ZEITGENÖSSISCHE MUSIK IN FRANKREICH

Die Seite wird erstellt Denise Fiedler
 
WEITER LESEN
© SACEM

           ZEITGENÖSSISCHE MUSIK
           IN FRANKREICH
           EIN DEUTSCH-FRANZÖSISCHER DIALOG

           Am 29. Februar dieses Jahres trafen sich Olivier Bernard (SACEM), Eric Denut (Durand – Salabert – Eschig), Frank
           Madlener (IRCAM), Rainer Pöllmann (Deutschlandradio Kultur / Festival Ultraschall) und Sophie Schricker (Deutsch-
           französischer Fonds für zeitgenössische Musik / Impuls neue Musik) zu einem Gedankenaustausch über die Situation
           der zeitgenössischen Musik in den Nachbarstaaten. Das deutsch-französische Gespräch, initiiert von Sophie Schricker
           und Olivier Bernard, fand im IRCAM Paris statt und wurde von Sophie Schricker moderiert.

14
■
                                                                                                                                  THEMA

                                            Diskutanten (v.l.n.r.) Rainer Pöllmann, Olivier Bernard,
                                            Eric Denut im IRCAM, Paris

                                            fiziert: Die erste wäre die Generation der             stellvertretend für die beiden nachfolgen-
                                            Komponisten, die zwischen 1908 (dem                    den Generationen standen. Die Neugrün-
                                            Geburtsjahr von Olivier Messiaen) und                  dung der Groupe de Recherches Musi-
                                            1916 (dem Geburtsjahr von Henri Dutil-                 cales (GRM) auf Betreiben von François
                                            leux, dem letzten noch lebenden Kompo-                 Bayle 1975 stellte eine überzeugende
                                            nisten dieser Generation) geboren wurden.              Alternative zum IRCAM-Projekt dar,
                                            Hierzu zählt auch Pierre Schaeffer, der                zumindest in Bezug auf die Forschung.
                                            1910 geboren wurde. Er hat einige neue                 All dies geschieht, als ob – abgesehen
                                            Felder erschlossen, die noch immer sehr                von den von der einen und anderen Seite
                                            fruchtbare sind. Es folgt die zweite Gene-             geführten Kämpfen zur Durchsetzung
                                            ration der um 1925 herum Geborenen                     konkurrierender Projekte (nebenbei be-
                                            mit Iannis Xenakis, Pierre Boulez, Henri               merkt werden diese Kämpfe immer von
                                            Pousseur, André Boucourechliev, Claude                 Komponisten geführt) – die institutio-
                                            Ballif oder Betsy Jolas. Darauf wiederum               nelle Macht, die sich sicherlich nicht so
                                            folgt die Generation der zwischen den                  leicht teilen lässt, nur durch subtile gene-
                                            1920er Jahren und 1945 geborenen Kom-                  rationenübergreifende Allianzen erobert
                                            ponis-ten. Diese noch immer aktive, aber               werden könnte.
                                            schwer zu definierende Übergangsgenera-
                                            tion, die vom Unterricht Messiaens ge-                 Denut: Bestimmte Komponisten aus
                                            prägt ist, scheint sich verpflichtet zu füh-           der zwischen Kriegsende und 1960 gebo-
                                            len, sich von der vorhergehenden Gene-                 renen Generation haben die schon beste-
                                            ration abgrenzen zu müssen. Zu ihr gehö-               henden namhaften Institutionen ge-
                                            ren Gilbert Amy, Paul Méfano oder auch                 braucht, weil sie sich insbesondere mit
                                            François-Bernard Mâche.                                dem Schreiben von Opern oder der For-
                                               Mit Georges Aperghis taucht eine Ge-                schung befasst haben – sie hatten somit
                                            neration auf, mit der ich tagtäglich arbeite,          weniger Zeit und Platz, sich der Ent-
                                            nämlich die Generation von Komponis-                   wicklung eigener Arbeitsumgebungen
                                            ten, die die sechzig erreicht oder gerade              zu widmen. Andere haben sich dafür
                                            überschritten hat: Philippe Manoury,                   entschieden, zu unterrichten oder in
                                            Pascal Dusapin, Philippe Hurel, Philippe               Institutionen wie dem Rundfunk oder
                                            Fénelon, Hugues Dufourt, aber auch                     im Kulturministerium tätig zu sein.
                                            Philippe Hersant, Michael Levinas und                  Wieder anderen – dies allerdings in nur
                                            Tristan Murail. Auch sie stellen eine Über-            wenigen Fällen – ist es gelungen, ihre
                                            gangsgeneration dar, die ganz andere Inte-             eigenen Arbeitsumgebungen zu verwirk-
                                            grationspraktiken in der künstlerischen                lichen oder sich an schon existierende
                                            Arbeit entwickelt hat als die Generation               Institutionen wie das IRCAM anzuleh-
                                            der 1950er Jahre. Das ist die Generation               nen.
                                            französischer Komponisten, die derzeit im
                                            Ausland am deutlichsten wahrgenommen                   Bernard: Man könnte die Generations-
                                            wird, zusammen mit all denen, die nach                 analyse erweitern, indem man sukzessiv
                                            1976 geboren wurden und heute extrem                   Phasen des Eklektizismus und ganz un-
                                            aktiv sind.                                            terschiedliche Momente der Konzentra-
Sophie Schricker: Könnten Sie die äs-                                                              tion einander gegenüberstellt. Bestimmte
thetischen Strömungen sowie die großen      Olivier Bernard: Man muss dazu einige                  Generationen sind von Natur aus eher
Trends der zeitgenössischen Musik in        Schlüsselmomente hervorheben, die die                  eklektisch, aber die ihnen nachfolgende
Frankreich beschreiben? Welche Kompo-       kulturelle Landschaft sehr tiefgreifend                Generation übernimmt dann aus Opposi-
nisten sind Ihrer Meinung nach heute        verändert haben. Das Geschehen am                      tion eine Art rigorose, systematischere
besonders präsent?                          Ende der 1970er Jahre ist wichtig, um die              Leitlinie, die wiederum Anreize schafft für
                                            aktuelle Struktur der französischen Mu-                neue pragmatischere und somit eklekti-
Eric Denut: Zunächst vielleicht eine all-   sikszene zu verstehen. Die Gründung                    schere Herangehensweisen. Dieses Schema
gemeine Bemerkung. Die Musik von            des IRCAM und des Ensemble Inter-                      funktioniert für die «Dutilleux-Genera-
heute ist direkt von der längeren Lebens-   contemporain, Erfolge des Boulez’schen                 tion», die eine eklektische Generation ist,
erwartung der Menschen geprägt. Noch        Voluntarismus, fallen nahezu zeitgleich                während dann in der Umgebung von
nie hat die französische Musiklandschaft    mit der Entstehung von 2e2m und Itiné-                 Boulez und der Neo-Serialisten, d. h. der
gleichzeitig so viele aktive Generationen   raire zusammen, zweier Ensembles, die                  «Generation 1925», einer Rückbesinnung
gezählt. Ich habe mindestens fünf identi-   von Komponisten gegründet wurden, die                  und Fokussierung erfolgt.

                                                                                                                                                  15
Frank Madlener: Ich denke, dass diese
                                                                                                vertikale Generationenachse durch eine
                                                                                                horizontale Achse ergänzt werden muss,
                                                                                                die in Frankreich sehr stark wahrnehmbar
                                                                                                ist. Es geht hier um die Art und Weise, in
                                                                                                der man auf das reagiert, was anderswo
                                                                                                komponiert wird. Diese zweite Achse
                                                                                                wird durch eine große Durchlässigkeit
                                                                                                zwischen allen Stilen charakterisiert, zu
                                                                                                denen die Komponisten heutzutage Zu-
                                                                                                gang haben. Darüber hinaus beeinflussen
                                                                                                europäische Komponisten wie Lachen-
                                                                                                mann, Furrer, Rihm, Benjamin, Sciarrino
                                                                                                die junge Generation in hohem Maße. Es
                                                                                                gibt gewiss keinen Kampf mehr zwischen
                                                                                                der Generation der Dreißigjährigen und
                                                                                                ihren Vorgängern, statt dessen gibt es den
                                                                                                Versuch, alles aufzusaugen, was man sehen
                                                                                                und hören kann. Die Situation des Kom-
                                                                                                ponisten heute stellt sich so dar: Man steht
                                                                                                vor einer riesigen Bibliothek, gefüllt mit
                                                                                                dem, was gestern war, aber auch und ins-
                                                                                                besondere mit dem, was heute ist. Wie
                                                                                                kann ein Komponist sich da von allem,
                                                                                                was ihm zur Verfügung steht – und das ist
                                                                                                gewaltig viel –, abheben?
                                                                                                    Was aber kann man tun, damit der Blick
                                                                                                auf die anderen nicht in einem so großen
                                                                                                Missverhältnis zur wahren Entwicklung
                                                                                                der musikalischen Realitäten im jeweils
                                                                                                anderen Land steht? In Deutschland bei-
                                                                                                spielsweise kursieren Stereotypen über
                                                                                                französische Komponisten, denen zufolge
                                                                                                diese immer von einem gewissen verfüh-
                                                                            © SACEM

                                                                                                rerischen Charme, einer dekorativen An-
                                                                                                mut umgeben seien. In Wirklichkeit tref-
 Moderatorin Sophie Schricker                                                                   fen diese Klischees, wenn Sie die Musik
                                                                                                von Komponisten wie Franck
                                                                                                Bedrossian oder Raphaël Cendo hören –
                                                                                                Letzterer erlangt übrigens gerade in
    Als Reaktion auf die Autorität von Bou-      nerationen, das unterschiedlichen Arten        Deutschland Berühmtheit –, überhaupt
 lez hat sich eine Übergangsgeneration von       der Wahrnehmung von Musik entspricht,          nicht zu. Die Analysen hinken eben oft
 Komponisten herausgebildet, die zum Teil        erscheint mir ein äußerst interessantes        der Realität dessen, was die Komponisten
 das Feld der institutionalisierten zeitgenös-   Phänomen zu sein, und ich frage mich, ob       selbst entwickeln können, hinterher.
 sischen Musik verlassen haben, weil sie in      etwas Ähnliches in Deutschland existiert.
 der Boulez’schen Landschaft nicht genü-                                                        Pöllmann: So schwierig es ist, indivi-
 gend Luft zum Atmen fanden. Sie haben           Rainer Pöllmann: Auch in Deutsch-              duelle Künstler in Generationen einzu-
 sich in Richtung Kino, funktionale Musik,       land versucht man, verschiedene Genera-        ordnen, so ist es doch nötig, um eine
 Orchesterleitung oder Oper entwickelt,          tionen zu destillieren, und gleichzeitig hat   Ordnung zu finden, um Kategorien zu
 auch wenn einige von ihnen im Laufe             es immer etwas Künstliches, Generatio-         haben. Und es bleibt trotzdem immer
 ihrer Karriere schließlich wieder zur Kon-      nen festzulegen. Aber ich würde mich,          unzureichend. Genau so schwierig ist
 zertmusik zurückgefunden haben. So war          was die deutsche Szene angeht, wesent-         es auch letzten Endes mit «National-
 es bei Antoine Duhamel, Maurice Jarre,          lich schwerer tun, eine Generation als         charakteren», bestimmten Traditionsli-
 Georges Delerue und in der darauffol-           ästhetische Antwort auf eine andere zu         nien, die vorhanden sind und die in
 genden Generation bei Laurent Petitgirard.      verstehen.Vor dreißig, vierzig Jahren war      einer globalisierten, europäisierten neuen
    Mit den Spektralisten entstand ein neuer     das anders, aber heute, glaube ich, ist es     Musikszene eigentlich gar nicht mehr
 Moment der Kondensation. Die junge              vielmehr eine Frage von individuellen          da sein dürfen und trotzdem natürlich
 Generation wiederum erscheint mir sehr          Prägungen, von individuellen Neigungen         ohne Weiteres erkennbar sind. Nicht in
 eklektisch. Dieses Ausbalancieren der Ge-       als von Generationszugehörigkeit.              jedem einzelnen Werk, aber in der

16
■
                                                                                                                            THEMA

Summe der Création musicale eines jeden        Schricker: Vielleicht können wir noch         Ordnung der einzige Ort, an dem ein
einzelnen Landes.                              einmal kurz zu den Generationen zurück-       Komponist eine gewisse gesellschaftliche
                                               kehren und über das Verhältnis zwischen       und medienwirksame Aufmerksamkeit
Bernard: Ein weiteres wichtiges Thema          Orchester, Ensemble, Solist etc. sprechen?    erringen kann.Vor fünfzig Jahren wurde
ist das Verhältnis zu den elektroakustischen                                                 die Oper als überholt, spießig, veraltet be-
Techniken und zur Computertechnik.             Bernard: Die «Generation Dutilleux /          zeichnet. Heute hat man den Wunsch, die
Diejenigen, die diesbezüglich mit Pierre       Messiaen» hat insbesondere für das Or-        Schranken zwischen den Genres und den
Schaeffer zumindest in Frankreich eine         chester viel getan, weil diese Komponis-      jeweiligen Hörerschaften zu durchbre-
neue Sichtweise begründeten, stammten          ten in einer Zeit gelebt haben, in der dies   chen, und davon profitiert die Oper. «Ich
aus der Gründergeneration der Kompo-           durch die Organisation des damaligen          durchbreche den eingeschworenen Zir-
nisten zu Beginn des letzten Jahrhun-
derts – und mit Varèse sogar noch davor.
Aber seltsamerweise ist es erst die nach-
folgende Generation, die sich – letztlich
nicht ohne entsprechende Mühen – auch
                                                         «  In Deutschland kursieren Stereotypen über französische Komponis-

diese Art und Weise des Musikmachens                     ten, denen zufolge diese immer von einem gewissen verführerischen
angeeignet hat. Mit der Informatik ist                   Charme, einer dekorativen Anmut umgeben seien. In Wirklichkeit tref-
man zu einem ganz anderen Paradigma                      fen diese Klischees, wenn Sie die Musik von Komponisten wie Franck
übergegangen, das am IRCAM wahr-
                                                         Bedrossian oder Raphaël Cendo hören […], überhaupt nicht zu. Die
nehmbar und außerordentlich präsent ist.
                                                         Analysen hinken eben oft der Realität dessen, was die Komponisten
Interessant ist, dass insbesondere durch
das IRCAM diese Art des Schreibens
die Zeit zurückholt. Dieses Jahr finden
                                                         selbst entwickeln können, hinterher.    »
hier Lenot, Canat de Chizy, oder Amy –
d. h. KomponistInnen früherer Genera-
tionen – die Mittel, ihre Kompositions-        musikalischen Lebens noch möglich war.        kel, das spezialisierte Ensemble, ich ver-
weise nicht vollständig zu ändern, aber        In der nachfolgenden Generation – und         lasse das Konzert. Selbst wenn ich mich
immerhin ein ganz anderes Licht auf das        Pierre Boulez ist dafür das beste Beispiel    auf das Gebiet einer so konventionellen
zu werfen, was man bislang von ihnen           – übernimmt das Ensemble allmählich           Form wie der der Oper begebe, versuche
kannte.                                        die Macht. Und dieser Durchbruch der          ich dennoch, meine Eigenheit zu bewah-
                                               Ensemblemusik hält bis heute an. Abgese-      ren.» Das ist eine extrem riskante und
Madlener: Ich möchte hier nicht die            hen davon, dass die Übergangsgeneratio-       verführerische Herausforderung.
Geschichte des IRCAM erzählen. Aber            nen und die jüngste Generation versu-
wenn man über die Entwicklung des              chen ihrerseits darüber hinauszugehen,        Pöllmann:Was die Oper angeht, würde
Instituts nachdenkt, könnte man sagen,         indem sie auf das Orchester zugehen,          ich das ein bisschen anders akzentuieren.
dass sich die Technologie heute ästhetisch     sei es, dass sie sich anderen Formen wie      Es gibt natürlich von großen bis zu klei-
verweltlicht hat.Vor dreißig Jahren war        dem Tanz, der Oper oder Installationen        nen Opernhäusern immer wieder auch
man gezwungen, sich gegenüber der Com-         öffnen und sich vom engen Paradigma des       Auftragswerke, d. h. die Möglichkeit,
putertechnik zu positionieren. Heute ist       «Ensemblekonzerts» lösen.                     Opern zu schreiben. Trotzdem habe ich
die Bereitstellung dieser Technologien                                                       den Eindruck, dass das ein Bereich ist, der
Teil der regulären Ausbildung. Sie sind in     Denut: Ich habe das Gefühl, dass der          von der eigentlichen Neue Musik-Szene
die Studiengänge integriert – woher            Wunsch, für Ensemble zu schreiben, ins-       eher unabhängig läuft. Ich beobachte in-
auch immer die Komponisten kommen, .           besondere bei den bekanntesten Kompo-         nerhalb der neuen Musik die Entwick-
                                               nisten abzunehmen scheint. Warum?             lung kleinerer, unabhängiger, unkonven-
Schricker: Rainer, wie ist die Situation       Woher stammt die Faszination so unter-        tioneller Formen von Musiktheater. Oft
in Deutschland?                                schiedlicher Komponisten wie Jonathan         entstehen aus der «konzertanten» Musik
                                               Harvey, Wolfgang Rihm oder Pascal Du-         selbst eine Szene oder zumindest szeni-
Pöllmann: Ich glaube, dieser pragmati-         sapin für das große Orchester? Ich habe       sche Momente, die nicht unbedingt die
sche oder technologisch basierte Zugang        den Eindruck, der Ensemblekomposition         große Bühne brauchen. Und es gibt eine
ist auch in Deutschland vorherrschend.         muss neues Leben eingehaucht werden,          ganz neue Art von Musiktheater, welche
Elektronik ist selbstverständlicher Teil der   um sie wieder zu verzaubern, und dass         das Werk aus der gleichberechtigten Zu-
musikalischen Praxis, ein Instrument unter     die Landschaft dafür völlig offen ist.        sammenarbeit von Komponisten, Inter-
anderen. Besonders spannend finde ich                                                        preten und Regisseuren entstehen lässt.
übrigens, dass es neben den großen Pro-        Madlener: Es gibt eine weitere Tendenz,       Auch das Ensemble halte ich nach wie
duktionsstudios – dem Experimentalstu-         die man hier unbedingt erwähnen muss          vor für die wesentliche Besetzung in der
dio des SWR und dem ZKM – einen                und die vielleicht den relativen Bruch        neuen Musik. Orchester und Oper, die
höchst ausgefeilten Umgang mit «Low            mit dem Ensemble erklärt, nämlich das         «repräsentativen» Gattungen, sind dabei,
Tech» gibt. Da entsteht gerade wirklich        wachsende Interesse an der Oper. Sie ist      so glaube ich, weniger innovativ als klei-
Neues.                                         heute und aufgrund der soziologischen         nere, unkonventionelle Gattungen.

                                                                                                                                            17
Madlener: Um das Thema «Generatio-              der Finanzierungen aus der Musikwelt         künstlerischen Leiters gegründet wurde.
 nen» abzuschließen, möchte ich noch             selbst. Die SACEM, die in Frankreich das     Ein Modell, das Frankreich noch nicht
 gerne eine Überlegung hinzufügen: Die           ist, was die GEMA in Deutschland ist,        erkundet hat …
 Idee, dass eine Institution eine Ästhetik       gibt jedes Jahr vier Millionen Euro für
 vorschreiben kann, hat sich heute er-           zeitgenössische Musik aus. Dann kom-         Pöllmann: … und das jetzt nach vier
 schöpft. Dagegen kann sie ein Ort der           men einige private Mäzene und Sponso-        Jahren zu Ende gegangen ist, aber natür-
 Kritik sein, und ich glaube sogar, dass         ren dazu, die im Allgemeinen nicht wirk-     lich unendlich viel angestoßen hat. Die
 heute der kritische Blick, den man auf          lich der Kunstszene, sondern eher der        Festivals für neue Musik in Deutschland
 die zeitgenössische Musik bzw. auf die          Vermittlung nahe stehen. Und schließlich     – Donaueschinger Musiktage, Ultraschall,
 Praktiken, durch die sie geschaffen wird,       generiert die Branche einen Teil eigener     MaerzMusik, Eclat oder Witten – sind
 richten muss, dieser ist: dass die Erfindung    nicht unerheblicher Mittel, die aus dem      auch in Deutschland Basis der Neuen
 neuer Materialien, die sehr schnell jeden       Kartenverkauf, aber auch aus der Produk-     Musik. Finanziert von der öffentlichen
 Erneuerungscharakter verlieren, sobald sie      tionstätigkeit stammen. Eine Institution     Hand und vor allem auch vom öffent-
 wiederholt werden, letztlich keine neuen        kann Veranstaltungen und Konzerte pro-       lich-rechtlichen Rundfunk.
 Formen bzw. zu wenig neue Formen                duzieren und sich dann um nachhaltigen          Wenn wir über Deutschland und
 oder neue Dramaturgien hervorgebracht           Erfolg und Rentabilität bemühen.             Frankreich reden, darf man nicht verges-
 hat. Und der Begriff der Form, der neue                                                      sen, dass sehr viel in den Regionen und
 Perspektiven ermöglicht, das Gedächtnis         Madlener: Die Kulturszene in Frank-          auch grenzübergreifend geschieht. Der
 und den Blick auf Kommendes anregt, ist         reich ist in eine europäischere Phase ein-   enge kulturelle Austausch gerade zwi-
 ein Thema, das die Komponisten mehr             getreten. Der Beitrag und die Bedeutung      schen dem Elsass und Baden und der Ba-
 und mehr beschäftigt.                           der Europäischen Union zur Kulturpoli-       seler Region ist ja historisch gewachsen.
                                                 tik sind heute wichtiger geworden. Ich       Diese Nähe und diese Verwandtschaft
 Schricker: Nach den Ensembles und
 den Orchestern würde ich gern die Rolle
 der Festivals in Frankreich ansprechen.
 Sind es die so genannten «festivals spécia-
 lisés», die die zeitgenössische Musik tragen
 und fördern?
                                                           «  Auf jeden Fall gibt es Modelle, die von Deutschland übernommen
                                                           werden könnten. Diese Modelle basieren auf den Institutionen der
                                                           bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch Unternehmensstiftungen und
 Madlener: In Frankreich sind es vor
 allem die spezialisierten Festivals, die sich             private Stiftungen neu strukturieren müsste, entsprechend der Kultur-
 um musikalische Innovation kümmern,                       stiftung des Bundes und ihren Projekten wie das «Netzwerk Neue
 viel mehr als die jeweiligen Konzertsai-
 sons. In diesen Festivals gehört es zu den
                                                           Musik» […] Ein Modell, das Frankreich noch nicht erkundet hat …         »
 Aufgaben der regionalen Orchester (etwa
 in Strasbourg oder Lyon) oder auch des
 Philharmonischen Orchesters von Radio
 France, zeitgenössisches Repertoire zu          denke an die Schaffung des Produktions-      gibt es seit Jahrhunderten, und es wäre
 spielen.                                        netzwerks «Varèse» (1999) und an die         völlig absurd, diese Verbindung zu kappen
                                                 jüngst erfolgte Gründung des Netzwerks       und den Rhein auch als kulturelle
 Bernard: Was beispielsweise das Festival        «Ulysses», das der Professionalisierung      Grenze zu sehen. Es ist wunderbar, wenn
 «Musica» in Strasbourg betrifft, so ent-        dient (Akademien in Europa für junge         sich so etwas über die Landesgrenzen,
 stand dies ursprünglich auf Wunsch des          Komponisten); beide sind auf Initiative      über die Nationengrenzen hinweg entwi-
 Kulturministeriums. Es sollte ein großes        französischer Fachleute entstanden. Dann     ckelt aus einem kreativen Bedürfnis he-
 Festival für einen Bereich ins Leben ge-        muss man die Frage nach den privaten         raus. Das ist ja nicht oder nur zum Teil
 rufen werden, der in Frankreich unterre-        Quellen der Finanzierung stellen. Man        politisch verordnet, sondern entsteht aus
 präsentiert war, und das in Zusammenar-         sieht sehr wohl, dass es immer wichtiger     künstlerischen Bedürfnissen heraus.
 beit mit den öffentlichen Körperschaften        wird, neben den staatlichen Mitteln wei-        Zum anderen wollte ich noch zum
 des Elsass, vor allem mit der Stadt Stras-      tere Geldquellen zu finden. Auf jeden Fall   Kulturstiftung des Bundes und zum deut-
 bourg. Dazu kamen nach und nach wei-            gibt es Modelle, die von Deutschland         schen System ergänzen: Das alles ist we-
 tere Finanzierungen. Im Hinblick auf die        übernommen werden könnten. Diese             sentlich komplizierter als in Frankreich.
 Mittel, die sie für die lokale Kulturszene      Modelle basieren auf den Institutionen       Bildung und Kultur sind verfassungsrecht-
 bereitstellen, befinden sich die französi-      der bürgerlichen Gesellschaft, die sich      lich Angelegenheiten der Länder. Es gibt
 schen Regionen aber keinesfalls auf glei-       durch Unternehmensstiftungen und pri-        keinen Bundeskulturminister. Es gibt einen
 chem Niveau wie die Bundesländer in             vate Stiftungen neu strukturieren müsste,    Beauftragten des Kanzlers für Kultur und
 Deutschland.                                    entsprechend der Kulturstiftung des Bun-     Medien, er hat enorme Bedeutung, aber
                                                 des und ihren Projekten wie das «Netz-       er ist wohlweislich kein Minister mit vol-
 Denut: Eine französische Eigenheit be-          werk Neue Musik», das unter Leitung          lem Ressort. Die Länder sind sehr darauf
 steht auch hinsichtlich der Bedeutung           eines kompetenten und anerkannten            bedacht, ihre Autonomie zu wahren.

18
■
                                                                                                                               THEMA

                                                            © SACEM
Schricker: In Deutschland verursachen
das System der Projektförderung und die
Bedeutung der Ausschüsse gewisse Pro-
bleme. Die Ensembles, die nicht dauerhaft
öffentlich oder privat finanziert werden,
sind gezwungen, immer neue Projekte
ins Leben zu rufen, um zu überleben.
Und im Endeffekt sind manche Ensem-
bles so damit beschäftigt, neue Projekte
ins Leben zu rufen, dass sie keine Zeit
mehr haben, Musik zu machen. Man
darf daher das deutsche System nicht
idealisieren …

Bernard: Mir scheint, dass die Musik-
szene gleichzeitig solide Institutionen
und eine ausreichende kritische Masse
von Projektförderungen braucht. Diese
außergewöhnliche Verbindung besteht in
Deutschland schon seit einigen Jahren.
Aber in Frankreich hat man sich zu sehr
damit begnügt, Institutionen ins Leben zu
rufen, die heute Budgetkürzungen unter-
worfen sind. Und die seitens des Kultur-
ministeriums neue Haltung zur Projekt-
förderung, das sagt, dass es die Institutio-
nen nicht mehr unterstützen kann, ist
heikel, da sie die wirkliche Gefahr birgt,
auf beiden Seiten zu verlieren: weniger
personelle und finanzielle Mittel für die
Institutionen, aber auch für die Projekte.
                                                                      Diskutant Frank Madlener
Madlener: Ideal wäre, wenn die Institu-
tion als eigene Agentur für Projektförde-
rung fungierte. Die Institution würde
dann zugleich für die Nachhaltigkeit wie
auch für die eigene Erneuerung und In-         ner Ausbildung nicht unbedingt kennen.            falls außer Frage. Das ist sozusagen der
fragestellung eben durch eigene Projekte       Kein französisches Ensemble hat es bis            Olymp. Interessant finde ich die Situation
sorgen. Neue Projekte zu betreiben ist für     heute geschafft, eine Kooperation hinzu-          der eingangs Genannten: Manoury, Dusa-
eine Institution unerlässlich, andernfalls     bekommen wie die, die dem Ensemble                pin, Dufour, Murail. Alle diese Namen
geht sie zugrunde. Eines der aktuellen         Modern mit der Musikhochschule Frank-             spielen in Deutschland eine Rolle, aber
IRCAM-Projekte ist ein pluridisziplinä-        furt gelang und die äußerst produktiv             ich würde von keinem sagen, dass er eine
res Akademieprojekt: «acanthes@ircam».         ist.                                              beherrschende Rolle spielt und eine Stel-
Es versammelt verschiedene nationale                                                             lung hat, wie sie eine Generation vorher
und internationale Partner (u.a. das En-       Denut: Es wäre interessant für uns zu             mit Boulez vergleichbar wäre. Ich habe
semble Intercontemporain). Das verweist        erfahren, wer aus Frankreich den Durch-           dafür keine wirkliche Erklärung:Viel
auf eine sehr wichtige Angabe, die wir         bruch in Deutschland geschafft hat, wie           hängt von den konkreten Umständen
noch nicht erwähnt haben: die Frage der        Ihre Haltung zu den französischen Kom-            ab, also von der Kenntnis der Musik, auch
Vermittlung, der Ausbildung und der            ponisten ist und wie Sie auf sie kommen?          von persönlichen Begegnungen. Das be-
Professionalisierung, die notwendige                                                             trifft Festivalleiter und Dramaturgen, aber
Beziehung zu den Konservatorien und            Pöllmann: Da sind zum einen natürlich             auch die Zusammenarbeit von Kompo-
Hochschulen. Die Ausbildung der Inter-         die großen, alten Komponisten Frank-              nisten mit Ensembles spielt für die Präsenz
preten im zeitgenössischen Bereich ist         reichs …, Messiaen ist im Repertoire.             oft eine große Rolle. Entweder in Form
fundamental, und da lässt die aktuelle         Der wird in Deutschland eigentlich nicht          eines eigenen Ensembles oder mit be-
Situation zu wünschen übrig. In den            mehr als im engeren Sinn zeitgenössi-             freundeten Ensembles.
Studiengängen müssen sich die jungen           scher Komponist verstanden, taucht auch              Die Interpreten haben wiederum gute
Musiker ein Repertoire des 20. Jahrhun-        in den Festivals nicht mehr auf, aber dafür       Kontakte zu den Festivals, so ergibt sich
derts aneignen können. Heute lernt der         im Repertoire. Boulez ist an der Grenze           dann aus dem einem das andere und es
Interpret dieses Repertoire während sei-       zum Repertoire und steht natürlich eben-          entsteht ein Netzwerk.

                                                                                                                                               19
stellen, dass sie genauso erfolgreich in      Schricker: Es ist sehr interessant zu
 ■
     INFO                                                        Deutschland sind, wenn die Konditionen        sehen, dass Andre offensichtlich ein Kom-
                                                                 stimmen.                                      ponist ist, der in Deutschland großen
 Impuls neue Musik
 Der deutsch-französische Fonds für zeitgenössische Musik            Einen Komponisten habe ich bisher         Erfolg hat, während er auf französischer
 «Impuls neue Musik» begleitet und finanziert seit 2009 an-      noch gar nicht erwähnt, der aus Frank-        Seite eher als Träger einer anderen ästhe-
 teilig deutsch-französische Projekte in Deutschland und
 Frankreich. Die unterstützten Projekte sind Auftragswerke,
                                                                 reich stammt und in Deutschland sehr          tischen Identität betrachtet wird, die we-
 Festivals, Konzertreihen sowie pädagogische Projekte,           präsent ist, der aber auch extrem typisch     niger passend erscheint.
 wobei die Veranstaltungsorte von eher unbekannten, alter-       ist für die Ambivalenz im Verhältnis der
 nativen Orten bis zu den klassischen anerkannten Sälen
 reichen. Die Gesamtfördersumme pro Jahr beträgt etwa            beiden Länder: Mark Andre. Die La-            Pöllmann: Welche Gründe sehen Sie
 100 000 Euro.                                                   chenmann-Schule ist nicht zu überhören,       denn aus französischer Perspektive für
 «Impuls neue Musik» wurde auf Initiative der französischen
 Botschaft in Deutschland, des Ministère de la Culture et
                                                                 aber eigentlich wird er in Deutschland        den großen Erfolg von Mark Andre in
 de la Communication, der SACEM, des Bureauexport de             doch als aus Frankreich kommender             Deutschland?
 la musique française, der Fondation Francis et Mica Sala-       Komponist betrachtet.
 bert und Arte Actions Culturelles gegründet. Partner sind
 heute auch das Institut français, das Goethe-Institut, die
                                                                                                               Denut: Das liegt an seiner apokalypti-
 Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (2010),           Denut: Ja. Warum hat Mark Andre die-          schen Seite, im biblischen Sinn. Dazu
 der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
                                                                 sen Erfolg in Deutschland?                    bringt er bringt ein perfekt entwickeltes
 Medien (2011) und die Deutsche Bank AG (2013).
                                                                                                               Handwerk mit. Er hat zudem sehr wich-
 Nächste Antragsfrist: 14. September 2012                        Pöllmann: Er hat wirklich viele Auf-          tige Bezugspersonen in Deutschland: ins-
 Weitere Infos unter www.impulsneuemusik.com
                                                                 führungen, sowohl Uraufführungen wie          besondere Helmut Lachenmann natürlich.
 Olivier Bernard, seit 1986 verantwortlich für die kulturellen   auch Folgeaufführungen. Ich glaube, er        Er hat eine Weltsicht, die in Deutschland
 Fördermaßnahmen der SACEM, der französischen Verwer-            verbindet in seiner Musik auf sehr schlüs-    wirklich Anklang findet und die sich
 tungsgesellschaft für Musik. Zwischen 2003 und 2010
 Lehrbeauftragter für das Management von Musik und               sige Weise verschiedene Traditionslinien.     immer am Rande des Verstummens be-
 Darstellender Kunst an der Université d’Evry.                   Und sicher spielt auch die metaphysische,     findet: «Ich kann nicht weitermachen,
 Eric Denut, seit 2009 Promotion Manager beim Verlag
                                                                 religiöse Seite dabei eine Rolle. Was die     ich werde weitermachen …, etc.» Eine
 Durand-Salabert-Eschig/Universal Music Publishing               Aufführungspraxis angeht, gibt es im          Art Dramatisierung.
 Classical. In der Spielzeit 2005/2006 Geschäftsführer           Grunde zwei Linien: Die klein besetzte
 des Ensemble Modern in Frankfurt am Main, zwischen
 2006 und 2009 beim Pariser Ensemble «La Chambre                 Kammermusik ist eindrucksvoll, sie ist        Schricker: Gibt es ein Beispiel für ein
 Philharmonique».                                                dem Hörer zugänglich, und sie ist für         anderes Extrem, für einen in Frankreich
 Frank Madlener, seit 2006 Leiter des IRCAM (Institut de
                                                                 viele Interpreten realisierbar. Darüber hi-   sehr bekannten, sehr präsenten französi-
 Recherche et Coordination Acoustique/Musique), vorher           naus gibt es aber auch die großen, extrem     schen Komponisten, der in Deutschland
 u. a. künstlerischer Leiter des Festivals «Musica» in Stras-    aufwändigen Werke, … hij 2 … und …            nicht wirklich wahrgenommen wird?
 bourg und des Festivals «Ars Musica» in Brüssel.
                                                                 hij 1 … oder … auf … . Alle drei Werke
 Rainer Pöllmann, seit 1996 Redakteur und Produzent bei          waren beim Publikum und bei der Kritik        Denut: Mantovani ist in Frankreich sehr
 Deutschlandradio Kultur. 1999 Gründer und Künstlerischer
                                                                 ein großer Erfolg.Vor zwei Jahren gab es      präsent, da ein Netzwerk von Interpreten
 Leiter des Berliner Festivals für neue Musik «Ultraschall».
 Seit 2003 Mitglied im Beirat der «Edition Zeitgenössische       in Berlin eine Aufführung des Musik-          und fachliches Können existiert. Er wurde
 Musik» des Deutschen Musikrats.                                 theaters … 22, 13 … . Alle Aufführungen       schon sehr früh vom Ensemble Intercon-
 Sophie Schricker, seit 2011 Leiterin von «Impuls neue
                                                                 waren ausverkauft.                            temporain gespielt. Seine Musik wird von
 Musik» und verantwortlich für den Bereich Klassik im Bu-                                                      jungen Interpreten aufgeführt, ein wenig
 reau Export de la Musique (Berlin). 2008 Gründung des           Schricker: Und wie ist die Situation für      wie Jörg Widmann in Deutschland. Er
 Festivals «Shared Sounds» im Berliner Radialsystem, 2011
 Mitinitiatorin und künstlerische Leiterin des Vokalfestes       Mark Andre in Frankreich?                     tritt – selbstverständlich ohne ästhetischen
 «chor@berlin». Managerin der Vokalakademie Berlin.                                                            Bezug - in die Fußstapfen von Pascal
                                                                 Madlener: Er genießt eine besondere           Dusapin mittels Aufbaus eines Katalogs
                                                                 Unterstützung durch das Festival d’Au-        und hat dabei die jungen Interpreten als
    Die unterschiedliche Präsenz französi-                       tomne, wo er als französischer, aber au-      Vermittler sehr wohl im Blick. Und er
 scher Komponisten in Deutschland ästhe-                         ßerhalb von Frankreich etablierter Kom-       entwickelt eine starke musikalische Ar-
 tisch zu begründen, ist schwierig. Man                          ponist angesehen wird, für den man also       gumentation, um die Interpreten diesen
 bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Dass                           auch hierzulande etwas tun muss. Ist das      Niveaus zu motivieren. Man muss wissen,
 ein Komponist wie Bruno Mantovani,                              Ausdruck der Faszination am Mythos            dass die Interpreten, sobald sie erst einmal
 der in Frankreich sehr präsent ist, in                          des künstlerischen Exils? Im Ernst: In der    für einen eingenommen sind, unglaublich
 Deutschland nicht dieselbe Popularität                          Intensität seiner Musik liegt etwas den       treu sind und dass sie dann den gesamten
 hat, hängt aber wohl schon mit seiner                           Zuhörer Faszinierendes, denn die Ober-        Katalog aufführen.
 musikalischen Haltung zusammen. Er                              fläche ihrer Texturen ist sofort erkennbar.
 verfügt über ein exzellentes Handwerk,                          Das ist bezeichnend für eine an der Ma-       Madlener: Mantovani besitzt außerdem
 aber seine Musik ist für das deutsche                           terialität des Klangs und der Rhetorik        die in Frankreich ziemlich seltene Haltung
 Gemüt vielleicht doch «trop leger».                             der Stille orientierte Musik: sie entsteht    des Losgelöstseins: er kennt die komplette
    Das ist natürlich kein Qualitätsurteil,                      aus sehr komplexen Prozessen und aus          musikalische Literatur bestens, er hat die
 sondern nur die Beschreibung einer un-                          der Haltung der Strenge, ihre Oberfläche      Vergangenheit, die Oper, das Spiel der
 terschiedlichen Perspektive. Bei vielen                         ist allerdings homogen und unveränder-        Institutionen in sich aufgenommen und
 anderen Komponisten kann ich mir vor-                           lich.                                         hat sich dabei gleichzeitig eine Art Leich-

20
■
                                                                                                                             THEMA

tigkeit und Lebendigkeit im Handeln           sprechend zu unterstützen, wäre ausbau-        Pöllmann: Ich glaube schon, dass auch
bewahrt. Diese Haltung unterscheidet          fähig. Das Goethe Institut leistet in dieser   wir in Netzwerken denken, und es gibt
ihn von anderen Komponisten, die ihre         Hinsicht enorm viel, aber ein zusätzliches     ja auch eine informelle Zusammenarbeit,
Werke unter Schmerzen gebären, ja,            Exportbüro oder die sehr aktive Promo-         die ohne institutionellen Überbau funk-
manchmal bis an die Grenze zum Ver-           tion mancher Musikinformationszentren          tioniert. Das Problem dabei ist oft, dass
stummen geraten. Mantovani wird aber          gibt es bei uns nicht.                         die Informationen nicht wirklich Verbrei-
auch angezweifelt: Seine letzte Oper                                                         tung finden. Es gab vor einigen Jahren die
wurde in Frankreich stark kritisiert.         Bernard: Ich sehe einen weiteren Unter-        Idee, ein Büro einzurichten, das nur der
                                              schied: In Frankreich gibt es, mehr als in     Koordination dienen sollte, den Ensem-
Pöllmann: Ein gutes Podium für Erfolg         Deutschland, eine Netzwerkkultur. Als          bles und den Komponisten mit Informa-
in Deutschland haben zum Beispiel jene        wir letztes Jahr mit Frank Madlener das        tionen helfen sollte, ein Ansprechpartner
Komponisten, die Gast des Berliner            «Ulysses»-Projekt entwickelt haben, hat-       sein sollte.Vielleicht ist das inzwischen
Künstlerprogramms des DAAD waren.
Aus Frankreich waren das in den letzten
Jahren Fabien Lévy, Jean-Luc Hervé, zu-
letzt Clara Maïda, die in diesem Jahr auch
den Stuttgarter Kompositionspreis erhal-
ten hat für ein Stück, das beim Festival
                                                        «   Was es in Deutschland so nicht gibt, das ist eine aktive Exportför-
                                                        derung. Das gibt es in Frankreich, auch in der Schweiz und in Skandi-
Ultraschall uraufgeführt wurde. Und es
                                                        navien; Deutschland ist in dieser Hinsicht eher importorientiert. Der
gibt Komponisten wie Ondrej Adámek,
die so eng mit Paris assoziiert sind, dass              Wunsch, Künstler nach Deutschland einzuladen, ist hier erfreulich
sie, zumindest aus französischer Sicht, als             groß. Aber das Bewusstsein, deutsche Kunst und deutsche Künstler
«Franzosen» gelten.                                     auch als Exportartikel zu verstehen und das entsprechend zu unter-
   Was die Interpreten angeht: Der konti-
nuierliche Erfolg eines französischen
                                                        stützen, wäre ausbaufähig.      »
Komponisten in Deutschland ist wohl
eher zu erwarten, wenn sich ein renom-
miertes deutsches Ensemble das zu Eigen
macht. Es kann aber durchaus sein, dass       ten wir oft das Gefühl, dass wir unsere        auch überholt. Aber auch das hängt wie-
das Gastspiel eines französischen Ensem-      deutschen Freunde und Partner wachrüt-         derum mit der dezentralen Struktur in
bles mit einem bis dahin unbekannten          teln müssen, damit sie das Spiel mitspielen.   Deutschland zusammen: Wer soll das
französischen Komponisten erst einmal                                                        machen, wo sollte ein solches Büro an-
eine Initialzündung darstellt. Und dann       Schricker: Meiner Meinung nach rührt           gesiedelt sein, wer soll das finanzieren,
geht es mit heimischen Kräften weiter.        das Problem vom Mangel an Institutionen        wer hat das Sagen …
Das ist eigentlich der ideale Weg, wenn       her. Man wird immer einen deutschen
das Stück von anderen Ensembles nach-         Partner in Form einer Person finden            Schricker: Ich danke Ihnen allen für
gespielt wird.                                (einen Festivaldirektor, einen Journalisten,   dieses interessante Gespräch.
Der große Vorteil der deutschen Neue–         einen Dramaturgen), aber eine Institution
                                                                                             Übersetzung: Esther Dubielzig
Musik-Szene ist die Kleingliedrigkeit. Es     zu finden ist nicht leicht, da wir nicht
gibt viele Ensembles, es gibt viele regio-    über genügend öffentliche oder private
nale Initiativen. Deshalb ist es ein guter    Institutionen verfügen, die großen Ein-
Weg, diese regionalen Initiativen, die        fluss haben und wirklich in die Musik in-
Künstler vor Ort, zu interessieren und zu     tegriert sind. Ich glaube, dass man in
begeistern.                                   Deutschland den Institutionen noch
                                              immer misstraut.
Schricker: Und Sie, Rainer, denken Sie,          Ich habe das Gefühl, dass die französi-
dass Deutschland etwas von Frankreich         schen Institutionen näher an der Musik,
lernen kann?                                  den Komponisten, den Schaffenden, den
                                              Interpreten dran sind. Das musikalische
Pöllmann: Was es in Deutschland so nicht      Gefüge erscheint sehr lebendig. In
gibt, das ist eine aktive Exportförderung.    Deutschland dominiert ein sehr indivi-
Die gibt es in Frankreich, auch in der        dualistischer Zugang, der die Konfronta-
Schweiz und in Skandinavien; Deutsch-         tion mit den Institutionen verhindert.
land ist in dieser Hinsicht eher import-      Ich denke, dass es sich dabei meistens um
orientiert. Der Wunsch, Künstler nach         ein formales, nicht um ein inhaltliches
Deutschland einzuladen, ist erfreulich        Problem handelt. Alles ist stark mit dem
groß. Aber das Bewusstsein, deutsche          Individuum, mit den Personen verknüpft,
Kunst und deutsche Künstler auch als          die oft nicht an Institutionen gebunden
«Exportartikel» zu verstehen und das ent-     sind.

                                                                                                                                          21
Sie können auch lesen