FÜNFZEHN SONGS KONRAD PETER GROSSMANN
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THERAPIEPRAXIS > KONRAD PETER GROSSMANN FÜNFZEHN SONGS AS TEARS GO BY tung“ knüpfte an seine Erfahrung an, als Arbeiterkind in einer höheren Schule immer ein Außenseiter gewesen Thema eines vor kurzem statt- zu sein. gefundenen Therapiegesprächs In der weiteren Folge redeten wir darüber, wer in sei- mit einem jungen Mann war nem Leben zu den Stimmen der „Güte“ und der „Aner- seine ablehnende Haltung sich kennung“ beigetragen hatte: Beide Stimmen waren eng selbst gegenüber: Diese negative mit den wenigen positiv besetzten Personen verknüpft, Beziehung zum eigenen Selbst die zu seiner Entwicklung beigetragen hatten: mit ei- war eng mit seiner Erfahrung wiederkehrender depressi- nem Mönch, in dessen Nähe er einige Jahre gelebt hat- ver Episoden verbunden, die er durch exzessiven Alko- te, mit einem Lehrer, der ihn ermutigt und bestätigt hol- und Drogenkonsum zu lindern suchte. hatte, mit einem Therapeuten, der ihn über lange Zeit So kamen wir ins Gespräch über unterschiedliche hinweg begleitet hatte, vor allem aber mit seiner Freun- „Stimmen“, mit deren Hilfe er sein Selbst kommentier- din, mit der er seit kurzem in Liebe verbunden war. Wie te: Neben einer Stimme des „Nie-gut-genug“ identifi- sich zeigte, hatten die Stimmen der „Verachtung“ und zierte er eine Stimme der „Verachtung“, eine leise und des „Nie-gut-genug“ sein Leben noch vor wenigen Jah- selten in Erscheinung tretende Stimme der „Anerken- ren weit mehr dominiert als gegenwärtig. nung“, die an das Gelingen besonderer Leistungen ge- So wendete sich unser Dialog der Zukunft zu: Ange- bunden war, sowie – nach längerem Nachdenken – eine nommen diese Entwicklung würde einen weiteren gu- Stimme der „Güte“, die seinen Glauben daran, ein gu- ten Fortgang nehmen, wie würde sich die Konstellation ter Mensch zu sein, abbildete. seiner Band in den nächsten ein bis zwei Jahren wan- Aus welchen Quellen auch immer sich therapeutische deln? Der Klient illustrierte diesen Unterschied auf dem Metaphorik speist: In unserem weiteren Gespräch wur- Systembrett, indem er jene beiden Figuren, welche die den diese Stimmen den Mitgliedern einer Rockband „Güte“ und die „Wertschätzung“ repräsentierten, links (als Bezugspunkt dienten die Rolling Stones) gleichge- und rechts von seinem „Selbst“ positionierte (die kleine setzt, die sich rund um einen Frontman – das Selbst des Figur der „Wertschätzung“ wurde durch eine größere Klienten – gruppierten. ersetzt). Ich bat ihn, die gegenwärtige Bedeutung und Gewich- Auch die Stimme des „Nie-gut-genug“ erfuhr eine Ver- tung der einzelnen Bandmitglieder auf dem Systembrett änderung: Der Klient ersetzte sie durch zwei Figuren, zu veranschaulichen. Er positionierte sein Selbst in der wobei die erste weiterhin das „Nie-gut-genug“, die Mitte des Bretts mit Blick auf die Stimmen des „Nie- zweite hingegen eine produktive Stimme „hilfreicher gut-genug“ und der „Verachtung“. Für die Stimme der Selbstkritik“ repräsentierte. „Güte“ wählte er eine kleinere Figur, die er hinter dem Das Gespräch endete mit einer Klärung und Konkreti- „Selbst“ platzierte, die Stimme der „Anerkennung“ po- sierung des dargestellten Unterschieds – der Klient be- sitionierte er vom Selbst abgewandt am Rand des Sys- schrieb eine Reihe von Zeichen, an welchen er wie auch tembretts hinter der Figur des Selbst mit diametral ent- seine Freundin die beschriebene Verwandlung erkennen gegengesetzter Blickrichtung. würden - und einer abschließenden Würdigung des Kli- Im Dialog über die Darstellung gingen wir einer Reihe enten durch das Reflektierende Team. von Fragen nach: Wie war die gegenwärtige Konstella- Nach der Therapiestunde fiel mir der Song ein, der zu tion entstanden? Wann waren die einzelnen Stimmen/ der Therapiestunde gepasst hätte – Mick Jaggers „As Mitglieder zu seiner Band gestoßen? Mit welchen Perso- tears go by“. Die musikalische Metaphorik erinnerte nen seiner gegenwärtigen wie früheren Lebenswelt wa- mich daran, dass es unter anderem die Liebe zur Musik ren die einzelnen Stimmen assoziiert? Wie sich zeigte, war, die mich zur systemischen Therapie geführt hatte. war die Stimme des „Nie-gut-genug“ eng mit der Stim- Diesem Bezug/Dieser Liebe möchte ich mit den folgen- me seines Vaters verwoben; die Stimme der „Verach- den Zeilen meine Referenz erweisen. 6 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
LANG EH ICH DICH KANNTE Weymann, 1996). Die heilende Kraft der Musik spie- gelt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der Musikthe- „Lang eh ich dich kannte, warst du mir schon nah ...“ rapie wieder1. lautet die Anfangszeile des gleichnamigen Lieds der ös- Musik, die mit Gesang bzw. Text verbunden ist, leistet terreichischen Folkband „Liederlich Spielleut“, die sich zusätzlich noch anderes: Sie transportiert (metaphori- auf ihrem Album „Verloren oder was“ findet. Ähnlich sche) Beschreibungen von Erfahrung und bettet diese in erfinde ich mir meine Geschichte in Bezug auf Systemi- überindividuelle „ready mades“ - sie liefert Worte/Sätze sche Therapie: Lange ehe ich sie kannte, waren mir sys- für das, was wir nur schwer beschreiben können, sie ge- temische Ideen und Praktiken durch die Musik, die ich neriert Narrative, mithilfe derer wir eigene Erfahrung, hörte, schon nahe. Wünsche, Ängste, Sehnsüchte ordnen und verstehen Musik und Psychotherapie bergen eine Reihe von Ge- können und die uns das Gefühl vermitteln, mit unserer meinsamkeiten: Beide bewegen das Gemüt – sie trösten Erfahrung nicht allein zu sein; sie vermittelt Selbst- und (wie Nat King Coles „Mona Lisa“), beruhigen (wie Mo- Weltwissen, manchmal sogar Weisheit, die uns hilft, zu zarts „Zauberflöte“), aktivieren (wie „Romeo und Juli- leben und zu überleben. All diese Aspekte verbindet ett“ von den Dire Straits), versöhnen (wie Dvorcaks Musik mit Therapie. zweiter Satz der „Symphonie aus der Neuen Welt“) usf. Es gibt Musik für jede (therapeutische) Gelegenheit: für Musik ist „Anstiftung“ (vgl. Hametner, 2006): Durch das Einzelsetting, für das Paarsetting, für das familienthe- ihre Fähigkeit, emotionale Reaktionen hervorzurufen, rapeutische Setting („Teach your children well“ von Cros- war Musik schon früh mit Heilung assoziiert (vgl. Spit- by, Stills, Nash and Young ist ein Beispiel dafür). Es gibt zer, 2005). Bis in die Frühantike diente sie nicht nur als störungs- und lösungsspezifische Musik. Es gibt verbindendes Medium sozialer Gemeinschaften, son- Musik für Problemaktualisierungen (wie Dylans „Lay dern auch als tranceinduktives Verfahren, mit dessen down your weary tune“) und für Lösungsaktualisierun- Hilfe Götter angerufen bzw. Ressourcen aktiviert oder gen. Es gibt Musik für den (therapeutischen) Beziehungs- Dämonen vertrieben bzw. Problemzustände externali- aufbau und Musik für die Auflösung des Therapiesystems. siert wurden. In der klassischen Antike ging man davon Gute Musik und gute Therapie wecken „Hoffnung ... aus, dass biopsychosoziale Problemzustände in einer in- auf Genesung und Normalität“ (Haley, 1981, S. 18); neren „Unordnung“ von Kräften gründeten, die mittels gute Musik erfüllt zudem jene Kriterien, die Ludewig Musik geordnet und harmonisiert werden konnten. Be- als essenziell für hilfreiche (therapeutische) Interaktion reits Pythagoras soll Lieder dazu verwendet haben, ne- denkt: Sie ist nützlich, respektvoll und schön (vgl. Lu- gative Gemütszustände oder unkontrollierte Leiden- dewig, 1988). schaften auszugleichen. Nach Platon und Aristoteles sollte sich mit Hilfe von Rhythmus und Melodie die TAKE A SAD SONG AND MAKE IT BETTER Harmonie zwischen Körper und Seele, zwischen Geist und Gefühl wiederherstellen lassen. „Take a sad song and make it better ...“, so Lennon und In der Renaissance und im Barock diente Musik unter McCartney in ihrem Klassiker „Hey Jude“: Psychothera- anderem der Regulation des Blutkreislaufs, dessen Dis- pie ist der Versuch, das „Lied“ von KlientInnen, Partne- harmonie als Ursache von Leidenszuständen gedacht wurde. Mozart und Händel schrieben heilende Musik 1 Traditionell wird zwischen rezeptiver und aktiver Musiktherapie für Menschen, die unter chronischen Kopfschmerzen unterschieden: In der rezeptiven Musiktherapie wird therapeutische oder Melancholie litten. Bach komponierte seine Wirkung durch das Hören von Musik erzielt; in der aktiven Musikthera- pie werden KlientInnn zum Musizieren motiviert. Nach dem Zweiten „Goldberg-Variationen“ für einen von quälender Schlaf- Weltkrieg entstanden die heutigen Formen der aktiven Musiktherapie losigkeit Betroffenen, der – so der Mythos - durch das – unter anderem jene der systemischen Musiktherapie (Zeuch et al., wiederholte Hören der Komposition wieder zu seiner 2004). In Analogie zur Psychotherapie wird zwischen Einzelmusikthera- Ruhe und Ausgeglichenheit fand (vgl. Decker-Voigt & pie und Gruppenmusiktherapie unterschieden. SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12 7
GROSSMANN > rInnen, Familienmitgliedern ein bisschen besser zu ma- man mit Grawe davon aus, dass achtzig Prozent aller chen, unter anderem, indem sie ihre „affektive Lebens- TherapieklientInnen über stark negative Bindungser- melodie“ moduliert (vgl. Russinger, 2009, pers. Mitt.). fahrungen sowohl in ihrer Biografie wie auch in ihrer Damit Menschen sich verändern, bedürfen sie des Rah- aktuellen Lebenswelt verfügen (vgl. Grawe, 2004) und mens einer positiven Therapiebeziehung: eines Rah- dass sie diese Erfahrung auf die Beziehung zu ihren mens der Empathie, des Respekts, der Wertschätzung TherapeutInnen im Sinne einer negativen Bindungser- und Neutralität, der Kooperation und der Ressourcen- wartung „übertragen“, so ist mehr als die Hälfte dessen, orientierung. Sie ist jener stabilisierende Wirkfaktor, was ich sage, „meaningless“. Es ist darauf ausgerichtet, welcher der mit Veränderung einhergehenden Labilisie- Klientinnen eine Korrektur ihrer Beziehungserfahrung rung von KlientInnen entgegenwirkt. im Kontext der therapeutischen Bindung zu vermitteln Eine positive Therapiebeziehung stellt mit Hubble, (vgl. Merl, 2006). Duncan und Miller (ihre Publikation trägt den Titel „I’l take your part when darkness comes“, so Paul Si- „The Heart and Soul of Psychotherapy“, was ein wun- mon und Art Garfunkel in ihrem Song „Bridge over derbarer Songtitel wäre) neben der „Hoffnung und po- troubled water“. sitiven Veränderungserwartung von KlientInnen“, ne- ben „Theorie- und Technikfaktoren“ und sog. „extrat- Simon und Garfunkel hatten sich Mitte der 50er Jahre ge- herapeutischen Faktoren“2 den zentralen Wirkfaktor funden. 1964 nahmen sie das Album „Wednesday Mor- hilfreicher Therapien dar (vgl. Hubble et al., 2001). ning, 3 A.M.“ auf, das unter anderem eine Cover-Version Zusammenfassend bezeichnen die Autoren diese Wirk- von Dylans „The times are a-changing“ und Simons Kom- faktoren als die sog. „big four“. Dank dieser Überschrift position „Sounds of Silence“ enthielt. 1966 erschien das sind diese „big four“ mit den „big four“ meiner Jugend „Parsley, Sage, Rosemary and Thyme“ mit dem Traditional – den Beatles - eng verbunden3. „Scarborough Fair“, dessen komplexe Stimmführung mir nachträglich als eine wunderbare Einführung in die thera- HALF OF WHAT I SAY IS MEANINGLESS peutische Arbeit mit Mehrpersonen-Settings scheint. Kurz nach dem Tod seiner Mutter Julia schrieb John Mit dieser Textzeile formulieren Simon & Garfunkel je- Lennon einen gleichnamigen Song, der mit der Textzei- nen Grundsatz „therapeutischer Präsenz“ (vgl. Rogers, le „Half of what I say is meaningless/but I say it just to 1972) bzw. „aktiver therapeutischer Solidarität“ mit reach you ...“ beginnt. KlientInnen, der auch im Zentrum des Beziehungsver- Gleich Lennon glaube ich, dass die Hälfte dessen, was ständnisses langsamer systemischer Therapie steht (vgl. ich meinen KlientInnen mitteile, für sie unter einem Grossmann & Russinger, 2011). transformativen Blickwinkel ohne Bedeutung ist: Es birgt keine inhaltliche Erweiterung des Erzählten, kein Wenige MusikerInnen haben die Idee der Solidarität so erweitertes Verstehen, keine Anregung oder Dekon- konsequent besungen und auch zu leben versucht wie Joan struktion, es spiegelt „nur“ mein empathisches An- Baez. Baez kam 1941 in New York zur Welt. Ihre biogra- schließen. fischen Erfahrungen - vor allem die soziale Ausgrenzung In vielen Fällen ist diese „Hälfte“ noch zuwenig: Geht aufgrund ihrer mexikanischen Abstammung und ihrer dunklen Hautfarbe - prägten ihre künstlerische wie politi- sche Karriere. 1959 startete sie diese mit Auftritten in ei- 2 Zu diesen zählt unter anderem die Unterstützung wichtiger sozialer nem Folk-Club in Cambridge, einer Hochburg des ameri- Anderer für therapeutische Veränderungsprozesse: Veränderung – so schon die Beatles - geht einfacher mit „a little help from ... friends“. kanischen Folk-Revivals. Beim Newport Folk Festival 3 Aus einer Folk-Perspektive würde allerdings die Assoziation der „big spielte sie erstmals vor einem größeren Publikum. Auf einer four“ mit der kanadischen Folkband Crosby, Stills, Nash and Young näher Tournee lernte sie Bob Dylan kennen und lieben. Die liegen. Partnerschaft mit Dylan endete 1963, während dessen 8 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
England-Tournee – besungen wurde diese Trennung Jahre die in ihrem Ausmaß dem Kaspischen Meer vergleich- später in ihrem Lied „Diamonds and rust“. bar sind. Titan verfügt über eine methanologischen Auf dem Civil Rights March 1963 sang sie Pete Seegers Flüssigkeitskreislauf, so wie die Erde einen hydrologi- „We Shall Overcome“, das in den folgenden Jahren zu ih- schen Kreislauf besitzt: Methan steigt als Gas hoch, reg- rem künstlerischem Markenzeichen wurde. Ende der 60er net in Form von großen Tropfen auf die Oberfläche (ich Jahre trat sie auf dem Woodstock-Festival auf und nutzte denke mir Methantropfen ähnlich wie Blätter, die im Herbstwind langsam zur Erde glei- ten), wo sie in der Nähe der Pole ge- GUTE MUSIK UND GUTE THERAPIE WECKEN frieren oder Seen bilden. Die hier „HOFFNUNG ... AUF GENESUNG UND NOR- entspringenden Flüsse formen die MALITÄT“; GUTE MUSIK ERFÜLLT ZUDEM Täler und Hügel, ehe das Methan er- neut verdunstet. JENE KRITERIEN, DIE LUDEWIG ALS ESSEN- Die Täler des Titan erinnern mich an ZIELL FÜR HILFREICHE (THERAPEUTISCHE) all die Flussläufe, an denen ich gerne INTERAKTION DENKT: SIE IST NÜTZLICH, entlang wandere. Titan gleicht mei- ner Heimat, der Erde. RESPEKTVOLL UND SCHÖN. Eines jener Lieder, die mir beim Be- trachten der Bilder des Titan durch dieses Forum (wie jedes ihrer Konzerte) dafür, gesellschaft- den Kopf gingen und die diese Sehnsucht nach Bindung liche Missstände zu thematisieren. Ihr von Gandhi beein- thematisieren, ist Bettina Wegners „Heimweh nach flusster Pazifismus führte sie zur Gründung des kaliforni- Heimat“: „Ich hab“ – so der Refrain – „Heimweh nach schen „Institute for the Study of Nonviolence“. Sie war und Heimat/wo das auch sein mag“. ist eine zentrale Stimme der amerikanischen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Bettina Wegner wurde in West-Berlin geboren. Nach der Gründung der DDR übersiedelte sie mit ihren Eltern nach HEIMWEH NACH HEIMAT Ost-Berlin, wo sie in einer Bibliothek arbeitete und ein Schauspielstudium begann. Nachdem sie 1968 Flugblätter Vor einigen Monaten sah ich Bilder von der Oberfläche gegen die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten im des Saturnmondes Titan: Sie stammten von der Raum- Prager Frühling geschrieben und verteilt hatte, wurde sie sonde Huygen aus dem Jahr 2004 und zeigen eine fla- verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung che Landschaft mit Wüstensand, in der einzelne Steine verurteilt. Nach ihrer „Bewährung in der Produktion“ liegen – sie gleichen jenen Steinen, die man bei uns auf besuchte sie die Abendschule, holte ihr Abitur nach und der Erde in Flusstälern findet, abgerundet durch die absolvierte eine Ausbildung als Sängerin. Kraft des strömenden Wassers. In ihrem künstlerischen Schaffen war sie zunehmenden Die Annahme, dass es auf dem Titan Flüssigkeit gibt – staatlichen Restriktionen ausgesetzt; nach ihrem Eintreten trotz der 1 Milliarde Kilometer Entfernung zur Sonne für den Liedermacher Wolf Biermann 1976 wurden ihre – wurde ein Jahr später durch Aufnahmen vom Nord- Auftrittsmöglichkeiten immer weiter beschnitten. 1983 und Südpol des Mondes bestätigt: Hier getätigte Rönt- wurde sie vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis zu gehen genaufnahmen zeigen eine schroffe Oberflächenstruk- oder ausgebürgert zu werden. Sie zog nach West-Berlin. tur mit eingelagerten schwarzen Flecken – diese Flecken Der Verlust der Heimat stellt ein wiederkehrendes Thema entstehen bei Röntgenaufnahmen, wenn ein fotogra- ihrer Lieder dar. fiertes Objekt vollkommen flach ist, wie dies etwa bei der Oberfläche eines Sees der Fall ist. Tatsächlich han- Einer der Gründe für die hohe Bedeutung der therapeu- delt es sich bei diesen Flecken um riesige Methanseen, tischen Bindung ist, dass sie das Bedürfnis von Klien- SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12 9
GROSSMANN > tInnen nach Zugehörigkeit – nach „Heimat“ - abzude- Hügel und Täler Schottlands und Irlands. Ich zeltete an cken sucht (vgl. Merl, 2006). kleinen Seen und Flüssen, las Joyce und O’Faolin und Diese Bedarfsdeckung gründet in der Fähigkeit von verbrachte die Abende in kleinen Pubs, in denen sich TherapeutInnen, trotz aller Unterschiede von Erfah- die FolkmusikerInnen trafen, um gemeinsam zu musi- rung, Gender, Weltbild, Status, Alter usf. in Bezug auf zieren. Damals lernte ich die schottische und irische ihre KlientInnen Analogien der Erfahrung und des Er- Folkmusik lieben: die Lieder von Dougie MacLean, von lebens herstellen zu können. Andy Irvine, von Les Brown, die traditionellen Folk- songs, in welchen die unglückliche Liebe, die Schönheit BOTH SIDES NOW der Landschaft, der Traum der Befreiung von englischer Herrschaft und natürlich „the beauty of the ladies“ be- „I’ve looked on life from both sides now ...“, so die An- sungen wird. fangszeilen des Refrains von Joni Mitchells Ballade Jahre später wurde mir die Textphrase „through the hills „Both sides now“. Sie formuliert musikalisch, was and over valleys“ aus Cathie Ryans Ballade “Here´s to White unter Bezug auf die Qualität der therapeutischen Kooperation als „two-way- GUTE FOLKSONGS SIND EINFACH UND KLAR account of therapy“ be- STRUKTURIERT. DIESES MERKMAL TEILEN SIE schreibt (vgl. White, 1998): Positive therapeutische Ko- MIT DEM, WAS ICH ALS GUTE THERAPIE DENKE: operation bedarf der Gleich- GUTE THERAPIE IST EINFACH IN IHRER „LOGIK“, wertigkeit der Teilnehmer IN IHRER ZIELSETZUNG, IN IHREM AUFBAU. des Therapiedialogs, sie gründet nicht in einem „priveleged knowledge“ von you“ zum Synonym für ein Herzstück des Therapiever- TherapeutInnen, sondern in einem „bescheidenen Ex- ständnisses langsamer systemischer Therapie: für die pertentum“ (vgl. Weingarten, 1999). Verwandlung von Potenziallandschaften bzw. leidvoller Fühl-Denk-Verhaltensmuster von KlientInnen. Dass Joni Mitchell beide Seiten des Lebens kennt, spiegelt In der Sprache der Synergetik lässt sich Therapie „als sich in ihrer Biografie wieder. In einer kanadischen Klein- Ausformung alternativer Attraktoren (Potenzialtäler) stadt aufgewachsen und mit den Liedern von Pete Seeger vorstellen ... (.) Das Persönlichkeitsspektrum erweitert groß geworden, begann sie nach dem Abitur ein Kunststu- sich und die dispositionelle Vielfalt erhöht sich: Die dium in Toronto, das sie jedoch abbrach, als sie schwanger Form der Landschaft wird komplexer. Der Einzugsbe- wurde. Sie gab ihr Kind zur Adoption frei. Nach einer reich (Bassin) des ursprünglichen „Störungsattraktors“ weiteren schmerzhaften Trennung begann sie, eigene Lie- verringert sich und auch die Wahrscheinlichkeit, diesen der zu schreiben. Sie ging nach New York. David Crosby zu erreichen, wird kleiner.“ (Haken & Schiepek, 2006, – späteres Mitglied von Crosby, Stills, Nash and Young – S. 44). produzierte 1968 ihr erstes Album. Mitchell war nach Woodstock eingeladen, konnte aber das AMERICAN TUNE Festivalgelände aufgrund des enormen Andrangs nicht errei- chen. Ihr Song „Woodstock“ wurde dennoch zu einer nach- Gute Folksongs sind einfach und klar strukturiert. Die- träglichen Hymne auf das Festival (vgl. Fleischer, 1976). ses Merkmal teilen sie mit dem, was ich als gute Thera- pie denke: Gute Therapie ist einfach in ihrer „Logik“, THROUGH THE HILLS AND OVER VALLEYS in ihrer Zielsetzung, in ihrem Aufbau. Viele Folksongs folgen einem Drei-Schritte-Schema, Als ich jung war, streifte ich in den Ferien oft durch die das auch die Prozessdramaturgie langsamer systemischer 10 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
Therapie prägt: Sie formulieren in der ersten Strophe Zusammenhänge klären oder schaffen; dass die erzählte eine Problemsituation - ein dominantes/problemassozi- Erfahrung möglicherweise eine ist, die der Klient/die iertes Potenzialtal -, in der zweiten Strophe einen Po- Klientin mit anderen teilt - all dies kann sich als heilsam tenzialübergang und in der abschließenden dritten Stro- oder zumindest entlastend erweisen. phe eine Lösungserfahrung, was sich als Aktivierung Eine Problemorientierung bzw. „Problemaktivierung“ und Bahnung eines alternativen Potenzialtals bzw. einer von TherapeutInnen gewährleistet ein assoziiertes Dialo- „alternative story“ lesen lässt (vgl. Grossmann, 2009). gisieren des Therapiesystems: Das, wovon die Rede ist, In analoger Weise lässt sich Therapie mit van Gennep ist im „Hier und Jetzt“ des Dialogs der Fall, wird im und White als dreiphasiger Prozess lesen, der sich aus „Hier und Jetzt“ vergegenwärtigt; es wird nicht nur er- einer „Separationsphase“, einer Phase des Übergangs zählt, sondern im Erzählen partiell erneut erlebt und un- („Liminalphase“) und einer Phase der Reorganisation ter Umständen handelnd durchlebt. Hilfreiches Erzäh- („Reinkorporationsphase“) zusammensetzt (vgl. Ge- len in Therapie ist ein „Erzählen-in“, nicht ein „Erzäh- nepp, 1986; vgl. White, 2000). len-über“: Dies ermöglicht, dass Problem-Lösungs- In der „Separationsphase“ steht die Auflösung bisheri- Übergänge sich affektiv bedeutsam entfalten. ger dominanter Identitätskonstrukte von KlientInnen Erst eine umfassende Problemaktualisierung ermöglicht im Vordergrund. Die Separationsphase zielt auf ein So- Problemdissoziation, ermöglicht KlientInnen ein allmäh- wohl-als-auch von Problemaktualisierung wie Problem- liches Heraustreten aus der Talsohle ihrer Problemerfah- dissoziation. rung, eröffnet Raum für sprachliche Mikrointerven- tionen, für Dekonstruktion, für Reframing, für unter- Jener Song, der wie wenige andere mit einer Erfahrung der schiedliche Formen der Problem-Externalisierung u. a. Problemaktualisierung korrespondiert, ist „American Die folgende „liminale Phase“ lässt sich als Erprobungs- Tune“ von Paul Simon: „Many‘s the time I‘ve been mista- phase für Potenzialübergänge denken: Sie realisiert sich ken, and many times confused; and I‘ve often felt forsaken, als Erkunden von Problemunterschieden, von Zielen and certainly misused ...“, so die Anfangszeilen. Die Melo- und Sehnsüchten. KlientInnen vollziehen Problem-Lö- die des Songs ist einem Choral von Bachs Matthäus-Passion sungs-Übergänge – mithilfe der Wunderfrage, der Time- entnommen. line, mit Multiple Voices, mittels der Konstruktion von Ausnahmen, mittels Zeitprogression und anderem. Damit KlientInnen Problem-Lösungs-Übergänge nach- haltig vollziehen, muss ihre leidvolle Erfahrung und Dass es in Therapien um die Entwicklung alternativer Po- Geschichte gehört werden: Die Erzählung des Leids tenzialtäler bzw. um die Bahnung lösungsbezogener Fühl- muss von KlientInnen ausgesprochen, wiedererlebt, ak- Denk-Verhaltensmuster geht – um „Unterschiede, die ei- tualisiert werden (vgl. Grossmann, 2005), und sie muss nen Unterschied machen“ -, dieses Motiv deutet sich be- durch TherapeutInnen verstanden, anerkannt, bezeugt, reits in Dylans Album „Bringing it all back home“ - und mit- und nachvollzogen werden. hier am prägnantesten in dem Song „My back pages“- an. Mitteilung und Verstehen der Problemerfahrung von 1964 war Dylans Album „Another Side of Bob Dylan“ er- KlientInnen bilden die Basis der therapeutischen Koope- schienen; der Titel nahm vorweg, dass sich nun eine andere ration. Sie gewährleisten, dass der Therapiedialog sich Seite von Dylan zeigen würde. Tatsächlich war das Folge- affektiv bedeutsamen Themen von KlientInnen widmet. album „Bringing It All Back Home“ ein Wendepunkt: Es Zuweilen ist es nur das verstehende Zuhören, das für barg auf seiner B-Seite Folksongs in gewohnter Qualität – KlientInnen jenen Unterschied macht, der einen Unter- ein wundervolles „Mehr desselben“ –, die A-Seite hingegen schied macht: Die Tatsache, dass erzählt werden kann, zeigte Dylan als Folk-Rock-Komponisten und Sänger, der dass dieses Erzählen nicht mit Abwertung oder Entwer- die Westerngitarre gegen die Elektrogitarre tauschte und tung seitens des Zuhörers/der Zuhörerin verbunden ist; nicht mehr als Solist, sondern mit einer Band in Erschei- dass im Verlauf des Erzählens Fragen gestellt werden, die nung trat. SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12 11
GROSSMANN > In der Reinkorporations- phase fungieren Therapeu- THERAPEUTINNEN LASSEN SICH ALS KO-AUTO- tInnen als Ko-AutorInnen RINNEN BZW. KO-MUSIKERINNEN LESEN, DIE lösungsassoziierter Fühl- Denk-Verhaltensmuster: Sie GEMEINSAM MIT IHREN KLIENTINNEN EINE unterstützen die Aktivie- MUSIK DER LÖSUNG GENERIEREN. WIE ANDERE rung und Bahnung alterna- SINGER-SONGWRITER AUCH BEDIENEN SIE SICH tiver Potenzialtäler – „The hard-won meanings should HIERBEI DES MITTELS DER „VERKLEIDUNG“ be said, painted, danced, BZW. DES „WRAPPING“: SIE KLEIDEN ZENTRALE dramatised, put into circula- UNTERSCHIEDSIDEEN IN EIN UNGEWÖHNLI- tion“ (Turner, 1986, p. 37). „Reinkorporation“ stellt CHES GEWAND, DAMIT SIE FÜR KLIENTINNEN sich ein, wenn KlientInnen ANSCHLUSSFÄHIG SIND. eine neue Identitätsstruktur und einen veränderten sozialen Bezug entwickeln. Im Therapeutische Interventionen – „Wrappings“ für Un- Kontext dieser Phase werden auftauchende Lösungen terschiedsideen – könne unterschiedlichste Formen an- durch sog. Lösungsaktualisierungen verstärkt und au- nehmen: jene des Fragens, der Videoscreen-Technik, thentisiert: „The client is invited to locate a full account der Zeitlinie, der Darstellung auf dem Systembrett, der of the unique outcomes in a new, alternative story about Skulpturierung, der therapeutischen Geschichte oder her lived experience. The goal of this is to ensure that Metapher usf. the person experiences the full significance of the unique outcomes. This process of inviting people to go WHY SHOULD I CRY FOR YOU back to their own experience and bring forth alternative stories about themselves leads them to having a diffe- Potenzialübergänge bzw. Interventionen in Therapien rent experience of themselves“ (Kamsler, 1998, p. 64). bedienen sich der Erinnerung (bzw. des „Wirklichkeits- sinns“) und der Fantasie (bzw. des „Möglichkeitssinns“) COME GATHER ’ROUND FRIENDS von KlientInnen: Im ersten Fall realisiert sich das AND I’LL TELL YOU A TALE „Wrapping“ einer zentralen Unterschiedsidee über die Rekonstruktion von lösungsassoziierten (vergangenen „Come gather ’round friends and I’ll tell you a tale ...” und gegenwärtigen) (Problem-)Ausnahmen und Unter- – so die erste Zeile von Dylans „North Country Blues“. schieden; im zweiten Fall verwirklicht sich „Wrapping“ TherapeutInnen lassen sich als Ko-AutorInnen bzw. in Form des „Was-wäre-wenn“. Dieses „Was-wäre- Ko-MusikerInnen lesen, die gemeinsam mit ihren Kli- wenn“ findet seine direkte Entsprechung in John Len- entInnen eine Musik der Lösung generieren. Wie ande- nons „Imagine“. re Singer-Songwriter auch bedienen sie sich hierbei des Mittels der „Verkleidung“ bzw. des „wrapping“: Sie Das Motiv des „Was-wäre-wenn“ liegt auch einem Song kleiden zentrale Unterschiedsideen in ein ungewöhnli- zugrunde, den Sting im Rahmen seiner Symphoncities- ches Gewand, damit sie für KlientInnen anschlussfähig Tournee vortrug – „Why should I cry for you“. sind (vgl. Zeig, 1996, pers. Mitt.). Im Übergang zu diesem Song erzählte Sting, dass er als Die Musik der Therapie ist im guten Fall jener Rahmen, Kind seinen Vater, der als Milchmann arbeitete, auf seiner in dem KlientInnen wie TherapeutInnen ihre Unter- Morgentour durch Newcastle zu begleiten pflegte: Sein Va- schiedsideen „aussäen“ können und in welchem diese ter habe nicht viel mit ihm gesprochen, und er selbst sei bei nach und nach reifen. ihren morgendlichen Wanderungen seinen Träumen nach- 12 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
gehangen. Aber eines Tages habe ihn sein Vater mit zu den Kleine Veränderungen sind wichtiger als große. Langsam- Docks genommen und ihm die auslaufenden Schiffe ge- keit – so Geißler – ermöglicht „den Blick für die Nähe zeigt. In diesem Zusammenhang sei es zu einem kurzen und das Nahe, fürs Detail und fürs Besondere ... (.) Gespräch gekommen – sein Vater habe ihm gewünscht, dass Wir könnten diese Zeitform als Möglichkeit verstehen, er ein gutes und aufregendes Leben führen solle und damit etwas Neues, Unerwartetes an uns herankommen zu las- gemeint, sein Sohn möge Matrose werden. sen“ (Geißler, 1996, S. 30). Stings seinem verstorbenen Vater gewidmetes Lied „Why Hilfreiche Therapie besteht darin, Unterschiede zu säen should I cry for you“ gründet in der Vorstellung, was gewe- bzw. zu fördern und der Seele von KlientInnen bei ih- sen wäre, wenn er den Wünschen seines Vaters gefolgt wäre rem Wachsen zuzuschauen. und ein „gutes Leben“ gelebt hätte. Ben Furman – so den- Woher stammen therapeutische Unterschiedsideen? ke ich – müsste diesen Song lieben (vgl. Furman, 1999). Wie entstehen gute Songs? In beiden Fällen spielt nicht nur die Zielbezogenheit von Therapie, sondern auch In- WATCHING THE RIVER FLOW tuition eine gewichtige Rolle. In Folksongs sind zentrale Unterschiedsideen zumeist in Arlo Guthrie – Sohn von Woody Guthrie und Komponist die Refrains eingewoben – diese Unterschiedsideen sind so wunderbarer Songs wie „Alice’s Restaurant“ – erzählte einfach, und sie kehren wieder und wieder. einmal während eines Konzerts, dass er nicht im eigentli- Langsamkeit und Wiederholung sind – wie ich glaube chen Sinne komponiere. Er gleiche vielmehr einem Fi- – für hilfreiche Therapie essenziell. scher, der am Fluss sitze, seine Angel auswerfe und darauf „Der therapeutische Prozess, unter dem Aspekt des Um- warte, dass musikalische Ideen gleich Fischen den Fluss gangs mit Zeit betrachtet, ist“ – so Brandl-Nebehay – herunter schwimmen würden. Leider – so seine Ergän- „ein An- und Innehalten: einen Halt bekommen durch zung – sitze flussaufwärts ein weiterer Fischer (gemeint freundlichen Rückblick und bewertende Betrachtung war Bob Dylan), der ihm die besten vor der Nase weg- des zurückgelegten Weges; im Sichten und frischen Er- schnappen würde. zählen des Vergangenen werden neue Selbstgeschichten entwickelt, die eine lebbare Richtung in die Zukunft CLOSE YOUR EYES weisen“ (Brandl-Nebehay, 2004, S. 113). „Psychothera- pie“ – so auch Retzer – „handelt nicht allein in der Zeit, Ein hilfreicher Rahmen des Lernens in Therapien ist sondern auch und vor allem mit der Zeit“ (Retzer, das Lernen in Trance, das sich sowohl für die Einübung 1996, S. 153). alternativer Potenziale/Fühl-Denk-Verhaltensmuster Aus der Perspektive Langsamer Systemischer Therapie wie für die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen an- ist das Evolvieren von Lösungen das Ergebnis vieler ein- bietet (vgl. Russinger, 2004; Grossmann & Russinger, zelner kleiner Schritte. Eine therapeutische Verwand- 2011), lung gründet wesentlich in Vorgängen der Entschleuni- Trance gewährleistet Lernen in verdichteter Aufmerk- gung und in Wiederholung – sie besteht in kleinen und samkeit und im Kontext relativer Entspannung – es be- kontinuierlichen Änderungen (vgl. McClelland & günstigt ein „one-trial-learning“; und es birgt eine eige- Plunkett, 1995, p. 193). ne Schönheit und die Qualität einer berührenden Er- Entschleunigung meint: KlientInnen halten inne, re- fahrung. flektieren normalerweise rasch vor sich gehende Prozes- Zentrale Grundsätze der Tranceinduktion finden sich se ihres Fühlens, Denkens, Verhaltens, Interagierens. nicht nur bei Erickson, bei Schmidt oder Gilligan, son- Sie vergegenwärtigen sich deren Kontexte und Impli- dern auch in einer Ballade, die ich erstmals vor fast vier- kationen, sie erkunden mögliche Abzweigungen und zig Jahren in einer Radioübertragung aus der Royal Al- Variationen, sie untersuchen ihr Passen zu gegebenen bert Hall in London gehört habe: Joni Mitchell und Lebenswelten, zu ihren Zielen und Werten. James Taylor sangen hier gemeinsam Taylors Wiegenlied SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12 13
GROSSMANN > „Close your eyes“, das in seinem Refrain eine verdichtete te er in einem kleinen verrauchten Konzertraum nahe Zusammenfassung jedweder Tranceinduktion birgt: der alten Tabakfabrik; wie gewohnt fanden sich zwi- „Close your eyes schen alten und vertrauten Nummern neue Stücke. You can close your eyes Ich mag Peter Ratzenbeck, seit ich ihn erstmals mit 19 It’s allright“. Jahren beim Folkfestival in Vorarlberg gehört habe; ich Dieses Duett gehört zum Schönsten, was Folkmusik zu mag seine frühen und seine späten Kompositionen; ich bieten hat. mag die endlosen Geschichten, die er zwischen den Stü- cken und dem ebenso endlosen Hin- und Herstimmen FIELDS OF GOLD seiner Gitarre erzählt; und an diesem Abend vor vielen Jahren mochte ich besonders seine erstmals gespielte Ei- „You’ll remember me when the west wind moves genkomposition „Waldviertler Nächte“. Upon the fields of barley Während er spielte, entstanden in meinem Inneren Bil- You’ll forget the sun in his jealous sky der der terrassierten Hügellandschaft des westlichen As we walk in the fields of gold“. Waldviertels – der kleinen, mit Mauern aus Granitstei- Stings „Fields of gold“ ist ein Song, in dem sich die Mu- nen umgrenzten Kartoffel-, Mohn-, Roggen- und Ha- sik der Lösung widerspiegelt, gleich den Gipfeln des To- ferfelder; die Musik vergegenwärtigte mir den scharfen ten Gebirges, die sich an einem sonnigen Herbstnach- Wind aus dem nördlichen Böhmen, und die klirrende mittag im Wasser des Wildensees im Toten Gebirge ab- Kälte um Weihnachten, und den von Sternen übersäten bilden. Himmel, und die Findlinge in der Blockheide, und das Therapie wie Musik gründen in der Selbstwirksamkeit Tal des Kamps mit seinen Streifen von Sonnenlicht auf von KlientInnen bzw. HörerInnen: Die „Musik der Lö- der Wasseroberfläche, und den Geschmack von Heidel- sung“ entsteht in den Herzen und Köpfen von Betroffe- beeren und Birkenpilzen, und den Raureif im frühen nen. Herbst auf den Wiesen, der den frühen Winter ankün- digt. Es war die perfekte Reise zu einem meiner vielen SOUNDS OF SILENCE „Inneren Sicheren Orte“. Ließe sich Psychotherapie in die Sprache der Musik In seiner Ballade „Sounds of Silence“ thematisiert Paul übersetzen, so dachte ich damals, müsste sie gleich die- Simon die enge Verbindung zwischen Musik und Stille. sem Stück klingen. Sie müsste eine Atmosphäre der Die gleiche Verbindung findet sich in Anmerkungen Konzentration und Dichte bergen; sie müsste zugleich des oberösterreichischen Schriftstellers Rudolf Habrin- die Seele, den Körper und den Geist bewegen; sie hätte ger über seine Arbeit: Er brauche – so Habringer – für eine klar erkennbare Struktur, einen langen Spannungs- sein Schreiben zwei Verbündete: Stille und Musik. Die bogen, wäre voller Veränderungen in Rhythmus und Musik sei die Schwester der Stille – sie sei „strukturierte Tempo. Wie dieses Stück müsste sie kleine Pausen – Stille“: Die Stille sei die „Begleiterin für den Kopf ..., Räume der Stille - bergen, in denen etwas nachklingt die Musik aber ist die Begleiterin, die mein Herz be- und sich anderes vorbereitet, sie wäre anders als die rührt“ (Habringer, 2011, S. 350). Welt draußen und doch eng mit ihr verbunden. Seit damals sehne ich mich danach, Therapie zu ma- WALDVIERTLER NÄCHTE chen, die Peters Komposition nahe kommt. Dass zwischen systemischer Therapie und der Musik, UNIV.DOZ. DR. KONRAD PETER GROSSMANN die ich liebe, ein Zusammenhang besteht, wurde mir ist Psychologe, Psychotherapeut SF in freier Praxis und in der Ambulan- vor einigen Jahren anlässlich des alljährlichen vorweih- ten Systemischen Therapie der la:sf Wien, Mediator & Supervisor, nachtlichen Konzerts des österreichischen Fingerpickers Lehrtherapeut, Lehrsupervisor; Lehrbeauftragter der Univ. Klagenfurt Peter Ratzenbeck in Linz deutlich. Wie jedes Jahr spiel- und der FH für Sozialarbeit, Linz 14 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/12
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