Experimente lernen, Techniken tauschen. Zur Einleitung Julia Bee, Gerko Egert - Publication Server ...

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Experimente lernen,
                                         Techniken tauschen.
                                         Zur Einleitung

                                         Julia Bee, Gerko Egert

                                                       »[S]tudy is what you do with other people. It’s talking
                                                              and walking around with other people, working,
                                                         dancing, suffering, some irreducible convergence of
                                                       all three, held under the name of speculative practice.
                                                                The notion of a rehearsal – being in a kind of
                                                        workshop, playing in a band, in a jam session, or old
                                                       men sitting on a porch, or people working together in
                                                       a factory – there are these various modes of activity.«
                                                                          Moten in Moten / Harney 2013: 110

aus:
Julia Bee / Gerko Egert (Hrsg.)
                                         To study ist eine Tätigkeit. In ihr verbinden sich die zumeist
Experimente lernen, Techniken tauschen
                                             getrennt betrachteten Aktionen des Lernens und Leh-
Ein spekulatives Handbuch                    rens. Stefano Harney und Fred Moten beschreiben in
Seite 7 – 26                                 ihrem Buch Die Undercommons. Flüchtige Planung und
                                             schwarzes Studium (2016) study als den Akt des Studiums,
Weimar und Berlin: Nocturne 2020             der sich keineswegs auf das Studium (als Substantiv)
                                             an einer Universität oder irgendeiner anderen Lernin-
                                             stitution beschränken lässt. Während Lernen und Leh-
                                             ren in westlichen Gesellschaften oftmals an zahlreiche
                                             Institutionen und ihre Praktiken geknüpft sind – Schu-
le, Universität, Lehrer*innenausbildungen,            8     9           als bloß die Vermittlung von Wissen und Kompe-
   pädagogische Konzepten, Evaluationen, Be-                               tenzen. Wir betrachten Lernen in einem weiten,
   wertungen, Noten –, ist study keineswegs auf diese Orte        verkörperten Sinne, indem wir die Kunst, Situationen
   beschränkt: Es findet beim Spielen, beim Musikmachen,          herzustellen, aus denen etwas Neues hervorgehen kann,
   beim Radfahren, mit Freund*innen, auf Reisen statt.            ins Zentrum stellen. Deshalb wenden wir uns den Über-
   Meist sind diese Tätigkeiten kollektiv, mal sind wir Ler-      schneidungsräumen zu, in denen Kunst und Lernen ver-
   nende, mal Lehrende, oftmals sind wir beides zusam-            schränkt sind. Wir wählen dabei einen pragmatischen
   men. Doch Lernen wie Lehren geschehen nicht einfach            Zugang, der in der Genealogie von William James (1912)
   so, sie sind keine »sich ergebenden« Ereignisse, sie sind      und Alfred North Whitehead (1967) über John Dewey
   durchzogen von Techniken. Manchmal sind diese Tech-            (1987) Erfahrung und Handlung verbindet. Dabei sollen
   niken explizit, oftmals bleiben sie verdeckt, doch das         vor allem Experimente zwischen Kunst, Vermittlung
   heißt nicht, dass sie nicht minder wirksam sind. Um die-       und Forschung im Fokus stehen.
   se Techniken (und weniger die mit ihnen verbundenen         Diese Ansätze werden z. B. seit über 10 Jahren am SenseLab
   Institutionen wie Universitäten, Schulen, Museen oder          an der Concordia University in Montréal entwickelt. Zu
   Theater) soll es in diesem Buch gehen.                         diesem Band haben die beiden Philosoph*innen und
                                                                  Lehrenden vom SenseLab, Erin Manning und Brian
Vermittlung und Lehre             Immer wieder begegnen           Massumi, Beiträge zu dieser ›Pragmatik des Lernens‹
   uns Wissenschaftler*innen und Künstler*innen mit               beigesteuert. In einem ähnlichen Sinne beschreiben
   inspirierenden Ideen für Vermittlungsformate, die sie          Beitragende aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst
   häufig im Dialog und in Experimenten mit den Teilneh-          und Aktivismus ihre Techniken, die sie in Seminaren
   menden und Studierenden entwickeln, die aber in ihren          und Workshops entwickelt haben. Sie reichen von der
   Kontexten verbleiben. In diesem Band haben wir eini-           gemeinsamen Fabulation eines Banküberfalls ↗ Beitrag von
   ge dieser Techniken, wie wir diese Methoden nennen,            Juli Reinartz ↙ über das mittlerweile klassische Format der

   gesammelt, um so für die vielfältigen Experimentalfor-         Lesegruppe über Schreibwerkstätten ↗ Beitrag von Michael
   men und Formate der Vermittlung zu sensibilisieren –           Baute und Katja Kynast ↙ und Collagen ↗ Beitrag von Julia Bee ↙ zu

   und auch zu begeistern. Wie die Künste können auch die         Filmessays ↗ Beitrag von Stefanie von Schnurbein ↙ und einer kol-
   (geisteswissenschaftlichen) Fächer neue Ideen für eine         lektiven Theaterperformance ↗ Beitrag von Florian Thamer und
   kreative und experimentelle Lehre mit ihren Methoden           Tina Turnheim ↙ . Der Band soll einen Einblick in das Feld

   verbinden: Für eine Vermittlung, die das gemeinsame            experimenteller kollektiver Vermittlungssituationen
   Experimentieren (wieder) einführt.                             (Jaschke / Sternfeld 2012, Bippus / Gaspar 2017) bieten
An der Hochschule ist Lehre immer wieder Gegenstand               und versteht sich als offenes Angebot, die jeweiligen
   zahlreicher didaktischer Interventionen, deren Ideal           Praktiken für den eigenen Bereich auszuprobieren, zu
   es ist, dass Forschung und Lehre Synergieeffekte bil-          adaptieren und weiterzuentwickeln. Insofern wollen wir
   den. Häufig bleibt dies jedoch darauf beschränkt, dass         an einer schon begonnenen Zirkulation teilnehmen und
   Themen der Forschung in die Lehre getragen werden.             Techniken sammeln, die Institutionengrenzen über-
   Umgekehrt ist die Lehre jedoch auch ein Ort des gemein-        queren.
   samen Lernens und Ausprobierens, aus dem Themen             Im Bereich der praktischen Ausbildung in Kunst, Film und
   und Techniken für die Forschung hervorgehen und                in der Gestaltung gibt es schon zahlreiche Methoden
   ausgetestet werden. Und gerade hier verbindet sich die         kreativer Vermittlung wie Bildpraktiken, Methoden
   Lehre mit der Kunst. Unter Lehren verstehen wir mehr           der Schulung der Modi des Sehens und des Wahrneh-
mens und Materialstudien, die vor allem für        10      11          kern der gesellschaftlichen Emanzipation gesetzt.
   eine kritische Praxis in der Ausbildung von                            Das Ziel der pädagogischen Ansätze und Techni-
   Künstler*innen und Gestalter*innen zentral sind (Paim         ken ist dabei nicht unbedingt nur Kreativität der Kunst
   et al. 2019). Unsere Textsammlung knüpft daran an. Sie        und Gestaltung zu fördern, also ein Selbstzweck, son-
   zielt vor allem auf Techniken, die künstlerische Prakti-      dern emanzipative und reflexive Prozesse durch eine
   ken nicht nur als Illustrationen von Theorien benut-          Schulung der Wahrnehmung und Sensibilisierung für
   zen, sondern als praktische Denkweisen ernst neh-             Techniken ganz allgemein anzustoßen ↗ Siehe hierzu den Bei-
   men. Also solche sind sie auch anschlussfähig für die         trag von Stefan Hölscher in diesem Band. ↙ .

   wissenschaftliche Ausbildung oder aktivistische Ver-       So sieht beispielsweise bell hooks, ausgehend von ihrer
   mittlungstechniken. Das Denken der Kunst (Deleuze /           Herkunft aus einem, wie sie schreibt, afroamerikani-
   Guattari 2000) findet sich nicht nur in fertigen Kunst-       schen Arbeiterhaushalt, ihre Tätigkeit als Professo-
   werken, sondern auch in den diversen Techniken und            rin und Lehrende an einer (zunächst privaten später
   Verfahren, durch die Kunst oder (akademisches / infor-        staatlichen) Hochschule gerade nicht darin, bestehen-
   melles) Wissen entsteht: Dieses Denken ist inspiriert         des Wissen mittels tradierter Formen des Unterrichts
   von einer Pragmatik des Prozessualen.                         weiterzugeben. Lehre ist für sie eine Tätigkeit der Ver-
                                                                 änderung, der Befreiung und des Empowerments ↗
Pragmatisches Experimentieren                      Die hier      Siehe auch den Text von Arpana Aischa Berndt und Maja Bogojević in diesem

   versammelten Ansätze sind nicht einfach praxisbasiert,        Band. ↙  . Teaching to Transgress (1994), so der erste Titel
   sondern pragmatisch im philosophischen Sinne, d. h.           ihrer Trilogie über das Lehren, beschreibt ihre Ideen
   sie nehmen die Erfahrung als Ausgangspunkt ernst,             aber auch die Widerstände und die Arbeit, die mit
   um mit theoretischen Konzepten zu arbeiten. Erfah-            diesem Projekt verbunden sind. Es zeigt vor allem,
   rung wird nicht als authentischer oder reiner gegenüber       dass Freiheit und Transgression keineswegs durch
   Konzepten privilegiert. Vielmehr sollen konzeptuelles         das bloße Negieren überkommener Pädagogiken zu
   und erfahrungsbasiertes Denken in Austausch gebracht          erreichen ist, es braucht neue Techniken und neue
   werden. Ziel ist es, nicht anwendungsbasiert zu verfah-       pädagogische Konzepte, um gerade jene Lernenden
   ren, sondern Theorie und Praxis, Denken und Erfahren          (Afroamerikaner*innen, Migrant*innen, Frauen*, First
   in neue Verhältnisse zu setzen. Lehre wird nicht nur als      Generation Academics) zu ermächtigen, die in den beste-
   Zwischenstation in der Vermittlung von Inhalten, son-         henden Strukturen allzu oft überhört werden. Lehren
   dern als komplexes Experimentierfeld verstanden, in           bildet hier selbst eine Technik der Veränderung und –
   dem sich die Inhalte und Methoden neu anordnen.               wie hooks schreibt – sie wird eine Technik des Sozialen:
Dabei greifen die hier schreibenden Autor*innen auf Poten-       »The power of the liberatory classroom is in fact the power
   tiale zwischen geisteswissenschaftlicher Lehre und            of the learning process, the work we do to establish a com-
   künstlerischer Vermittlung zurück, die häufig bewirken,       munity.« (1994: 153) Affekte wie »excitement« und »fun«
   dass Situationen verändert und eingefahrene Prozesse          (hooks 1994: 7) bilden die Voraussetzung für das Lernen
   hinterfragt werden. Diese Infragestellung bestehender         und Lehren. Es braucht pädagogische Strategien, die
   Strukturen erzeugt gerade für diejenigen neue Zugänge         sich weniger auf das Vermitteln, sondern vielmehr auf
   in den Wissensräumen, die aufgrund ihrer Biographie           die »Atmosphäre« des Lernens selbst richten (1994: 7).
   formell oder informell exkludiert sind. Künstlerische         Die Affekte sind dabei nicht nebensächlich, sondern
   Forschung wird so im Bereich der Medien- Kunst- und           entscheiden darüber, wie sich der Habitus unbewusst
   Kulturwissenschaften auch in einen Dialog zu Klassi-          von den Verhältnissen in Lernsituationen entfernt
oder hinwendet (Bourdieu 1993). Insofern                   12        13        hervor. Hier haben wir es nicht mit einem Para-
   sind Begriffe wie »excitement« Möglichkeits-                                   dox zu tun, sondern mit einer prozessualen und
   räume des Affekts, Weisen, wie Körper affiziert werden                  zugleich relationalen Denkweise: Sie sind in Kontexte
   (Spinoza 2007). Sie sind Freude in einem philosophi-                    und Techniken eingelassen, gerade um neue Situa-
   schen Sinne und nicht einfach »Spaß«.                                   tionen, Techniken und Denkweisen zu ermöglichen.
                                                                           Nur, wenn ich möglichst konkret von einem Kontext
Die Erfahrungen der Lehrenden und Lernenden – im und                       ausgehe, kann ich mit den vorhandenen affektiven
    außerhalb des Seminarraums – sind hier zentraler                       und sozialen Dynamiken operieren. Dieses Denken
   Ausgangs- und Verhandlungspunkt der Pädagogik.                          ist stark von der Idee des Milieus und der daraus ent-
    Erfahrungen sind dabei – so zeigen hooks Ausführun-                    stehenden Individuation inspiriert, wie sie Gilbert
   gen – nicht einfach persönlich, sie sind durchzogen von                 Simondon (2007 / 1989) entwickelt hat. Jedes Milieu
    Machtstrukturen, die in und mittels der Lehre adres-                   ist Grundlage von Individuationen, die dieses verän-
    siert und bearbeitet werden können. Sie sind der Aus-                  dern. Dabei ist die Individuation immer eine Technik
   gangspunkt einer politisch-kritischen Reflexion ↗ Siehe                 des Werdens. Sie ist eine sich im Prozess befindliche
    Gerko Egerts Text in diesem Band. ↙ .                                  Seinsweise, die nicht zwischen dem Sein und der Wei-
                                                                           se, wie das Sein ist, unterscheidet. Dieses Denken ist
Onto-Epistemologien der Lehrtechniken                                      viel stärker Simondons Nachdenken über psychosoziale
   In der Forschung diskutiert man seit einigen Jahren                     denn über rein technische Individuationen geschuldet.
   über die ontologische Verschränkung von Appara-                         Muriel Combes (2013) weist daher darauf hin, dass jede
   ten (z. B. durch die Theorien Karen Barads 2007) oder                   Individuation bei Simondon eine Transindividuation
   Medien der Forschung mit ihren jeweils situierten und                   ist. Sie ist immer auch eine Soziotechnik. Und gerade
   kontextgebundenen Ergebnissen ↗ Siehe auch den Text von                 im Lernen werden innen und außen, Weise des Seins
   Elisa Linseisen in diesem Band. ↙ . Dies lässt sich auch auf Lern-      und Weise des Werdens, durchlässig. Ontogenese heißt
   und Lehrsituationen übertragen: Die Technik des Ler-                    immer auch Technik der kollektiven Individuation.
   nens ist nicht nur ein Indikator der Effizienz und des
   zeitökonomischen Lernens der sich neoliberalen Ver-                  How to …         Dieses Buch versammelt eine Reihe von
   hältnissen angleichenden Hochschule, sondern bringt                     Texten, die Techniken experimentellen Forschens und
   neue Inhalte hervor – ein »situiertes« Lernen, um mit                   Lehrens aus den Bereichen der Kunst, der Performance,
   Donna Haraway (1996) zu sprechen. Mit ihrer jeweili-                    der Philosophie, dem Theater, der Bildforschung und der
   gen Technik gehen nicht einfach Ziele einher, es werden                 Medienwissenschaft präsentieren.
   Milieus als affektive, soziale, ökologische Situationen              Das Anliegen ist dabei ein doppeltes: Auf der einen Seite
   produziert. So, wie wir in der Wissenschaft gewohnt sind                sollen neue und für die jeweiligen Felder adaptierte
   von einer medienspezifischen Anordnung zu sprechen,                     Methoden und Praktiken des Forschens und Lehrens
   so fungieren hier die Techniken im Sinne von Karen                      vorgestellt und beschrieben werden. Auf der anderen
   Barads physikalischen Apparaten als onto-epistemo‑                      Seite sollen die Texte eine Reflektion über die Arbeits-
   logische Anordnungen. Im Falle des Quantenphysi-                        prozesse innerhalb der oben genannten Felder bie-
   kers Niels Bohrs ist Wissen mal Welle und mal Teil-                     ten. Das Buch ist somit Handbuch und theoretische
   chen –­ je nachdem, welche Situation mit welchen Tech-                  Reflexion zugleich. Es eignet sich gerade für Formate,
   niken hergestellt wird. Diese Apparate bringen kein                     in denen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen
   Wissen jenseits ihrer Anordnungen und Situationen                       zusammen lernen und lehren. Unsere derzeitigen
Arbeitsfelder – die Bauhaus-Universität in          14      15           auch von Werdensprozessen im Blick. Diese Onto-
   Weimar und das Institut für Theaterwissen-                              genesen entstehen durch einen Wandel, der alle
   schaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen – stel-          Beteiligten im besten Fall umfasst und doch je anders
   len zwei solcher Kontexte dar, in denen Künstler*innen          adressiert. Denn wir alle sind anders. Aus der Erfahrung
   und Wissenschaftler*innen zusammen lehren und ler-              wird weder abstrahiert noch wird das wissenschaftliche
   nen. Wir vermitteln hier nicht nur Künstler*innen wis-          Konzept durch empirische Belege illustriert: Radikaler
   senschaftliche Methoden, wir haben hier auch gelernt,           Empirismus (des Lernens) ist geprägt von einer Prag-
   was künstlerische Techniken mit Texten machen und               matik des Affekts ↗ Siehe auch den Text von Lena Eckert und Maja Linke
   wie gerade im Bereich der Theaterwissenschaft und               in diesem Band. ↙ , einer Modulation der Erfahrung durch

   des Tanzes Körper in Lernprozessen mobilisiert wer-            Techniken. Techniken stehen daher Erfahrung nicht
   den. Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, und                 gegenüber. Techniken können genauso Erfahrungen
   Aktivist*innen stellen daran anknüpfend Techniken               provozieren wie umgekehrt Erfahrungen Techniken
   des experimentellen Unterrichtens aus ihren je unter-           inspirieren können (Egert et al. 2015). Ihr Verhältnis
   schiedlichen Bereichen und Perspektiven vor.                    orientiert sich an dem Begriffspaar Virtualität und
Wie beim Lesen deutlich werden wird, wird jeder Text ein-         Aktualität. Während das Virtuelle den Bereich des Wer-
   geleitet von einer Anleitung der »Technik« im how-to-           dens beschreibt – nicht aber den Bereich vorhandener
   Format. Gefolgt wird diese von einer Ausführung über            Möglichkeiten, die nur aktualisiert werden – ist die
   die Entstehensbedingungen, die Ereignisse, die die             Aktualisierung ein Prozess, der dem Werden eine Form
   Technik nach sich zog und ggf. die damit verbundenen            gibt. Jeder kollektive Prozess, jedes Lernen ist von dem
   Theorien. Was hat z. B. ein Videoessay mit der Vermitt-         Wechselverhältnis dieses Begriffspaares geprägt. Und
   lung von Filmwissenschaften zu tun, was das Planen              dieses Verhältnis gilt es zu mobilisieren: Erfahrung ist
   eines Banküberfalls mit Choreographie?                          nicht einfach das Virtuelle und Techniken sind die Dis-
Bewusst haben wir die Struktur des how tos aus Praxishand-         ziplinierung dessen. Virtuelles und Aktuelles müssen
   büchern mimetisch und spielerisch aufgenommen, um               immer in einem Zusammenhang gesehen werden. Kei-
   von der Pragmatik der Erfahrung auszugehen. Pragma-             ne von beiden Dimensionen ist der anderen moralisch
   tik bedeutet hier nicht zweckgerichtet – ganz im Gegen-         überlegen. Wenn man die Techniken ernst nimmt, wird
   teil. Es heißt mit der Überlappung von Erfahrung und            dies expliziert und daher verhandelbar. Zu oft verblei-
   Handlung angesichts der Umstände, Kontexte und des              ben nämlich die Techniken des Lehrens im Unbenann-
   aktuell Gegebenen zu arbeiten. Dabei wird Erfahrung             ten und Unbewussten. So können sie nicht Gegenstand
   nicht als mit Theorien und Konzepten zu Überformen-             der Intervention und der Reflexion werden, im Gegenteil,
   des gedacht. In der Philosophie William James’ wohnt            sie dienen dann dazu unausgesprochene Privilegien
   die reine Erfahrung, ein mit Melanie Seghal (2009)              weiter zu tradieren.
   gesprochen eher heuristisches denn in sich selbst empi-     Mit dieser Erfahrung soll aber in einem zweiten Teil eines
   risch erfahrbares Konzept, den Konzepten selbst inne.           jeden Textes spekuliert werden – daher der Titel des spe-
   Das heißt, die Erfahrung inspiriert Konzepte, sie bewohnt       kulativen Handbuchs. Es erscheint vielleicht zunächst
   die Konzepte. Indem sie am Gegebenen anknüpft, wird             paradox, dass Spekulation und klare ›Anweisungen‹
   sie Vehikel für Spekulationen. Der Rückkopplungspro-            hier zusammengedacht werden, doch sind die how to
   zess zwischen Erfahrung und Wissen bringt uns zurück            Teile nicht als methodische Korsette zu verstehen, son-
   zu Simondons (2007) Konzept der Transduktion. Er hat            dern als Plattformen, auf denen weitere Entwicklungen
   dabei nicht nur die Produktion von Wissen, sondern              stattfinden können. Sie sind experimentelle Anordnun-
gen, die offen für Aneignungen sind. Gilles        16       17        Heute, auf Film- oder Theaterfestivals, in ver-
   Deleuze beschreibt derartige als Dispositiv                           schiedenen Kulturinstitutionen wie Museen und
   erscheinende Anordnungen als Diagramme: also Skiz-              in Galerien finden informelle oder andersformelle
   zen von Möglichkeiten, öffnende Rahmungen. Sie sind in         Formate des gemeinsamen Lesens und des Austauschs
   den Worten Brian Massumis (Massumi / MacKim 2009)              statt. Gerade Künstler*innen haben sich immer wieder
   »enabling constraints«, also ermöglichende Beschrän-           für neue und andere Formen des Vermittelns und Ler-
   kungen, die aus dem virtuellen Bereich aller Möglich-          nens interessiert. Während beispielsweise Alan Kaprow
   keiten Aktualisierungen vornehmen, die wiederum                seine Happenings selbst als Form einer spielerischen
   geöffnet werden können für neue Gegenaktualisierun-            Pädagogik sah und damit die Tätigkeit des Lehrens
   gen (»Gegen-Verwirklichungen«, Deleuze 1993b: 202;             und Lernens in den Bereich der Kunst ausweitete, war
   Deleuze / Guattari 2000: 182–190). Die Potentiale aufzu-       es ebenso sein Interesse mit Projekten wie Other Ways
   nehmen und damit zu spekulieren, das ist eine beson-           (1968 – 69), seine künstlerischen Techniken in den
   dere Weise der Technik. Sie ist affektiv, denn sie ori-        Lehrplan von Schulen und Universitäten zu integrieren
   entiert sich an erfahrungsgeleiteten Prozessen im Hier         (Krstich 2016: 15). Auch der Komponist, Musiker und
   und Jetzt und verpflanzt nicht einfach eine Methode von        Universitätprofessor George E. Lewis beschreibt unter
   a nach b oder oktroyiert sie auf.                              dem Titel Collaborative Improvisation as Critical Pedago-
                                                                  gy (2014) seine künstlerische Praxis, die des Jazz, als
Lernen diesseits und jenseits der                                 Akt der kollektiven Vermittlung in der experimentellen
  Hochschule Mit diesen Vorbemerkungen zu einer                   Improvisation: »In this view, improvisation becomes a
   Pragmatik des Lernens wird eine durch Kulturtechni-            critical practice as well as a means to aesthetic state-
   ken wie spielen, tanzen, montieren, collagieren, schrei-       ment – a space where discontinuity, disruption, support,
   ben etc. gestützte Praxis vorgestellt, die nicht nur Ver-      and struggle become audible pathways to new experi-
   mittlung, sondern immer auch Forschung ist – und die           ence.« (46) Beide – Lewis eher implizit, Kaprow explizit
   nicht zuletzt das Hierarchiegefälle zwischen Theorie            in seinem Interesse an Dewey – knüpfen dabei an die
   und Praxis, Forschung und Lehre infrage stellt, z. B.          oben erwähnten Theorien des Pragmatismus und die
   durch Reading Groups, Teach-Ins oder kollektive Fabu-          zentrale Rolle der Erfahrung im Akt des Lernens an.
   lationen (Deleuze 1993a).                                   Mit ihrem Format Schwarzmarkt für nützliches Wissen und
Denn in den letzten Jahren wurden Formate des außeruni-           Nicht-Wissen bringt Hannah Hurzig Lehrende und Ler-
   versitären Lernens wieder stärker ausgebaut. Sie knüp-         nende zusammen, die in zeitlich genau getakteten Ein-
   fen damit historisch an die 1970er und 1980er Jahre an,        heiten Wissen im Eins-zu-eins Gespräch vermitteln bzw.
   an feministische und Schwarze Lesekreise, an dekoloni-         neues Wissen produzieren. Die Lehrenden reichen dabei
   ale Kämpfe in den Americas, in denen Film als Bildungs-        von Wissenschaftler*innen über Handwerker*innen bis
   technik eingesetzt wurde und an die pädagogischen und          zu Politiker*innen und Künstler*innen. Es geht Hurzig
   therapeutischen Reformen von Fernand Oury und Aïda             dabei explizit darum informelle, sprich nicht-universi-
   Vasques (1967), Félix Guattari (2015) sowie Fernand            täre Strukturen zu kreieren, in denen ein breites Spek-
   Deligny (1980). In ihnen erfanden Pädagog*innen Wei-           trum an Wissen verhandelt wird und zirkulieren kann.
   sen des Lernens, die nicht im adaptiven Sinne sozialisie-   Auch das in der Kunst wie in der Wissenschaft gleicherma-
   ren, sondern wechselseitige Veränderung ermöglichen            ßen verbreitete Format des Workshops dient der künst-
   wollen.                                                        lerischen Aktion wie dem gemeinsamen Lernen, etwa
                                                                  durch Lektürekreise, die wiederum aus den Seminar-
räumen der Hochschulen bekannt sind. Sie                                18         19        ven Praktik geworden ist. Dieser Auszug aus der
  haben sich aus dem Bedürfnis heraus entwi-                                                   Institution in Form des Teach-Ins ist dabei nicht
  ckelt, die Institution Universität zu befragen und werden                             mit einer Negierung von Lehre und ihrer Techniken als
  gerade heutzutage in Zeiten einer immer modularisier-                                 solchen zu verwechseln. Vielmehr wurde hier ein Raum
  teren Hochschullehre außerhalb dieser neu entdeckt.                                   für andere und neue Techniken bspw. der politischen
  Oft werden so die Grenzen zwischen politischer Inter-                                 Diskussion und des Austausches eröffnet.
  vention, der Herstellung von Teilhabe und Wissenspro-                              Techniken – das zeigt dieses Beispiel – sind nicht per
  duktion und -erwerb verschränkt ↗ Siehe hierzu die Beiträge von                       se Ausdruck einer Institution. Sie führen auch nicht
  Max Haiven und Cassie Thornton sowie des Social Muscle Clubs in diesem Band. ↙ .      zwangsläufig zur Institutionalisierung. Techniken
  Diese neuen Orte und Formate eines »anderen Wissens«                                  können ebenso dazu eingesetzt werden, gegebene
  (Busch 2016) interessieren uns im Austausch mit der                                   und im Entstehen begriffene Institutionen aufzubre-
  eher institutionalisierten Lehre an Hochschulen. Wir                                  chen. Sie können Machtverhältnisse wie eingeschleifte
  sehen Kollektivität und eine Ästhetik der Existenz nicht                              Gesprächs- und Denkmuster durchbrechen. Verdeck-
  abgekoppelt von Wissensproduktion und -erwerb. Wir                                    te Strukturen werden bewusst gemacht und Gemein-
  stellen Kontexte her, die offen und dennoch von einem                                 schaften hergestellt, die sich den Prozessen der Insti-
  Anliegen geprägt sind, Techniken zu entwickeln, die                                   tutionalisierung und / oder der Neoliberalisierung im
  wiederum andere Kontexte verändern können.                                            Geiste eines »lebenslangen Lernens« entgegensetzen.
                                                                                        Es gibt keine guten und schlechten, keine intentionalen
Technik und Institution             Als am 24. März 1965                                und revolutionären Techniken, auch wenn manche sich
  in den USA landesweit Lehrende und Studierende                                        sicher mehr der einen Seite dieser beiden Pole zuordnen
  ihre geplanten Seminare ausfallen ließen um statt-                                    lassen. Es ist, mit Whitehead formuliert, eine Frage des
  dessen die gesamte Nacht lang in Teach-Ins über die                                   »Stils« (1967: 12), wie eine Technik eingesetzt wird, die
  US-amerikanische Vietnamkriegs-Politik zu debattie-                                   bestimmt, was ihre Effekte und Wirkungen sind. Helfen
  ren, so war dies ein Akt des öffentlichen Protests. Doch                              kann dabei der Stil des Experimentierens: Indem immer
  zugleich war es – wie Marshal Sahlins, einer der damals                               wieder mit den Techniken selbst experimentiert wird,
  beteiligten Lehrenden, feststellte – mehr: Diese inter-                               sie verändert und mit anderen Techniken verbunden
  universitäre, landesweit stattfindende Debatte über                                   werden, wird die Technik nicht zur Regel oder gar zum
  den Vietnamkrieg und die US-amerikanische Politik                                     Gesetz. Manchmal hilft es schon, wie in dem von Sahlin
  des Kalten Krieges produzierte »a genuine intellectual                                beschriebenen Fall, eine Diskussion nicht abzubrechen,
  experience«. Sahlins führt aus: »for many the first they                              nur weil die Seminarzeit vorüber ist, um eine umfang-
  ever had on campus, perhaps because for the first time                                reiche Debatte über die Außenpolitik zu beginnen.
  both teachers and students were discussing, seriously
  and with respect for each other’s opinions, something                              Zugänge schaffen! Immer öfter lesen und arbeiten
  both were deeply interested in understanding.« (2000:                                 Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zusammen.
  212). Was dieses Beispiel deutlich macht, ist, dass Leh-                              Dabei können Formate entstehen, die nicht das akade-
  re nicht an den institutionellen Rahmen der Universität                               mische Wissen privilegieren, sondern künstlerische
  (der Schule, des Museums, etc.) gebunden ist. In Sahlins                              Zugänge ernst nehmen – ohne beides deckungsgleich
  Zitat zeigt sich sogar, dass in dem Moment, in dem                                    zu sehen oder eine Aufweichung von Kunst und Wissen-
  die Lehre die Intuition verlässt, sie überhaupt erst zur                              schaft zu fordern. Informelle Reading Groups ↗ beschrieben
  »intellektuelle[n] Erfahrung« und zur wirklich kollekti-                              im Text von Brian Massumi ↙ waren in den letzten Dekaden vor
allem in Ländern mit extrem hohen Bildungs-             20       21         werden, sondern ins Offene zu gehen – aber dies
   kosten Teil einer Aneignung von Bildung.                                    eben »technisch« zu ›produzieren‹ und nicht ein-
   Sie half Bildung anders als an den Universitäten zu                  fach vollkommen ungeordnet zu lassen. Emanzipato-
   praktizieren – nicht zuletzt dekolonisiert, demokra-                 rische Lehrmethoden sind kein Chaos, sie integrieren
   tisiert und solidarisch organisiert (Smith 1999). Auch               es jedoch affirmativ, wie Deleuze und Guattari (2000:
   in Ländern ohne Studiengebühren gibt es zahlreiche                   191–237) mit ihrem Begriff des Ritornells beschrie-
   informelle Wege, Zugänge zur Universität oder zu einer               ben haben: Lernen ist ein Chaosmos, ein »Rhythmus«
   akademischen Karriere zu versperren. Pierre Bourdieu                 (Deleuze / Guattari 2005: 427) aus Chaos und dem Rah-
   (1996, 2004, 2018) hat mit seinem Begriff des Habitus                men dieses chaotischen Elements, durch dass sich letzt-
   diese unbewussten Ausschließungen und Selbstaus-                     lich auch Transformationen im Wissensstand, aber auch
   schließungen des Klassismus aus Sicht des französi-                  im Selbst einstellen können. Dieses Selbst ist in Situati-
   schen Bildungssystems thematisiert. Didier Eribons hat               onen eben nicht individualisiert, es »trans/individuiert«
   dies in Rückkehr nach Reims (2016) anhand seines eige-               (Simondon 2007 / 1998; Combes 2013) vielmehr. Letzt-
   nen Lebensweges untersucht und plastisch gemacht,                    lich ist dieses ›Denkmodell‹ auch eine Affirmation eines
   wie subtil Ausschlüsse im Bildungssystem funktionie-                 Denkens durch Medien hindurch, hier: durch Techni-
   ren. Jede Lehrtechnik muss sich daran messen lassen,                 ken des Lernens, Lehrens und Gestaltens.
   wie sie die machtvollen Exklusionen auf den Achsen               In der institutionalisierten Hochschuldidaktik – so hilfreich
   Geschlecht, Herkunft und kulturelle Identität – also                 sie in vielen Fällen ist – erscheint uns die Frage einer
   auch Subjektivierungen als Migrantin, geflüchtete Per-               politischen Pragmatik der Spekulation und des Affekts
   son, Person of colour – und dis_ability adressiert ↗ bspw.           der Fragen der Effizienz der Lehre untergeordnet. Wir
   Erin Mannings Text in diesem Buch zu neurodiversem Lernen. ↙ .       werden in Fortbildungen angehalten, unsere machtvol-
Unser Handbuch möchte die Türen für Austauschmöglich-                   len Positionen zu reflektieren, unsere Methoden gezielt
   keiten zwischen künstlerischen, universitären und akti-              einzusetzen, richtiges Feedback zu geben. Das ist rich-
   vistischen Techniken offenhalten. Dies bedeutet nicht,               tig und wichtig und daran möchten wir hier anknüpfen.
   dass die Techniken einfach übernommen werden sollen.                 Selten aber lernen wir etwas über aktivistische Lehr-
   Sie müssen ausprobiert und kontextsensibel weiterent-                techniken afroamerikanischer Autor*innen, von Kämp-
   wickelt werden, um überkommene, wie auch den sich                    fen an der Universität, über die Befreiungspädagogiken
   im Neoliberalismus stetig ändernden Ausschlussstruk-                 der Americas, über die Weise, wie die Zweite Welle des
   turen Rechnung zu tragen.                                            Feminismus das Lernen und Verlernen von Mustern
                                                                        organsierte ↗ siehe Beitrag von Inga Zimprich in diesem Band ↙ . Diese
Situationen herstellen! Dieses Buch ist inspiriert                      Themen sollen in zukünftigen Ausgaben dieses Bandes
   durch die Begeisterung zum Lernen und Verlernen                      noch stärker adressiert werden. Denn wir als weiße, rela-
   (Sternfeld 2014) als Schlüsselkonzept kritischer und                 tiv privilegiert im Universitätssystem integrierte Lehr-
   emanzipativer Bildungsprozesse. Wir verstehen dar-                   personen, haben viele blinde Flecken und eine partiale
   unter in diesem Kontext vor allem Techniken der Her-                 Sichtweise. Daher sind wir besonders am Austausch mit
   stellung gemeinsamer Situation – also weniger auto-                  bestehenden Initiativen interessiert, die Lehrtechniken
   didaktisches oder individuelles Lernen. Dabei haben                  nicht nur schildern, sondern auch situieren (Haraway
   wir vor allem gesellschaftliche und ökologische Pro-                 1996).
   zesse im Sinn. Lernen heißt auch ein Anders-werden
   zu erfahren. Das bedeutet gerade nicht umerzogen zu
Die logistische Universität                          22       23      hochgradig durch Selbstausbeutung bestimmt
verändern! Die Universität der Governance,                            ist. Die Arbeitsweise der Künste überträgt sich im
   wie Moten und Harney sie nennen, ist die Universität        Modus eines »Einüben[s] des Experimentalcharakters«
   der Schulden (2016: 68–81). Im direkten Sinne in den        auf andere Arbeitsbereiche und wirkt dort als Beschleu-
   US-amerikanischen Wissensfabriken und im übertra-           niger prekärer Arbeitsverhältnisse. Angesichts dieser
   genen, so Schuld zum Klima des Lernens gehört (76).         Problematik und auch der zunehmenden Institutiona-
   Sie ist eine »logistische« Universität, die übertragbare    lisierung künstlerischer Forschung im Sinne einer Ver-
   Denkmodelle als Kompetenzerwerb produziert, was             wissenschaftlichung, wollen wir fragen, wie Techniken
   lange Zeit gegenüber Wissenserwerb als Fortschritt          solidarische und institutionenkritische Arbeitsweisen
   gesehen wurde und im Kern die Bildungsreformen nach         hervorbringen können. Die seit Jahren virulente Proble-
   Bologna beschreibt. Bildung folgt den beiden Lehrenden      matisierung von Kreativität im Sinne einer Experimen-
   zufolge einem ökonomistischen Modell, denn es geht          talkultur hat auch eine andere Seite. Der Ausbruch aus der
   darum Kompetenzen zu vermitteln, die man in Unter-          Universität darf natürlich umgekehrt nicht dazu führen,
   nehmen braucht. Statt um den Gegenstand, geht es nur        dass gesellschaftlich notwendige Bildungsprozesse an
   noch um Kompetenzen, Gegenstände zu durchdrin-              Akteur*innen außerhalb ausgelagert werden sollten und
   gen. Was zunächst nach einem Fortschritt klingt, weil       man dies als institutionenlos romantisiert. Dass Kreati-
   es eine hohe Selbstkompetenz verspricht, beschreibt         vität massiv vereinnahmt wird, kann aber nicht heißen,
   eine totale Standortvergessenheit des Wissens, das von      dass wir uns kreativen und kollaborativen Arbeitswei-
   einem festen Set an Methoden, die beliebig angewen-         sen verschließen, sondern sollte vielmehr eine Auffor-
   det werden können, ausgeht. So wichtig das Erlernen         derung dazu sein, diese weiter im Sinne einer Praxis –
   grundsätzlicher Analysetools, ihre Wiederholung und         vor allem spekulativen Praxis, die gerade nicht in der
   Verfestigung ist, so wichtig ist auch der experimentelle    Anwendung aufgeht – zu verstehen. Vielleicht kann der
   Umgang mit den Techniken selbst. Wenn alles übertrag-       Austausch von Techniken des Lernens und Verlernens
   bar ist, dann gibt es keine relationale Bezogenheit auf     dazu führen, sich den Praxisbegriff wiederanzueignen.
   die Historie, die Verortung und die emanzipatorischen       Praxis – Techniken – sind eben keine Anwendungen,
   Bestrebungen, die möglicherweise alle Techniken neu         sondern Experimentalräume. Techniken deessentiali-
   aufzustellen verlangen. Dass es uns nicht um Anwen-         sieren Lernen und Wissen, denn sie legen den Fokus auf
   dungsorientierung geht, sondern wir es wichtig finden       den Prozess. Explizierungen von Techniken sind darü-
   Kompetenzen zu vermitteln, die eine solidarische, plu-      ber hinaus Situierungen – gerade der zweite Teil eines
   rale, offene und vielfältige Gesellschaft ermöglichen,      jeden Beitrages rekonstruiert die Kontexte, aus denen
   dass wir uns hier für Techniken aussprechen und nicht       die Methode stammt und welche Erfahrungen damit
   für das Auswendiglernen von Wissen, sollte deutlich         einhergehen. Wie das aus dem Bereich der Performance
   geworden sein. Dass in der Verschiebung des Fokus vom       und des Tanzes kommende Projekt Everybody’s Toolbox
   Inhalt zur Kompetenz (und damit zur Technik) auch die       (www.everybodystoolbox.net) verstehen wir Techniken
   Gefahr liegen kann, experimentelle Arbeitsweisen, wie       und Anleitungen nicht als gesetztes Regelwerk, son-
   sie aus der Kunst bekannt sind, zu adaptieren, darauf       dern als Open Source Projekte, die es gilt, immer weiter
   weisen Elke Bippus und Monica Gaspar hin. Denn durch        zu verändern und anzupassen. Die Beiträge in diesem
   wissenschaftlich-künstlerische Kollaborationen, die         Buch sind somit auch eine Einladung an Kolleg*innen,
   seit einigen Jahren verstärkt durchgeführt werden, fin-     ihre Zugänge in Form einer Technik zu formulieren und
   det auch eine Prekarisierung von Wissenschaft statt, die    damit ihr Wissen in eine Methode zu transformieren.
Statt aber damit eine konkrete Anwendbarkeit     24                     25                              Literatur
   zu schaffen, wird die Technik abstrahiert und
   so für weitere Umarbeitungen geöffnet.

Dieses Buch und die dazugehörige Onlinepublikation sind     Barad, Karen (2007):                           Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (2000):
                                                                Meeting the Universe Halfway. Quantum           Was ist Philosophie? Frankfurt a. M.:
   eine kollaborative work in progress: Es sind weiterhin       Physics and the Entanglement of Matter          Suhrkamp.
   neue Auflagen und Open Access Publikationen geplant          and Meaning, Duke: Durham / London.
                                                                                                           Deligny, Fernand (1980):
                                                            Bippus, Elke / Gaspar, Monica (2017):               Ein Floß in den Bergen, Berlin: Merve.
www.nocturne-plattform.de                                       »Forschendes Lernen in der Kunst«, in:
                                                                 Forschendes Lernen. Wie die Lehre in      Dewey, John (1987):
                                                                 Universität und Fachhochschule erneuert       Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M.:
Viel (Experimentier-)Freude mit den Techniken!                   werden kann, Frankfurt / New York:            Suhrkamp.
                                                                 Campus, S. 260–368.
                                                                                                           Egert, Gerko et al. (2015):
                                                            Bourdieu, Pierre (2018):                            Radical Pedagogies. Inflexions. A Journal
Weimar / Berlin, März 2020
                                                                Homo Academicus, Frankfurt a. M.:               for Research Creation, No. 8, http://infle-
                                                                Suhrkamp.                                       xions.org/radicalpedagogy/main.html,
                                                                                                                Zuletzt abgerufen: 18. März 2020.
                                                            Bourdieu, Pierre (2004):
                                                                Meditationen.                              Eribon, Didier (2016):
                                                                Zur Kritik der scholastischen Vernunft,         Rückkehr nach Reims, Frankfurt a. M.:
                                                                Suhrkamp: Frankfurt a. M..                      Suhrkamp.

                                                            Bourdieu, Pierre (1996):                       Guattari, Félix (2015):
                                                                Die Intellektuellen und die Macht. Hrsg         Psychoanalysis and Transversality.
                                                                v. Irene Dölling, Hamburg: VSA Verlag.         Texts and Interviews 1955–1971,
                                                                                                                South Pasadena: Semiotext(e).
                                                            Bourdieu, Pierre (1993):
                                                                Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen    Haraway, Donna (1996):
                                                                Vernunft, Suhrkamp: Frankfurt a. M.            »Situiertes Wissen. Die Wissenschafts-
                                                                                                               frage im Feminismus und das Privileg
                                                            Busch, Kathrin (Hg.) (2016):                       einer partialen Perspektive«, in:
                                                                Anderes Wissen. Kunstformen der                Elvira Scheich (Hg.): Vermittelte Weiblich-
                                                                Theorie, Paderborn: Fink.                      keit. Feministische Wissenschafts- und
                                                                                                               Gesellschaftstheorie,
                                                            Combes, Muriel (2013):                             Hamburg: Hamburger Edition, S. 217–248.
                                                                Gilbert Simondon and the Philosophy
                                                               of the Transindividual,                     Harney, Stefano und Fred Moten (2013):
                                                                Cambridge, Mass. / London: MIT Press.          The Undercommons. Fugitive Planning
                                                                                                               and Black Study, Wivenhoe u. a.: Minor
                                                            Deleuze, Gilles (1993b):                           Compositions 2013.
                                                                 Die Logik des Sinns, Frankfurt a. M.:
                                                                 Suhrkamp.                                 Harney, Stefano und Fred Moten (2016):
                                                                                                               Die Undercommons. Flüchtige Planung
                                                            Deleuze, Gilles (1993a):                           und schwarzes Studium, Wien u. a.:
                                                                 »Die Fürsprecher«, in: ders. Unterhand-       transversal 2016.
                                                                 lungen. 1972–1990, Frankfurt a. M.:
                                                                 Suhrkamp, S. 175–192.                     hooks, bell (1994):
                                                                                                               Teaching to Transgress. Education as the
                                                            Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (2005):          Practice to Freedom, London und New
                                                                 Tausend Plateaus. Kapitalismus und            York: Routledge.
                                                                 Schizophrenie 2, Berlin: Merve.
                                                                                                           James, William (2006): Pragmatismus und
                                                                                                               radikaler Empirismus, Frankfurt a. M.:
                                                                                                               Suhrkamp.
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