (in Subsahara-Afrika) aller Erden- optimal, denn die meisten Landflüchtigen 52 Millionen Menschen auf den Weg Richtung bürger mit dem Gedanken an eine Abwan- finden gerade in wenig entwickelten Ländern Südostasien. Und aus dem nordöstlichen derung.7 Diese Ziffer sagt jedoch wenig über nur Unterschlupf in Armutsvierteln mit Asien und Russland wanderten bis zu 51 das tatsächliche Migrationsgeschehen. Denn beengten Verhältnissen, schlechten Hygie- Millionen Menschen ab, um sich in Sibirien, am Ende unternimmt weniger als ein Prozent nebedingungen und hoher Kriminalität. Aber Zentralasien oder Japan niederzulassen. Die- aller erwachsenen Menschen weltweit kon- dennoch ist es dort leichter, (informelle) Be- se Wanderungsbewegungen geschahen nicht krete Schritte für eine grenzüberschreitende schäftigung und Schulen für den Nachwuchs immer freiwillig, sondern häufig als Folge von Verlegung ihres Wohnorts.8 Welche Faktoren zu finden als in den ländlichen Herkunftsre- Vertreibungen oder Deportationen.3 und Rahmenbedingungen bei der Verwirkli- gionen. Da sich die gefühlte Lebensqualität chung eines Migrationswunsches eine Rolle und die Aufstiegschancen unterm Strich Die Zielorte von Migranten profitieren in der spielen, und wie sie sich auf Wanderungs- verbessern, ziehen Städte immer mehr Men- Regel von den neu Zugewanderten.4 Viele entscheidungen auswirken, beschreiben die schen aus ländlichen Regionen an. von ihnen kommen als Arbeitskräfte, gründen folgenden Absätze. eigene Unternehmen und sind häufig uner- Die Urbanisierung schreitet gerade in den lässlich für die Volkswirtschaften. Sie bringen ärmeren Weltregionen rasch voran. Während neue Ideen in Wirtschaft und Gesellschaft 1 Demografische Faktoren in Afrika südlich der Sahara 2008 rund 35 ein, regen den kulturellen Austausch an und Prozent der Menschen in urbanen Gebieten stärken den globalen Wissensaustausch.5 So Demografische Faktoren wirken sich vor lebten, dürften es nach Schätzungen der finden sich in den Autorenzeilen der Publi- allem indirekt auf Migrationsentscheidungen Vereinten Nationen bis 2030 schon 47 kationen großer Forschungsinstitute Namen aus. Hohes Bevölkerungswachstum bedeutet Prozent sein.13 Bis dahin sind in Afrika sechs aus aller Herren Länder und Unternehmen wachsende Konkurrenz um Ausbildungs- von weltweit 41 Megastädten mit über zehn nutzen die Diversität ihrer Mitarbeiterschaft und Arbeitsplätze, um Infrastrukturen, um Millionen Einwohnern zu erwarten.14 als strategisches Instrument. Nahrung oder Trinkwasser. Insbesondere für wenig entwickelte Länder ist dies eine In den Zentren kommen Menschen leichter an enorme Herausforderung, denn dort ist vie- Informationen, mit denen sich eine weitere Wünsche und Möglichkeiten lerorts die Versorgungslage ohnehin kritisch, Migration organisieren lässt. Mit besseren bedingen, ob Menschen wandern während die Zahl der Menschen oft schneller Verdienstchancen und wachsendem Lebens- wächst als die Gesundheitsdienste, die Zahl standard – Rahmenbedingungen, die auch Die Gründe für einen Ortswechsel sind der Schulen, der Wohnraum und vor allem die zu deutlich sinkenden Kinderzahlen je Frau vielfältig. Natürliche und menschengemachte verfügbaren Arbeitsplätze. führen15 – haben sie zudem andere Möglich- Umweltveränderungen spielen ebenso eine keiten, eine Abwanderung in ein anderes Rolle wie ein Bevölkerungswachstum, mit Bis 2030 und lange darüber hinaus wird sich Land zu finanzieren. Die Urbanisierung dem die Verfügbarkeit von Ressourcen und das globale Bevölkerungswachstum immer fördert einerseits die Migrationsbereitschaft, Infrastrukturen nicht Schritt halten kann. mehr auf Teile West- und Südasiens und vor reduziert aber andererseits langfristig den Menschen fliehen vor Terror und Konflikten, allem die afrikanischen Länder südlich der demografischen Druck.16 Berlin-Institut 15
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