Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
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Bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 erlebten die Parteien und Wähler den knappsten Wahlausgang seit der deutschen Wiedervereinigung. Erst nach einem wahren Hochrechnungs-Krimi stand um Mitternacht fest, dass Bundeskanzler Gerhard von 1998 eine sichtbare Verbesserung Schröder (SPD) und die Grünen die Wahl mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen darstellte, hatte die CSU geleistet. Sie ver- hatten. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl hatten sich beide Parteien dafür ausge- besserte ihr Ergebnis in Bayern um 2,3 sprochen, im Falle eines Wahlsiegs das rot-grüne Regierungsbündnis fortzusetzen. Prozentpunkte, während die CDU nur 1,1 Prozentpunkte zulegte. Als einzige Partei erreichten die Grü- nen alle ihre Wahlziele. Sie belegten, wie Das Wahlergebnis im schon vier Jahre zuvor, den dritten Platz Überblick vor der FDP, erzielten mit einem Stim- menanteil von 8,6 Prozent das beste Ausschlaggebend für die Bestätigung der Bundestagswahlergebnis seit 1980, er- rot-grünen Koalition war vor allem das rangen erstmals in ihrer Geschichte ein gute Abschneiden der Grünen. Sie konn- Direktmandat und trugen durch ihren Er- ten im Vergleich zu 1998 1,9 Prozent- folg maßgeblich zur Wiederwahl der rot- punkte hinzugewinnen und wurden mit grünen Koalition bei. Die FDP erzielte mit 8,6 Prozent erneut die drittstärkste Partei 1,1 Prozentpunkten leichte Gewinne und vor der FDP. Entgegen den ersten Hoch- erreichte einen Stimmenanteil von 7,4 rechnungen, die bis nach Mitternacht ei- Prozent. Sie blieb aber weit hinter dem nen Gleichstand zwischen SPD und Uni- im Projekt 18 anvisierten Ziel von 18 on verkündeten, behauptete die SPD in Prozent zurück. Der große Verlierer der Folge des Gewinns von vier Überhang- Bundestagswahl war die PDS. Sie schei- mandaten1 ihre Position als stärkste Frak- terte mit 4,0 Prozent der gültigen Stim- tion. Allerdings mussten die Sozialdemo- men unerwartet deutlich an der Fünfpro- kraten mit 2,4 Prozentpunkten deutliche zenthürde und verpasste den erneuten Stimmeneinbußen hinnehmen und erziel- Einzug in den Bundestag. Allerdings er- ten mit 38,5 Prozent der abgegebenen, reichte sie zwei Direktmandate in Berlin gültigen Stimmen lediglich rund 6.000 (Abb. 1). Stimmen mehr als die CDU/CSU. Oscar W. Gabriel / Kerstin Völkl y Auf der Basis der stabilisierten Hoch- Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute? y rechnungen hatte sich der Unions-Kanz- lerkandidat Edmund Stoiber (CSU) am Wahlabend bereits zum Wahlsieger er- klärt – vorschnell, wie sich herausstellte. Die CDU/CSU konnte zwar ihr Ergebnis von 1998 um 3,4 Prozentpunkte auf ebenfalls 38,5 Prozent der Stimmenan- teile verbessern, musste sich aber den- noch mit dem zweiten Platz hinter der SPD zufrieden geben. Den weitaus wich- tigsten Beitrag zu einem Ergebnis, das gegenüber dem historischen Tiefstand 31
WechselWirkungen y Bundesländern jedoch 3,8 und lag damit ten und neuen Bundesländern. Während Jahrbuch 2003 y deutlich vor der SPD. In ihrer Größenord- die Grünen in Ostdeutschland lediglich nung entsprachen die Gewinne der geringe Zuwächse verbuchen konnten, CDU/CSU den SPD-Verlusten. Das gute legten sie in Westdeutschland um 2,1 Abschneiden der Union in den alten Bun- Prozentpunkte zu. Mit fast zehn Prozent desländern ist in erster Linie auf das über- der Stimmenanteile erzielten sie dort ein ragende Ergebnis der CSU in Bayern Rekordergebnis. Noch deutlicher tritt der zurückzuführen. Im Osten konnte die Unterschied bei der FDP zu Tage, die im CDU nur geringe Gewinne verzeichnen Westen nur 0,6 Punkte, im Osten jedoch und musste in absoluten Zahlen sogar 3,1 Prozentpunkte hinzugewann. Trotz Stimmeneinbußen hinnehmen. Das der geringen FDP-Zugewinne im Westen Wahldebakel der PDS war vor allem auf hätte es dank des guten Abschneidens ihren Stimmenverlust in den neuen Bun- der Union für eine knappe Mehrheit von desländern zurückzuführen. 4,7 Prozent- schwarz-gelb (48,7%) gegenüber rot- punkte an Stimmen gingen ihr dort im grün (47,9%) und damit für einen Regie- Vergleich zu 1998 verloren, wovon die rungswechsel gereicht. Folglich liegt der anderen Parteien – insbesondere die SPD Schluss nahe, dass der Wahlsieg von Rot- – profitierten. Ähnlich wie bei den beiden Grün durch das gute Ergebnis der SPD großen Parteien verhält es sich bei den im Osten und das starke Abschneiden beiden kleinen Parteien, Grüne und FDP, der Grünen im Westen zustande gekom- Vergleicht man das Ergebnis der Bun- hinsichtlich ihres Abschneidens in den al- men ist. destagswahl 2002 mit den langfristigen Durchschnittswerten der Stimmenanteile der Parteien bei Bundestagswahlen, dann zeigt sich erneut das außerordentlich gute Ergebnis von Bündnis 90/Die Grü- nen (Abb. 2). Die Sozialdemokraten schnitten leicht überdurchschnittlich ab. Nach 1972 und 1998 gingen sie zum dritten Mal als stärkste Partei aus einer Bundestagswahl hervor. Die Liberalen er- zielten in langfristiger Perspektive ein mäßiges Ergebnis und lagen geringfügig unter ihrem Durchschnittswert. Trotz der erzielten Stimmengewinne schnitt die Union bei der Bundestagswahl 2002 im Vergleich mit ihrem durchschnittlichen Ergebnis schwach ab. Immerhin gelang es ihr, den seit 1983 zu verzeichnenden Abwärtstrend zu stoppen. Für die PDS dagegen beendete die Wahl 2002 einen Abb. 1: Ergebnis der Bundestagswahl 2002 (Angaben: Zweitstimmenanteile in %; in Klammern Gewinne und seit 1990 währenden politischen Auf- Verluste). stieg. Wie sämtliche Bundestagswahlen seit 1990 zeichnete sich auch der Ausgang der Wahl des Jahres 2002 durch einen großen Ost/West-Unterschied aus (Abb. 1). Während die SPD im Westen 4,0 Pro- zentpunkte verlor, gewann sie im Osten 4,6 Punkte hinzu. Zudem fielen fast alle ostdeutschen Direktmandate an die Sozi- aldemokraten. Bei einem allerdings nur mäßigen absoluten Stimmenzuwachs konnte die SPD in Ostdeutschland die höchste Zuwachsrate aller Parteien für sich verbuchen. Mit einem Vorsprung von 11,4 Prozentpunkten vor der Union gin- gen die Sozialdemokraten in den neuen Ländern als klarer Sieger aus der Bundes- tagswahl hervor. Die Union legte im Osten nur einen Punkt zu, in den alten Abb. 2: Abweichung des Ergebnisses 2002 vom langfristigen Mittelwert. 32
Die Wählerwanderungsbilanz von In- fratest dimap gibt genaueren Aufschluss darüber, welche Bewegungen zwischen den Parteien stattgefunden haben und hebt zudem die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland deutlicher her- vor. Die stärkste Bewegung mit über ei- ner Millionen Wählerstimmen vollzog sich zwischen den beiden großen Volks- parteien (Abb. 3). Demzufolge sind die größten Nettogewinne der Union bezie- hungsweise die größten Nettoverluste der Sozialdemokraten auf die Rückwan- derung oder die Abwanderung ehemali- ger SPD-Wähler zur CDU/CSU zurückzu- führen. Diese Wanderungsbewegung be- schränkte sich fast ausschließlich auf die alten Bundesländer. Zusätzlich profitierte die Union von der Gruppe der sonstigen Parteien. Neben den Stimmenverlusten an CDU/CSU hatten die Sozialdemokra- ten auch starke Einbußen an die Grünen Abb. 3: Wählerwanderungen bei der Bundestagswahl 2002. und die Liberalen zu verzeichnen. Vor al- lem im Westen haben die Grünen der SPD mit rund einer halben Millionen Wählerstimmen viele Regierungsanhän- ger abgeworben. Zudem wanderte ein beträchtlicher ehemaliger SPD-Wähleran- teil in das Lager der Nichtwähler ab. Die einzigen deutlich sichtbaren Nettogewin- ne schöpfte die SPD aus der Gruppe der Ex-PDS-Wähler, was vor allem in den neuen Bundesländern eine große Rolle spielte. Offenbar konnten sich die Sozial- demokraten die Schwäche der PDS zu Nutze machen und ihr rund 300.000 Wähler abnehmen. Deutliche Zugewinne Abb. 4: Bestimmungsfaktoren der Wahlentscheidung. verzeichnete auch das Lager der Nicht- wähler. Sie bekamen in erster Linie von mancherlei Spekulationen angestellt. Vor stimmte Partei auf ein Zusammenwirken den Wählern sonstiger Parteien Zulauf, dem Hintergrund der vorliegenden Er- von drei Variablen zurück, die langfristig ebenso wie von ehemaligen SPD- und kenntnisse der Wahlforschung könnten wirksame (stabile) Parteiidentifikation so- PDS-Wählern, aber auch von Grünen- zwei Faktoren besonders bedeutsam ge- wie die kurzfristig wirksamen und verän- Wählern. Im Ost/West-Vergleich fallen wesen sein: Die Bewertung der Kanzler- derlichen Themen- und Kandidatenorien- neben den bereits erwähnten Unterschie- kandidaten der beiden großen Parteien tierungen. Weitere Einflussfaktoren wie den die Nettogewinne der Union in den – insbesondere der Ausgang der Fernseh- die Position von Individuen in der Gesell- alten Bundesländern sowie ihre Nettover- duelle zwischen Bundeskanzler Schröder schaft, die Angebotsstruktur des politi- luste in den neuen Bundesländern jeweils und seinem Herausforderer schen Marktes, der institutionelle Kontext aus dem Lager der Nichtwähler auf. Ministerpräsident Stoiber – sowie die Ver- oder konkrete politische Ereignisse wer- änderung der politischen Agenda in den den nicht grundsätzlich ausgeschlossen, letzten vier Wochen vor der Wahl. Wir sie werden im Modell aber nur mittelbar, Die Bestimmungsfaktoren des wollen die Bedeutung dieser beiden Fak- als Hintergrundfaktoren der drei zuvor ge- Wählerverhaltens toren nachfolgend etwas genauer be- nannten Größen, berücksichtigt. Das Ann- leuchten und zu diesem Zweck ihren Arbor-Modell bildet die Grundlage der fol- Bei einem Vergleich des Wahlergebnisses Stellenwert in wahlsoziologischen Er- genden Interpretation der politischen am 22. September 2002 mit den Um- klärungsmodellen bestimmen. Ausgangslage bei der Bundestagswahl fragedaten der Monate Januar bis Juli 2002 und trägt dazu bei, den überra- 2002 wird deutlich, dass unmittelbar im Das wichtigste Konzept zur Erklärung schenden Wahlausgang zu interpretieren. Vorfeld der Wahlen ein deutlicher Stim- des individuellen Wählerverhaltens stellt mungsumschwung stattgefunden haben das von Campbell u.a. (1960) entwickelte muss, der zu dem überraschenden Wahl- sozialpsychologische Modell dar (auch: erfolg von Rot-Grün geführt hat. Über die Ann-Arbor-Modell, Abb. 4). Es führt die WechselWirkungen y Ursachen dieses Vorganges wurden Entscheidung der Wähler für eine be- Jahrbuch 2003 y 33
WechselWirkungen y prekäre Grundstimmung nicht negativer Vor allem im Lager der SPD- und Grünen- Jahrbuch 2003 y auf die Wahlaussichten von SPD und Grü- Anhänger erklärten kurz vor der Wahl ne auswirkte. Hinzu kommt, dass die knapp drei Viertel, zufrieden mit der Re- Wählerschaft der CDU/CSU traditionell gierung zu sein. Im Mai hatte nur jeder die größere Problemlösungskompetenz zweite Regierungsanhänger diese Auffas- auf dem Gebiet der Wirtschaft zuweist. sung vertreten. Sogar bei den Anhängern Auf den ersten Blick waren die Vorausset- der Liberalen ist eine kurzfristig zuneh- zungen für die Union, die Regierung mit- mende Zufriedenheit sichtbar. Lediglich tels eines Wirtschaftswahlkampfs abzulö- bei den Anhängern der Union und der Die Entwicklung der Stimmungslage sen, äußerst günstig. Allerdings rückten PDS blieb die Stimmung eindeutig nega- im Wahljahr im Laufe des Wahlkampfes neue Streit- tiv. Die Zufriedenheit mit der Bundesre- Fast in jeder Hinsicht befanden sich die fragen wie der Irakkrieg und die Bewälti- gierung stieg sowohl in den alten als SPD und die Grünen im Vorfeld der Wahl gung der Flutkatastrophe in Ostdeutsch- auch in den neuen Bundesländern von in einer ausgesprochen ungünstigen Aus- land in den Blickpunkt des öffentlichen In- August bis September deutlich an (nicht gangslage. Im September 2002 schätz- teresses (vgl. Roth/Jung 2003: 10). Zu- abgebildet). Der zunächst vorhandene ten die Bürger die aktuelle wirtschaftliche dem stuften die Anhänger der Regie- Vorteil der Union ging mit dem Lage äußerst pessimistisch ein. Die Hälfte rungsparteien die Wirtschaftslage in Näherrücken des Wahltermins verloren, aller Befragten beurteilte den Zustand der Deutschland weniger negativ als die An- denn offensichtlich vermochte es die Wirtschaft als schlecht, weitere 46 Pro- hänger von CDU/CSU und FDP ein (vgl. CDU/CSU nicht, die Bürger davon zu zent gaben „teils/teils“ an und lediglich Forschungsgruppe Wahlen e.V. 2002: überzeugen, dass eine von ihr geführte eine Minderheit von vier Prozent vertrat 41). Bundesregierung, die anstehenden Auf- die Ansicht, die ökonomische Situation gaben und Probleme besser lösen könne Anders als bei der wirtschaftlichen im Land sei gut 2. Bereits zu Beginn des als die amtierende rot-grüne Regierung Lage, die bis zum Wahltag negativ wahr- Jahres 2001 hatte sich in der Sicht vieler (vgl. Graf/Neu 2002: 59f.). genommen wurde, lässt sich bei der ge- Bürger die wirtschaftliche Lage ver- nerellen Zufriedenheit mit der Arbeit der Auf die Frage nach der gewünschten schlechtert, eine Einschätzung, die sich in Bundesregierung ein Stimmungsum- Zusammensetzung der Bundesregierung der Folgezeit immer mehr verstärkte. Da schwung in allerletzter Minute feststellen. sprachen sich im Wahlmonat September aus der empirischen Forschung bekannt Von Beginn des Jahres bis August war 27 Prozent der Bevölkerung für die Bei- ist, dass die Bevölkerung dazu neigt, die die Unzufriedenheit mit der Regierung re- behaltung der bestehenden Koalition aus, amtierende Regierung für die allgemeine lativ groß. Weniger als ein Drittel der Be- 26 Prozent votierten für eine bürgerliche wirtschaftliche Lage verantwortlich zu völkerung war mit der rot-grünen Regie- Koalition. Beide Koalitionsoptionen fan- machen, ist es überraschend, dass die rung zufrieden. Erst im September zeich- den in der Wählerschaft einen gleich Union die mit der beschriebenen Stim- nete sich ein deutlicher Umschwung im großen Anklang, jedoch bildete sich diese mungslage verbundene Chance nicht für Meinungsklima ab und der Anteil der Zu- Konstellation ebenfalls erst unmittelbar sich nutzen konnte und dass sich die friedenen stieg auf 41 Prozent an (Abb. 5). vor der Wahl heraus. Im Frühjahr 2002 Abb. 5: Zufriedenheit mit der Bundesregierung in der BRD, Januar - September 2002. 34
Abb. 6: Koalitionspräferenz in der BRD, Januar - September 2002 (Angaben: %). Abb. 7: Vermuteter Wahlsieger in der BRD, Januar - September 2002 (Angaben: %). hatten sich knapp 20 Prozent der Bürger ungefähr die gleichen Erfolgsaussichten für die Fortsetzung der rot-grünen Koalition attestiert. Zwischen Mai und August ausgesprochen und noch im Juli 2002 wechselte die Stimmungslage nahezu befürwortete ein ebenso großer Anteil monatlich, und ab Mitte August befand der Befragten eine große Koalition. Keine sich die SPD im Aufwind, mit dem Ergeb- Unterstützung fand in der Wählerschaft nis, dass im September jeder zweite ein Bündnis aus SPD und FDP (Abb. 6). Wähler von einem Wahlsieg der Regie- Je näher der Wahltermin rückte, desto rung überzeugt war (Abb. 7). Wie bereits stärker setzte sich in der Wählerschaft die bei der Zufriedenheit mit der Bundesre- Überzeugung von einem Wahlsieg der gierung zu beobachten war, vollzog sich Regierung durch. Bis Anfang April wur- dieser Stimmungsumschwung unmittel- WechselWirkungen y den der Opposition und der Regierung bar vor der Wahl. Jahrbuch 2003 y 35
WechselWirkungen y den Wochen einen Vorsprung vor den Diese Einschätzung blieb nicht folgen- Jahrbuch 2003 y Christdemokraten. Kurz vor der Wahl los für die Wahlabsicht. Wie Abbildung glaubten mehr als die Hälfte der Bundes- 9a zeigt, hatte Rot-Grün bis Anfang Sep- bürger, die SPD würde die nächste tember keine Mehrheit in Westdeutsch- Regierung führen (Abb. 8). Allerdings land. Dasselbe trifft für Gesamtdeutsch- Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der stellte sich diese Konstellation in den al- land zu (nicht abgebildet). Erst ein „Last Frage, ob die nächste Bundesregierung ten Bundesländern erst Anfang Septem- Minute Swing“ kurz vor dem 22. Septem- von der SPD oder der Union geführt sein ber ein, in den neuen Bundesländern be- ber brachte der amtierenden Regierung solle. Bis Mitte August lieferten sich die reits einen Monat früher. Kurz vor der erneut die Mehrheit bei der Bundestags- SPD und CDU/CSU bei dieser Frage ein Wahl lag die SPD bei dieser Frage im wahl. Im Januar 2002 hatte die Union Kopf-an-Kopf-Rennen, jedoch sicherten Osten um 33 und im Westen um 18 Pro- Edmund Stoiber offiziell zum Kanzlerkan- sich die Sozialdemokraten in den folgen- zentpunkte vor der Union. didaten gekürt. Seit Februar lag die Abb. 8: Gewünschte Bundesregierung in der BRD, Februar - September 2002. Abb. 9a: Entwicklung der Wahlabsicht in Westdeutschland, Dezember 2001 - September 2002 (Angaben: %). 36
CDU/CSU in Westdeutschland stetig mit gunst überrunden konnte, zeichnete sich Die Einflussfaktoren des sozialpsy- bis zu neun Prozentpunkten vor den Sozial- der Aufwärtstrend der größeren Regie- chologischen Modells demokraten. Mit dem Näherrücken des rungspartei in Ostdeutschland bereits seit Wahltages schmolz dieser Vorsprung al- Mai ab (Abb. 9b). Mitte Juli gab jeder drit- Die Bewertung der Parteien lerdings dahin und unmittelbar vor der te Befragte in den neuen Bundesländern In fast allen westlichen Demokratien Wahl überholte die SPD die Union sozu- an, bei der kommenden Bundestagswahl hängt die Wahlabsicht in erster Linie von sagen auf der Zielgeraden in der Wähler- die SPD wählen zu wollen. Bis Mitte Sep- der Parteiidentifikation ab. Als Parteiiden- gunst. 39 Prozent der Bundesbürger hat- tember stieg dieser Anteil auf 38 Prozent. tifikation bezeichnet man die langfristig ten demnach vor, bei der nächsten Bun- Damit waren die Sozialdemokraten seit stabile psychische Bindung eines Indivi- destagswahl die SPD zu wählen. 38 Pro- Juli die stärkste Partei im Osten. Die Uni- duums an eine Partei (vgl. Campbell et al. zent gaben an, der CDU/CSU ihre Stim- on verbesserte sich im Laufe des Augusts 1960). Sie wird bereits frühzeitig, im Pro- me geben zu wollen. Damit war der An- nochmals geringfügig, stürzte allerdings zess der Primärsozialisation, erworben teil potentieller SPD-Wähler seit Mai um kurz vor der Wahl in der Wählergunst von und bleibt im Normalfall im Erwachse- fünf Prozentpunkte gestiegen, der Anteil 33,5 auf 27 Prozent ab. Der Rückhalt der nenalter erhalten. Nach Converse (1969) der CDU/CSU-Wähler um den gleichen PDS in der ostdeutschen Wählerschaft stabilisiert die wiederholte Stimmabgabe Wert gesunken. Das knappe Wahlergeb- ging von 26 Prozent im Januar 2002 auf für eine Partei die Parteiidentifikation, nis deutete sich bereits in den Umfragen 17 Prozent Anfang September zurück. während besonders einschneidende Ver- über die Wahlabsicht der Bürger an. In Nach der letzten Umfrage im September änderungen der persönlichen Lebensum- der letzten Umfrage vor der Wahl lag zwi- beabsichtigten 4,7 Prozent der deutschen stände von Individuen oder der politi- schen SPD und CDU/CSU lediglich eine Bundesbürger, die PDS zu wählen (nicht schen oder gesellschaftlichen Rahmenbe- Differenz von einem Prozentpunkt. Auch abgebildet). Damit bestand im Vorfeld der dingungen einen Wandel der Parteimit- die potentiellen Koalitionspartner Grüne Wahl keine Klarheit darüber, ob die PDS gliedschaft herbeiführen können. Je stär- und FDP lagen im betrachteten Zeitraum wieder in den Bundestag einziehen wür- ker sich eine Person einer Partei verbun- relativ nah beieinander. Während die Li- de. Grüne und FDP spielten in den neuen den fühlt, desto wahrscheinlicher wird sie beralen bis Mitte August geringfügig bes- Ländern eine eher untergeordnete Rolle, dieser bei einer Wahl ihre Stimme geben. ser abschnitten als die Grünen, konnten wobei es den Liberalen bei der Bundes- Umgekehrt begünstigt eine fehlende Par- die Grünen im Wahlmonat zur FDP auf- tagswahl 2002 gelang, verstärkt bei den teineigung die Nichtwahl oder die Wech- schließen. Das spätere Wahlergebnis, bei Ostdeutschen zu punkten. Zwar konnten selwahl. Bei den Nichtidentifizierern ge- dem die Grünen in den alten Bundeslän- sie die im Mai gemessenen neun Prozent ben kurzfristige Themen- und Kandidaten- dern knapp zwei Prozentpunkte vor den nicht bis zum Ende halten, aber immerhin orientierungen den Ausschlag für die Liberalen lagen, war im Hinblick auf die wollten sechs Prozent der ostdeutschen Wahlentscheidung. Daten aus den Vorwahlumfragen überra- Bürger kurz vor der Wahl der FDP ihre schend. Stimme geben. Die Grünen verbesserten Auf Grund der unterschiedlich langen sich im Verlauf des Jahres von drei auf Wahlerfahrung der Bevölkerung Ost- und Im Gegensatz zu Westdeutschland, wo fünf Prozent minimal in der Wählergunst Westdeutschlands fällt der Anteil der Par- die SPD erst in der Endphase des Wahl- und blieben auch nach der Bundestags- teiidentifizierer in den alten Bundeslän- kampfs die Union knapp in der Wähler- wahl in erster Linie eine Westpartei. dern deutlich höher aus als in den neuen WechselWirkungen y Abb. 9b: Entwicklung der Wahlabsicht in Ostdeutschland, Dezember 2001 - September 2002 (Angaben: %). Jahrbuch 2003 y 37
WechselWirkungen y Jahrbuch 2003 y Abb. 11: Parteiidentifikation und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %). Bundesländern (Abb. 10). Während im Westen 29 Prozent der Befragten anga- ben, sich keiner Partei verbunden zu fühlen, waren es im Osten 44 Prozent. Insbesondere die beiden Volksparteien liefert eine erste Erklärung für die im CDU/CSU zu wählen. Bei den Sozialde- verfügen in Ostdeutschland über eine we- Osten wesentlich stärkere Bereitschaft mokraten und den Liberalen lagen die sentlich kleinere Zahl „psychologischer zur Nicht- und Wechselwahl. Anteile mit drei Viertel nicht wesentlich Mitglieder“ (Converse 1969) als im We- Die große Bedeutung der Parteiidentifi- niedriger. Etwas schwächer ausgeprägt sten. Dafür neigen immerhin neun Pro- kation für die Stimmabgabe bei Wahlen war die Neigung der Grünen- und PDS- zent der ostdeutschen Befragten der PDS zeigt sich in Abbildung 11, die belegt, Identifizierer, bei der Wahl für ihre Partei zu. Die festen Anhänger der Grünen und dass die breite Mehrheit der Parteiidenti- zu votieren (ca. 66%). Bei den Anhängern der Liberalen sind in beiden Landesteilen fizierer „ihrer“ Partei die Stimme gibt. der beiden großen Volksparteien stimmte zahlenmäßig nur schwach vertreten. Dies galt bei der Bundestagswahl 2002 die Wahlabsicht demnach etwas stärker Schon diese Verteilung der Parteianhän- insbesondere für die Anhänger der Uni- mit der Parteiidentifikation überein als bei gerschaft in Ost- und Westdeutschland on, von denen 83 Prozent erklärten, die ihren kleineren Koalitionspartnern. Abb. 10: Parteiidentifikation in Gesamt-, West- und Ostdeutschland 2002. 38
Abb. 12: Die wichtigsten Probleme in Deutschland im September 2002. Die wichtigsten Probleme und die Pro- blem, dessen Lösung am dringlichsten sächlich für diese ungewöhnlich große blemlösungskompetenz der Parteien sei. Ende August 2002 stuften 78 Pro- Bedeutsamkeit eines außenpolitischen zent der Befragten die Arbeitsmarktpolitik Themas war die Debatte über die drohen- Neben der Parteibindung und der Kandi- als das wichtigste politische Thema ein, de Militärintervention der USA im Irak, datenorientierung haben die Sachthemen wobei die Einschätzungen der Anhänger die Bundeskanzler Schröder im zweiten entscheidenden Einfluss auf die Wahlent- der verschiedenen Parteien in dieser Fra- Fernsehduell mit seinem Herausforderer scheidung. Damit diese sich auf die ge nicht divergierten (nicht abgebildet). Stoiber stark in den Vordergrund spielte. Wahlentscheidung auswirken können, Allerdings nahmen arbeitsmarktpolitische Auf Platz vier der Prioritätenliste folgte müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Fragen auf der politischen Agenda Ost- der Themenkomplex Zuwanderung und Die Wähler müssen das Thema wahrneh- deutschlands eine noch dominantere Po- Ausländer, den jeder zehnte Befragte als men, es als relevant einstufen und es mit sition ein als im Westen (vgl. Forschungs- ein wichtiges Problem einstufte. Weitere einer der Parteipositionen in Verbindung gruppe Wahlen e.V. 2002: 40). Dies ist Themen waren die Schul- und Bildungs- bringen (vgl. Campbell u.a. 1960; Downs in Anbetracht der prekären Situation des politik, die Ökologie und der Umwelt- 1957). Die Themenorientierungen um- Arbeitsmarktes in den neuen Bundeslän- schutz und – im August 2002 – die Flut- fassen demnach zwei Klassen von Ein- dern nicht überraschend. An der überra- katastrophe in Ostdeutschland. Trotz ihrer stellungen, die wahrgenommene Bedeut- genden Bedeutung dieses Problems in relativ geringen Bedeutung könnten die samkeit politischer Sachfragen und die den Medien und in der Wahrnehmung Themen Flutkatastrophe und Irak-Politik den Parteien zugewiesene Problemlö- der Öffentlichkeit konnte auch die kurzfri- bei einzelnen Wählergruppen der rot-grü- sungskompetenz (Valenzissues3) bezie- stige Platzierung anderer Themen, zum nen Koalition Pluspunkte gegenüber der hungsweise die Übereinstimmung zwi- Beispiel der Flutkatastrophe in Ost- Opposition verschafft haben, weil sie den schen den Parteipositionen und den Prä- deutschland oder der Beteiligung Regierungsparteien eine Gelegenheit bo- ferenzen der Wähler (Positionsissues4). In Deutschlands an Militäraktionen im Irak, ten, Handlungsfähigkeit und Entschei- den folgenden Abschnitten beschränken nichts ändern. dungskraft zu demonstrieren beziehungs- wir uns darauf, den Zusammenhang zwi- weise die Fokussierung der öffentlichen Abgeschlagen auf den beiden Plätzen schen der Problemlösungskompetenz Aufmerksamkeit auf die Themen Wirt- zwei und drei folgten im Wahlmonat die und der Wahlabsicht auf dem Gebiet der schaft und Arbeit zumindest zeitweise ab- Wirtschaftspolitik sowie die Außen- und Valenzissues zu untersuchen. Dies ergibt schwächte (vgl. Graf/Neu 2002: 64). Sicherheitspolitik. Jeweils 15 Prozent der sich aus der Themenkonstellation im Ver- Befragten betrachteten dieses Politikfeld lauf des Wahljahres. als die wichtigste politische Aufgabe. Im gesamten Wahljahr war die Arbeits- Während die Wirtschaftslage schon seit marktpolitik das dominierende politische dem Herbst 2001 auf der politischen Thema in Deutschland (Abb. 12). Seit Ok- Agenda stand, erlangte die Außenpolitik tober 2001 betrachteten die Bürger die erst im Wahlmonat eine prominente Posi- WechselWirkungen y Arbeitslosigkeit als das politische Pro- tion in der Einschätzung der Wähler. Ur- Jahrbuch 2003 y 39
WechselWirkungen y samsten politischen Aufgabe, der Siche- Lediglich sieben Prozent der Befragten Jahrbuch 2003 y rung und Schaffung neuer Arbeitsplätze, hielten die PDS auf diesem Gebiet für die lag die Union mit 38 Prozent vor der kompetenteste Partei. Selbst im Osten SPD, der lediglich 29 Prozent die Lösung führte die SPD mit 33 Prozent klar vor dieses Problems zutrauten. Vor dem Hin- der Union mit 19 und der PDS mit 18 tergrund der schlechten Beurteilung der Prozent (vgl. Forschungsgruppe Wahlen aktuellen Wirtschaftslage und der negati- e.V. 2002: 45). Das unerwartet gute Ab- ven Einstufung der Arbeitsmarktsituation schneiden der Sozialdemokraten auf dem ist es besonders interessant, welcher Par- Gebiet der Finanzpolitik dürfte unter an- tei die größte Wirtschaftskompetenz zu- derem auf die Verschiebung der Steuer- gesprochen wird. 36 Prozent der Befrag- reform zurückzuführen sein, „die von der ten nannten die Union, 31 Prozent die rot-grünen Bundesregierung noch vor der SPD. Dabei hatte die CDU/CSU bis Juni Wahl zur Finanzierung der durch das 2002 einen deutlichen Vorsprung vor Hochwasser entstandenen Schäden auf den Sozialdemokraten, die erst ab Mitte den Weg gebracht wurde“ (Forschungs- des Jahres langsam zur Union aufschlos- gruppe Wahlen e.V. 2002: 43). Die Wichtigkeit von Sachthemen bil- sen (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V. det die Basis für die Struktur der Wahl- In Einschätzung der Zukunftsfähigkeit 2002: 42). Außerdem attestierten die kampfagenda, jedoch kommt es für die ihrer Politik gelang es den Sozialdemokra- Wähler der Union bei den Themen Bil- politischen Parteien darauf an, sich gera- ten kurz vor der Wahl, an der Union vor- dung und Innere Sicherheit die größere de auf den wichtigen Themenfeldern als beizuziehen. Von Mitte Juli bis Anfang Kompetenz. die im Vergleich mit ihren Konkurrenten September konnte sie 13 Prozentpunkte kompetentere politische Alternative zu Auf den anderen Politikfeldern, etwa hinzugewinnen (Juli II 2002: 25%; Sep- präsentieren. In dieser Hinsicht sind die bei der Finanzpolitik, der Familienpolitik tember 2002: 38%), während die politischen Parteien bereits seit einiger und dem Aufbau Ost, schnitt die SPD in CDU/CSU im gleichen Zeitraum von 35 Zeit mit Problemen konfrontiert, die sich der Einschätzung der Wähler besser ab auf 32 Prozent zurückfiel (vgl. Infratest di- auch im Wahljahr 2002 ziemlich deutlich als die Union. Die Umweltpolitik erwies map September 2002: 5). In den alten zeigten. Ein großer Teil der Bundesbürger sich einmal mehr als Domäne der Grü- Bundesländern hatte die CDU/CSU artikulierte starke Zweifel an der Fähigkeit nen. Überraschend kam das schlechte (32%) einen leichten Vorsprung vor der der Union und der Sozialdemokraten, die Abschneiden der PDS auf dem Themen- SPD (29%), in den neuen Bundesländern wichtigsten politischen Probleme zu lö- feld Angleichung der Lebensverhältnisse verhielt es sich dagegen umgekehrt sen (Abb. 13). Bei der weitaus bedeut- in Ostdeutschland an das Westniveau. (SPD: 28%, CDU: 20%; nicht abgebildet). Abb. 13: Problemlösungskompetenz in der BRD im September 2002 (Angaben: %). 40
Welchen Einfluss hatte die Problemlö- sungskompetenz auf die Wahlabsicht? Wie Abbildung 14 zeigt, spielte die Kom- petenzzuweisung vor allem bei den Volksparteien eine große Rolle für den Wahlentscheid, bei der Union war dies noch stärker ausgeprägt als bei der SPD. Von denjenigen Befragten, die der CDU/CSU die besseren Konzepte zur Lö- sung der Zukunftsprobleme attestierten, beabsichtigten 82 Prozent, bei der Bundes- tagswahl für die Union zu stimmen. Bei den Sozialdemokraten zeigte sich dieses Muster bei zwei Dritteln der Wähler. Die drei kleineren Parteien profitierten nur in begrenztem Maße von ihrer Problemlö- Abb. 14: Problemlösungskompetenz und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %). sungskompetenz, insbesondere die FDP und die PDS. Bei den Befragten, die kei- ner Partei die Lösung der Probleme in Deutschland zutraute, hatte die SPD mit fünf Prozentpunkten einen leichten Vor- teil gegenüber der Union. menkampagne der Grünen, die mit dem Wähler konnte sich Gerhard Schröder bei Die Wahrnehmung und Bewertung Slogan „Zweitstimme ist Joschkastimme“ der Frage nach dem bevorzugten Bun- der Kanzlerkandidaten warben, verstärkten diesen Eindruck. deskanzler auf eine nahezu einstimmige Wenn die Bürger ihre Wahlentscheidung Zustimmung stützen (98%), während die Obwohl die Union bei zwei der wichtigs- alleine oder auch nur vorrangig von der Unterstützung Edmund Stoibers durch ten Themen, die die Agenda vor der Bewertung der Kandidaten abhängig ge- die Unionswähler deutlich schwächer Wahl bestimmten, über einen Kompe- macht hätten, dann wäre der Wahlerfolg ausfiel (82%) und elf Prozent der Unions- tenzvorsprung vor der SPD verfügte, der SPD mit Sicherheit weniger knapp Anhänger Gerhard Schröder weiterhin im reichte es nicht zu einem Wahlsieg. Of- ausgefallen. Diese Annahme kann sich Kanzleramt sehen wollten (vgl. For- fenbar spielten andere Faktoren eine min- auf eine sehr breite empirische Evidenz schungsgruppe Wahlen e.V. 2002: 34f.). destens so große Rolle für den Wahlent- stützen. scheid, insbesondere die Bewertung der Alles in allem schnitt Schröder auch Spitzenkandidaten der Parteien. Wie die Bei einer Direktwahl des Bundeskanz- bei der Bewertung einzelner Kandidaten- Themen werden auch die Kandidaten- lers hätten sich die Bürger eindeutig für eigenschaften besser ab als sein Heraus- orientierungen nur unter bestimmten Vor- Gerhard Schröder und gegen Edmund forderer. Dennoch ergibt sich hier ein dif- aussetzungen relevant: Zunächst muss Stoiber entschieden. Während des ge- ferenziertes Profil der beiden Bewerber der Wähler die Kandidaten kennen und samten Jahres konnte Schröder einen (Abb. 16). Bei sechs von acht Kandida- sie korrekt ihren Parteien zuordnen. starken Kanzlerbonus für sich verbuchen, tenmerkmalen hatte Schröder in der wohingegen Stoiber es weder in den al- Wahrnehmung der Wähler einen Vor- In den letzten Jahren fanden die Kandi- ten noch in den neuen Bundesländern sprung vor Stoiber. Vor allem bei den dateneffekte in der Literatur eine zuneh- gelang, auch nur in die Nähe der von „weichen“ Faktoren Glaubwürdigkeit, mende Aufmerksamkeit, und es wurde Schröder erzielten Umfragewerte zu kom- Sympathie und Siegertyp übertraf Schrö- die These formuliert, die „Personalisie- men. Mit dem Herannahen des Wahlta- der seinen Herausforderer bei weitem. In rung“ des Wahlentscheides habe sich ges weitete sich der Vorsprung von punkto Sympathie konnte Schröder sei- verstärkt. Dabei bezeichnet der Begriff Schröder vor Stoiber vor allem in Ost- nen Vorteil im Verlauf des Wahljahres so- Personalisierung zweierlei, erstens eine deutschland immer mehr aus. Von den gar noch ausbauen (nicht abgebildet). wachsende Bedeutung der Kandidateno- Wählern in den neuen Bundesländern rientierung für den Wahlentscheid und sprachen sich im Februar 2002 42 Pro- zweitens eine zunehmende Relevanz von zent für den Kandidaten der Unionspartei- Persönlichkeitsfaktoren der Kandidaten en aus, im September dagegen nur noch gegenüber ihren politischen Leistungen 20 Prozent. Im Wahlmonat lag zwischen (vgl. Gabriel/Vetter 1998). beiden Kanzlerkandidaten in West- Auch im Vorfeld der Bundestagswahl deutschland ein Abstand von 31 Prozent- 2002 war von einer zunehmenden Ame- punkten, in Ostdeutschland betrug er so- rikanisierung und Personalisierung der gar 45 Prozent und war somit im Ver- Politik die Rede, die vor allem auf Köpfe gleich mit vorangegangen Bundestags- und weniger auf Programme setze. Die wahlen ungewöhnlich groß (Abb. 15). Berichterstattung in den Medien über die Gleichzeitig nahm der Anteil der Unent- beiden TV-Duelle zwischen den beiden schiedenen mit dem Näherrücken des WechselWirkungen y Kanzlerkandidaten oder die Zweitstim- Wahltermins ab. Im Lager der SPD- Jahrbuch 2003 y 41
WechselWirkungen y wiesen Schröder mehrheitlich dieses At- schätzten die Wähler den amtierenden Jahrbuch 2003 y tribut zu. Dabei hatte Stoiber noch am Bundeskanzler nicht nur als sympathi- Anfang des Jahres, nachdem er sich ge- scher und erfolgreicher, sondern auch als genüber Angela Merkel als Kanzlerkandi- glaubwürdiger ein (40 zu 20%). Ein Während sechs von zehn Befragten Ger- dat von CDU/CSU durchgesetzt hatte, großer Teil der Wähler, nämlich 38 Pro- hard Schröder für einen Siegertyp hiel- gleichauf mit Schröder gelegen (je 29%) zent, sahen in dieser Hinsicht allerdings ten, glaubten dies nur 23 Prozent von Ed- (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V. keinen Unterschied zwischen den beiden mund Stoiber. Selbst die Unionswähler 2002: 37). Im Vergleich mit Stoiber Bewerbern. Abb. 15: Entwicklung der Kanzler-Direktwahl im Ost-West-Vergleich, Januar - September 2002 (Angaben: %). Abb. 16: Profile der Kanzlerkandidaten im September 2002 (Angaben: %). 42
Abb. 17: Kanzlerpräferenz und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %). Ein Vorsprung Schröders vor Stoiber der Gruppe der Schröder-Anhänger ledig- oder ob sie – wegen des Fehlens einer ergab sich aber nicht nur bei den „wei- lich auf 57 Prozent. Bei den Befragten, Parteiidentifikation – die alleinigen Ein- chen Faktoren“, sondern auch bei einigen die sich für keinen der beiden Spitzenkan- flussfaktoren darstellen“ (vgl. Gabriel/ Aspekten der Leistungsbewertung. Ein didaten entscheiden konnten oder woll- Thaidigsmann/Völkl 2002: 156). Drittel der Bürger vertrat die Ansicht, ten, war der Anteil potenzieller Nicht- In der folgenden Analyse beschränken Schröder könne die zukünftigen Proble- wähler besonders hoch, umgekehrt wir uns auf die Untersuchung der Absicht me besser lösen als Stoiber, allerdings schnitt Stoiber in der Gruppe der mögli- zur Wahl der Union und der Sozialdemo- zweifelte ein Drittel der Befragten an den chen Nichtwähler etwas besser ab als kraten. Hierfür sprechen zwei Gründe: Zukunftskonzepten beider Kandidaten. Schröder. Einerseits sind aufgrund der geringen Wesentlich größer war der Vorsprung Das Zusammenwirken von Partei- Fallzahlen und der daraus resultierenden Schröders gegenüber Stoiber bei der identifikation, Themen- und Kandida- ungünstigen Verteilung bei den relevan- Fähigkeit, die deutschen Interessen im tenorientierung ten Einflussfaktoren bei den kleineren Ausland zu vertreten und bei der Bewer- Parteien keine verlässlichen Aussagen tung der Führungskompetenz. Lediglich Da die Parteiidentifikation, Themen- und möglich. Andererseits konzentriert sich bei der Einschätzung der Problemlö- Kandidatenorientierung nicht unabhängig die Aufmerksamkeit bei Bundestagswah- sungsfähigkeit in der Arbeitsmarkt- und voneinander Einfluss auf die Wahlent- len ohnehin auf die Kanzlerkandidaten der Wirtschaftspolitik hatte Schröder ge- scheidung ausüben, ist es mit gewissen der beiden Volksparteien, so dass in den genüber Stoiber das Nachsehen. Dabei Schwierigkeiten verbunden, die Auswir- Augen der Wähler häufig der Eindruck handelte es sich um zwei Themenfelder, kungen der einzelnen Faktoren genau zu entsteht, Bundestagswahlen seien in ih- die die Spitzenplätze auf der politischen bestimmen (vgl. Gabriel 2001). Personen rer politischen Wirkung de facto Kanzler- Agenda einnahmen. mit einer starken Parteibindung beurtei- wahlen. Zudem gelang es den kleinen Erwartungsgemäß fördert eine positive len im Normalfall die Lösungskompetenz Parteien in der Wahrnehmung der Bürger Bewertung der Kandidaten die Wahl der und den Kandidaten ihrer Partei beson- nicht, ein klares Kompetenzprofil zu ent- entsprechenden Partei (Abb. 17). Jedoch ders positiv. Bei einer Inkongruenz von wickeln. Die einzige Ausnahme bildete verfügte Schröder über das eigene politi- Parteiidentifikation, Issue- und Kandidate- die hohe Kompetenz der Grünen auf dem sche Lager hinaus über eine weitaus norientierung steigt die Wahrscheinlich- Gebiet der Umweltpolitik. größere Anziehungskraft als sein Mitbe- keit der Nichtwahl oder Wechselwahl werber. Während drei Viertel der Wähler, (vgl. Dalton/Wattenberg 1993). Die Rele- die dem Unions-Kanzlerkandidaten den vanz der kurzfristig wirksamen Determi- Vorzug gegenüber dem Bundeskanzler nanten hängt folglich davon ab, „ob sie gaben, die Absicht zur Wahl der durch eine vorhandene Parteineigung ge- WechselWirkungen y CDU/CSU bekundeten, kam die SPD in färbt sind, ob sie dieser entgegenstehen Jahrbuch 2003 y 43
WechselWirkungen y petenz zur Lösung politischer Probleme SPD zu wählen. Die Wahlwahrscheinlich- Jahrbuch 2003 y zusprechen und zudem nicht den Spit- keit beträgt bei den Befragten, die sich zenkandidaten der Partei präferieren. In der sozialdemokratischen Partei verbun- diesen Gruppen erreichen CDU/CSU und den fühlen, jedoch eine andere Partei als SPD lediglich ein Prozent der möglichen kompetenter einstufen und gleichzeitig Stimmen. Die Effekte der drei Komponen- Stoiber als Bundeskanzler präferieren, le- ten des sozialpsychologischen Modells diglich zwölf Prozent. Bei einer Präferenz lassen sich zwischen diesen beiden Polen für Gerhard Schröder als Bundeskanzler verorten und aus den in Tabelle 1 enthal- erhöht sich Wahlwahrscheinlichkeit um tenen Werten berechnen. Beispielsweise deutliche 51 Prozentpunkte auf 63 Pro- beabsichtigen nur 36 Prozent der Befrag- zent. Kommt noch eine Problemlösungs- Die in Tabelle 1 enthaltenen Daten ge- ten, die der CDU/CSU zuneigen, aber ei- kompetenz für die SPD hinzu, steigt die ben einen Überblick über den gleichzeiti- ner anderen Partei die Lösung der wich- Wahlwahrscheinlichkeit sogar auf 92 gen Effekt der Parteiidentifikation, der tigsten politischen Probleme zutrauen Prozent. Themen- und der Kandidatenorientierun- und Schröder als Bundeskanzler den Vor- gen auf die Wahrscheinlichkeit, die Union zug geben, dieser Partei ihre Stimme zu oder die SPD zu wählen. Wenn eine Par- geben. Eine Präferenz für Edmund Stoi- Zusammenfassung tei auf allen drei Dimensionen positiv ab- ber als Bundeskanzler erhöht die Wahr- schneidet, dann tendiert die Wahlwahr- scheinlichkeit zur Wahl der Union um 39 Die Stimmabgabe bei Bundestagswahlen scheinlichkeit gegen 1, im Falle einer ne- Punkte auf 75 Prozent. Bei den Wählern, wird durch ein Zusammenspiel verschie- gativen Bewertung dagegen gegen 0. die der Union zusätzlich zutrauen, die dener Komponenten beeinflusst. Das Mi- Welche Rolle jede einzelne Größe im Ge- wichtigsten politischen Probleme zu lö- chigan-Modell weist der Parteibindung, samtmodell spielt und wie sich die Wahl- sen, steigt die Wahlwahrscheinlichkeit den Themen- und Kandidatenorientierun- wahrscheinlichkeit im Falle inkongruenter abermals um 19 Prozentpunkte auf 94 gen die entscheidende Rolle als Bestim- Orientierungen darstellt, lässt sich nur Prozent. Ein etwas anderes Bild zeigt sich mungsfaktoren der Wahlentscheidung empirisch bestimmen. bei den Personen, die beabsichtigen, die zu. In der Logik dieses Modells sind Bun- Insgesamt lässt sich die Wahlabsicht für die CDU/CSU mit Hilfe der Einfluss- faktoren des Michigan-Modells besser er- klären als die Stimmabgabe für die SPD. Das Modell zur Bestimmung der Unions- Tabelle 1: Sozialpsychologische Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 2002 wahl bindet 74 Prozent Varianz, das der (Varianzanalysen; Angaben: %) SPD zehn Prozentpunkte weniger (Tabelle 1). Dabei treten – von kleineren Abweichun- gen abgesehen – annähernd gleichförmige Muster des Wahlverhaltens von CDU/ CSU- und SPD-Anhängern auf. Den größten Einfluss auf die Wahlabsicht übt die Partei- identifikation aus, gefolgt von der Pro- blemlösungskompetenz und der Kandida- tenbewertung. Dabei ist die größere Er- klärungskraft der CDU/CSU-Wahlabsicht auf den stärkeren Effekt der Parteibin- dung bei den Unions-Anhängern zurück- zuführen (tabellarisch nicht ausgewiesen). Wie erwartet, schneiden die CDU/CSU und die SPD besonders gut ab, wenn die Parteiidentifikation, die Themen- und Kan- didatenorientierung in die gleiche positi- ve Richtung wirken. Die Wahlwahrschein- lichkeit der Union beträgt dann 94 Pro- zent, die der SPD 92 Prozent. Das heißt, dass neun von zehn Wählern, die sich der Union beziehungsweise der SPD als poli- tischer Partei verbunden fühlen, ihre Pro- blemlösungskompetenz positiv bewerten und ihrem Kanzlerkandidaten den Vorzug geben, für die Partei votieren. Am entge- gengesetzten Pol finden wir die Perso- nen, die sich weder mit der Union oder der SPD identifizieren noch ihr die Kom- 44
destagswahlen bestenfalls auch, aber kei- tierungen war das Wahlergebnis kein Er- Anhang neswegs ausschließlich, Kanzlerwahlen, folg der Regierung, sondern eher das Pro- und diese Einschätzung bestätigte sich dukt der Schwäche der Opposition, Daten der Forschungsgruppe Wahlen: Bewertung der aktuellen Wirtschaftslage: Wie be- anlässlich der Bundestagswahl 2002 ein- einschließlich der PDS. werten Sie die gegenwärtige allgemeine Wirtschafts- mal mehr. Auch wenn der Einfluss des Kandida- lage? Gut, teils/teils, schlecht. Vermuteter Wahlsieger: Die Bundestagswahl ge- tenfaktors in der öffentlichen Diskussion Bis zum August 2002 hatten alle Um- winnt die Regierung (SPD) oder die Opposition überschätzt wird: Mit einem weniger po- (CDU/CSU)? fragen der Union gute Chancen für einen pulären Kanzlerkandidaten wäre den Re- Koalitionspräferenz: Welche Koalition wäre Ihnen am Wahlerfolg attestiert. Sie verfügte bei den liebsten, wenn keine der Parteien bei der nächsten gierungsparteien der Erfolg versagt ge- wichtigen Themen über einen Kompe- Bundestagswahl die absolute Mehrheit erhält? SPD + blieben. Zu keinem Zeitpunkt war der Grüne, CDU/CSU + FDP, CDU/CSU + SPD, SPD + FDP. tenzvorsprung, die Wähler bewerteten Spitzenkandidat der Opposition, Minister- Wichtigste Probleme: vorgabenfrei gestellt, mit maxi- die Regierungsarbeit ebenso schlecht wie mal zwei Nennungen präsident Stoiber, auch nur halbwegs so die wirtschaftliche Lage, die Mehrheit der Kandidateneigenschaften: Schröder und Stoiber: Wer angesehen wie der amtierende Kanzler. kann am besten ... Arbeitsplätze schaffen, wirtschaftli- Bundesbürger rechnete noch im Sommer che Probleme lösen, zukünftige Probleme lösen, deut- Insbesondere in Ostdeutschland stieß er mit einem Wahlerfolg der Opposition. Als sche Interessen durchsetzen, Regierung führen? Wer auf große Vorbehalte, und mit dem ist ... glaubwürdiger, sympathischer, Siegertyp? mögliche Schwachstelle der Union aller- Näherrücken des Wahltermins baute Schröder, Stoiber, kein Unterschied. dings erwies sich der Kanzlerkandidat, Bundeskanzler Schröder seinen Vor- der in der Popularitätsbewertung immer Daten von Infratest dimap: sprung vor seinem Herausforderer immer Zufriedenheit mit der Bundesregierung: Wie zufrieden mehr oder weniger deutlich hinter dem deutlicher aus. Ansätze für ein personali- sind Sie mit den Leistungen der Bundesregierung? Bundeskanzler lag. Wie war es trotz die- Sind Sie damit sehr, ziemlich, weniger oder gar nicht siertes Wahlverhalten zeigen sich inso- ser ungünstigen Ausgangslage zu er- zufrieden. fern, als insbesondere die persönlichen Bewertung der Opposition: Könnte eine CDU/CSU- klären, dass die Regierung am Ende doch Eigenschaften, weniger die Performanz, geführte Bundesregierung die anstehenden Aufga- noch einen knappen Wahlerfolg verbuch- ben und Probleme besser lösen, oder wäre sie dazu stark zu Gunsten Schröders zu Buche te? nicht in der Lage? schlugen. Wahlabsicht: Welche Partei würden Sie wählen, Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wä- Last, but not least: Die Bundestags- re? SPD, CDU/CSU, Grüne, FDP, PDS, Sonstige. sich in der Wählerschaft im September wahl wurde in den neuen Ländern ent- Wichtigste Probleme: Welches sind Ihrer Meinung ein Stimmungsumschwung vollzog, den nach die wichtigsten politischen Probleme in schieden. Das Ausscheiden der PDS aus Umfrageforscher als „Last-Minute-Swing“ Deutschland, die vordringlich gelöst werden müssen? dem Bundestag sicherte der Koalition die (Mehrfachnennung) charakterisieren. Auch wenn die Wähler Mehrheit der Bundestagsmandate, die sie Kanzler-Direktwahl: Wenn man den Bundeskanzler di- die Union im Vergleich mit der SPD als rekt wählen könnte, für wen würden Sie sich ent- im Falle eines PDS-Erfolges nicht erreicht die kompetentere Alternative einschätz- scheiden? Schröder, Stoiber. hätte. Zudem konnte die SPD nur in den ten, war doch ihr Vorsprung nicht groß neuen Ländern die für den Wahlerfolg DFG-Querschnittsdatensatz von 2002: und es gab einen auffallend großen An- Wahlabsicht: Am 22. September findet die nächste benötigten Stimmengewinne erzielen. In teil unter den Wählern, die weder der Re- Bundestagswahl statt. Bei der Bundestagswahl kön- den alten Bundesländern verfügten die nen Sie ja zwei Stimmen vergeben. Die Erststimme gierung noch der Opposition die Fähig- für einen Kandidaten aus Ihrem Wahlkreis, die Zweit- Union und die FDP über einen knappen keit zutrauten, die wichtigsten politischen stimme für eine Partei. Diese Liste hier ist ein Muster- Vorsprung. Für den Wahlerfolg reichte Stimmzettel, ähnlich wie Sie ihn bei der Bundestags- Probleme zu lösen. Hinzu kam, dass die dies aber nicht aus, weil die FDP ihre (oh- wahl erhalten. Wenn Sie wählen würden, wie würden Regierung in der Flutkatastrophe in Ost- Sie dann auf Ihrem Stimmzettel ankreuzen. Bitte nen- nehin unrealistischen) Wahlziele weit ver- deutschland Handlungsfähigkeit demon- nen Sie mir die Kennziffer für Ihre Zweitstimme. fehlte und weil die Union im Vergleich CDU/CSU (1), SPD (2), Bündnis 90/Die Grünen (3), strierte und durch ihre klare Absage an mit 1998 zwar deutlich besser abschnitt, FDP (4), PDS (5), Republikaner (6), ÖDP (6), Graue ein militärisches Engagement im Irak zu- (6), Schill-Partei (6), NPD (6), andere Partei (6), nicht jedoch weit unter ihren früheren Wahler- mindest kurzfristig ein Thema besetzte, gewählt (7), nicht wahlberechtigt (7), weiß nicht (7), gebnissen lag. Trotz der spannenden Antwort verweigert (7). das die wirtschaftliche Malaise in den Ausgangslage war schließlich kein An- Wahlabsicht-SPD: SPD (1), Keine (0), Andere Partei (-1) Hintergrund treten ließ und zu dem die Wahlabsicht-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Keine (0), An- stieg der Wahlbeteiligung zu verzeich- Opposition auch keine überzeugende Al- dere Partei (-1). nen. Im Zusammenspiel mit vielen ande- ternative zu bieten hatte. Selbst wenn der ren Daten weist dies auf ein Charakteristi- Wechsel der politischen Agenda nicht kum der Bundestagswahl 2002 hin: Kei- unmittelbar der SPD zu Gute kam, stabili- ne der Parteien präsentierte sich den sierte er die Regierung. Das dezidierte Wählern als eine überzeugende Alternative, Eintreten gegen Militäraktionen stärkte das knappe Wahlergebnis reflektierte viel- die Grünen und schwächte die PDS, de- mehr die Einschätzung, dass der Aus- ren Ausscheiden aus dem Bundestag ei- gang der Wahl vielen Wählern gleichgül- ne notwendige Bedingung der Fortset- tig gewesen sein dürfte. zung der rot-grünen Koalition war. Sach- fragen spielten in zweifacher Hinsicht ei- ne Rolle für den Wahlausgang: Die Union vermochte es nicht, ihren Kompetenzvor- sprung in Wählerstimmen umzuwandeln, und das Regierungslager profitierte von sehr kurzfristig wirksamen Faktoren. Un- ter dem Gesichtspunkt der Themenorien- WechselWirkungen y Jahrbuch 2003 y 45
WechselWirkungen y Downs, Anthony 1957: An Economic Theory of De- Jahrbuch 2003 y mocracy. New York: Harper and Row Falter, Jürgen W. 1977: Einmal mehr: Läßt sich das Konzept der Parteiidentifikation auf deutsche Verhält- nisse übertragen? In: Kaase, Max (Hg.): Wahlsoziolo- gie heute. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1976. Opladen: Westdeutscher Verlag, 476-500 Forschungsgruppe Wahlen e.V. 2002: Bundestags- wahl. Eine Analyse der Wahl vom 22. September 2002. Mannheim: Forschungsgruppe Wahlen e.V. Gabriel, Oscar W. 2001: Parteiidentifikation, Kandida- ten und politische Sachfragen als Bestimmungsfakto- ren des Parteienwettbewerbs. In: Gabriel, Oscar Parteiidentifikation: Viele Leute neigen in der Bundes- W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hg.): Partei- republik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, ob- endemokratie in Deutschland. Opladen: Westdeut- wohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. scher Verlag, 233-254 Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, Gabriel, Oscar W./Thaidigsmann, Isabell/Völkl, Ker- welcher? Bitte nennen Sie nur den Buchstaben von stin 2002: Alles bleibt so wie es war! Erklärungsfak- der Liste. CDU (1), CSU (1), SPD (2), FDP (3), Bünd- toren für die Wählerentscheidung bei der baden-würt- nis 90/Die Grünen (4), PDS (5), Republikaner (6), tembergischen Landtagswahl 2001. In: Schmid, Jo- DVU (6), andere Partei (6), neige keiner Partei zu (7). sef/Griese, Honza (Hg.): Wahlkampf in Baden-Würt- PI-SPD: SPD (1), Keine (0), Andere Partei (-1) temberg. Opladen: Leske + Budrich, 153-172 PI-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Keine (0), Andere Partei (-1) Problemlösungskompetenz, Index aus erst- und Gabriel, Oscar W./Vetter, Angelika 1998: Bundes- zweitwichtigstem Problem: Das für Sie (zweit-)wich- tagswahlen als Kanzlerwahlen? Kandidatenorientie- tigste Problem ist ... Welche Partei ist Ihrer Meinung rungen und Wahlentscheidungen im parteienstaatli- nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen? chen Parlamentarismus. In: Kaase, Max/Klingemann, CDU (bzw. CSU) (1), SPD (2), FDP (3), Bündnis 90/ Hans-Dieter (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Die Grünen (4), PDS (5), Republikaner (6), Schill-Par- Anlass der Bundestagswahl 1994: Opladen: West- tei (6), andere Partei (6), alle gleich (7), keine (7). deutscher Verlag, 505-536 PLK-SPD: SPD (1), Alle/Keine (0), Andere Partei (-1) Graf, Jutta/Neu, Viola 2002: PolitikKompass. Analyse PLK-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Alle/Keine (0), Andere der Bundestagswahl vom 22. September 2002. Partei (-1) Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung Kanzlerpräferenz: Nun wüsste ich gerne folgendes von Ihnen: Gerhard Schröder und Edmund Stoiber Infratest dimap 2002: Deutschland Trend September sind ja die Kanzlerkandidaten der beiden großen Par- 2002. Berlin: Infratest dimap teien. Welchen von beiden hätten Sie nach der Bun- Roth, Dieter/Jung, Matthias 2002: Ablösung der Re- destagswahl lieber als Bundeskanzler? Gerhard gierung vertagt: Eine Analyse der Bundestagswahl Schröder (1), Edmund Stoiber (2), Keinen von beiden 2002. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49-50, 3- (3), weiß nicht (4), Antwort verweigert (4). 17 Kanzlerpräferenz: Gerhard Schröder (1), Keinen von beiden (0), Edmund Stoiber (-1). Anmerkungen 1 Überhangmandate entstehen bei der Bundestags- wahl in Ländern, in denen einer Landesliste weniger Mandate nach Zweitstimmen zustehen als sie (auf- grund ihrer Erststimmen) Direktmandate erhalten hat. Diese „Überhangmandate“ verbleiben bei der Partei (vgl. http://www.wahlrecht.de/ueberhang/index.html). 2 Die Angaben basieren auf der von der Forschungs- gruppe Wahlen durchgeführten Umfrage vor der Wahl im September 2002. 3 Bei Valenzissues stimmt die Wählerschaft in der Be- wertung des anzustrebenden Ziels überein. Dies trifft auf Themen wie stabile Preise oder Vollbeschäftigung zu (vgl. Gabriel 2001). 4 Bei Positionsissues hingegen steht die Unterstüt- zung oder Ablehnung bestimmter Ziele zur Debatte, zum Beispiel die Liberalisierung des Schwanger- schaftsabbruchs oder die Ausweitung der Kompeten- zen der EU (vgl. Gabriel 2001). Literatur Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E.1960: The American Voter. New York, London, Sidney: John Wiley and Sons Converse, Philip E. 1969: Of Time and Partisan Stabi- lity, In: Comparative Political Studies 2, 139 - 171 Dalton, Russel J./Wattenberg, Martin 1993: The Not So Simple Act of Voting. In: Finifter, Ada W. (Hg.): Po- litical Sciences: The State of the Discipline II. Was- hington D.C.: American Political Science Association, 194-218 46
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