FÜNFZEHN SONGS KONRAD PETER GROSSMANN

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THERAPIEPRAXIS >

KONRAD PETER GROSSMANN
FÜNFZEHN SONGS

                        AS TEARS GO BY                      tung“ knüpfte an seine Erfahrung an, als Arbeiterkind
                                                            in einer höheren Schule immer ein Außenseiter gewesen
                         Thema eines vor kurzem statt-      zu sein.
                         gefundenen Therapiegesprächs       In der weiteren Folge redeten wir darüber, wer in sei-
                         mit einem jungen Mann war          nem Leben zu den Stimmen der „Güte“ und der „Aner-
                         seine ablehnende Haltung sich      kennung“ beigetragen hatte: Beide Stimmen waren eng
                         selbst gegenüber: Diese negative   mit den wenigen positiv besetzten Personen verknüpft,
                         Beziehung zum eigenen Selbst       die zu seiner Entwicklung beigetragen hatten: mit ei-
war eng mit seiner Erfahrung wiederkehrender depressi-      nem Mönch, in dessen Nähe er einige Jahre gelebt hat-
ver Episoden verbunden, die er durch exzessiven Alko-       te, mit einem Lehrer, der ihn ermutigt und bestätigt
hol- und Drogenkonsum zu lindern suchte.                    hatte, mit einem Therapeuten, der ihn über lange Zeit
So kamen wir ins Gespräch über unterschiedliche             hinweg begleitet hatte, vor allem aber mit seiner Freun-
„Stimmen“, mit deren Hilfe er sein Selbst kommentier-       din, mit der er seit kurzem in Liebe verbunden war. Wie
te: Neben einer Stimme des „Nie-gut-genug“ identifi-        sich zeigte, hatten die Stimmen der „Verachtung“ und
zierte er eine Stimme der „Verachtung“, eine leise und      des „Nie-gut-genug“ sein Leben noch vor wenigen Jah-
selten in Erscheinung tretende Stimme der „Anerken-         ren weit mehr dominiert als gegenwärtig.
nung“, die an das Gelingen besonderer Leistungen ge-        So wendete sich unser Dialog der Zukunft zu: Ange-
bunden war, sowie – nach längerem Nachdenken – eine         nommen diese Entwicklung würde einen weiteren gu-
Stimme der „Güte“, die seinen Glauben daran, ein gu-        ten Fortgang nehmen, wie würde sich die Konstellation
ter Mensch zu sein, abbildete.                              seiner Band in den nächsten ein bis zwei Jahren wan-
Aus welchen Quellen auch immer sich therapeutische          deln? Der Klient illustrierte diesen Unterschied auf dem
Metaphorik speist: In unserem weiteren Gespräch wur-        Systembrett, indem er jene beiden Figuren, welche die
den diese Stimmen den Mitgliedern einer Rockband            „Güte“ und die „Wertschätzung“ repräsentierten, links
(als Bezugspunkt dienten die Rolling Stones) gleichge-      und rechts von seinem „Selbst“ positionierte (die kleine
setzt, die sich rund um einen Frontman – das Selbst des     Figur der „Wertschätzung“ wurde durch eine größere
Klienten – gruppierten.                                     ersetzt).
Ich bat ihn, die gegenwärtige Bedeutung und Gewich-         Auch die Stimme des „Nie-gut-genug“ erfuhr eine Ver-
tung der einzelnen Bandmitglieder auf dem Systembrett       änderung: Der Klient ersetzte sie durch zwei Figuren,
zu veranschaulichen. Er positionierte sein Selbst in der    wobei die erste weiterhin das „Nie-gut-genug“, die
Mitte des Bretts mit Blick auf die Stimmen des „Nie-        zweite hingegen eine produktive Stimme „hilfreicher
gut-genug“ und der „Verachtung“. Für die Stimme der         Selbstkritik“ repräsentierte.
„Güte“ wählte er eine kleinere Figur, die er hinter dem     Das Gespräch endete mit einer Klärung und Konkreti-
„Selbst“ platzierte, die Stimme der „Anerkennung“ po-       sierung des dargestellten Unterschieds – der Klient be-
sitionierte er vom Selbst abgewandt am Rand des Sys-        schrieb eine Reihe von Zeichen, an welchen er wie auch
tembretts hinter der Figur des Selbst mit diametral ent-    seine Freundin die beschriebene Verwandlung erkennen
gegengesetzter Blickrichtung.                               würden - und einer abschließenden Würdigung des Kli-
Im Dialog über die Darstellung gingen wir einer Reihe       enten durch das Reflektierende Team.
von Fragen nach: Wie war die gegenwärtige Konstella-        Nach der Therapiestunde fiel mir der Song ein, der zu
tion entstanden? Wann waren die einzelnen Stimmen/          der Therapiestunde gepasst hätte – Mick Jaggers „As
Mitglieder zu seiner Band gestoßen? Mit welchen Perso-      tears go by“. Die musikalische Metaphorik erinnerte
nen seiner gegenwärtigen wie früheren Lebenswelt wa-        mich daran, dass es unter anderem die Liebe zur Musik
ren die einzelnen Stimmen assoziiert? Wie sich zeigte,      war, die mich zur systemischen Therapie geführt hatte.
war die Stimme des „Nie-gut-genug“ eng mit der Stim-        Diesem Bezug/Dieser Liebe möchte ich mit den folgen-
me seines Vaters verwoben; die Stimme der „Verach-          den Zeilen meine Referenz erweisen.

6   SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
LANG EH ICH DICH KANNTE                                      Weymann, 1996). Die heilende Kraft der Musik spie-
                                                             gelt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der Musikthe-
„Lang eh ich dich kannte, warst du mir schon nah ...“        rapie wieder1.
lautet die Anfangszeile des gleichnamigen Lieds der ös-      Musik, die mit Gesang bzw. Text verbunden ist, leistet
terreichischen Folkband „Liederlich Spielleut“, die sich     zusätzlich noch anderes: Sie transportiert (metaphori-
auf ihrem Album „Verloren oder was“ findet. Ähnlich          sche) Beschreibungen von Erfahrung und bettet diese in
erfinde ich mir meine Geschichte in Bezug auf Systemi-       überindividuelle „ready mades“ - sie liefert Worte/Sätze
sche Therapie: Lange ehe ich sie kannte, waren mir sys-      für das, was wir nur schwer beschreiben können, sie ge-
temische Ideen und Praktiken durch die Musik, die ich        neriert Narrative, mithilfe derer wir eigene Erfahrung,
hörte, schon nahe.                                           Wünsche, Ängste, Sehnsüchte ordnen und verstehen
Musik und Psychotherapie bergen eine Reihe von Ge-           können und die uns das Gefühl vermitteln, mit unserer
meinsamkeiten: Beide bewegen das Gemüt – sie trösten         Erfahrung nicht allein zu sein; sie vermittelt Selbst- und
(wie Nat King Coles „Mona Lisa“), beruhigen (wie Mo-         Weltwissen, manchmal sogar Weisheit, die uns hilft, zu
zarts „Zauberflöte“), aktivieren (wie „Romeo und Juli-       leben und zu überleben. All diese Aspekte verbindet
ett“ von den Dire Straits), versöhnen (wie Dvorcaks          Musik mit Therapie.
zweiter Satz der „Symphonie aus der Neuen Welt“) usf.        Es gibt Musik für jede (therapeutische) Gelegenheit: für
Musik ist „Anstiftung“ (vgl. Hametner, 2006): Durch          das Einzelsetting, für das Paarsetting, für das familienthe-
ihre Fähigkeit, emotionale Reaktionen hervorzurufen,         rapeutische Setting („Teach your children well“ von Cros-
war Musik schon früh mit Heilung assoziiert (vgl. Spit-      by, Stills, Nash and Young ist ein Beispiel dafür). Es gibt
zer, 2005). Bis in die Frühantike diente sie nicht nur als   störungs- und lösungsspezifische Musik. Es gibt
verbindendes Medium sozialer Gemeinschaften, son-            Musik für Problemaktualisierungen (wie Dylans „Lay
dern auch als tranceinduktives Verfahren, mit dessen         down your weary tune“) und für Lösungsaktualisierun-
Hilfe Götter angerufen bzw. Ressourcen aktiviert oder        gen. Es gibt Musik für den (therapeutischen) Beziehungs-
Dämonen vertrieben bzw. Problemzustände externali-           aufbau und Musik für die Auflösung des Therapiesystems.
siert wurden. In der klassischen Antike ging man davon       Gute Musik und gute Therapie wecken „Hoffnung ...
aus, dass biopsychosoziale Problemzustände in einer in-      auf Genesung und Normalität“ (Haley, 1981, S. 18);
neren „Unordnung“ von Kräften gründeten, die mittels         gute Musik erfüllt zudem jene Kriterien, die Ludewig
Musik geordnet und harmonisiert werden konnten. Be-          als essenziell für hilfreiche (therapeutische) Interaktion
reits Pythagoras soll Lieder dazu verwendet haben, ne-       denkt: Sie ist nützlich, respektvoll und schön (vgl. Lu-
gative Gemütszustände oder unkontrollierte Leiden-           dewig, 1988).
schaften auszugleichen. Nach Platon und Aristoteles
sollte sich mit Hilfe von Rhythmus und Melodie die           TAKE A SAD SONG AND MAKE IT BETTER
Harmonie zwischen Körper und Seele, zwischen Geist
und Gefühl wiederherstellen lassen.                          „Take a sad song and make it better ...“, so Lennon und
In der Renaissance und im Barock diente Musik unter          McCartney in ihrem Klassiker „Hey Jude“: Psychothera-
anderem der Regulation des Blutkreislaufs, dessen Dis-       pie ist der Versuch, das „Lied“ von KlientInnen, Partne-
harmonie als Ursache von Leidenszuständen gedacht
wurde. Mozart und Händel schrieben heilende Musik            1
                                                                 Traditionell wird zwischen rezeptiver und aktiver Musiktherapie
für Menschen, die unter chronischen Kopfschmerzen                unterschieden: In der rezeptiven Musiktherapie wird therapeutische
oder Melancholie litten. Bach komponierte seine                  Wirkung durch das Hören von Musik erzielt; in der aktiven Musikthera-
                                                                 pie werden KlientInnn zum Musizieren motiviert. Nach dem Zweiten
„Goldberg-Variationen“ für einen von quälender Schlaf-           Weltkrieg entstanden die heutigen Formen der aktiven Musiktherapie
losigkeit Betroffenen, der – so der Mythos - durch das           – unter anderem jene der systemischen Musiktherapie (Zeuch et al.,
wiederholte Hören der Komposition wieder zu seiner               2004). In Analogie zur Psychotherapie wird zwischen Einzelmusikthera-
Ruhe und Ausgeglichenheit fand (vgl. Decker-Voigt &              pie und Gruppenmusiktherapie unterschieden.

                                                                                          SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12                      7
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rInnen, Familienmitgliedern ein bisschen besser zu ma-                         man mit Grawe davon aus, dass achtzig Prozent aller
chen, unter anderem, indem sie ihre „affektive Lebens-                         TherapieklientInnen über stark negative Bindungser-
melodie“ moduliert (vgl. Russinger, 2009, pers. Mitt.).                        fahrungen sowohl in ihrer Biografie wie auch in ihrer
Damit Menschen sich verändern, bedürfen sie des Rah-                           aktuellen Lebenswelt verfügen (vgl. Grawe, 2004) und
mens einer positiven Therapiebeziehung: eines Rah-                             dass sie diese Erfahrung auf die Beziehung zu ihren
mens der Empathie, des Respekts, der Wertschätzung                             TherapeutInnen im Sinne einer negativen Bindungser-
und Neutralität, der Kooperation und der Ressourcen-                           wartung „übertragen“, so ist mehr als die Hälfte dessen,
orientierung. Sie ist jener stabilisierende Wirkfaktor,                        was ich sage, „meaningless“. Es ist darauf ausgerichtet,
welcher der mit Veränderung einhergehenden Labilisie-                          Klientinnen eine Korrektur ihrer Beziehungserfahrung
rung von KlientInnen entgegenwirkt.                                            im Kontext der therapeutischen Bindung zu vermitteln
Eine positive Therapiebeziehung stellt mit Hubble,                             (vgl. Merl, 2006).
Duncan und Miller (ihre Publikation trägt den Titel                            „I’l take your part when darkness comes“, so Paul Si-
„The Heart and Soul of Psychotherapy“, was ein wun-                            mon und Art Garfunkel in ihrem Song „Bridge over
derbarer Songtitel wäre) neben der „Hoffnung und po-                           troubled water“.
sitiven Veränderungserwartung von KlientInnen“, ne-
ben „Theorie- und Technikfaktoren“ und sog. „extrat-                           Simon und Garfunkel hatten sich Mitte der 50er Jahre ge-
herapeutischen Faktoren“2 den zentralen Wirkfaktor                             funden. 1964 nahmen sie das Album „Wednesday Mor-
hilfreicher Therapien dar (vgl. Hubble et al., 2001).                          ning, 3 A.M.“ auf, das unter anderem eine Cover-Version
Zusammenfassend bezeichnen die Autoren diese Wirk-                             von Dylans „The times are a-changing“ und Simons Kom-
faktoren als die sog. „big four“. Dank dieser Überschrift                      position „Sounds of Silence“ enthielt. 1966 erschien das
sind diese „big four“ mit den „big four“ meiner Jugend                         „Parsley, Sage, Rosemary and Thyme“ mit dem Traditional
– den Beatles - eng verbunden3.                                                „Scarborough Fair“, dessen komplexe Stimmführung mir
                                                                               nachträglich als eine wunderbare Einführung in die thera-
HALF OF WHAT I SAY IS MEANINGLESS                                              peutische Arbeit mit Mehrpersonen-Settings scheint.

Kurz nach dem Tod seiner Mutter Julia schrieb John                             Mit dieser Textzeile formulieren Simon & Garfunkel je-
Lennon einen gleichnamigen Song, der mit der Textzei-                          nen Grundsatz „therapeutischer Präsenz“ (vgl. Rogers,
le „Half of what I say is meaningless/but I say it just to                     1972) bzw. „aktiver therapeutischer Solidarität“ mit
reach you ...“ beginnt.                                                        KlientInnen, der auch im Zentrum des Beziehungsver-
Gleich Lennon glaube ich, dass die Hälfte dessen, was                          ständnisses langsamer systemischer Therapie steht (vgl.
ich meinen KlientInnen mitteile, für sie unter einem                           Grossmann & Russinger, 2011).
transformativen Blickwinkel ohne Bedeutung ist: Es
birgt keine inhaltliche Erweiterung des Erzählten, kein                        Wenige MusikerInnen haben die Idee der Solidarität so
erweitertes Verstehen, keine Anregung oder Dekon-                              konsequent besungen und auch zu leben versucht wie Joan
struktion, es spiegelt „nur“ mein empathisches An-                             Baez. Baez kam 1941 in New York zur Welt. Ihre biogra-
schließen.                                                                     fischen Erfahrungen - vor allem die soziale Ausgrenzung
In vielen Fällen ist diese „Hälfte“ noch zuwenig: Geht                         aufgrund ihrer mexikanischen Abstammung und ihrer
                                                                               dunklen Hautfarbe - prägten ihre künstlerische wie politi-
                                                                               sche Karriere. 1959 startete sie diese mit Auftritten in ei-
2
    Zu diesen zählt unter anderem die Unterstützung wichtiger sozialer         nem Folk-Club in Cambridge, einer Hochburg des ameri-
    Anderer für therapeutische Veränderungsprozesse: Veränderung – so
    schon die Beatles - geht einfacher mit „a little help from ... friends“.
                                                                               kanischen Folk-Revivals. Beim Newport Folk Festival
3
    Aus einer Folk-Perspektive würde allerdings die Assoziation der „big       spielte sie erstmals vor einem größeren Publikum. Auf einer
    four“ mit der kanadischen Folkband Crosby, Stills, Nash and Young näher    Tournee lernte sie Bob Dylan kennen und lieben. Die
    liegen.                                                                    Partnerschaft mit Dylan endete 1963, während dessen

8       SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
England-Tournee – besungen wurde diese Trennung Jahre          die in ihrem Ausmaß dem Kaspischen Meer vergleich-
später in ihrem Lied „Diamonds and rust“.                      bar sind. Titan verfügt über eine methanologischen
Auf dem Civil Rights March 1963 sang sie Pete Seegers          Flüssigkeitskreislauf, so wie die Erde einen hydrologi-
„We Shall Overcome“, das in den folgenden Jahren zu ih-        schen Kreislauf besitzt: Methan steigt als Gas hoch, reg-
rem künstlerischem Markenzeichen wurde. Ende der 60er          net in Form von großen Tropfen auf die Oberfläche (ich
Jahre trat sie auf dem Woodstock-Festival auf und nutzte       denke mir Methantropfen ähnlich wie Blätter, die im
                                                                                   Herbstwind langsam zur Erde glei-
                                                                                   ten), wo sie in der Nähe der Pole ge-
GUTE MUSIK UND GUTE THERAPIE WECKEN                                                frieren oder Seen bilden. Die hier
„HOFFNUNG ... AUF GENESUNG UND NOR-                                                entspringenden Flüsse formen die
MALITÄT“; GUTE MUSIK ERFÜLLT ZUDEM                                                 Täler und Hügel, ehe das Methan er-
                                                                                   neut verdunstet.
JENE KRITERIEN, DIE LUDEWIG ALS ESSEN-                                             Die Täler des Titan erinnern mich an
ZIELL FÜR HILFREICHE (THERAPEUTISCHE)                                              all die Flussläufe, an denen ich gerne
INTERAKTION DENKT: SIE IST NÜTZLICH,                                               entlang wandere. Titan gleicht mei-
                                                                                   ner Heimat, der Erde.
RESPEKTVOLL UND SCHÖN.                                                             Eines jener Lieder, die mir beim Be-
                                                                                   trachten der Bilder des Titan durch
dieses Forum (wie jedes ihrer Konzerte) dafür, gesellschaft-   den Kopf gingen und die diese Sehnsucht nach Bindung
liche Missstände zu thematisieren. Ihr von Gandhi beein-       thematisieren, ist Bettina Wegners „Heimweh nach
flusster Pazifismus führte sie zur Gründung des kaliforni-     Heimat“: „Ich hab“ – so der Refrain – „Heimweh nach
schen „Institute for the Study of Nonviolence“. Sie war und    Heimat/wo das auch sein mag“.
ist eine zentrale Stimme der amerikanischen Friedens- und
Bürgerrechtsbewegung.                                          Bettina Wegner wurde in West-Berlin geboren. Nach der
                                                               Gründung der DDR übersiedelte sie mit ihren Eltern nach
HEIMWEH NACH HEIMAT                                            Ost-Berlin, wo sie in einer Bibliothek arbeitete und ein
                                                               Schauspielstudium begann. Nachdem sie 1968 Flugblätter
Vor einigen Monaten sah ich Bilder von der Oberfläche          gegen die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten im
des Saturnmondes Titan: Sie stammten von der Raum-             Prager Frühling geschrieben und verteilt hatte, wurde sie
sonde Huygen aus dem Jahr 2004 und zeigen eine fla-            verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung
che Landschaft mit Wüstensand, in der einzelne Steine          verurteilt. Nach ihrer „Bewährung in der Produktion“
liegen – sie gleichen jenen Steinen, die man bei uns auf       besuchte sie die Abendschule, holte ihr Abitur nach und
der Erde in Flusstälern findet, abgerundet durch die           absolvierte eine Ausbildung als Sängerin.
Kraft des strömenden Wassers.                                  In ihrem künstlerischen Schaffen war sie zunehmenden
Die Annahme, dass es auf dem Titan Flüssigkeit gibt –          staatlichen Restriktionen ausgesetzt; nach ihrem Eintreten
trotz der 1 Milliarde Kilometer Entfernung zur Sonne           für den Liedermacher Wolf Biermann 1976 wurden ihre
– wurde ein Jahr später durch Aufnahmen vom Nord-              Auftrittsmöglichkeiten immer weiter beschnitten. 1983
und Südpol des Mondes bestätigt: Hier getätigte Rönt-          wurde sie vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis zu gehen
genaufnahmen zeigen eine schroffe Oberflächenstruk-            oder ausgebürgert zu werden. Sie zog nach West-Berlin.
tur mit eingelagerten schwarzen Flecken – diese Flecken        Der Verlust der Heimat stellt ein wiederkehrendes Thema
entstehen bei Röntgenaufnahmen, wenn ein fotogra-              ihrer Lieder dar.
fiertes Objekt vollkommen flach ist, wie dies etwa bei
der Oberfläche eines Sees der Fall ist. Tatsächlich han-       Einer der Gründe für die hohe Bedeutung der therapeu-
delt es sich bei diesen Flecken um riesige Methanseen,         tischen Bindung ist, dass sie das Bedürfnis von Klien-

                                                                                    SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12           9
GROSSMANN >

tInnen nach Zugehörigkeit – nach „Heimat“ - abzude-           Hügel und Täler Schottlands und Irlands. Ich zeltete an
cken sucht (vgl. Merl, 2006).                                 kleinen Seen und Flüssen, las Joyce und O’Faolin und
Diese Bedarfsdeckung gründet in der Fähigkeit von             verbrachte die Abende in kleinen Pubs, in denen sich
TherapeutInnen, trotz aller Unterschiede von Erfah-           die FolkmusikerInnen trafen, um gemeinsam zu musi-
rung, Gender, Weltbild, Status, Alter usf. in Bezug auf       zieren. Damals lernte ich die schottische und irische
ihre KlientInnen Analogien der Erfahrung und des Er-          Folkmusik lieben: die Lieder von Dougie MacLean, von
lebens herstellen zu können.                                  Andy Irvine, von Les Brown, die traditionellen Folk-
                                                              songs, in welchen die unglückliche Liebe, die Schönheit
BOTH SIDES NOW                                                der Landschaft, der Traum der Befreiung von englischer
                                                              Herrschaft und natürlich „the beauty of the ladies“ be-
„I’ve looked on life from both sides now ...“, so die An-     sungen wird.
fangszeilen des Refrains von Joni Mitchells Ballade           Jahre später wurde mir die Textphrase „through the hills
„Both sides now“. Sie formuliert musikalisch, was             and over valleys“ aus Cathie Ryans Ballade “Here´s to
White unter Bezug auf die
Qualität der therapeutischen
Kooperation als „two-way-         GUTE FOLKSONGS SIND EINFACH UND KLAR
account of therapy“ be-           STRUKTURIERT. DIESES MERKMAL TEILEN SIE
schreibt (vgl. White, 1998):
Positive therapeutische Ko-
                                  MIT DEM, WAS ICH ALS GUTE THERAPIE DENKE:
operation bedarf der Gleich-      GUTE THERAPIE IST EINFACH IN IHRER „LOGIK“,
wertigkeit der Teilnehmer         IN IHRER ZIELSETZUNG, IN IHREM AUFBAU.
des Therapiedialogs, sie
gründet nicht in einem „priveleged knowledge“ von             you“ zum Synonym für ein Herzstück des Therapiever-
TherapeutInnen, sondern in einem „bescheidenen Ex-            ständnisses langsamer systemischer Therapie: für die
pertentum“ (vgl. Weingarten, 1999).                           Verwandlung von Potenziallandschaften bzw. leidvoller
                                                              Fühl-Denk-Verhaltensmuster von KlientInnen.
Dass Joni Mitchell beide Seiten des Lebens kennt, spiegelt    In der Sprache der Synergetik lässt sich Therapie „als
sich in ihrer Biografie wieder. In einer kanadischen Klein-   Ausformung alternativer Attraktoren (Potenzialtäler)
stadt aufgewachsen und mit den Liedern von Pete Seeger        vorstellen ... (.) Das Persönlichkeitsspektrum erweitert
groß geworden, begann sie nach dem Abitur ein Kunststu-       sich und die dispositionelle Vielfalt erhöht sich: Die
dium in Toronto, das sie jedoch abbrach, als sie schwanger    Form der Landschaft wird komplexer. Der Einzugsbe-
wurde. Sie gab ihr Kind zur Adoption frei. Nach einer         reich (Bassin) des ursprünglichen „Störungsattraktors“
weiteren schmerzhaften Trennung begann sie, eigene Lie-       verringert sich und auch die Wahrscheinlichkeit, diesen
der zu schreiben. Sie ging nach New York. David Crosby        zu erreichen, wird kleiner.“ (Haken & Schiepek, 2006,
– späteres Mitglied von Crosby, Stills, Nash and Young –      S. 44).
produzierte 1968 ihr erstes Album.
Mitchell war nach Woodstock eingeladen, konnte aber das       AMERICAN TUNE
Festivalgelände aufgrund des enormen Andrangs nicht errei-
chen. Ihr Song „Woodstock“ wurde dennoch zu einer nach-       Gute Folksongs sind einfach und klar strukturiert. Die-
träglichen Hymne auf das Festival (vgl. Fleischer, 1976).     ses Merkmal teilen sie mit dem, was ich als gute Thera-
                                                              pie denke: Gute Therapie ist einfach in ihrer „Logik“,
THROUGH THE HILLS AND OVER VALLEYS                            in ihrer Zielsetzung, in ihrem Aufbau.
                                                              Viele Folksongs folgen einem Drei-Schritte-Schema,
Als ich jung war, streifte ich in den Ferien oft durch die    das auch die Prozessdramaturgie langsamer systemischer

10   SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
Therapie prägt: Sie formulieren in der ersten Strophe         Zusammenhänge klären oder schaffen; dass die erzählte
eine Problemsituation - ein dominantes/problemassozi-         Erfahrung möglicherweise eine ist, die der Klient/die
iertes Potenzialtal -, in der zweiten Strophe einen Po-       Klientin mit anderen teilt - all dies kann sich als heilsam
tenzialübergang und in der abschließenden dritten Stro-       oder zumindest entlastend erweisen.
phe eine Lösungserfahrung, was sich als Aktivierung           Eine Problemorientierung bzw. „Problemaktivierung“
und Bahnung eines alternativen Potenzialtals bzw. einer       von TherapeutInnen gewährleistet ein assoziiertes Dialo-
„alternative story“ lesen lässt (vgl. Grossmann, 2009).       gisieren des Therapiesystems: Das, wovon die Rede ist,
In analoger Weise lässt sich Therapie mit van Gennep          ist im „Hier und Jetzt“ des Dialogs der Fall, wird im
und White als dreiphasiger Prozess lesen, der sich aus        „Hier und Jetzt“ vergegenwärtigt; es wird nicht nur er-
einer „Separationsphase“, einer Phase des Übergangs           zählt, sondern im Erzählen partiell erneut erlebt und un-
(„Liminalphase“) und einer Phase der Reorganisation           ter Umständen handelnd durchlebt. Hilfreiches Erzäh-
(„Reinkorporationsphase“) zusammensetzt (vgl. Ge-             len in Therapie ist ein „Erzählen-in“, nicht ein „Erzäh-
nepp, 1986; vgl. White, 2000).                                len-über“: Dies ermöglicht, dass Problem-Lösungs-
In der „Separationsphase“ steht die Auflösung bisheri-        Übergänge sich affektiv bedeutsam entfalten.
ger dominanter Identitätskonstrukte von KlientInnen           Erst eine umfassende Problemaktualisierung ermöglicht
im Vordergrund. Die Separationsphase zielt auf ein So-        Problemdissoziation, ermöglicht KlientInnen ein allmäh-
wohl-als-auch von Problemaktualisierung wie Problem-          liches Heraustreten aus der Talsohle ihrer Problemerfah-
dissoziation.                                                 rung, eröffnet Raum für sprachliche Mikrointerven-
                                                              tionen, für Dekonstruktion, für Reframing, für unter-
Jener Song, der wie wenige andere mit einer Erfahrung der     schiedliche Formen der Problem-Externalisierung u. a.
Problemaktualisierung korrespondiert, ist „American           Die folgende „liminale Phase“ lässt sich als Erprobungs-
Tune“ von Paul Simon: „Many‘s the time I‘ve been mista-       phase für Potenzialübergänge denken: Sie realisiert sich
ken, and many times confused; and I‘ve often felt forsaken,   als Erkunden von Problemunterschieden, von Zielen
and certainly misused ...“, so die Anfangszeilen. Die Melo-   und Sehnsüchten. KlientInnen vollziehen Problem-Lö-
die des Songs ist einem Choral von Bachs Matthäus-Passion     sungs-Übergänge – mithilfe der Wunderfrage, der Time-
entnommen.                                                    line, mit Multiple Voices, mittels der Konstruktion von
                                                              Ausnahmen, mittels Zeitprogression und anderem.
Damit KlientInnen Problem-Lösungs-Übergänge nach-
haltig vollziehen, muss ihre leidvolle Erfahrung und          Dass es in Therapien um die Entwicklung alternativer Po-
Geschichte gehört werden: Die Erzählung des Leids             tenzialtäler bzw. um die Bahnung lösungsbezogener Fühl-
muss von KlientInnen ausgesprochen, wiedererlebt, ak-         Denk-Verhaltensmuster geht – um „Unterschiede, die ei-
tualisiert werden (vgl. Grossmann, 2005), und sie muss        nen Unterschied machen“ -, dieses Motiv deutet sich be-
durch TherapeutInnen verstanden, anerkannt, bezeugt,          reits in Dylans Album „Bringing it all back home“ - und
mit- und nachvollzogen werden.                                hier am prägnantesten in dem Song „My back pages“- an.
Mitteilung und Verstehen der Problemerfahrung von             1964 war Dylans Album „Another Side of Bob Dylan“ er-
KlientInnen bilden die Basis der therapeutischen Koope-       schienen; der Titel nahm vorweg, dass sich nun eine andere
ration. Sie gewährleisten, dass der Therapiedialog sich       Seite von Dylan zeigen würde. Tatsächlich war das Folge-
affektiv bedeutsamen Themen von KlientInnen widmet.           album „Bringing It All Back Home“ ein Wendepunkt: Es
Zuweilen ist es nur das verstehende Zuhören, das für          barg auf seiner B-Seite Folksongs in gewohnter Qualität –
KlientInnen jenen Unterschied macht, der einen Unter-         ein wundervolles „Mehr desselben“ –, die A-Seite hingegen
schied macht: Die Tatsache, dass erzählt werden kann,         zeigte Dylan als Folk-Rock-Komponisten und Sänger, der
dass dieses Erzählen nicht mit Abwertung oder Entwer-         die Westerngitarre gegen die Elektrogitarre tauschte und
tung seitens des Zuhörers/der Zuhörerin verbunden ist;        nicht mehr als Solist, sondern mit einer Band in Erschei-
dass im Verlauf des Erzählens Fragen gestellt werden, die     nung trat.

                                                                                   SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12          11
GROSSMANN >

In der Reinkorporations-
phase fungieren Therapeu-
                                  THERAPEUTINNEN LASSEN SICH ALS KO-AUTO-
tInnen als Ko-AutorInnen          RINNEN BZW. KO-MUSIKERINNEN LESEN, DIE
lösungsassoziierter     Fühl-
Denk-Verhaltensmuster: Sie
                                  GEMEINSAM MIT IHREN KLIENTINNEN EINE
unterstützen die Aktivie-         MUSIK DER LÖSUNG GENERIEREN. WIE ANDERE
rung und Bahnung alterna-         SINGER-SONGWRITER AUCH BEDIENEN SIE SICH
tiver Potenzialtäler – „The
hard-won meanings should
                                  HIERBEI DES MITTELS DER „VERKLEIDUNG“
be said, painted, danced,         BZW. DES „WRAPPING“: SIE KLEIDEN ZENTRALE
dramatised, put into circula-     UNTERSCHIEDSIDEEN IN EIN UNGEWÖHNLI-
tion“ (Turner, 1986, p. 37).
„Reinkorporation“        stellt   CHES GEWAND, DAMIT SIE FÜR KLIENTINNEN
sich ein, wenn KlientInnen        ANSCHLUSSFÄHIG SIND.
eine neue Identitätsstruktur
und einen veränderten sozialen Bezug entwickeln. Im            Therapeutische Interventionen – „Wrappings“ für Un-
Kontext dieser Phase werden auftauchende Lösungen              terschiedsideen – könne unterschiedlichste Formen an-
durch sog. Lösungsaktualisierungen verstärkt und au-           nehmen: jene des Fragens, der Videoscreen-Technik,
thentisiert: „The client is invited to locate a full account   der Zeitlinie, der Darstellung auf dem Systembrett, der
of the unique outcomes in a new, alternative story about       Skulpturierung, der therapeutischen Geschichte oder
her lived experience. The goal of this is to ensure that       Metapher usf.
the person experiences the full significance of the
unique outcomes. This process of inviting people to go         WHY SHOULD I CRY FOR YOU
back to their own experience and bring forth alternative
stories about themselves leads them to having a diffe-         Potenzialübergänge bzw. Interventionen in Therapien
rent experience of themselves“ (Kamsler, 1998, p. 64).         bedienen sich der Erinnerung (bzw. des „Wirklichkeits-
                                                               sinns“) und der Fantasie (bzw. des „Möglichkeitssinns“)
COME GATHER ’ROUND FRIENDS                                     von KlientInnen: Im ersten Fall realisiert sich das
AND I’LL TELL YOU A TALE                                       „Wrapping“ einer zentralen Unterschiedsidee über die
                                                               Rekonstruktion von lösungsassoziierten (vergangenen
„Come gather ’round friends and I’ll tell you a tale ...”      und gegenwärtigen) (Problem-)Ausnahmen und Unter-
– so die erste Zeile von Dylans „North Country Blues“.         schieden; im zweiten Fall verwirklicht sich „Wrapping“
TherapeutInnen lassen sich als Ko-AutorInnen bzw.              in Form des „Was-wäre-wenn“. Dieses „Was-wäre-
Ko-MusikerInnen lesen, die gemeinsam mit ihren Kli-            wenn“ findet seine direkte Entsprechung in John Len-
entInnen eine Musik der Lösung generieren. Wie ande-           nons „Imagine“.
re Singer-Songwriter auch bedienen sie sich hierbei des
Mittels der „Verkleidung“ bzw. des „wrapping“: Sie             Das Motiv des „Was-wäre-wenn“ liegt auch einem Song
kleiden zentrale Unterschiedsideen in ein ungewöhnli-          zugrunde, den Sting im Rahmen seiner Symphoncities-
ches Gewand, damit sie für KlientInnen anschlussfähig          Tournee vortrug – „Why should I cry for you“.
sind (vgl. Zeig, 1996, pers. Mitt.).                           Im Übergang zu diesem Song erzählte Sting, dass er als
Die Musik der Therapie ist im guten Fall jener Rahmen,         Kind seinen Vater, der als Milchmann arbeitete, auf seiner
in dem KlientInnen wie TherapeutInnen ihre Unter-              Morgentour durch Newcastle zu begleiten pflegte: Sein Va-
schiedsideen „aussäen“ können und in welchem diese             ter habe nicht viel mit ihm gesprochen, und er selbst sei bei
nach und nach reifen.                                          ihren morgendlichen Wanderungen seinen Träumen nach-

12    SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
gehangen. Aber eines Tages habe ihn sein Vater mit zu den     Kleine Veränderungen sind wichtiger als große. Langsam-
Docks genommen und ihm die auslaufenden Schiffe ge-           keit – so Geißler – ermöglicht „den Blick für die Nähe
zeigt. In diesem Zusammenhang sei es zu einem kurzen          und das Nahe, fürs Detail und fürs Besondere ... (.)
Gespräch gekommen – sein Vater habe ihm gewünscht, dass       Wir könnten diese Zeitform als Möglichkeit verstehen,
er ein gutes und aufregendes Leben führen solle und damit     etwas Neues, Unerwartetes an uns herankommen zu las-
gemeint, sein Sohn möge Matrose werden.                       sen“ (Geißler, 1996, S. 30).
Stings seinem verstorbenen Vater gewidmetes Lied „Why         Hilfreiche Therapie besteht darin, Unterschiede zu säen
should I cry for you“ gründet in der Vorstellung, was gewe-   bzw. zu fördern und der Seele von KlientInnen bei ih-
sen wäre, wenn er den Wünschen seines Vaters gefolgt wäre     rem Wachsen zuzuschauen.
und ein „gutes Leben“ gelebt hätte. Ben Furman – so den-      Woher stammen therapeutische Unterschiedsideen?
ke ich – müsste diesen Song lieben (vgl. Furman, 1999).       Wie entstehen gute Songs? In beiden Fällen spielt nicht
                                                              nur die Zielbezogenheit von Therapie, sondern auch In-
WATCHING THE RIVER FLOW                                       tuition eine gewichtige Rolle.

In Folksongs sind zentrale Unterschiedsideen zumeist in       Arlo Guthrie – Sohn von Woody Guthrie und Komponist
die Refrains eingewoben – diese Unterschiedsideen sind        so wunderbarer Songs wie „Alice’s Restaurant“ – erzählte
einfach, und sie kehren wieder und wieder.                    einmal während eines Konzerts, dass er nicht im eigentli-
Langsamkeit und Wiederholung sind – wie ich glaube            chen Sinne komponiere. Er gleiche vielmehr einem Fi-
– für hilfreiche Therapie essenziell.                         scher, der am Fluss sitze, seine Angel auswerfe und darauf
„Der therapeutische Prozess, unter dem Aspekt des Um-         warte, dass musikalische Ideen gleich Fischen den Fluss
gangs mit Zeit betrachtet, ist“ – so Brandl-Nebehay –         herunter schwimmen würden. Leider – so seine Ergän-
„ein An- und Innehalten: einen Halt bekommen durch            zung – sitze flussaufwärts ein weiterer Fischer (gemeint
freundlichen Rückblick und bewertende Betrachtung             war Bob Dylan), der ihm die besten vor der Nase weg-
des zurückgelegten Weges; im Sichten und frischen Er-         schnappen würde.
zählen des Vergangenen werden neue Selbstgeschichten
entwickelt, die eine lebbare Richtung in die Zukunft          CLOSE YOUR EYES
weisen“ (Brandl-Nebehay, 2004, S. 113). „Psychothera-
pie“ – so auch Retzer – „handelt nicht allein in der Zeit,    Ein hilfreicher Rahmen des Lernens in Therapien ist
sondern auch und vor allem mit der Zeit“ (Retzer,             das Lernen in Trance, das sich sowohl für die Einübung
1996, S. 153).                                                alternativer    Potenziale/Fühl-Denk-Verhaltensmuster
Aus der Perspektive Langsamer Systemischer Therapie           wie für die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen an-
ist das Evolvieren von Lösungen das Ergebnis vieler ein-      bietet (vgl. Russinger, 2004; Grossmann & Russinger,
zelner kleiner Schritte. Eine therapeutische Verwand-         2011),
lung gründet wesentlich in Vorgängen der Entschleuni-         Trance gewährleistet Lernen in verdichteter Aufmerk-
gung und in Wiederholung – sie besteht in kleinen und         samkeit und im Kontext relativer Entspannung – es be-
kontinuierlichen Änderungen (vgl. McClelland &                günstigt ein „one-trial-learning“; und es birgt eine eige-
Plunkett, 1995, p. 193).                                      ne Schönheit und die Qualität einer berührenden Er-
Entschleunigung meint: KlientInnen halten inne, re-           fahrung.
flektieren normalerweise rasch vor sich gehende Prozes-       Zentrale Grundsätze der Tranceinduktion finden sich
se ihres Fühlens, Denkens, Verhaltens, Interagierens.         nicht nur bei Erickson, bei Schmidt oder Gilligan, son-
Sie vergegenwärtigen sich deren Kontexte und Impli-           dern auch in einer Ballade, die ich erstmals vor fast vier-
kationen, sie erkunden mögliche Abzweigungen und              zig Jahren in einer Radioübertragung aus der Royal Al-
Variationen, sie untersuchen ihr Passen zu gegebenen          bert Hall in London gehört habe: Joni Mitchell und
Lebenswelten, zu ihren Zielen und Werten.                     James Taylor sangen hier gemeinsam Taylors Wiegenlied

                                                                                   SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12           13
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„Close your eyes“, das in seinem Refrain eine verdichtete     te er in einem kleinen verrauchten Konzertraum nahe
Zusammenfassung jedweder Tranceinduktion birgt:               der alten Tabakfabrik; wie gewohnt fanden sich zwi-
„Close your eyes                                              schen alten und vertrauten Nummern neue Stücke.
You can close your eyes                                       Ich mag Peter Ratzenbeck, seit ich ihn erstmals mit 19
It’s allright“.                                               Jahren beim Folkfestival in Vorarlberg gehört habe; ich
Dieses Duett gehört zum Schönsten, was Folkmusik zu           mag seine frühen und seine späten Kompositionen; ich
bieten hat.                                                   mag die endlosen Geschichten, die er zwischen den Stü-
                                                              cken und dem ebenso endlosen Hin- und Herstimmen
FIELDS OF GOLD                                                seiner Gitarre erzählt; und an diesem Abend vor vielen
                                                              Jahren mochte ich besonders seine erstmals gespielte Ei-
„You’ll remember me when the west wind moves                  genkomposition „Waldviertler Nächte“.
Upon the fields of barley                                     Während er spielte, entstanden in meinem Inneren Bil-
You’ll forget the sun in his jealous sky                      der der terrassierten Hügellandschaft des westlichen
As we walk in the fields of gold“.                            Waldviertels – der kleinen, mit Mauern aus Granitstei-
Stings „Fields of gold“ ist ein Song, in dem sich die Mu-     nen umgrenzten Kartoffel-, Mohn-, Roggen- und Ha-
sik der Lösung widerspiegelt, gleich den Gipfeln des To-      ferfelder; die Musik vergegenwärtigte mir den scharfen
ten Gebirges, die sich an einem sonnigen Herbstnach-          Wind aus dem nördlichen Böhmen, und die klirrende
mittag im Wasser des Wildensees im Toten Gebirge ab-          Kälte um Weihnachten, und den von Sternen übersäten
bilden.                                                       Himmel, und die Findlinge in der Blockheide, und das
Therapie wie Musik gründen in der Selbstwirksamkeit           Tal des Kamps mit seinen Streifen von Sonnenlicht auf
von KlientInnen bzw. HörerInnen: Die „Musik der Lö-           der Wasseroberfläche, und den Geschmack von Heidel-
sung“ entsteht in den Herzen und Köpfen von Betroffe-         beeren und Birkenpilzen, und den Raureif im frühen
nen.                                                          Herbst auf den Wiesen, der den frühen Winter ankün-
                                                              digt. Es war die perfekte Reise zu einem meiner vielen
SOUNDS OF SILENCE                                             „Inneren Sicheren Orte“.
                                                              Ließe sich Psychotherapie in die Sprache der Musik
In seiner Ballade „Sounds of Silence“ thematisiert Paul       übersetzen, so dachte ich damals, müsste sie gleich die-
Simon die enge Verbindung zwischen Musik und Stille.          sem Stück klingen. Sie müsste eine Atmosphäre der
Die gleiche Verbindung findet sich in Anmerkungen             Konzentration und Dichte bergen; sie müsste zugleich
des oberösterreichischen Schriftstellers Rudolf Habrin-       die Seele, den Körper und den Geist bewegen; sie hätte
ger über seine Arbeit: Er brauche – so Habringer – für        eine klar erkennbare Struktur, einen langen Spannungs-
sein Schreiben zwei Verbündete: Stille und Musik. Die         bogen, wäre voller Veränderungen in Rhythmus und
Musik sei die Schwester der Stille – sie sei „strukturierte   Tempo. Wie dieses Stück müsste sie kleine Pausen –
Stille“: Die Stille sei die „Begleiterin für den Kopf ...,    Räume der Stille - bergen, in denen etwas nachklingt
die Musik aber ist die Begleiterin, die mein Herz be-         und sich anderes vorbereitet, sie wäre anders als die
rührt“ (Habringer, 2011, S. 350).                             Welt draußen und doch eng mit ihr verbunden.
                                                              Seit damals sehne ich mich danach, Therapie zu ma-
WALDVIERTLER NÄCHTE                                           chen, die Peters Komposition nahe kommt.

Dass zwischen systemischer Therapie und der Musik,
                                                              UNIV.DOZ. DR. KONRAD PETER GROSSMANN
die ich liebe, ein Zusammenhang besteht, wurde mir
                                                              ist Psychologe, Psychotherapeut SF in freier Praxis und in der Ambulan-
vor einigen Jahren anlässlich des alljährlichen vorweih-      ten Systemischen Therapie der la:sf Wien, Mediator & Supervisor,
nachtlichen Konzerts des österreichischen Fingerpickers       Lehrtherapeut, Lehrsupervisor; Lehrbeauftragter der Univ. Klagenfurt
Peter Ratzenbeck in Linz deutlich. Wie jedes Jahr spiel-      und der FH für Sozialarbeit, Linz

14   SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
LITERATUR                                                                    Merl H (2006) Über das Offensichtliche. Kramer, Wien
Brandl-Nebehay A (2004) Rhythmus, Takt und Timing. Vom Umgang mit            Miles B (1997) Paul McCartney: Many years from now. Secker and
     der Zeit im therapeutischen Prozess. In: Manfredini I, Russinger U,         Warburg, London
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     Einführung in die Musiktherapie. Goldmann, München                          auf eine systemische Therapeutin. Systemische Notizen 1 (4), 4–18
Fleischer L (1976) Joni Mitchell. Flash Books, New York                      Spitzer M (2005) Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und
Furman B (1999) Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.           Erleben im neuronalen Netzwerk. Schattauer Verlag, Stuttgart
     Borgmann, Dortmund 1999                                                 Turner V (1986) Dewey, Dilthey, and Drama: An essay in the anthropology
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Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen                       Weingarten K (1999) Das Unscheinbare und das Gewöhnliche. Familien-
Grossmann KP (2005) Die Selbstwirksamkeit von Klienten. Carl-Auer,               dynamik, 24, 1, 29–50
     Heidelberg                                                              White M (1998c) Notes on power and the culture of therapy. In: White C,
Grossmann KP (2009) Ein Tagebuch langsamer Therapie. Krammer, Wien               Denborough D (eds.) Introducing Narrative Therapy. Dulwich Centre
Grossmann KP, Russinger U (2011) Verwandlung der Selbstbeziehung.                Publications, Adelaide
     Carl-Auer, Heidelberg                                                   White M (2000) Reflections on Narrative Practice. Essays & Interviews.
Habringer R (2011) Wie die Stille in mein Leben getreten ist und was sie         Dulwich Centre Publications, Adelaide
     mir bedeutet. Theologisch-praktische Quartalsschrift 4 (159), 347–350   Zeuch A., Hänsel M, Jungaberle H (2004) Systemische Konzepte für die
Hametner S (2006) Musik als Anstiftung. Theorie und Praxis einer                 Musiktherapie: spielend lösen. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg
     systemisch-konstruktivistischen Musikpädagogik. Carl-Auer,
     Heidelberg                                                              DISCOGRAPHIE
Haken H, Schiepek G (2006) Synergetik in der Psychologie. Selbstorgani-      Mick Jagger/Keith Richards: As tears go by
     sation verstehen und gestalten. Hogrefe, Göttingen, 2006,               Liederlich Spielleut: Lang eh ich dich kannte
Haley J (1981) Ablösungsprobleme Jugendlicher. Familientherapie – Bei-       John Lennon/Paul McCartney: Hey Jude
     spiele – Lösungen. Pfeiffer, München                                    John Lennon/Paul McCartney: Julia
Hubble MA, Duncan BL, Miller SD (Hrsg.) So wirkt Psychotherapie.             Bettina Wegner: Heimweh nach Heimat
     Empirische Ergebnisse und praktische Folgerungen. Modernes              Joni Mitchell: Both sides now
     Lernen, Dortmund                                                        Cathie Ryan: Here’s to you
Kamsler A (1998) Her-story in the making: Therapy with women who were        Paul Simon: American Tune
     sexually abused in childhood. In: White C, Denborough D (eds.)          Bob Dylan: North Country Blues
     Introducing Narrative Therapy. Dulwich Centre Publications, Adelaide    Sting: Why should I cry for you
Ludewig K (1988) Welches Wissen soll Wissen sein? Zeitschrift für            Bob Dylan: Watching the river flow
     systemische Therapie, 6, 2, 122–127                                     Sting: Fields of Gold
McClelland JL, Plunkett K (1995) Cognitive Development. In: Arbib M (ed.)    James Taylor: Close your eyes
     The Handbook of Brain Theory and Neural Networks. MIT Press,            Paul Simon: Sounds of Silence
     Cambridge MA, 193–197                                                   Peter Ratzenbeck: Waldviertler Nächte

                                                                                                       SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12                  15
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