Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?

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Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
Oscar W. Gabriel
     Kerstin Völkl

     Die Bundestagswahl 2002:
     Erfolg in letzter Minute?

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Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
Bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 erlebten die Parteien und Wähler
den knappsten Wahlausgang seit der deutschen Wiedervereinigung. Erst nach einem
wahren Hochrechnungs-Krimi stand um Mitternacht fest, dass Bundeskanzler Gerhard
                                                                                          von 1998 eine sichtbare Verbesserung
Schröder (SPD) und die Grünen die Wahl mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen
                                                                                          darstellte, hatte die CSU geleistet. Sie ver-
hatten. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl hatten sich beide Parteien dafür ausge-     besserte ihr Ergebnis in Bayern um 2,3
sprochen, im Falle eines Wahlsiegs das rot-grüne Regierungsbündnis fortzusetzen.          Prozentpunkte, während die CDU nur 1,1
                                                                                          Prozentpunkte zulegte.
                                                                                             Als einzige Partei erreichten die Grü-
                                                                                          nen alle ihre Wahlziele. Sie belegten, wie
                                            Das Wahlergebnis im                           schon vier Jahre zuvor, den dritten Platz
                                            Überblick                                     vor der FDP, erzielten mit einem Stim-
                                                                                          menanteil von 8,6 Prozent das beste
                                            Ausschlaggebend für die Bestätigung der       Bundestagswahlergebnis seit 1980, er-
                                            rot-grünen Koalition war vor allem das        rangen erstmals in ihrer Geschichte ein
                                            gute Abschneiden der Grünen. Sie konn-        Direktmandat und trugen durch ihren Er-
                                            ten im Vergleich zu 1998 1,9 Prozent-         folg maßgeblich zur Wiederwahl der rot-
                                            punkte hinzugewinnen und wurden mit           grünen Koalition bei. Die FDP erzielte mit
                                            8,6 Prozent erneut die drittstärkste Partei   1,1 Prozentpunkten leichte Gewinne und
                                            vor der FDP. Entgegen den ersten Hoch-        erreichte einen Stimmenanteil von 7,4
                                            rechnungen, die bis nach Mitternacht ei-      Prozent. Sie blieb aber weit hinter dem
                                            nen Gleichstand zwischen SPD und Uni-         im Projekt 18 anvisierten Ziel von 18
                                            on verkündeten, behauptete die SPD in         Prozent zurück. Der große Verlierer der
                                            Folge des Gewinns von vier Überhang-          Bundestagswahl war die PDS. Sie schei-
                                            mandaten1 ihre Position als stärkste Frak-    terte mit 4,0 Prozent der gültigen Stim-
                                            tion. Allerdings mussten die Sozialdemo-      men unerwartet deutlich an der Fünfpro-
                                            kraten mit 2,4 Prozentpunkten deutliche       zenthürde und verpasste den erneuten
                                            Stimmeneinbußen hinnehmen und erziel-         Einzug in den Bundestag. Allerdings er-
                                            ten mit 38,5 Prozent der abgegebenen,         reichte sie zwei Direktmandate in Berlin
                                            gültigen Stimmen lediglich rund 6.000         (Abb. 1).
                                            Stimmen mehr als die CDU/CSU.
                                                                                                           Oscar W. Gabriel / Kerstin Völkl      y
                                               Auf der Basis der stabilisierten Hoch-
                                                                                               Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute? y
                                            rechnungen hatte sich der Unions-Kanz-
                                            lerkandidat Edmund Stoiber (CSU) am
                                            Wahlabend bereits zum Wahlsieger er-
                                            klärt – vorschnell, wie sich herausstellte.
                                            Die CDU/CSU konnte zwar ihr Ergebnis
                                            von 1998 um 3,4 Prozentpunkte auf
                                            ebenfalls 38,5 Prozent der Stimmenan-
                                            teile verbessern, musste sich aber den-
                                            noch mit dem zweiten Platz hinter der
                                            SPD zufrieden geben. Den weitaus wich-
                                            tigsten Beitrag zu einem Ergebnis, das
                                            gegenüber dem historischen Tiefstand

                                                                                                                                              31
Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
WechselWirkungen   y
                                              Bundesländern jedoch 3,8 und lag damit                ten und neuen Bundesländern. Während
                           Jahrbuch 2003 y    deutlich vor der SPD. In ihrer Größenord-             die Grünen in Ostdeutschland lediglich
                                              nung entsprachen die Gewinne der                      geringe Zuwächse verbuchen konnten,
                                              CDU/CSU den SPD-Verlusten. Das gute                   legten sie in Westdeutschland um 2,1
                                              Abschneiden der Union in den alten Bun-               Prozentpunkte zu. Mit fast zehn Prozent
                                              desländern ist in erster Linie auf das über-          der Stimmenanteile erzielten sie dort ein
                                              ragende Ergebnis der CSU in Bayern                    Rekordergebnis. Noch deutlicher tritt der
                                              zurückzuführen. Im Osten konnte die                   Unterschied bei der FDP zu Tage, die im
                                              CDU nur geringe Gewinne verzeichnen                   Westen nur 0,6 Punkte, im Osten jedoch
                                              und musste in absoluten Zahlen sogar                  3,1 Prozentpunkte hinzugewann. Trotz
                                              Stimmeneinbußen hinnehmen. Das                        der geringen FDP-Zugewinne im Westen
                                              Wahldebakel der PDS war vor allem auf                 hätte es dank des guten Abschneidens
                                              ihren Stimmenverlust in den neuen Bun-                der Union für eine knappe Mehrheit von
                                              desländern zurückzuführen. 4,7 Prozent-               schwarz-gelb (48,7%) gegenüber rot-
                                              punkte an Stimmen gingen ihr dort im                  grün (47,9%) und damit für einen Regie-
                                              Vergleich zu 1998 verloren, wovon die                 rungswechsel gereicht. Folglich liegt der
                                              anderen Parteien – insbesondere die SPD               Schluss nahe, dass der Wahlsieg von Rot-
                                              – profitierten. Ähnlich wie bei den beiden            Grün durch das gute Ergebnis der SPD
                                              großen Parteien verhält es sich bei den               im Osten und das starke Abschneiden
                                              beiden kleinen Parteien, Grüne und FDP,               der Grünen im Westen zustande gekom-
   Vergleicht man das Ergebnis der Bun-       hinsichtlich ihres Abschneidens in den al-            men ist.
destagswahl 2002 mit den langfristigen
Durchschnittswerten der Stimmenanteile
der Parteien bei Bundestagswahlen, dann
zeigt sich erneut das außerordentlich
gute Ergebnis von Bündnis 90/Die Grü-
nen (Abb. 2). Die Sozialdemokraten
schnitten leicht überdurchschnittlich ab.
Nach 1972 und 1998 gingen sie zum
dritten Mal als stärkste Partei aus einer
Bundestagswahl hervor. Die Liberalen er-
zielten in langfristiger Perspektive ein
mäßiges Ergebnis und lagen geringfügig
unter ihrem Durchschnittswert. Trotz der
erzielten Stimmengewinne schnitt die
Union bei der Bundestagswahl 2002 im
Vergleich mit ihrem durchschnittlichen
Ergebnis schwach ab. Immerhin gelang
es ihr, den seit 1983 zu verzeichnenden
Abwärtstrend zu stoppen. Für die PDS
dagegen beendete die Wahl 2002 einen
                                              Abb. 1: Ergebnis der Bundestagswahl 2002 (Angaben: Zweitstimmenanteile in %; in Klammern Gewinne und
seit 1990 währenden politischen Auf-          Verluste).
stieg.
   Wie sämtliche Bundestagswahlen seit
1990 zeichnete sich auch der Ausgang
der Wahl des Jahres 2002 durch einen
großen Ost/West-Unterschied aus (Abb. 1).
Während die SPD im Westen 4,0 Pro-
zentpunkte verlor, gewann sie im Osten
4,6 Punkte hinzu. Zudem fielen fast alle
ostdeutschen Direktmandate an die Sozi-
aldemokraten. Bei einem allerdings nur
mäßigen absoluten Stimmenzuwachs
konnte die SPD in Ostdeutschland die
höchste Zuwachsrate aller Parteien für
sich verbuchen. Mit einem Vorsprung von
11,4 Prozentpunkten vor der Union gin-
gen die Sozialdemokraten in den neuen
Ländern als klarer Sieger aus der Bundes-
tagswahl hervor. Die Union legte im
Osten nur einen Punkt zu, in den alten        Abb. 2: Abweichung des Ergebnisses 2002 vom langfristigen Mittelwert.

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Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
Die Wählerwanderungsbilanz von In-
fratest dimap gibt genaueren Aufschluss
darüber, welche Bewegungen zwischen
den Parteien stattgefunden haben und
hebt zudem die Unterschiede zwischen
West- und Ostdeutschland deutlicher her-
vor. Die stärkste Bewegung mit über ei-
ner Millionen Wählerstimmen vollzog
sich zwischen den beiden großen Volks-
parteien (Abb. 3). Demzufolge sind die
größten Nettogewinne der Union bezie-
hungsweise die größten Nettoverluste
der Sozialdemokraten auf die Rückwan-
derung oder die Abwanderung ehemali-
ger SPD-Wähler zur CDU/CSU zurückzu-
führen. Diese Wanderungsbewegung be-
schränkte sich fast ausschließlich auf die
alten Bundesländer. Zusätzlich profitierte
die Union von der Gruppe der sonstigen
Parteien. Neben den Stimmenverlusten
an CDU/CSU hatten die Sozialdemokra-
ten auch starke Einbußen an die Grünen       Abb. 3: Wählerwanderungen bei der Bundestagswahl 2002.
und die Liberalen zu verzeichnen. Vor al-
lem im Westen haben die Grünen der
SPD mit rund einer halben Millionen
Wählerstimmen viele Regierungsanhän-
ger abgeworben. Zudem wanderte ein
beträchtlicher ehemaliger SPD-Wähleran-
teil in das Lager der Nichtwähler ab. Die
einzigen deutlich sichtbaren Nettogewin-
ne schöpfte die SPD aus der Gruppe der
Ex-PDS-Wähler, was vor allem in den
neuen Bundesländern eine große Rolle
spielte. Offenbar konnten sich die Sozial-
demokraten die Schwäche der PDS zu
Nutze machen und ihr rund 300.000
Wähler abnehmen. Deutliche Zugewinne         Abb. 4: Bestimmungsfaktoren der Wahlentscheidung.
verzeichnete auch das Lager der Nicht-
wähler. Sie bekamen in erster Linie von      mancherlei Spekulationen angestellt. Vor            stimmte Partei auf ein Zusammenwirken
den Wählern sonstiger Parteien Zulauf,       dem Hintergrund der vorliegenden Er-                von drei Variablen zurück, die langfristig
ebenso wie von ehemaligen SPD- und           kenntnisse der Wahlforschung könnten                wirksame (stabile) Parteiidentifikation so-
PDS-Wählern, aber auch von Grünen-           zwei Faktoren besonders bedeutsam ge-               wie die kurzfristig wirksamen und verän-
Wählern. Im Ost/West-Vergleich fallen        wesen sein: Die Bewertung der Kanzler-              derlichen Themen- und Kandidatenorien-
neben den bereits erwähnten Unterschie-      kandidaten der beiden großen Parteien               tierungen. Weitere Einflussfaktoren wie
den die Nettogewinne der Union in den        – insbesondere der Ausgang der Fernseh-             die Position von Individuen in der Gesell-
alten Bundesländern sowie ihre Nettover-     duelle zwischen Bundeskanzler Schröder              schaft, die Angebotsstruktur des politi-
luste in den neuen Bundesländern jeweils     und seinem Herausforderer                           schen Marktes, der institutionelle Kontext
aus dem Lager der Nichtwähler auf.           Ministerpräsident Stoiber – sowie die Ver-          oder konkrete politische Ereignisse wer-
                                             änderung der politischen Agenda in den              den nicht grundsätzlich ausgeschlossen,
                                             letzten vier Wochen vor der Wahl. Wir               sie werden im Modell aber nur mittelbar,
Die Bestimmungsfaktoren des                  wollen die Bedeutung dieser beiden Fak-             als Hintergrundfaktoren der drei zuvor ge-
Wählerverhaltens                             toren nachfolgend etwas genauer be-                 nannten Größen, berücksichtigt. Das Ann-
                                             leuchten und zu diesem Zweck ihren                  Arbor-Modell bildet die Grundlage der fol-
Bei einem Vergleich des Wahlergebnisses
                                             Stellenwert in wahlsoziologischen Er-               genden Interpretation der politischen
am 22. September 2002 mit den Um-
                                             klärungsmodellen bestimmen.                         Ausgangslage bei der Bundestagswahl
fragedaten der Monate Januar bis Juli
                                                                                                 2002 und trägt dazu bei, den überra-
2002 wird deutlich, dass unmittelbar im        Das wichtigste Konzept zur Erklärung
                                                                                                 schenden Wahlausgang zu interpretieren.
Vorfeld der Wahlen ein deutlicher Stim-      des individuellen Wählerverhaltens stellt
mungsumschwung stattgefunden haben           das von Campbell u.a. (1960) entwickelte
muss, der zu dem überraschenden Wahl-        sozialpsychologische Modell dar (auch:
erfolg von Rot-Grün geführt hat. Über die    Ann-Arbor-Modell, Abb. 4). Es führt die                                     WechselWirkungen   y

Ursachen dieses Vorganges wurden             Entscheidung der Wähler für eine be-                                            Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                         33
Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
WechselWirkungen     y
                                                      prekäre Grundstimmung nicht negativer         Vor allem im Lager der SPD- und Grünen-
                                  Jahrbuch 2003 y     auf die Wahlaussichten von SPD und Grü-       Anhänger erklärten kurz vor der Wahl
                                                      ne auswirkte. Hinzu kommt, dass die           knapp drei Viertel, zufrieden mit der Re-
                                                      Wählerschaft der CDU/CSU traditionell         gierung zu sein. Im Mai hatte nur jeder
                                                      die größere Problemlösungskompetenz           zweite Regierungsanhänger diese Auffas-
                                                      auf dem Gebiet der Wirtschaft zuweist.        sung vertreten. Sogar bei den Anhängern
                                                      Auf den ersten Blick waren die Vorausset-     der Liberalen ist eine kurzfristig zuneh-
                                                      zungen für die Union, die Regierung mit-      mende Zufriedenheit sichtbar. Lediglich
                                                      tels eines Wirtschaftswahlkampfs abzulö-      bei den Anhängern der Union und der
Die Entwicklung der Stimmungslage
                                                      sen, äußerst günstig. Allerdings rückten      PDS blieb die Stimmung eindeutig nega-
im Wahljahr
                                                      im Laufe des Wahlkampfes neue Streit-         tiv. Die Zufriedenheit mit der Bundesre-
Fast in jeder Hinsicht befanden sich die              fragen wie der Irakkrieg und die Bewälti-     gierung stieg sowohl in den alten als
SPD und die Grünen im Vorfeld der Wahl                gung der Flutkatastrophe in Ostdeutsch-       auch in den neuen Bundesländern von
in einer ausgesprochen ungünstigen Aus-               land in den Blickpunkt des öffentlichen In-   August bis September deutlich an (nicht
gangslage. Im September 2002 schätz-                  teresses (vgl. Roth/Jung 2003: 10). Zu-       abgebildet). Der zunächst vorhandene
ten die Bürger die aktuelle wirtschaftliche           dem stuften die Anhänger der Regie-           Vorteil der Union ging mit dem
Lage äußerst pessimistisch ein. Die Hälfte            rungsparteien die Wirtschaftslage in          Näherrücken des Wahltermins verloren,
aller Befragten beurteilte den Zustand der            Deutschland weniger negativ als die An-       denn offensichtlich vermochte es die
Wirtschaft als schlecht, weitere 46 Pro-              hänger von CDU/CSU und FDP ein (vgl.          CDU/CSU nicht, die Bürger davon zu
zent gaben „teils/teils“ an und lediglich             Forschungsgruppe Wahlen e.V. 2002:            überzeugen, dass eine von ihr geführte
eine Minderheit von vier Prozent vertrat              41).                                          Bundesregierung, die anstehenden Auf-
die Ansicht, die ökonomische Situation                                                              gaben und Probleme besser lösen könne
                                                          Anders als bei der wirtschaftlichen
im Land sei gut 2. Bereits zu Beginn des                                                            als die amtierende rot-grüne Regierung
                                                      Lage, die bis zum Wahltag negativ wahr-
Jahres 2001 hatte sich in der Sicht vieler                                                          (vgl. Graf/Neu 2002: 59f.).
                                                      genommen wurde, lässt sich bei der ge-
Bürger die wirtschaftliche Lage ver-                  nerellen Zufriedenheit mit der Arbeit der       Auf die Frage nach der gewünschten
schlechtert, eine Einschätzung, die sich in           Bundesregierung ein Stimmungsum-              Zusammensetzung der Bundesregierung
der Folgezeit immer mehr verstärkte. Da               schwung in allerletzter Minute feststellen.   sprachen sich im Wahlmonat September
aus der empirischen Forschung bekannt                 Von Beginn des Jahres bis August war          27 Prozent der Bevölkerung für die Bei-
ist, dass die Bevölkerung dazu neigt, die             die Unzufriedenheit mit der Regierung re-     behaltung der bestehenden Koalition aus,
amtierende Regierung für die allgemeine               lativ groß. Weniger als ein Drittel der Be-   26 Prozent votierten für eine bürgerliche
wirtschaftliche Lage verantwortlich zu                völkerung war mit der rot-grünen Regie-       Koalition. Beide Koalitionsoptionen fan-
machen, ist es überraschend, dass die                 rung zufrieden. Erst im September zeich-      den in der Wählerschaft einen gleich
Union die mit der beschriebenen Stim-                 nete sich ein deutlicher Umschwung im         großen Anklang, jedoch bildete sich diese
mungslage verbundene Chance nicht für                 Meinungsklima ab und der Anteil der Zu-       Konstellation ebenfalls erst unmittelbar
sich nutzen konnte und dass sich die                  friedenen stieg auf 41 Prozent an (Abb. 5).   vor der Wahl heraus. Im Frühjahr 2002

Abb. 5: Zufriedenheit mit der Bundesregierung in der BRD, Januar - September 2002.

34
Die Bundestagswahl 2002: Erfolg in letzter Minute?
Abb. 6: Koalitionspräferenz in der BRD, Januar - September 2002 (Angaben: %).

Abb. 7: Vermuteter Wahlsieger in der BRD, Januar - September 2002 (Angaben: %).

hatten sich knapp 20 Prozent der Bürger                ungefähr die gleichen Erfolgsaussichten
für die Fortsetzung der rot-grünen Koalition           attestiert. Zwischen Mai und August
ausgesprochen und noch im Juli 2002                    wechselte die Stimmungslage nahezu
befürwortete ein ebenso großer Anteil                  monatlich, und ab Mitte August befand
der Befragten eine große Koalition. Keine              sich die SPD im Aufwind, mit dem Ergeb-
Unterstützung fand in der Wählerschaft                 nis, dass im September jeder zweite
ein Bündnis aus SPD und FDP (Abb. 6).                  Wähler von einem Wahlsieg der Regie-
   Je näher der Wahltermin rückte, desto               rung überzeugt war (Abb. 7). Wie bereits
stärker setzte sich in der Wählerschaft die            bei der Zufriedenheit mit der Bundesre-
Überzeugung von einem Wahlsieg der                     gierung zu beobachten war, vollzog sich
Regierung durch. Bis Anfang April wur-                 dieser Stimmungsumschwung unmittel-        WechselWirkungen   y

den der Opposition und der Regierung                   bar vor der Wahl.                             Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                35
WechselWirkungen    y
                                                    den Wochen einen Vorsprung vor den                     Diese Einschätzung blieb nicht folgen-
                                 Jahrbuch 2003 y    Christdemokraten. Kurz vor der Wahl                 los für die Wahlabsicht. Wie Abbildung
                                                    glaubten mehr als die Hälfte der Bundes-            9a zeigt, hatte Rot-Grün bis Anfang Sep-
                                                    bürger, die SPD würde die nächste                   tember keine Mehrheit in Westdeutsch-
                                                    Regierung führen (Abb. 8). Allerdings               land. Dasselbe trifft für Gesamtdeutsch-
   Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der            stellte sich diese Konstellation in den al-         land zu (nicht abgebildet). Erst ein „Last
Frage, ob die nächste Bundesregierung               ten Bundesländern erst Anfang Septem-               Minute Swing“ kurz vor dem 22. Septem-
von der SPD oder der Union geführt sein             ber ein, in den neuen Bundesländern be-             ber brachte der amtierenden Regierung
solle. Bis Mitte August lieferten sich die          reits einen Monat früher. Kurz vor der              erneut die Mehrheit bei der Bundestags-
SPD und CDU/CSU bei dieser Frage ein                Wahl lag die SPD bei dieser Frage im                wahl. Im Januar 2002 hatte die Union
Kopf-an-Kopf-Rennen, jedoch sicherten               Osten um 33 und im Westen um 18 Pro-                Edmund Stoiber offiziell zum Kanzlerkan-
sich die Sozialdemokraten in den folgen-            zentpunkte vor der Union.                           didaten gekürt. Seit Februar lag die

Abb. 8: Gewünschte Bundesregierung in der BRD, Februar - September 2002.

Abb. 9a: Entwicklung der Wahlabsicht in Westdeutschland, Dezember 2001 - September 2002 (Angaben: %).

36
CDU/CSU in Westdeutschland stetig mit               gunst überrunden konnte, zeichnete sich            Die Einflussfaktoren des sozialpsy-
bis zu neun Prozentpunkten vor den Sozial-          der Aufwärtstrend der größeren Regie-              chologischen Modells
demokraten. Mit dem Näherrücken des                 rungspartei in Ostdeutschland bereits seit
Wahltages schmolz dieser Vorsprung al-              Mai ab (Abb. 9b). Mitte Juli gab jeder drit-       Die Bewertung der Parteien
lerdings dahin und unmittelbar vor der              te Befragte in den neuen Bundesländern
                                                                                                       In fast allen westlichen Demokratien
Wahl überholte die SPD die Union sozu-              an, bei der kommenden Bundestagswahl
                                                                                                       hängt die Wahlabsicht in erster Linie von
sagen auf der Zielgeraden in der Wähler-            die SPD wählen zu wollen. Bis Mitte Sep-
                                                                                                       der Parteiidentifikation ab. Als Parteiiden-
gunst. 39 Prozent der Bundesbürger hat-             tember stieg dieser Anteil auf 38 Prozent.
                                                                                                       tifikation bezeichnet man die langfristig
ten demnach vor, bei der nächsten Bun-              Damit waren die Sozialdemokraten seit
                                                                                                       stabile psychische Bindung eines Indivi-
destagswahl die SPD zu wählen. 38 Pro-              Juli die stärkste Partei im Osten. Die Uni-
                                                                                                       duums an eine Partei (vgl. Campbell et al.
zent gaben an, der CDU/CSU ihre Stim-               on verbesserte sich im Laufe des Augusts
                                                                                                       1960). Sie wird bereits frühzeitig, im Pro-
me geben zu wollen. Damit war der An-               nochmals geringfügig, stürzte allerdings
                                                                                                       zess der Primärsozialisation, erworben
teil potentieller SPD-Wähler seit Mai um            kurz vor der Wahl in der Wählergunst von
                                                                                                       und bleibt im Normalfall im Erwachse-
fünf Prozentpunkte gestiegen, der Anteil            33,5 auf 27 Prozent ab. Der Rückhalt der
                                                                                                       nenalter erhalten. Nach Converse (1969)
der CDU/CSU-Wähler um den gleichen                  PDS in der ostdeutschen Wählerschaft
                                                                                                       stabilisiert die wiederholte Stimmabgabe
Wert gesunken. Das knappe Wahlergeb-                ging von 26 Prozent im Januar 2002 auf
                                                                                                       für eine Partei die Parteiidentifikation,
nis deutete sich bereits in den Umfragen            17 Prozent Anfang September zurück.
                                                                                                       während besonders einschneidende Ver-
über die Wahlabsicht der Bürger an. In              Nach der letzten Umfrage im September
                                                                                                       änderungen der persönlichen Lebensum-
der letzten Umfrage vor der Wahl lag zwi-           beabsichtigten 4,7 Prozent der deutschen
                                                                                                       stände von Individuen oder der politi-
schen SPD und CDU/CSU lediglich eine                Bundesbürger, die PDS zu wählen (nicht
                                                                                                       schen oder gesellschaftlichen Rahmenbe-
Differenz von einem Prozentpunkt. Auch              abgebildet). Damit bestand im Vorfeld der
                                                                                                       dingungen einen Wandel der Parteimit-
die potentiellen Koalitionspartner Grüne            Wahl keine Klarheit darüber, ob die PDS
                                                                                                       gliedschaft herbeiführen können. Je stär-
und FDP lagen im betrachteten Zeitraum              wieder in den Bundestag einziehen wür-
                                                                                                       ker sich eine Person einer Partei verbun-
relativ nah beieinander. Während die Li-            de. Grüne und FDP spielten in den neuen
                                                                                                       den fühlt, desto wahrscheinlicher wird sie
beralen bis Mitte August geringfügig bes-           Ländern eine eher untergeordnete Rolle,
                                                                                                       dieser bei einer Wahl ihre Stimme geben.
ser abschnitten als die Grünen, konnten             wobei es den Liberalen bei der Bundes-
                                                                                                       Umgekehrt begünstigt eine fehlende Par-
die Grünen im Wahlmonat zur FDP auf-                tagswahl 2002 gelang, verstärkt bei den
                                                                                                       teineigung die Nichtwahl oder die Wech-
schließen. Das spätere Wahlergebnis, bei            Ostdeutschen zu punkten. Zwar konnten
                                                                                                       selwahl. Bei den Nichtidentifizierern ge-
dem die Grünen in den alten Bundeslän-              sie die im Mai gemessenen neun Prozent
                                                                                                       ben kurzfristige Themen- und Kandidaten-
dern knapp zwei Prozentpunkte vor den               nicht bis zum Ende halten, aber immerhin
                                                                                                       orientierungen den Ausschlag für die
Liberalen lagen, war im Hinblick auf die            wollten sechs Prozent der ostdeutschen
                                                                                                       Wahlentscheidung.
Daten aus den Vorwahlumfragen überra-               Bürger kurz vor der Wahl der FDP ihre
schend.                                             Stimme geben. Die Grünen verbesserten                 Auf Grund der unterschiedlich langen
                                                    sich im Verlauf des Jahres von drei auf            Wahlerfahrung der Bevölkerung Ost- und
   Im Gegensatz zu Westdeutschland, wo              fünf Prozent minimal in der Wählergunst            Westdeutschlands fällt der Anteil der Par-
die SPD erst in der Endphase des Wahl-              und blieben auch nach der Bundestags-              teiidentifizierer in den alten Bundeslän-
kampfs die Union knapp in der Wähler-               wahl in erster Linie eine Westpartei.              dern deutlich höher aus als in den neuen

                                                                                                                                WechselWirkungen   y

Abb. 9b: Entwicklung der Wahlabsicht in Ostdeutschland, Dezember 2001 - September 2002 (Angaben: %).                                Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                               37
WechselWirkungen     y

                                   Jahrbuch 2003 y

                                                        Abb. 11: Parteiidentifikation und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %).

Bundesländern (Abb. 10). Während im
Westen 29 Prozent der Befragten anga-
ben, sich keiner Partei verbunden zu
fühlen, waren es im Osten 44 Prozent.
Insbesondere die beiden Volksparteien                   liefert eine erste Erklärung für die im                CDU/CSU zu wählen. Bei den Sozialde-
verfügen in Ostdeutschland über eine we-                Osten wesentlich stärkere Bereitschaft                 mokraten und den Liberalen lagen die
sentlich kleinere Zahl „psychologischer                 zur Nicht- und Wechselwahl.                            Anteile mit drei Viertel nicht wesentlich
Mitglieder“ (Converse 1969) als im We-                      Die große Bedeutung der Parteiidentifi-            niedriger. Etwas schwächer ausgeprägt
sten. Dafür neigen immerhin neun Pro-                   kation für die Stimmabgabe bei Wahlen                  war die Neigung der Grünen- und PDS-
zent der ostdeutschen Befragten der PDS                 zeigt sich in Abbildung 11, die belegt,                Identifizierer, bei der Wahl für ihre Partei
zu. Die festen Anhänger der Grünen und                  dass die breite Mehrheit der Parteiidenti-             zu votieren (ca. 66%). Bei den Anhängern
der Liberalen sind in beiden Landesteilen               fizierer „ihrer“ Partei die Stimme gibt.               der beiden großen Volksparteien stimmte
zahlenmäßig nur schwach vertreten.                      Dies galt bei der Bundestagswahl 2002                  die Wahlabsicht demnach etwas stärker
Schon diese Verteilung der Parteianhän-                 insbesondere für die Anhänger der Uni-                 mit der Parteiidentifikation überein als bei
gerschaft in Ost- und Westdeutschland                   on, von denen 83 Prozent erklärten, die                ihren kleineren Koalitionspartnern.

Abb. 10: Parteiidentifikation in Gesamt-, West- und Ostdeutschland 2002.

38
Abb. 12: Die wichtigsten Probleme in Deutschland im September 2002.

Die wichtigsten Probleme und die Pro-                blem, dessen Lösung am dringlichsten          sächlich für diese ungewöhnlich große
blemlösungskompetenz der Parteien                    sei. Ende August 2002 stuften 78 Pro-         Bedeutsamkeit eines außenpolitischen
                                                     zent der Befragten die Arbeitsmarktpolitik    Themas war die Debatte über die drohen-
Neben der Parteibindung und der Kandi-               als das wichtigste politische Thema ein,      de Militärintervention der USA im Irak,
datenorientierung haben die Sachthemen               wobei die Einschätzungen der Anhänger         die Bundeskanzler Schröder im zweiten
entscheidenden Einfluss auf die Wahlent-             der verschiedenen Parteien in dieser Fra-     Fernsehduell mit seinem Herausforderer
scheidung. Damit diese sich auf die                  ge nicht divergierten (nicht abgebildet).     Stoiber stark in den Vordergrund spielte.
Wahlentscheidung auswirken können,                   Allerdings nahmen arbeitsmarktpolitische      Auf Platz vier der Prioritätenliste folgte
müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:            Fragen auf der politischen Agenda Ost-        der Themenkomplex Zuwanderung und
Die Wähler müssen das Thema wahrneh-                 deutschlands eine noch dominantere Po-        Ausländer, den jeder zehnte Befragte als
men, es als relevant einstufen und es mit            sition ein als im Westen (vgl. Forschungs-    ein wichtiges Problem einstufte. Weitere
einer der Parteipositionen in Verbindung             gruppe Wahlen e.V. 2002: 40). Dies ist        Themen waren die Schul- und Bildungs-
bringen (vgl. Campbell u.a. 1960; Downs              in Anbetracht der prekären Situation des      politik, die Ökologie und der Umwelt-
1957). Die Themenorientierungen um-                  Arbeitsmarktes in den neuen Bundeslän-        schutz und – im August 2002 – die Flut-
fassen demnach zwei Klassen von Ein-                 dern nicht überraschend. An der überra-       katastrophe in Ostdeutschland. Trotz ihrer
stellungen, die wahrgenommene Bedeut-                genden Bedeutung dieses Problems in           relativ geringen Bedeutung könnten die
samkeit politischer Sachfragen und die               den Medien und in der Wahrnehmung             Themen Flutkatastrophe und Irak-Politik
den Parteien zugewiesene Problemlö-                  der Öffentlichkeit konnte auch die kurzfri-   bei einzelnen Wählergruppen der rot-grü-
sungskompetenz (Valenzissues3) bezie-                stige Platzierung anderer Themen, zum         nen Koalition Pluspunkte gegenüber der
hungsweise die Übereinstimmung zwi-                  Beispiel der Flutkatastrophe in Ost-          Opposition verschafft haben, weil sie den
schen den Parteipositionen und den Prä-              deutschland oder der Beteiligung              Regierungsparteien eine Gelegenheit bo-
ferenzen der Wähler (Positionsissues4). In           Deutschlands an Militäraktionen im Irak,      ten, Handlungsfähigkeit und Entschei-
den folgenden Abschnitten beschränken                nichts ändern.                                dungskraft zu demonstrieren beziehungs-
wir uns darauf, den Zusammenhang zwi-                                                              weise die Fokussierung der öffentlichen
                                                        Abgeschlagen auf den beiden Plätzen
schen der Problemlösungskompetenz                                                                  Aufmerksamkeit auf die Themen Wirt-
                                                     zwei und drei folgten im Wahlmonat die
und der Wahlabsicht auf dem Gebiet der                                                             schaft und Arbeit zumindest zeitweise ab-
                                                     Wirtschaftspolitik sowie die Außen- und
Valenzissues zu untersuchen. Dies ergibt                                                           schwächte (vgl. Graf/Neu 2002: 64).
                                                     Sicherheitspolitik. Jeweils 15 Prozent der
sich aus der Themenkonstellation im Ver-
                                                     Befragten betrachteten dieses Politikfeld
lauf des Wahljahres.
                                                     als die wichtigste politische Aufgabe.
   Im gesamten Wahljahr war die Arbeits-             Während die Wirtschaftslage schon seit
marktpolitik das dominierende politische             dem Herbst 2001 auf der politischen
Thema in Deutschland (Abb. 12). Seit Ok-             Agenda stand, erlangte die Außenpolitik
tober 2001 betrachteten die Bürger die               erst im Wahlmonat eine prominente Posi-                               WechselWirkungen   y

Arbeitslosigkeit als das politische Pro-             tion in der Einschätzung der Wähler. Ur-                                  Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                          39
WechselWirkungen    y
                                                   samsten politischen Aufgabe, der Siche-      Lediglich sieben Prozent der Befragten
                                Jahrbuch 2003 y    rung und Schaffung neuer Arbeitsplätze,      hielten die PDS auf diesem Gebiet für die
                                                   lag die Union mit 38 Prozent vor der         kompetenteste Partei. Selbst im Osten
                                                   SPD, der lediglich 29 Prozent die Lösung     führte die SPD mit 33 Prozent klar vor
                                                   dieses Problems zutrauten. Vor dem Hin-      der Union mit 19 und der PDS mit 18
                                                   tergrund der schlechten Beurteilung der      Prozent (vgl. Forschungsgruppe Wahlen
                                                   aktuellen Wirtschaftslage und der negati-    e.V. 2002: 45). Das unerwartet gute Ab-
                                                   ven Einstufung der Arbeitsmarktsituation     schneiden der Sozialdemokraten auf dem
                                                   ist es besonders interessant, welcher Par-   Gebiet der Finanzpolitik dürfte unter an-
                                                   tei die größte Wirtschaftskompetenz zu-      derem auf die Verschiebung der Steuer-
                                                   gesprochen wird. 36 Prozent der Befrag-      reform zurückzuführen sein, „die von der
                                                   ten nannten die Union, 31 Prozent die        rot-grünen Bundesregierung noch vor der
                                                   SPD. Dabei hatte die CDU/CSU bis Juni        Wahl zur Finanzierung der durch das
                                                   2002 einen deutlichen Vorsprung vor          Hochwasser entstandenen Schäden auf
                                                   den Sozialdemokraten, die erst ab Mitte      den Weg gebracht wurde“ (Forschungs-
                                                   des Jahres langsam zur Union aufschlos-      gruppe Wahlen e.V. 2002: 43).
   Die Wichtigkeit von Sachthemen bil-
                                                   sen (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.
det die Basis für die Struktur der Wahl-                                                           In Einschätzung der Zukunftsfähigkeit
                                                   2002: 42). Außerdem attestierten die
kampfagenda, jedoch kommt es für die                                                            ihrer Politik gelang es den Sozialdemokra-
                                                   Wähler der Union bei den Themen Bil-
politischen Parteien darauf an, sich gera-                                                      ten kurz vor der Wahl, an der Union vor-
                                                   dung und Innere Sicherheit die größere
de auf den wichtigen Themenfeldern als                                                          beizuziehen. Von Mitte Juli bis Anfang
                                                   Kompetenz.
die im Vergleich mit ihren Konkurrenten                                                         September konnte sie 13 Prozentpunkte
kompetentere politische Alternative zu                Auf den anderen Politikfeldern, etwa      hinzugewinnen (Juli II 2002: 25%; Sep-
präsentieren. In dieser Hinsicht sind die          bei der Finanzpolitik, der Familienpolitik   tember 2002: 38%), während die
politischen Parteien bereits seit einiger          und dem Aufbau Ost, schnitt die SPD in       CDU/CSU im gleichen Zeitraum von 35
Zeit mit Problemen konfrontiert, die sich          der Einschätzung der Wähler besser ab        auf 32 Prozent zurückfiel (vgl. Infratest di-
auch im Wahljahr 2002 ziemlich deutlich            als die Union. Die Umweltpolitik erwies      map September 2002: 5). In den alten
zeigten. Ein großer Teil der Bundesbürger          sich einmal mehr als Domäne der Grü-         Bundesländern hatte die CDU/CSU
artikulierte starke Zweifel an der Fähigkeit       nen. Überraschend kam das schlechte          (32%) einen leichten Vorsprung vor der
der Union und der Sozialdemokraten, die            Abschneiden der PDS auf dem Themen-          SPD (29%), in den neuen Bundesländern
wichtigsten politischen Probleme zu lö-            feld Angleichung der Lebensverhältnisse      verhielt es sich dagegen umgekehrt
sen (Abb. 13). Bei der weitaus bedeut-             in Ostdeutschland an das Westniveau.         (SPD: 28%, CDU: 20%; nicht abgebildet).

Abb. 13: Problemlösungskompetenz in der BRD im September 2002 (Angaben: %).

40
Welchen Einfluss hatte die Problemlö-
sungskompetenz auf die Wahlabsicht?
Wie Abbildung 14 zeigt, spielte die Kom-
petenzzuweisung vor allem bei den
Volksparteien eine große Rolle für den
Wahlentscheid, bei der Union war dies
noch stärker ausgeprägt als bei der SPD.
Von denjenigen Befragten, die der
CDU/CSU die besseren Konzepte zur Lö-
sung der Zukunftsprobleme attestierten,
beabsichtigten 82 Prozent, bei der Bundes-
tagswahl für die Union zu stimmen. Bei
den Sozialdemokraten zeigte sich dieses
Muster bei zwei Dritteln der Wähler. Die
drei kleineren Parteien profitierten nur in
begrenztem Maße von ihrer Problemlö-
                                              Abb. 14: Problemlösungskompetenz und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %).
sungskompetenz, insbesondere die FDP
und die PDS. Bei den Befragten, die kei-
ner Partei die Lösung der Probleme in
Deutschland zutraute, hatte die SPD mit
fünf Prozentpunkten einen leichten Vor-
teil gegenüber der Union.
                                              menkampagne der Grünen, die mit dem                 Wähler konnte sich Gerhard Schröder bei
Die Wahrnehmung und Bewertung                 Slogan „Zweitstimme ist Joschkastimme“              der Frage nach dem bevorzugten Bun-
der Kanzlerkandidaten                         warben, verstärkten diesen Eindruck.                deskanzler auf eine nahezu einstimmige
                                              Wenn die Bürger ihre Wahlentscheidung               Zustimmung stützen (98%), während die
Obwohl die Union bei zwei der wichtigs-       alleine oder auch nur vorrangig von der             Unterstützung Edmund Stoibers durch
ten Themen, die die Agenda vor der            Bewertung der Kandidaten abhängig ge-               die Unionswähler deutlich schwächer
Wahl bestimmten, über einen Kompe-            macht hätten, dann wäre der Wahlerfolg              ausfiel (82%) und elf Prozent der Unions-
tenzvorsprung vor der SPD verfügte,           der SPD mit Sicherheit weniger knapp                Anhänger Gerhard Schröder weiterhin im
reichte es nicht zu einem Wahlsieg. Of-       ausgefallen. Diese Annahme kann sich                Kanzleramt sehen wollten (vgl. For-
fenbar spielten andere Faktoren eine min-     auf eine sehr breite empirische Evidenz             schungsgruppe Wahlen e.V. 2002: 34f.).
destens so große Rolle für den Wahlent-       stützen.
scheid, insbesondere die Bewertung der                                                               Alles in allem schnitt Schröder auch
Spitzenkandidaten der Parteien. Wie die          Bei einer Direktwahl des Bundeskanz-             bei der Bewertung einzelner Kandidaten-
Themen werden auch die Kandidaten-            lers hätten sich die Bürger eindeutig für           eigenschaften besser ab als sein Heraus-
orientierungen nur unter bestimmten Vor-      Gerhard Schröder und gegen Edmund                   forderer. Dennoch ergibt sich hier ein dif-
aussetzungen relevant: Zunächst muss          Stoiber entschieden. Während des ge-                ferenziertes Profil der beiden Bewerber
der Wähler die Kandidaten kennen und          samten Jahres konnte Schröder einen                 (Abb. 16). Bei sechs von acht Kandida-
sie korrekt ihren Parteien zuordnen.          starken Kanzlerbonus für sich verbuchen,            tenmerkmalen hatte Schröder in der
                                              wohingegen Stoiber es weder in den al-              Wahrnehmung der Wähler einen Vor-
   In den letzten Jahren fanden die Kandi-    ten noch in den neuen Bundesländern                 sprung vor Stoiber. Vor allem bei den
dateneffekte in der Literatur eine zuneh-     gelang, auch nur in die Nähe der von                „weichen“ Faktoren Glaubwürdigkeit,
mende Aufmerksamkeit, und es wurde            Schröder erzielten Umfragewerte zu kom-             Sympathie und Siegertyp übertraf Schrö-
die These formuliert, die „Personalisie-      men. Mit dem Herannahen des Wahlta-                 der seinen Herausforderer bei weitem. In
rung“ des Wahlentscheides habe sich           ges weitete sich der Vorsprung von                  punkto Sympathie konnte Schröder sei-
verstärkt. Dabei bezeichnet der Begriff       Schröder vor Stoiber vor allem in Ost-              nen Vorteil im Verlauf des Wahljahres so-
Personalisierung zweierlei, erstens eine      deutschland immer mehr aus. Von den                 gar noch ausbauen (nicht abgebildet).
wachsende Bedeutung der Kandidateno-          Wählern in den neuen Bundesländern
rientierung für den Wahlentscheid und         sprachen sich im Februar 2002 42 Pro-
zweitens eine zunehmende Relevanz von         zent für den Kandidaten der Unionspartei-
Persönlichkeitsfaktoren der Kandidaten        en aus, im September dagegen nur noch
gegenüber ihren politischen Leistungen        20 Prozent. Im Wahlmonat lag zwischen
(vgl. Gabriel/Vetter 1998).                   beiden Kanzlerkandidaten in West-
   Auch im Vorfeld der Bundestagswahl         deutschland ein Abstand von 31 Prozent-
2002 war von einer zunehmenden Ame-           punkten, in Ostdeutschland betrug er so-
rikanisierung und Personalisierung der        gar 45 Prozent und war somit im Ver-
Politik die Rede, die vor allem auf Köpfe     gleich mit vorangegangen Bundestags-
und weniger auf Programme setze. Die          wahlen ungewöhnlich groß (Abb. 15).
Berichterstattung in den Medien über die      Gleichzeitig nahm der Anteil der Unent-
beiden TV-Duelle zwischen den beiden          schiedenen mit dem Näherrücken des                                                WechselWirkungen   y

Kanzlerkandidaten oder die Zweitstim-         Wahltermins ab. Im Lager der SPD-                                                    Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                              41
WechselWirkungen     y
                                                      wiesen Schröder mehrheitlich dieses At-              schätzten die Wähler den amtierenden
                                  Jahrbuch 2003 y     tribut zu. Dabei hatte Stoiber noch am               Bundeskanzler nicht nur als sympathi-
                                                      Anfang des Jahres, nachdem er sich ge-               scher und erfolgreicher, sondern auch als
                                                      genüber Angela Merkel als Kanzlerkandi-              glaubwürdiger ein (40 zu 20%). Ein
Während sechs von zehn Befragten Ger-                 dat von CDU/CSU durchgesetzt hatte,                  großer Teil der Wähler, nämlich 38 Pro-
hard Schröder für einen Siegertyp hiel-               gleichauf mit Schröder gelegen (je 29%)              zent, sahen in dieser Hinsicht allerdings
ten, glaubten dies nur 23 Prozent von Ed-             (vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.                   keinen Unterschied zwischen den beiden
mund Stoiber. Selbst die Unionswähler                 2002: 37). Im Vergleich mit Stoiber                  Bewerbern.

Abb. 15: Entwicklung der Kanzler-Direktwahl im Ost-West-Vergleich, Januar - September 2002 (Angaben: %).

Abb. 16: Profile der Kanzlerkandidaten im September 2002 (Angaben: %).

42
Abb. 17: Kanzlerpräferenz und Wahlabsicht in der BRD, 2002 (Angaben: %).

   Ein Vorsprung Schröders vor Stoiber                der Gruppe der Schröder-Anhänger ledig-       oder ob sie – wegen des Fehlens einer
ergab sich aber nicht nur bei den „wei-               lich auf 57 Prozent. Bei den Befragten,       Parteiidentifikation – die alleinigen Ein-
chen Faktoren“, sondern auch bei einigen              die sich für keinen der beiden Spitzenkan-    flussfaktoren darstellen“ (vgl. Gabriel/
Aspekten der Leistungsbewertung. Ein                  didaten entscheiden konnten oder woll-        Thaidigsmann/Völkl 2002: 156).
Drittel der Bürger vertrat die Ansicht,               ten, war der Anteil potenzieller Nicht-
                                                                                                       In der folgenden Analyse beschränken
Schröder könne die zukünftigen Proble-                wähler besonders hoch, umgekehrt
                                                                                                    wir uns auf die Untersuchung der Absicht
me besser lösen als Stoiber, allerdings               schnitt Stoiber in der Gruppe der mögli-
                                                                                                    zur Wahl der Union und der Sozialdemo-
zweifelte ein Drittel der Befragten an den            chen Nichtwähler etwas besser ab als
                                                                                                    kraten. Hierfür sprechen zwei Gründe:
Zukunftskonzepten beider Kandidaten.                  Schröder.
                                                                                                    Einerseits sind aufgrund der geringen
Wesentlich größer war der Vorsprung
                                                      Das Zusammenwirken von Partei-                Fallzahlen und der daraus resultierenden
Schröders gegenüber Stoiber bei der
                                                      identifikation, Themen- und Kandida-          ungünstigen Verteilung bei den relevan-
Fähigkeit, die deutschen Interessen im
                                                      tenorientierung                               ten Einflussfaktoren bei den kleineren
Ausland zu vertreten und bei der Bewer-
                                                                                                    Parteien keine verlässlichen Aussagen
tung der Führungskompetenz. Lediglich
                                                      Da die Parteiidentifikation, Themen- und      möglich. Andererseits konzentriert sich
bei der Einschätzung der Problemlö-
                                                      Kandidatenorientierung nicht unabhängig       die Aufmerksamkeit bei Bundestagswah-
sungsfähigkeit in der Arbeitsmarkt- und
                                                      voneinander Einfluss auf die Wahlent-         len ohnehin auf die Kanzlerkandidaten
der Wirtschaftspolitik hatte Schröder ge-
                                                      scheidung ausüben, ist es mit gewissen        der beiden Volksparteien, so dass in den
genüber Stoiber das Nachsehen. Dabei
                                                      Schwierigkeiten verbunden, die Auswir-        Augen der Wähler häufig der Eindruck
handelte es sich um zwei Themenfelder,
                                                      kungen der einzelnen Faktoren genau zu        entsteht, Bundestagswahlen seien in ih-
die die Spitzenplätze auf der politischen
                                                      bestimmen (vgl. Gabriel 2001). Personen       rer politischen Wirkung de facto Kanzler-
Agenda einnahmen.
                                                      mit einer starken Parteibindung beurtei-      wahlen. Zudem gelang es den kleinen
   Erwartungsgemäß fördert eine positive              len im Normalfall die Lösungskompetenz        Parteien in der Wahrnehmung der Bürger
Bewertung der Kandidaten die Wahl der                 und den Kandidaten ihrer Partei beson-        nicht, ein klares Kompetenzprofil zu ent-
entsprechenden Partei (Abb. 17). Jedoch               ders positiv. Bei einer Inkongruenz von       wickeln. Die einzige Ausnahme bildete
verfügte Schröder über das eigene politi-             Parteiidentifikation, Issue- und Kandidate-   die hohe Kompetenz der Grünen auf dem
sche Lager hinaus über eine weitaus                   norientierung steigt die Wahrscheinlich-      Gebiet der Umweltpolitik.
größere Anziehungskraft als sein Mitbe-               keit der Nichtwahl oder Wechselwahl
werber. Während drei Viertel der Wähler,              (vgl. Dalton/Wattenberg 1993). Die Rele-
die dem Unions-Kanzlerkandidaten den                  vanz der kurzfristig wirksamen Determi-
Vorzug gegenüber dem Bundeskanzler                    nanten hängt folglich davon ab, „ob sie
gaben, die Absicht zur Wahl der                       durch eine vorhandene Parteineigung ge-                                 WechselWirkungen    y

CDU/CSU bekundeten, kam die SPD in                    färbt sind, ob sie dieser entgegenstehen                                    Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                                 43
WechselWirkungen   y
                                                petenz zur Lösung politischer Probleme               SPD zu wählen. Die Wahlwahrscheinlich-
                             Jahrbuch 2003 y    zusprechen und zudem nicht den Spit-                 keit beträgt bei den Befragten, die sich
                                                zenkandidaten der Partei präferieren. In             der sozialdemokratischen Partei verbun-
                                                diesen Gruppen erreichen CDU/CSU und                 den fühlen, jedoch eine andere Partei als
                                                SPD lediglich ein Prozent der möglichen              kompetenter einstufen und gleichzeitig
                                                Stimmen. Die Effekte der drei Komponen-              Stoiber als Bundeskanzler präferieren, le-
                                                ten des sozialpsychologischen Modells                diglich zwölf Prozent. Bei einer Präferenz
                                                lassen sich zwischen diesen beiden Polen             für Gerhard Schröder als Bundeskanzler
                                                verorten und aus den in Tabelle 1 enthal-            erhöht sich Wahlwahrscheinlichkeit um
                                                tenen Werten berechnen. Beispielsweise               deutliche 51 Prozentpunkte auf 63 Pro-
                                                beabsichtigen nur 36 Prozent der Befrag-             zent. Kommt noch eine Problemlösungs-
   Die in Tabelle 1 enthaltenen Daten ge-       ten, die der CDU/CSU zuneigen, aber ei-              kompetenz für die SPD hinzu, steigt die
ben einen Überblick über den gleichzeiti-       ner anderen Partei die Lösung der wich-              Wahlwahrscheinlichkeit sogar auf 92
gen Effekt der Parteiidentifikation, der        tigsten politischen Probleme zutrauen                Prozent.
Themen- und der Kandidatenorientierun-          und Schröder als Bundeskanzler den Vor-
gen auf die Wahrscheinlichkeit, die Union       zug geben, dieser Partei ihre Stimme zu
oder die SPD zu wählen. Wenn eine Par-          geben. Eine Präferenz für Edmund Stoi-               Zusammenfassung
tei auf allen drei Dimensionen positiv ab-      ber als Bundeskanzler erhöht die Wahr-
schneidet, dann tendiert die Wahlwahr-          scheinlichkeit zur Wahl der Union um 39              Die Stimmabgabe bei Bundestagswahlen
scheinlichkeit gegen 1, im Falle einer ne-      Punkte auf 75 Prozent. Bei den Wählern,              wird durch ein Zusammenspiel verschie-
gativen Bewertung dagegen gegen 0.              die der Union zusätzlich zutrauen, die               dener Komponenten beeinflusst. Das Mi-
Welche Rolle jede einzelne Größe im Ge-         wichtigsten politischen Probleme zu lö-              chigan-Modell weist der Parteibindung,
samtmodell spielt und wie sich die Wahl-        sen, steigt die Wahlwahrscheinlichkeit               den Themen- und Kandidatenorientierun-
wahrscheinlichkeit im Falle inkongruenter       abermals um 19 Prozentpunkte auf 94                  gen die entscheidende Rolle als Bestim-
Orientierungen darstellt, lässt sich nur        Prozent. Ein etwas anderes Bild zeigt sich           mungsfaktoren der Wahlentscheidung
empirisch bestimmen.                            bei den Personen, die beabsichtigen, die             zu. In der Logik dieses Modells sind Bun-
   Insgesamt lässt sich die Wahlabsicht
für die CDU/CSU mit Hilfe der Einfluss-
faktoren des Michigan-Modells besser er-
klären als die Stimmabgabe für die SPD.
Das Modell zur Bestimmung der Unions-           Tabelle 1: Sozialpsychologische Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 2002
wahl bindet 74 Prozent Varianz, das der         (Varianzanalysen; Angaben: %)
SPD zehn Prozentpunkte weniger (Tabelle 1).
Dabei treten – von kleineren Abweichun-
gen abgesehen – annähernd gleichförmige
Muster des Wahlverhaltens von CDU/ CSU-
und SPD-Anhängern auf. Den größten
Einfluss auf die Wahlabsicht übt die Partei-
identifikation aus, gefolgt von der Pro-
blemlösungskompetenz und der Kandida-
tenbewertung. Dabei ist die größere Er-
klärungskraft der CDU/CSU-Wahlabsicht
auf den stärkeren Effekt der Parteibin-
dung bei den Unions-Anhängern zurück-
zuführen (tabellarisch nicht ausgewiesen).
   Wie erwartet, schneiden die CDU/CSU
und die SPD besonders gut ab, wenn die
Parteiidentifikation, die Themen- und Kan-
didatenorientierung in die gleiche positi-
ve Richtung wirken. Die Wahlwahrschein-
lichkeit der Union beträgt dann 94 Pro-
zent, die der SPD 92 Prozent. Das heißt,
dass neun von zehn Wählern, die sich der
Union beziehungsweise der SPD als poli-
tischer Partei verbunden fühlen, ihre Pro-
blemlösungskompetenz positiv bewerten
und ihrem Kanzlerkandidaten den Vorzug
geben, für die Partei votieren. Am entge-
gengesetzten Pol finden wir die Perso-
nen, die sich weder mit der Union oder
der SPD identifizieren noch ihr die Kom-

44
destagswahlen bestenfalls auch, aber kei-     tierungen war das Wahlergebnis kein Er-       Anhang
neswegs ausschließlich, Kanzlerwahlen,        folg der Regierung, sondern eher das Pro-
und diese Einschätzung bestätigte sich        dukt der Schwäche der Opposition,             Daten der Forschungsgruppe Wahlen:
                                                                                            Bewertung der aktuellen Wirtschaftslage: Wie be-
anlässlich der Bundestagswahl 2002 ein-       einschließlich der PDS.                       werten Sie die gegenwärtige allgemeine Wirtschafts-
mal mehr.                                        Auch wenn der Einfluss des Kandida-        lage? Gut, teils/teils, schlecht.
                                                                                            Vermuteter Wahlsieger: Die Bundestagswahl ge-
                                              tenfaktors in der öffentlichen Diskussion
   Bis zum August 2002 hatten alle Um-                                                      winnt die Regierung (SPD) oder die Opposition
                                              überschätzt wird: Mit einem weniger po-       (CDU/CSU)?
fragen der Union gute Chancen für einen
                                              pulären Kanzlerkandidaten wäre den Re-        Koalitionspräferenz: Welche Koalition wäre Ihnen am
Wahlerfolg attestiert. Sie verfügte bei den                                                 liebsten, wenn keine der Parteien bei der nächsten
                                              gierungsparteien der Erfolg versagt ge-
wichtigen Themen über einen Kompe-                                                          Bundestagswahl die absolute Mehrheit erhält? SPD +
                                              blieben. Zu keinem Zeitpunkt war der          Grüne, CDU/CSU + FDP, CDU/CSU + SPD, SPD + FDP.
tenzvorsprung, die Wähler bewerteten
                                              Spitzenkandidat der Opposition, Minister-     Wichtigste Probleme: vorgabenfrei gestellt, mit maxi-
die Regierungsarbeit ebenso schlecht wie                                                    mal zwei Nennungen
                                              präsident Stoiber, auch nur halbwegs so
die wirtschaftliche Lage, die Mehrheit der                                                  Kandidateneigenschaften: Schröder und Stoiber: Wer
                                              angesehen wie der amtierende Kanzler.         kann am besten ... Arbeitsplätze schaffen, wirtschaftli-
Bundesbürger rechnete noch im Sommer                                                        che Probleme lösen, zukünftige Probleme lösen, deut-
                                              Insbesondere in Ostdeutschland stieß er
mit einem Wahlerfolg der Opposition. Als                                                    sche Interessen durchsetzen, Regierung führen? Wer
                                              auf große Vorbehalte, und mit dem             ist ... glaubwürdiger, sympathischer, Siegertyp?
mögliche Schwachstelle der Union aller-
                                              Näherrücken des Wahltermins baute             Schröder, Stoiber, kein Unterschied.
dings erwies sich der Kanzlerkandidat,
                                              Bundeskanzler Schröder seinen Vor-
der in der Popularitätsbewertung immer                                                      Daten von Infratest dimap:
                                              sprung vor seinem Herausforderer immer        Zufriedenheit mit der Bundesregierung: Wie zufrieden
mehr oder weniger deutlich hinter dem
                                              deutlicher aus. Ansätze für ein personali-    sind Sie mit den Leistungen der Bundesregierung?
Bundeskanzler lag. Wie war es trotz die-                                                    Sind Sie damit sehr, ziemlich, weniger oder gar nicht
                                              siertes Wahlverhalten zeigen sich inso-
ser ungünstigen Ausgangslage zu er-                                                         zufrieden.
                                              fern, als insbesondere die persönlichen       Bewertung der Opposition: Könnte eine CDU/CSU-
klären, dass die Regierung am Ende doch
                                              Eigenschaften, weniger die Performanz,        geführte Bundesregierung die anstehenden Aufga-
noch einen knappen Wahlerfolg verbuch-                                                      ben und Probleme besser lösen, oder wäre sie dazu
                                              stark zu Gunsten Schröders zu Buche
te?                                                                                         nicht in der Lage?
                                              schlugen.                                     Wahlabsicht: Welche Partei würden Sie wählen,
   Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass                                                   wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wä-
                                                 Last, but not least: Die Bundestags-       re? SPD, CDU/CSU, Grüne, FDP, PDS, Sonstige.
sich in der Wählerschaft im September
                                              wahl wurde in den neuen Ländern ent-          Wichtigste Probleme: Welches sind Ihrer Meinung
ein Stimmungsumschwung vollzog, den                                                         nach die wichtigsten politischen Probleme in
                                              schieden. Das Ausscheiden der PDS aus
Umfrageforscher als „Last-Minute-Swing“                                                     Deutschland, die vordringlich gelöst werden müssen?
                                              dem Bundestag sicherte der Koalition die      (Mehrfachnennung)
charakterisieren. Auch wenn die Wähler
                                              Mehrheit der Bundestagsmandate, die sie       Kanzler-Direktwahl: Wenn man den Bundeskanzler di-
die Union im Vergleich mit der SPD als                                                      rekt wählen könnte, für wen würden Sie sich ent-
                                              im Falle eines PDS-Erfolges nicht erreicht
die kompetentere Alternative einschätz-                                                     scheiden? Schröder, Stoiber.
                                              hätte. Zudem konnte die SPD nur in den
ten, war doch ihr Vorsprung nicht groß
                                              neuen Ländern die für den Wahlerfolg          DFG-Querschnittsdatensatz von 2002:
und es gab einen auffallend großen An-                                                      Wahlabsicht: Am 22. September findet die nächste
                                              benötigten Stimmengewinne erzielen. In
teil unter den Wählern, die weder der Re-                                                   Bundestagswahl statt. Bei der Bundestagswahl kön-
                                              den alten Bundesländern verfügten die         nen Sie ja zwei Stimmen vergeben. Die Erststimme
gierung noch der Opposition die Fähig-                                                      für einen Kandidaten aus Ihrem Wahlkreis, die Zweit-
                                              Union und die FDP über einen knappen
keit zutrauten, die wichtigsten politischen                                                 stimme für eine Partei. Diese Liste hier ist ein Muster-
                                              Vorsprung. Für den Wahlerfolg reichte         Stimmzettel, ähnlich wie Sie ihn bei der Bundestags-
Probleme zu lösen. Hinzu kam, dass die
                                              dies aber nicht aus, weil die FDP ihre (oh-   wahl erhalten. Wenn Sie wählen würden, wie würden
Regierung in der Flutkatastrophe in Ost-                                                    Sie dann auf Ihrem Stimmzettel ankreuzen. Bitte nen-
                                              nehin unrealistischen) Wahlziele weit ver-
deutschland Handlungsfähigkeit demon-                                                       nen Sie mir die Kennziffer für Ihre Zweitstimme.
                                              fehlte und weil die Union im Vergleich        CDU/CSU (1), SPD (2), Bündnis 90/Die Grünen (3),
strierte und durch ihre klare Absage an
                                              mit 1998 zwar deutlich besser abschnitt,      FDP (4), PDS (5), Republikaner (6), ÖDP (6), Graue
ein militärisches Engagement im Irak zu-                                                    (6), Schill-Partei (6), NPD (6), andere Partei (6), nicht
                                              jedoch weit unter ihren früheren Wahler-
mindest kurzfristig ein Thema besetzte,                                                     gewählt (7), nicht wahlberechtigt (7), weiß nicht (7),
                                              gebnissen lag. Trotz der spannenden           Antwort verweigert (7).
das die wirtschaftliche Malaise in den
                                              Ausgangslage war schließlich kein An-         Wahlabsicht-SPD: SPD (1), Keine (0), Andere Partei (-1)
Hintergrund treten ließ und zu dem die                                                      Wahlabsicht-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Keine (0), An-
                                              stieg der Wahlbeteiligung zu verzeich-
Opposition auch keine überzeugende Al-                                                      dere Partei (-1).
                                              nen. Im Zusammenspiel mit vielen ande-
ternative zu bieten hatte. Selbst wenn der
                                              ren Daten weist dies auf ein Charakteristi-
Wechsel der politischen Agenda nicht
                                              kum der Bundestagswahl 2002 hin: Kei-
unmittelbar der SPD zu Gute kam, stabili-
                                              ne der Parteien präsentierte sich den
sierte er die Regierung. Das dezidierte
                                              Wählern als eine überzeugende Alternative,
Eintreten gegen Militäraktionen stärkte
                                              das knappe Wahlergebnis reflektierte viel-
die Grünen und schwächte die PDS, de-
                                              mehr die Einschätzung, dass der Aus-
ren Ausscheiden aus dem Bundestag ei-
                                              gang der Wahl vielen Wählern gleichgül-
ne notwendige Bedingung der Fortset-
                                              tig gewesen sein dürfte.
zung der rot-grünen Koalition war. Sach-
fragen spielten in zweifacher Hinsicht ei-
ne Rolle für den Wahlausgang: Die Union
vermochte es nicht, ihren Kompetenzvor-
sprung in Wählerstimmen umzuwandeln,
und das Regierungslager profitierte von
sehr kurzfristig wirksamen Faktoren. Un-
ter dem Gesichtspunkt der Themenorien-                                                                                      WechselWirkungen        y

                                                                                                                                  Jahrbuch 2003 y

                                                                                                                                                 45
WechselWirkungen       y   Downs, Anthony 1957: An Economic Theory of De-
                                      Jahrbuch 2003 y      mocracy. New York: Harper and Row
                                                           Falter, Jürgen W. 1977: Einmal mehr: Läßt sich das
                                                           Konzept der Parteiidentifikation auf deutsche Verhält-
                                                           nisse übertragen? In: Kaase, Max (Hg.): Wahlsoziolo-
                                                           gie heute. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl
                                                           1976. Opladen: Westdeutscher Verlag, 476-500
                                                           Forschungsgruppe Wahlen e.V. 2002: Bundestags-
                                                           wahl. Eine Analyse der Wahl vom 22. September
                                                           2002. Mannheim: Forschungsgruppe Wahlen e.V.
                                                           Gabriel, Oscar W. 2001: Parteiidentifikation, Kandida-
                                                           ten und politische Sachfragen als Bestimmungsfakto-
                                                           ren des Parteienwettbewerbs. In: Gabriel, Oscar
Parteiidentifikation: Viele Leute neigen in der Bundes-
                                                           W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hg.): Partei-
republik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, ob-
                                                           endemokratie in Deutschland. Opladen: Westdeut-
wohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen.
                                                           scher Verlag, 233-254
Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein
gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja,          Gabriel, Oscar W./Thaidigsmann, Isabell/Völkl, Ker-
welcher? Bitte nennen Sie nur den Buchstaben von           stin 2002: Alles bleibt so wie es war! Erklärungsfak-
der Liste. CDU (1), CSU (1), SPD (2), FDP (3), Bünd-       toren für die Wählerentscheidung bei der baden-würt-
nis 90/Die Grünen (4), PDS (5), Republikaner (6),          tembergischen Landtagswahl 2001. In: Schmid, Jo-
DVU (6), andere Partei (6), neige keiner Partei zu (7).    sef/Griese, Honza (Hg.): Wahlkampf in Baden-Würt-
PI-SPD: SPD (1), Keine (0), Andere Partei (-1)             temberg. Opladen: Leske + Budrich, 153-172
PI-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Keine (0), Andere Partei (-1)
Problemlösungskompetenz, Index aus erst- und               Gabriel, Oscar W./Vetter, Angelika 1998: Bundes-
zweitwichtigstem Problem: Das für Sie (zweit-)wich-        tagswahlen als Kanzlerwahlen? Kandidatenorientie-
tigste Problem ist ... Welche Partei ist Ihrer Meinung     rungen und Wahlentscheidungen im parteienstaatli-
nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen?          chen Parlamentarismus. In: Kaase, Max/Klingemann,
CDU (bzw. CSU) (1), SPD (2), FDP (3), Bündnis 90/          Hans-Dieter (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus
Die Grünen (4), PDS (5), Republikaner (6), Schill-Par-     Anlass der Bundestagswahl 1994: Opladen: West-
tei (6), andere Partei (6), alle gleich (7), keine (7).    deutscher Verlag, 505-536
PLK-SPD: SPD (1), Alle/Keine (0), Andere Partei (-1)       Graf, Jutta/Neu, Viola 2002: PolitikKompass. Analyse
PLK-CDU/CSU: CDU/CSU (1), Alle/Keine (0), Andere           der Bundestagswahl vom 22. September 2002.
Partei (-1)                                                Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung
Kanzlerpräferenz: Nun wüsste ich gerne folgendes
von Ihnen: Gerhard Schröder und Edmund Stoiber             Infratest dimap 2002: Deutschland Trend September
sind ja die Kanzlerkandidaten der beiden großen Par-       2002. Berlin: Infratest dimap
teien. Welchen von beiden hätten Sie nach der Bun-
                                                           Roth, Dieter/Jung, Matthias 2002: Ablösung der Re-
destagswahl lieber als Bundeskanzler? Gerhard
                                                           gierung vertagt: Eine Analyse der Bundestagswahl
Schröder (1), Edmund Stoiber (2), Keinen von beiden
                                                           2002. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49-50, 3-
(3), weiß nicht (4), Antwort verweigert (4).
                                                           17
Kanzlerpräferenz: Gerhard Schröder (1), Keinen von
beiden (0), Edmund Stoiber (-1).

Anmerkungen
1 Überhangmandate entstehen bei der Bundestags-

wahl in Ländern, in denen einer Landesliste weniger
Mandate nach Zweitstimmen zustehen als sie (auf-
grund ihrer Erststimmen) Direktmandate erhalten hat.
Diese „Überhangmandate“ verbleiben bei der Partei
(vgl.
http://www.wahlrecht.de/ueberhang/index.html).
2 Die Angaben basieren auf der von der Forschungs-

gruppe Wahlen durchgeführten Umfrage vor der
Wahl im September 2002.
3 Bei Valenzissues stimmt die Wählerschaft in der Be-

wertung des anzustrebenden Ziels überein. Dies trifft
auf Themen wie stabile Preise oder Vollbeschäftigung
zu (vgl. Gabriel 2001).
4 Bei Positionsissues hingegen steht die Unterstüt-

zung oder Ablehnung bestimmter Ziele zur Debatte,
zum Beispiel die Liberalisierung des Schwanger-
schaftsabbruchs oder die Ausweitung der Kompeten-
zen der EU (vgl. Gabriel 2001).

Literatur
Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren
E./Stokes, Donald E.1960: The American Voter. New
York, London, Sidney: John Wiley and Sons
Converse, Philip E. 1969: Of Time and Partisan Stabi-
lity, In: Comparative Political Studies 2, 139 - 171
Dalton, Russel J./Wattenberg, Martin 1993: The Not
So Simple Act of Voting. In: Finifter, Ada W. (Hg.): Po-
litical Sciences: The State of the Discipline II. Was-
hington D.C.: American Political Science Association,
194-218

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