Öffentliches Recht - Jura Intensiv

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RA 2005, HEFT 6                                                                               ÖFFENTLICHES RECHT

                                                                                      Öffentliches Recht

Standort: Verkehrszeichen                                         Problem: Bekanntgabe, Erkennbarkeit

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 25.11.2004                            kehrszeichen bereits mit dem Aufstellen gegenüber
5 A 850/03 (NWVBL 2005, 176)                                 jedermann wirksam wird, also unabhängig vom Heran-
                                                             nahen (BVerwGE 102, 316, 318; OVG NRW, NJW
                                                             1990, 2385). Hierfür spricht § 45 IV StVO, der eine
Problemdarstellung:
                                                             anderweitige Bekanntgabe zulässt, “sofern die Aufstel-
In der Entscheidung des OVG NRW ging es um die               lung von Verkehrszeichen [...] nicht möglich ist.” Of-
Frage, welche Anforderungen an die Erkennbarkeit             fen geblieben ist lediglich die i.d.R. rein akademische
eines Verkehrszeichens zu stellen sind. Ist es für den       Frage, ob es sich dabei um einebesondere Form der
Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar, ist es nämlich           öffentlichen Bekanntgabe nach § 41 III 2 VwVfG han-
nicht wirksam geworden, kann mithin auch nicht als           delt oder die StVO das VwVfG insgesamt verdrängt.
Grundlage für die Ahndung von Verstößen (Bußgelder
                                                             Die Unterschiede zwischen alter und jetziger Recht-
oder wie hier Abschleppen mit anschließendem Kos-
                                                             sprechung zeigen sich insbesondere im Hinblick auf
tenbescheid) herangezogen werden. Das Gericht stellt
                                                             die Rechtsschutzmöglichkeiten: Wird das Verkehrszei-
fest, dass
                                                             chen mit Aufstellen bekannt gegeben, lässt sich mit
- an die Erkennbarkeit der Verkehrszeichen für den           dem Wortlaut des § 70 I VwGO gut vertreten, dass in
ruhenden Verkehr geringere Anforderungen zu stellen          diesem Moment für jedermann die Widerspruchsfrist
seien als im fließenden Verkehr, weil der Parkende           beginnt (die mangels Rechtsmittelbelehrung nach § 58
eine eigene Erkundigungs- und Informationspflicht            I, II VwGO ein Jahr beträgt). Käme es auf das Heran-
über die bestehenden Parkregelungen habe,                    nahen an, würde erst beim erstmaligen Passieren des
- das Verkehrszeichen nicht nur beim Aufstellen, son-        Verkehrszeichens die Frist beginnen, und zwar für je-
dern wegen seiner Eigenschaft als Dauer-VA die gan-          den einzelnen Passanten gesondert. Beides ist nicht
ze Zeit über erkennbar sein müsse und                        ideal: Im letzteren Fall würde nie Rechtssicherheit ein-
- eventuelle Unklarheiten über die Erkennbarkeit zu          treten, im ersteren Fall wird die Rechtsschutzmöglich-
Lasten der Behörde gingen.                                   keit arg verkürzt. Zieht jemand bspw. in eine neue
                                                             Stadt um, müsste er (vorbehaltlich §§ 70 II, 60
Prüfungsrelevanz:                                            VwGO) das Halteverbot vor seiner neuen Wohnung
Verkehrszeichen, die nach heute ganz h.M. Verwal-            trotz unterstellter Rechtswidrigkeit gegen sich gelten
tungsakte in Form von Allgemeinverfügungen darstel-          lassen, wenn es seit mehr als einem Jahr besteht, ob-
len (§ 35 S. 2 VwVfG, vgl. zum Streit über die Rechts-       wohl er überhaupt keine Möglichkeit hatte, dieses vor
natur die Vertiefungshinweise), bedürfen zu ihrer            Fristablauf anzufechten, ja auch nur zur Kenntnis zu
Wirksamkeit der Bekanntgabe, § 41 VwVfG. Grund-              nehmen. Gegen diese unschöne, von der aber h.M.
sätzlich bedeutet Bekanntgabe den behördlich veran-          durchaus gebilligte Konsequenz werden in der Litera-
lassten Zugang beim Betroffenen. Dass dies bei All-          tur gelegentlich Stimmen laut, die dies mit Art. 19 IV
gemeinverfügungen nicht möglich ist, liegt auf der           GG für nicht vereinbar halten (z.B. Bitter/Konow,
Hand. Für diese wird daher häufig auf die öffentliche        NJW 2001, 1386).
Bekanntgabe (§ 41 III 2 VwVfG) zurückgegriffen.              In jedem Fall genügt aber für die Bekanntgabe das
Für Verkehrszeichen hatte die Rspr. ursprünglich ver-        Aufstellen auch nach jetziger Rspr. nur dann, wenn ein
treten, dass sie - ihre Erkennbarkeit, nicht aber tatsäch-   durchschnittlich sorgfältiger Passsant das Verkehrs-
liche Kenntnisnahme vorausgesetzt - dem Verkehrs-            zeihen “mit einem raschen und beiläufigen Blick” (- so
teilnehmer beim erstmaligen Herannahen bekannt ge-           wörtlich BVerwGE 102, 316, 318) erkennen konnte.
geben werden und für ihn solange wirksam bleiben,            Hierzu sollte man sich merken, dass dies - jedenfalls
wie sie fortbestehen. Bei jedem neuen Herannahen             nach dem vorliegenden Beschluss des OVG NRW -
sollte es sich dann nur noch um eine sogen. “wieder-         nur für den fließenden Verkehr gilt, während für den
holende Verfügung” ohne eigenen Regelungscharakter           ruhenden Verkehr dem Passanten eine Erkundigungs-
handeln (BVerwGE 27, 181; 59, 221). Mittlerweile             pflicht auferlegt wird, an die Erkennbarkeit also deut-
geht das BVerwG jedoch im Anschluss an eine Ent-             lich geringere Anforderungen gestellt werden.
scheidung des OVG Münster davon aus, dass ein Ver-

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ÖFFENTLICHES RECHT                                                                           RA 2005, HEFT 6

Vertiefungshinweise:                                     stellt. Insbesondere lag kein Verstoß gegen ein Halt-
“ Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verkehrszeichen:       oder Parkverbot vor, der das Vorgehen des Beklagten
VGH Kassel, RA 1999, 457 = NJW 1999, 2057; Rinze,        hätte rechtfertigen können.
NZV 1999, 399; Klenke, NWVBl 1994, 288
                                                         I. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO
“ Verkehrszeichen als Verwaltungsakt: BVerwGE 27,
                                                         Das Parken war nicht unzulässig nach § 12 Abs. 3 Nr.
181; 59, 221; 92, 32; 97, 214; BayVGH, NVwZ 1984,
                                                         3 StVO. Danach ist das Parken vor Grundstücksein-
383; Prutsch, JuS 1980, 566
                                                         und ausfahrten verboten. Das jeweilige Verbot er-
“ Verkehrszeichen als Rechtsverordnung: BayVGH,          streckt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift jedoch
NJW 1978, 1988; Renck, JuS 1967, 545; Obermayer,         nicht auf weiteren Straßenraum neben den Ein- bzw.
NJW 1980, 2387                                           Ausfahrten (vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrs-
“ Klagebefugnis gegen Verkehrszeichen: BVerwG,           recht, 35.Aufl., 1999, StVO, § 12 RdNr. 47). Entspre-
RA 2004, 312 = DVBl 2004, 518                            chend dem Zweck dieses Parkverbots, die Anlieger
                                                         vor Behinderungen in der Benutzung der Einfahrt zu
Kursprogramm:                                            ihrem Grundstück und der Ausfahrt von ihm durch
“ Examenskurs : “Die defekte Parkuhr”                    parkende Fahrzeuge zu schützen, genügt es daher
“ Examenskurs : “Das mobile Halteverbot”                 grundsätzlich, dass die Fahrbahn in der Breite einer
                                                         normalen Torausfahrt freigehalten wird (vgl. OLG
                                                         Karlsruhe, Die Justiz 1979, 237). Verlangen besondere
Leitsätze:                                               örtliche Gegebenheiten sowie die Art des zu erwarten-
1. Damit straßenverkehrsrechtliche Ge- und Verbo-        den Zufahrtverkehrs im Einzelfall die Freihaltung ei-
te die ihnen zugedachte Wirkung entfalten können,        nes längeren Fahrbahnabschnitts, so muss dies für den
ist die zuständige Behörde gehalten, die Erkenn-         Verkehrsteilnehmer erkennbar sein (vgl. OLG Karls-
barkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtlichen        ruhe, a.a.O.).
Regelung zu gewährleisten.                               Das Kraftfahrzeug des Klägers stand nicht unmittelbar
2. Lässt sich nicht mehr aufklären, ob der Ver-          vor der Ein- und Ausfahrt, sondern so versetzt, dass
kehrsteilnehmer bei Aufbringung der gebotenen            für den normalen Straßenverkehr die Zu- und Abfahrt
Sorgfalts- und Informationspflicht das Verkehrs-         problemlos möglich war. Für den Kläger war- jeden-
zeichen erkennen konnte, geht dies zu Lasten der         falls bei Außerachtlassung der Grenzmarkierung- nicht
Behörde, die die Abschleppmaßnahme veranlasst            erkennbar, dass eine weitere Fläche jenseits des durch
hat und zur Deckung ihres Aufwands Gebühren              weiße Streifen markierten Ein- und Ausfahrtbereichs
erhebt.                                                  zur Vermeidung von Behinderungen freizuhalten wä-
                                                         re.
Sachverhalt:
Der Kläger ist Halter eines Pkw, den er zur Nachtzeit    II. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 8 Buchst. d StVO
seitlich einer Toreinfahrt auf der Fahrbahn parkte.      Das Parken war ebenfalls nicht gem. § 12 Abs. 3 Nr. 8
Dort befindet sich eine weiße Grenzmarkierung für        Buchst. d StVO verboten, da es an einer wirksamen
Halt- und Parkverbote (Zeichen 299), die nach Vortrag    Grenzmarkierung für ein Parkverbot (Zeichen 299)
des Klägers zum Zeitpunkt des Parkvorgangs auf           fehlte. Offen bleiben kann, ob der Parkverbotsbereich
Grund Abnutzung nur noch in Farbresten vorhanden         nach § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO wirksam nur durch eine
und daher - was vom Beklagten bestritten wird - bei      durchgehende Markierung des erweiterten Parkver-
Dunkelheit nicht mehr erkennbar war. Ein Beamter         botsbereichs - also auch vor der Ein- und Ausfahrt
des Beklagten ließ das Kraftfahrzeug des Klägers am      selbst (so BayObLG, VRS 62, 145 f.; siehe auch OLG
folgenden Morgen abschleppen, da es einen Sattel-        Köln, VRS 82, 140) oder auch durch eine bloße Mar-
schlepper hinderte, durch die Toreinfahrt zu gelangen.   kierung der Flächen, um die die Parkverbotszone er-
Der Eigentümer des angrenzenden Grundstücks über-        weitert werden soll (so OLG Karlsruhe, a.a.O.),
strich die Grenzmarkierung wenige Wochen nach dem        gekennzeichnet werden kann.
Abschleppvorgang mit weißer Farbe. Der Beklagte
setzte gegenüber dem Kläger eine Verwaltungsgebühr       1. Erkennbarkeit der Regelung
für das Abschleppen fest. Die hiergegen nach erfolglo-   Auch wenn keine durchgehende Markierung erforder-
sem Widerspruchsverfahren erhobene Klage wies das        lich ist, soweit auf andere Weise deutlich wird, wel-
VG ab. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg.            cher Parkverbotsbereich jeweils verlängert wird, so
                                                         muss die Markierung jedenfalls so beschaffen sein,
Aus den Gründen:                                         dass sie für den Verkehrsteilnehmer bei Aufbringen
Die dem Gebührenbescheid zu Grunde liegende Ab-          der im Verkehr gebotenen Sorgfalt erkennbar ist. Aus
schleppmaßnahme war rechtswidrig. Das Kraftfahr-         dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass straßenverkehrs-
zeug des Klägers war verkehrsordnungsgemäß abge-         rechtliche Ge- und Verbote so angebracht sein müssen,
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RA 2005, HEFT 6                                                                              ÖFFENTLICHES RECHT

dass der sorgfältig handelnde, dem Gebot des § 1            rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die
StVO folgende Verkehrsteilnehmer die Anordnung              Vollstreckungsmaßnahme erfüllt waren.
ohne weitere Überlegung eindeutig erfassen kann (vgl.       So liegt der Fall hier. Der Senat vermag nicht die
OVG NRW, DÖV 1991, 120 f.).                                 notwendige Gewissheit zu gewinnen, der Kläger habe
                                                            die Grenzmarkierung bei Abstellen seines Kfz in der
2. Erstreckung auf die gesamte Geltungsdauer                Nacht auch bei Aufbringen der gebotenen Sorgfalt er-
Dieses Erfordernis gilt nicht nur bei der erstmaligen       kennen können. Der Kläger hat vorgetragen, auf der
Anbringung. Damit die Ge- und Verbote fortdauernd           Fahrbahn hätten sich lediglich Farbreste befunden, die
die ihnen zugedachte Wirkung entfalten können, ist          er in der Nacht aufgrund der Dunkelheit nicht habe
die zuständige Behörde gehalten, die ausreichende           wahrnehmen können. Dagegen hat der die
Erkennbarkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtli-        Abschleppmaßnahme veranlassende Beamte des Be-
chen Regelungen zu wahren und zu erhalten. Kommt            klagten erklärt, die Grenzmarkierung sei als solche gut
die zuständige Behörde dem nicht nach, und werden           zu erkennen gewesen. Für den Senat ist nicht feststell-
die Regelungen aufgrund Abnutzung oder Witterungs-          bar, welche dieser widersprechenden Aussagen richtig
einflüssen derart unkenntlich, dass die Erkennbarkeit       ist. Zwar hat der Kläger ein gewichtiges Eigeninter-
im oben beschriebenen Sinne nicht mehr gegeben ist,         esse, die Erkennbarkeit der Grenzmarkierung zu be-
so verlieren sie ihre Wirksamkeit (vgl. OLG Stuttgart,      streiten. Indes spricht der Umstand, dass wenige Wo-
VRS 95, 441, 442). Dabei sind an die Sichtbarkeit von       chen nach dem hier streitigen Abschleppvorgang ein
Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen,        Nachzeichnen der Grenzmarkierung für nötig befun-
niedrigere Anforderungen zu stellen als an solche des       den wurde, zumindest für einen entsprechenden Er-
fließenden Verkehrs. Einen Verkehrsteilnehmer, der          neuerungsbedarf, mag diese Maßnahme auch nicht von
sein Kfz abstellt, treffen dementsprechend andere           der zuständigen Behörde durchgeführt worden sein.
Sorgfalts- und Informationspflichten hinsichtlich der       Das Gericht hat ebenfalls keinen Grund, an der Glaub-
maßgeblichen örtlichen Verkehrsregelungen als einen         würdigkeit des Beamten der Beklagten zu zweifeln.
Teilnehmer am fließenden Verkehr (vgl. OVG NRW,             Freilich beruht dessen Aussage, die Grenzmarkierung
Beschluss vom 11.6.1997 - 5 A 4278/95).                     sei gut zu erkennen gewesen, nicht auf eigener Wahr-
                                                            nehmung zur Nachtzeit, sondern ausschließlich auf
3. Beweislast bei der Behörde                               seiner Einschätzung am Morgen. Dabei hat er zwar
Lässt sich nicht (mehr) aufklären, ob der Verkehrsteil-     nach eigenem Bekunden einerseits die Sichtbehinde-
nehmer bei Aufbringen der danach gebotenen Sorg-            rung aufgrund Dunkelheit bzw. Dämmerung, anderer-
falts- und Informationspflicht das Verkehrszeichen          seits die dort vorhandene Straßenbeleuchtung be-
wahrnehmen und erkennen konnte, gereicht dies der           rücksichtigt. Es bleibt jedoch ungewiss, ob der Beamte
Behörde zum Nachteil, die zum Zwecke der Voll-              bei Tageslicht den Einfluss dieser Umstände auf die
streckung die Abschleppmaßnahme veranlasst hat und          Erkennbarkeit der Markierung zur Nachtzeit genau ab-
nunmehr zur Deckung ihres Aufwands Gebühren er-             schätzen konnte.
hebt. Sie trägt die materielle Beweislast dafür, dass die

Standort: Polizei- und Ordnungsrecht                                               Problem: Zustandsstörer

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 06.09.2004                           tont ausdrücklich, dass z.B. ein Grundstückseigentü-
13 A 3802/02 (NWVBL 2005, 177)                              mer zur Entsorgung von Kampfstoffen in seinem Bo-
                                                            den ebenso verpflichtet werden kann wie der Eigentü-
                                                            mer eines Hangs zu Präventionsmaßnahmen gegen
Problemdarstellung:                                         einen Erdrutsch. Anders liegt es jedoch dann, wenn die
Im Beschluss des OVG NRW ging es um die Frage,              Gefahrenquelle nicht - wie in den genannten Beispie-
welche Anforderungen an die Inanspruchnahme als             len - die Sache selbst ist, sondern diese nur in die Ge-
Zustandsstörer nach dem Polizei- und Ordnungsrecht          fahrverursachung verstrickt wird. So kann ein Flugha-
der Länder zu stellen sind.                                 fenbetreiber nicht zu Präventionsmaßnahmen gegen
Durchgesetzt hat sich beim Verhaltens- wie beim Zu-         terroristische Anschläge verpflichtet werden, weil die-
standsstörer die Theorie der unmittelbaren Verursa-         se Gefahr - im Gegensatz zu den Erdrutschgefahren im
chung, wonach nur der Letztverantwortliche stört, also      Beispiel zuvor - nicht in dem Grundstück wurzelt.
der, dessen Verhalten bzw. Sache auf einem imaginä-         Ebenso lag es im zu entscheidenden Fall, in dem eine
ren Zeitstrahl bis zum Eintritt der Gefahr den letzten      Tochter der Deutschen Bahn AG für Schäden verant-
Kausalbeitrag leistet.                                      wortlich gemacht werden sollte, die von in einem Tun-
Irrelevant sind hingegen Kriterien wie Verschulden          nel nistenden Tauben ausgingen.
oder auch nur Kenntnis von der Gefahr. Das OVG be-

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ÖFFENTLICHES RECHT                                                                              RA 2005, HEFT 6

Prüfungsrelevanz:                                           valenz: VGH Kassel, RA 2000, 12 = NJW 1999, 3650
Die Kausalität zwischen einem Verhalten oder einer          “ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Ad-
Sache und dem Eintritt einer Gefahr ist in allen Bun-       äquanz: OLG Koblenz, RA 2003, 678 = DVBl 2003,
desändern Voraussetzung für die Inanspruchnahme zur         1342; VG Osnabrück, NdsVBl 2002, 87
Störungsbeseitigung. Liegt sie nicht vor, bleibt nur ein    “ Theorie der rechtswidrigen Verursachung: Pietzker,
an enge Voraussetzungen geknüpfter Rückgriff auf            DVBl 1984, 457, 459; Herrmann, DÖV 1987, 666
den sogen. Nichtstörer, dessen Heranziehung jedoch          “ Mittelbare Störer: BGH, NJW 2000, 2901; VG Ber-
stets subsidiär zu staatlichem Handeln ist, m.a.W. nur      lin, RA 2001, 483 = AfP 2001, 437 m.Anm. Kreile
in Betracht kommt, wenn der Staat selbst außerstande
ist, eine Gefahr zu bekämpfen.                              Kursprogramm:
Die herrschende Theorie der unmittelbaren Verursa-          “ Examenskurs : “Waffen-SS”
chung ist grundsätzlich denkbar einfach zu handhaben.
Stellt man sich die Frage, wer den letzten Beitrag auf
                                                            “ Examenskurs : “Die Vögel”
dem Weg zum Eintritt der Gefahr geleistet hat, erhält
man als Antwort den Störer. Ausnahmen bilden nur            Leitsatz:
der sogen. Zweckveranlasser und der latente Störer.         Der Deutschen Bahn kann nicht als Zustandsstöre-
Beide setzen nur eine mittelbare Vorursache, sind aber      rin aufgegeben werden, gegen das Nisten und Brü-
trotzdem Störer. Der Zweckveranlasser, weil er das          ten von Tauben in einer Bahnunterführung auf ih-
letztlich gefährliche Verhalten will (so die subjektive     re Kosten ein Netz spannen zu lassen.
Theorie) bzw. man hätte vorhersehen können, dass
sein Vorverhalten in eine Gefahr mündet (so die ob-         Sachverhalt:
jektive Theorie).                                           Nachdem sich der Beklagte seit 1994 zunächst selbst
Auf den latenten Störer wurde früher bei emittierenden      bemüht hatte, der Verschmutzung durch Tauben unter
Anlagen zurückgegriffen, bei denen nicht die Emission       der Bahnunterführung G. in D. Herr zu werden, erließ
selbst die Gefahr heraufbeschwor, sondern erst ein          er gegen die Klägerin, eine Gesellschaft der Deutschen
weiteres Ereignis (z.B. hinzu kommende Umweltein-           Bahn, unter dem 24.6.1999 eine auf §§ 10, 13
flüsse). Heute liegt die Lösung dieser Fälle eher im        BSeuchG i. V. m. § 18 OBG NRW gestützte Ord-
Immissionsschutzrecht, das die große Mehrzahl von           nungsverfügung, mit der er der Klägerin aufgab, in-
ihnen eigens regelt.                                        nerhalb von vier Wochen nach Zustellung der Verfü-
                                                            gung an der Bahnunterführung durch das Anbringen
Die Theorie der unmittelbaren Verursachung ist übri-        einer Netzabspannung “das dauerhafte Ansammeln,
gens nicht unbestritten: Eine Mindermeinung vertritt        Nisten und Brüten von Tauben unter der Brückenkon-
die Theorie der rechtswidrigen Verursachung, wonach         struktion zu unterbinden”.
Störer ist, wer rechtswidrig handelt, wer also m.a.W.       Durch Urteil vom 17.7.2002 gab das VG der Klage mit
seinen Rechtskreis überschreitet. Diese Theorie ver-        der Begründung statt, die Klägerin könne nicht als
mischt jedoch die Kausalität mit dem dem Polizei- und       Störerin herangezogen werden, weil die Gefahr un-
Ordnungsrecht fremden Kriterium der Rechtswidrig-           mittelbar durch das Verhalten der Tauben ausgelöst
keit, ja setzt diese Begriffe sogar gleich. Das ist nicht   werde, für das die Klägerin nicht verantwortlich sei.
gerechtfertigt, denn hätten die Landesgesetzgeber dies      Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.
gewollt, hätten sie die Rechtswidrigkeit - wie an zahl-
losen anderen Stellen im deutschen Recht - in die Nor-      Aus den Gründen:
men zu Bestimmung des Störers aufgenommen. Dies
wäre auch nicht sinnvoll gewesen, denn auch recht-          A. Ermächtigungsgrundlage
mäßige Verhaltensweisen müssen unterbunden werden           Der Beklagte stützt sich als Eingriffsnorm auf § 13
können, wenn sie für andere gefährlich sind. Außer-         Abs. l BSeuchG. Vom Vorliegen der Voraussetzungen
dem bekommt die Theorie der rechtswidrigen Verursa-         dieser inzwischen durch Regelungen des Infektions-
chung Probleme bei einer Gefahr für die öffentliche         schutzgesetzes vom 20.7.2000 (IfSG) abgelösten, aber
Ordnung, die in vielen Bundesländern neben die öf-          auf den vorfliegenden Fall einer Anfechtungsklage, bei
fentliche Sicherheit tritt. Wer gegen die öffentliche       der in der Regel auf die Rechtslage im Zeitpunkt des
Ordnung verstößt, handelt gerade nicht rechtswidrig,        Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des
sondern verstößt gegen ungeschriebene, ethisch-mora-        Widerspruchbescheides vom 8.2.2000, abzustellen ist,
lische Verhaltensgebote, sodass es hier niemals einen       noch anwendbaren Vorschrift kann zu Gunsten des
Störer geben könnte, wollte man auf die Rechtswidrig-       Beklagten ausgegangen werden, zumal die Parteien
keit des Verhaltens abstellen.                              hierum nicht streiten.

Vertiefungshinweise:                                 B. Störereigenschaft
“ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Äqui- Die Berechtigung für die Heranziehung der Klägerin
                                                 -323-
RA 2005, HEFT 6                                                                             ÖFFENTLICHES RECHT

entnimmt er § 18 Abs. l OBG NRW, was grundsätz-             gen zu schaffen (vgl. BVerwG, DÖV 1986, 287). In
lich mangels entsprechender Regelung im Bundesseu-          dem vorstehend zitierten Urteil wird für das Erforder-
chengesetz statthaft ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom        nis einer Unmittelbarkeit als Grund angeführt, ohne
18.9.1987 - 3 B 21.87). § 18 OBG NRW regelt die             diese würde die polizeiliche Zustandshaftung zu einer
Verantwortlichkeit für den Zustand von Sachen wie           konturenlosen Billigkeitshaftung, da andere haftungs-
folgt: “Geht von einer Sache oder einem Tier eine Ge-       beschränkende Kriterien wie Rechtswidrigkeit oder
fahr aus, so sind die Maßnahmen gegen den Eigentü-          Schuld fehlen. Dem schließt sich der Senat in Über-
mer zu richten. Soweit nichts anderes bestimmt ist,         einstimmung mit dem angefochtenen Urteil an.
sind die nachfolgenden Vorschriften entsprechend auf
Tiere anzuwenden.”                                          II. Subsumtion
                                                            Im Rahmen der wertenden Betrachtung schlägt durch,
I. Theorie der unmittelbaren Verursachung                   dass die Verwirklichung der Gefahr von wilden Tieren
§ 18 Abs. l OBG ist jedoch keine ausreichende Grund-        ausgeht, das Brückenbauwerk aber - anders als in den
lage für die Inanspruchnahme der Klägerin. Das ergibt       beiden Fällen der Kampfstoffe und der Felsabgänge -
sich daraus, dass die Gefahr, die von dem Taubenkot         die Gefahr nicht in sich selbst trägt. Um eine tatsäch-
ausgeht, nicht unmittelbar mit dem Zustand des              liche Verbindung zu der Brücke herzustellen, muss auf
Brückenbauwerks ursächlich in Verbindung steht.             die Nistplätze in dem Brückenbauwerk abgestellt wer-
                                                            den, von denen selbst aber ebenfalls keine Gefahr aus-
1. Sache selbst als Gefahrenquelle                          geht. Unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten ist
Nach der Rechtsprechung besteht allerdings die Haf-         die Nähe der Tiere zu dem Brückenbauwerk weiter
tung eines Grundstückseigentümers als sog. Zustands-        dadurch relativiert, dass sich zwar die Tiere häufig,
störer wegen der sog. Zustandsverantwortung für ein         aber nicht notwendigerweise dort entleeren. Die feh-
Grundstück auch dann, wenn die Gefahr von in ein            lende Unmittelbarkeit wird auch dadurch erhellt, dass
Grundstück eingebrachten Sachen, etwa Kampfmit-             es im Bereich des Beklagten - aktenkundig - nicht nur
teln, über die der Eigentümer des Grundstücks schon         unter der fraglichen Brücke (und möglicherweise unter
mangels Kenntnis von ihnen keine Sachherrschaft hat,        weiteren Brücken) Verunreinigung durch Tauben gibt,
oder wenn die Gefahr wie Felsbruch von einem Natur-         sondern auch anderenorts und in Großstädten allge-
ereignis ausgeht.                                           mein eine Taubenplage festzustellen ist (vgl. Frankfur-
Der Grund ist, dass sich aus der tatsächlichen und          ter Allgemeine Zeitung vom 9.7.2004, Seite 7 “Neue
rechtlichen Sachherrschaft über das Grundstück wegen        Hackordnung am Opernplatz”). Das Problem würde
der Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. l         sich durch die angeordnete Netzabspannung allenfalls
Satz 2 GG eine Pflicht ergibt, in Bezug auf dieses          örtlich, aber nicht grundsätzlich verändern. Die Gefahr
Grundstück für Störungsfreiheit zu sorgen (vgl.             würde sich nämlich verlagern, da kein Anhaltspunkt
BVerwG, Buchholz, 402.41, Allg. PolizeiR Nr. 65 be-         dafür besteht, dass die Verhinderung des Nistens im
treffend vermutete Kampfmittel, und NJW 1999, 231,          Bereich der Brücke zu einer insgesamt geringeren
betreffend Felsabgänge). In diesen Fällen wird aus der      Taubenbelastung führen würde. Die Tauben als wilde
Sachqualität des Grundstücks und der Sachherrschaft         Tiere würden gegebenenfalls andere Nist- und Brut-
über das Grundstück die Unmittelbarkeit der Gefahr in       plätze suchen, und ihren Kot anderenorts abgeben. Zu
Bezug auf das Grundstück abgeleitet.                        Gunsten des Beklagten mag allerdings sprechen, dass
                                                            die Verlagerung der Nester nicht wieder zu einer ähnli-
2. Gefahrverursachung durch höhere Gewalt oder              chen Konzentration der Tauben und der von ihnen aus-
Dritte                                                      gehenden Gefahr führen müsste. Deshalb dürfte das
Ob die Unmittelbarkeit - wie in den vorstehenden Fäl-       Erfordernis der Eignung der angeordneten Netz-
len - noch gegeben ist, ist von Fall zu Fall in wertender   abspannung - eine weitere Voraussetzung der Rechtmä-
Betrachtung festzustellen.                                  ßigkeit einer Ordnungsverfügung-nicht wegen der blo-
Der Zustand einer Sache und die Sachherrschaft über         ßen Vertreibung der Tauben zu anderen Nistplätzen
sie können im Verhältnis zu der Gefahr oder dem             entfallen. Ein indizieller Gesichtspunkt bei der Bewer-
Schaden auch eine nur entferntere, mittelbare Ursache       tung der Unmittelbarkeit zwischen Gefahr und
darstellen; solche mittelbaren Ursachen lösen die poli-     Brückenbauwerk bleibt die Verschiebung des Pro-
zeiliche Zustandshaftung jedoch nicht aus. So liegt der     blems trotzdem.
Fall etwa, wenn die Gefahr oder der Schaden unmittel-       Die fehlende Unmittelbarkeit ergibt sich in Bezug auf
bar durch eine Missbrauchshandlung eines Dritten            das klägerische Brückenbauwerk ferner dadurch, dass
ausgelöst wird, mag von der Sache auch ein gewisser         nicht die Belästigung durch den von den Tauben abge-
Anreiz für diesen Missbrauch ausgehen. Deshalb ist          gebenen Kot schon die Gefahr bildet, sondern erst der
etwa der Betreiber eines Flughafens nicht aus allge-        Umstand, dass dieser auf der Straße trocknet und als
meinen Gründen der Gefahrenabwehr verpflichtet,             Staub von Menschen eingeatmet werden kann. Hin-
(auf eigene Kosten) Schutz vor terroristischen Anschlä-     zukommt, dass es sich damit zugleich auch um ein
                                                       -324-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                            RA 2005, HEFT 6

Problem der insoweit nicht ausreichenden Straßenreini-   Ratten oftmals durch Lagerung von Unrat oder Abfall
gung durch den dafür zuständigen Beklagten handelt.      oder durch sonstige dem Grundstück eigene
Diese zu dem Umstand, dass die Tauben wilde Tiere        Anziehungspunkte der Fall ist. Gegebenenfalls kommt
sind, hinzukommenden Gesichtspunkte machen den           ferner eine Inanspruchnahme sogar nicht verantwortli-
Fall entgegen dem Vorbringen des Beklagten auch          cher Personen nach § 19 OBG NRW in Betracht.
unvergleichbar mit der Inanspruchnahme eines Grund-      Nicht immer, wenn eine Gefahr zu beseitigen ist, muss
stückseigentümers wegen Ratten, die regelmäßig darin     auch ein anderer in Anspruch genommen werden kön-
besteht, dass ihm das Auslegen von Rattengift auf sei-   nen. Ein weiterer Anwendungsbereich des § 13
nem Grundstück aufgegeben wird. Wenn der Beklagte        BSeuchG wäre im Übrigen gegeben, wenn sich der
meint, bei der Auslegung des VG würde § 13 Abs. l        Beklagte, nachdem er seit zehn Jahren mit anderen
BSeuchG ins Leere gehen, da grundsätzlich niemand        Mitteln versucht, des Taubenproblems Herr zu wer-
als Störer in Anspruch genommen werden könne, ist        den, entschließen würde, die Tiere zu töten, weil die
dem schon wegen der Fallgruppe der Handlungsstörer       Behörde nach § 13 BSeuchG nämlich wirksam zu han-
nicht zu folgen. Außerdem ist grundsätzlich auch eine    deln hat. Wie auch die Klägerin zutreffend ausgeführt
Inanspruchnahme eines Grundstückseigentümers als         hat, würde ihm dann gegenüber den Regelungen des
Zustandsstörer nicht ausgeschlossen, wenn die Gefahr     Tierschutzgesetzes ebenfalls § 13 BSeuchG bzw. die
und das Grundstück hinreichend eng (unmittelbar) in      Nachfolgeregelung zur Seite stehen.
Beziehung stehen, was z.B. im Zusammenhang mit

Standort: Wiedereinsetzung                                                 Problem: Doppelverschulden

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 29.09.2004                        Vertiefungshinweise:
13 A 4479/02 (NWVBL 2005, 196)                           “ Keine Wiedereinsetzung in die Frist des § 47 II
                                                         VwGO möglich: OVG NRW, RA 2005, 252 = NVwZ-
Problemdarstellung:                                      RR 2005, 290; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 201 (offen
                                                         gelassen)
Wird eine gesetzliche Frist versäumt, kann nach § 32
VwVfG im verwaltungsbehördlichen Verfahren Wie-          “ Übertriebene Anforderungen an die Wiedereinset-
dereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.       zung: BVerfG, RA 2000, 2 = NJW 1999, 3701
Die Vorschrift setzt jedoch voraus, dass die Fristver-   “ Wiedereinsetzung bei Wegfall des Hindernisses
säumnis nicht auf ein Verschulden des Antragstellers     während der noch laufenden Frist: BVerwG, RA 1999,
zurückzuführen ist.                                      416 = NVwZ-RR 1999, 472
Hiervon gibt es nach der überwiegenden Rechtspre-
chung, der sich auch das OVG NRW im vorliegenden         Kursprogramm:
Beschluss anschließt, eine Ausnahme: Wenn neben          “ Examenskurs : “Schiefe Schieferplatten”
dem Antragsteller auch die Behörde ein Verschulden
am Fristversäumnis trifft (Doppelverschulden), kann      Leitsatz:
Wiedereinsetzung gewährt werden. “Kann” bedeutet,        Trifft auch die Behörde für die Versäumung einer
dass je nach Einzelfall entschieden werden muss, ob      Antragsfrist ein Verschulden, so kann Wiederein-
der Mitverschuldensanteil der Behörde so gravierend      setzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.
ist, dass angesichts dessen vom Antragsteller nicht
mehr in zumutbarer Weise erwartet werden konnte,         Sachverhalt:
dass er die Frist wahrt.                                 Die Klägerin beantragte im Mai 1995 die Verlänge-
                                                         rung der Zulassung eines Arzneimittels, das erstmals
Prüfungsrelevanz:                                        unter dem 18.11.1985 zugelassen worden war. In dem
Die Entscheidung wirkt sich in allen Wiedereinset-       Verlängerungsbescheid der Beklagten vom 23.9.1999
zungsfällen aus, in denen ein Doppelverschulden in       heißt es, die Verlängerung werde für fünf Jahre erteilt.
Rede steht. Das OVG betont, dass der hier einschlägi-    Im Oktober 2000 fragte die Klägerin bei der Beklagten
ge § 32 VwVfG dem im verwaltungsgerichtlichen            an, ob die Verlängerung bis zum 23.9.2004 oder bis
Verfahren geltenden § 60 VwGO insoweit gleichzu-         zum 18.11.2005 reiche; sollte die Verlängerung nur
stellen sei. § 60 VwGO gilt wegen § 70 II VwGO           bis zum 18.11.2000 gelten, beantrage sie eine erneute
nicht nur für gerichtliche Rechtsbehelfe, sondern auch   Verlängerung und die Wiedereinsetzung in den vori-
für die Widerspruchsfrist.                               gen Stand hinsichtlich der dann versäumten
Hinsichtlich weiterer Probleme zur Wiedereinsetzung      Drei-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 Satz l AMG. Die
sei auf die folgenden Vertiefungshinweise verwiesen.     Beklagte lehnte den Antrag als unzulässig ab. Mit ihrer
                                                         Klage auf Bescheidung in der Sache hatte die Klägerin

                                                    -325-
RA 2005, HEFT 6                                                                            ÖFFENTLICHES RECHT

in beiden Instanzen Erfolg.                               Verschuldens auch der Behörde zu berücksichtigen.
                                                          Aus Art. 2 Abs. l i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich
Aus den Gründen:                                          ein allgemeines Grundrecht auf ein faires Verfahren.
                                                          Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt u.a., dass
A. Verschulden der Klägerin                               ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Feh-
Zwar hat die Klägerin die Drei-Monats-Frist des § 31      lern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfah-
Abs. 3 Satz 1 AMG (zur Auslegung des § 31 AMG             rensnachteile ableiten darf (vgl. BVerfGE 78, 123,
und zur Fristberechnung vgl. Urt. des Senats v.           126). Ausdrücklich hat das BVerfG (Beschluss vom
27.4.2004 - 13 A 3596/01 -, noch nicht veröffentlicht,    4.5.2004 - 1 BvR 1892/03, Rz. 11) formuliert: Beruhe
Revisionsaktenzeichen: BVerwG 3 C 22.04) versäumt.        eine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, seien
Dies war nach den Maßstäben des vorstehend genann-        die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung “mit be-
ten Senatsurteils, an denen festgehalten wird, auch       sonderer Fairness” zu handhaben. Zwar sind die ge-
schuldhaft.                                               nannten Entscheidungen des BVerfG jeweils zu ge-
                                                          richtlichen Verfahren ergangen. Da es für den durch
B. Verschulden der Behörde                                Art. 2 Abs. l GG geschützten Kreis aber keine Bedeu-
Jedoch hätte die Beklagte den insofern - nach den über-   tung hat, ob er durch überspannte Anforderungen bei
zeugenden Feststellungen des angefochtenen Urteils,       Gericht in seinem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten
die die Beklagte hingenommen hat, auch rechtzeitig -      Justizgewährungsanspruch verletzt wird oder ob er
gestellten Wiedereinsetzungsantrag positiv bescheiden     sein Anliegen erst gar nicht vor Gericht bringen kann,
müssen, was das VG nachgeholt hat und nachholen           weil er im Verwaltungsverfahren unfair behandelt
konnte (vgl. OVG NRW, NWVBl. 1996, 156). Wie in           wird, und sich Art. 20 Abs. 3 GG auch an die vollzie-
dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, steht     hende Gewalt richtet, sieht sich der Senat nicht gehin-
§ 31 Abs. l Nr. 3 AMG einer Statthaftigkeit der Wie-      dert, das vom BVerfG betonte Fairnessgebot bei be-
dereinsetzung gem. § 32 Abs. 1 VwVfG nicht entge-         hördlichen Fehlern auch im Rahmen des § 32 VwVfG
gen.                                                      zu berücksichtigen (so auch BVerwG, NVwZ 1994,
                                                          575).
I. Zumutbarkeit der Fristwahrung
Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist dem Betroffenen         C. Auswirkungen je nach Einzelfall
auf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn er          Wie und unter welchen Umständen eine behördliche
ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche         Mitschuld geeignet ist, ein eigenes Verschulden des
Frist einzuhalten. Unverschuldete Fristversäumung er-     Betroffenen zu relativieren, ist von Fall zu Fall in wer-
fordert, dass dem Betroffenen nach den gesamten Um-       tender Betrachtung festzustellen. Ob behördliches
ständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die    (Mit-)Verschulden gegebenenfalls die Einhaltung ei-
Frist versäumt hat und ihm die Einhaltung der Frist       ner Frist unzumutbar macht oder dadurch das Ver-
zumutbar war. Es darf also nicht diejenige Sorgfalt au-   schulden des Betroffenen überlagert wird oder auf
ßer Acht gelassen werden, die einem gewissenhaften        sonstige Weise entfallen lässt, ist eher eine akademi-
und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrneh-         sche Frage, die keiner Entscheidung bedarf. Das gilt
menden Verfahrensbeteiligten geboten und zumutbar         auch für die Möglichkeit, dass sich die Behörde auf
ist (vgl. etwa BVerwG, NJW 1990, 3103; NJW 1976,          das Verschulden des Betroffenen bei ursächlichem
1332, wo zugleich ausgeführt wird, mit § 60 Abs. l        eigenen Verschulden nicht berufen darf (so BVerwG,
VwGO [der § 32 Abs. l VwVfG entspricht] könnten           a.a.O.). Jedenfalls ist im vorliegenden Fall das Ver-
Härten aufgefangen werden; die Vorschrift ermögli-        schulden der Klägerin in einem solchen Maße durch
che, dort zu helfen, wo dazu wegen der konkreten Ge-      Umstände aus der Sphäre der (beklagten) Behörde be-
gebenheiten Anlass besteht).                              einflusst, dass hier die gebotene Fairness schon zu ei-
                                                          ner Wiedereinsetzung durch die Beklagte selbst hätte
II. Faires Verfahren                                      führen müssen, sodass die Wiedereinsetzung durch das
Das Kriterium der Zumutbarkeit räumt die Möglich-         VG nicht zu beanstanden ist. [...]
keit ein, den vom Gesetz nicht geregelten Fall eines

                                                     -326-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                               RA 2005, HEFT 6

Standort: § 38 VwVfG                                       Problem: E-Mail und Schriftformerfordernis

OVG LÜNEBURG, BESCHLUSS VOM 17.01.2005                      3. Wenn es um formgebundene Rechtsbehelfe geht,
2 PA 108/05 (NVWZ 2005, 470)                                z.B. einen Widerspruch nach § 70 I VwGO oder eine
                                                            Klageerhebung nach § 81 VwGO, wird auf die Wah-
                                                            rung der Form häufig schon in der Frist einzugehen
Problemdarstellung:
                                                            sein, wenn der Rechtsbehelf fristgebunden ist. Denn
Das OVG Lüneburg verneint im vorliegenden Be-               nur ein formgerecht eingereichter Rechtsbehelf wahrt
schluss die Frage, ob eine E-Mail dem Schriftformer-        die Frist. Gibt es keine Fristen, wie z.B. im Regelfall
fordernis des § 38 I 1 VwVfG für die wirksame Abga-         bei Leistungs- und Feststellungsklagen oder Anträgen
be einer Zusicherung genügt. Einschränkend weist das        im vorläufigen Rechtsschutz, muss die Formwahrung
Gericht darauf hin, dass dies jedenfalls für solche E-      bei Problemen in einem eigenen Prüfungspunkt in der
Mails gelte, die nicht mit einer digitalen Signatur ver-    Zulässigkeit erörtert werden.
sehen sind.
                                                            4. Schließlich können auch Mitwirkungsakte des Bür-
Der Beschluss fügt sich nahtlos in die Linie anderer        gers formgebunden sein (z.B. Anträge im förmlichen
Gerichtsentscheidungen ein, in denen es um die Frage        Verwaltungsverfahren nach § 64 VwVfG). In diesen
ging, ob dem herkömmlichen Schriftformerfordernis           Fällen kommt die Form des Antrags unter den formel-
durch die Verwendung von modernen Kommunika-                len Voraussetzungen für einen Anspruch auf das be-
tionsmitteln genügt werden kann. Für das Telefax ist        gehrte Verwaltungshandeln zur Sprache.
dies mittlerweile in § 130 Nr. 6 ZPO, der über § 173
VwGO auch im Verwaltungsprozess gilt, Gesetz ge-
worden. Für sogen. “Computerfaxe”, also solche, die         Vertiefungshinweise:
direkt aus dem PC online versendet werden, ohne vor-        “ Zulässigkeit des Computerfaxes: GS-OBG, RA
her ausgedruckt und unterschrieben worden zu sein,          2000, 607 = NJW 2000, 2340; BGH, RA 1999, 15 =
hat sich die Rspr. in Person des Gemeinsamen Senats         NJW 1998, 3649; BSG, NJW 1997, 1254; Düwell,
der Obersten Bundesgerichte nach langem Hin und             NJW 2000, 3334; Schwachheim, NJW 1999, 621
Her schließlich dazu durchgerungen, auch diese jeden-
falls dann zuzulassen, wenn sie mit einer eingescann-       Kursprogramm:
ten Unterschrift versehen sind (siehe Vertiefungshin-       “ Examenskurs : “Ausgespielt”
weise). Hierzu lässt sich - mit aller Vorsicht - sagen,
dass eine E-Mail mit digitaler Signatur von einem sol-
                                                            Leitsatz:
chen Computerfax nicht mehr weit entfernt ist, man
                                                            Eine E-Mail ohne digitale Signatur wahrt auf kei-
also gespannt sein darf, ob sich in dieser Hinsicht die
                                                            nen Fall die für eine wirksame Zusicherung erfor-
Rspr. weiterhin so konservativ zeigt wie hier das
                                                            derliche Schriftform.
OVG.
                                                            Sachverhalt:
Prüfungsrelevanz:                                           Die ASt. begehrt Prozesskostenhilfe für den Rechts-
Formprobleme lassen sich an vielen Stellen leicht in        streit über ihre Zulassung zum Hochschulstudium. Zur
Examensaufgaben einbinden. Je nach Fallkonstellation        Begründung der Erfolgsaussichten eines solchen Pro-
verschieben sich Prüfungsstandort und Rechtsfolgen.         zesses beruft sie sich u.a. auf eine E-Mail der Ag.,
Die wichtigsten Fälle sind (ohne Anspruch auf Voll-         welcher sie die verbindliche Zusicherung eines Stu-
ständigkeit):                                               dienplatzes entnehmen will. Der Antrag blieb ohne
1. Formfehler können sich zum einen auf die Wirksam-        Erfolg.
keit behördlicher Erklärungen auswirken, wenn dies
besonders angeordnet ist, wie hier nach § 38 I 1            Aus den Gründen:
VwVfG auf die Wirksamkeit der Zusicherung eines             Soweit die Ast. mit ihrer Beschwerde erneut geltend
Verwaltungsakts oder über §§ 57, 59 I VwVfG i.V.m.          macht, das Internationale Büro der Ag. habe ihr unter
125 BGB beim öffentlich-rechtlichen Vertrag.                dem 6.12.2004 die Zulassung zu dem von ihr ange-
2. Beim Verwaltungsakt selbst führt ein Verstoß gegen       strebten Studium rechtswirksam zugesichert, kann dies
eine abweichend von § 37 II VwVfG ausnahmsweise             nicht zum Erfolg ihrer Beschwerde führen. Die E-Mail
erforderliche Schriftform (z.B. im förmlichen Verfah-       des Internationalen Büros vom 6.12.2004, auf die sich
ren nach § 69 II VwVfG oder beim Widerspruchsbe-            die Ast. beruft, genügt nicht den Anforderungen an
scheid nach § 73 III VwGO) hingegen grds. nur zur           eine Zusicherung i.S. des § 38 VwVfG, kann der Ast.
(formellen) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, die       also ebenfalls die erstrebte Hochschulzulassung nicht
zwar nicht nach § 45 VwVfG heilbar ist, jedoch nach §       vermitteln, wie dies das VG in dem Beschluss vom
46 VwVfG unbeachtlich sein kann.                            22.12.2004 bereits zutreffend erkannt hat.
                                                      -327-
RA 2005, HEFT 6                                                                           ÖFFENTLICHES RECHT

I. E-Mail genügt nicht der Schriftform                   ob die betreffende E-Mail vollständig und inhaltlich
Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats bereits      richtig ist und ob sie tatsächlich von dem in ihr ange-
daraus, dass die E-Mail nicht dem Schriftformerforder-   gebenen Aussteller stammt.
nis des § 38 I 1 VwVfG entspricht. Auch wenn die
modernen, insbesondere die elektronischen Kommuni-       II. Abgabe einer Zusicherung
kationsformen im Rechtsverkehr eine immer größere        Aber selbst wenn man die Schriftform durch die fragli-
Bedeutung gewinnen, bedeutet dies nicht, dass eine       che E-Mail hier als gewahrt ansehen wollte - auch dies
schlichte E-Mail dem in § 38 I 1 VwVfG zum Schütze       stellt eine selbstständig tragende Erwägung des Be-
einer Behörde vor übereilten Bindungen angeordneten      schlusses dar -, könnte die Ast. aus der E-Mail einen
Schriftformerfordernis genügt.                           Anspruch auf Zulassung zu dem von ihr angestrebten
Hierbei kann der Senat offen lassen, ob unter Schrift-   Studium nicht herleiten. Denn der Erklärung fehlt ent-
form i. S. des § 38 VwVfG nach dem Willen des Ge-        gegen der Ansicht der Ast. der für eine Zusicherung
setzgebers nur ein Papierdokument zu verstehen ist (so   erforderliche Bindungswille. Wie nämlich die in der
Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2004, § 38          E-Mail verwende Formulierung “voraussichtlich” auch
Rdnr. 35 a). Denn nach dem Kenntnisstand dieses Pro-     für Außenstehende hinreichend deutlich macht, sollte
zesskostenhilfeverfahrens erfüllt die fragliche E-Mail   der Ast. die erstrebte Zulassung zum Studium nicht
vom 6.12.2004 schon deshalb nicht das Schriftformer-     garantiert, zu ihren Gunsten durch die E-Mail ein
fordernis i. S. des § 38 I 1 VwVfG, weil nicht erkenn-   entsprechender Anspruch auf Zulassung noch nicht
bar ist, dass die E-Mail mit elektronischer Signatur     begründet werden. Vielmehr wurde der Ast. eine Zu-
versandt worden ist. Ohne die Sicherungen durch eine     lassung nur in Aussicht gestellt. Dies reicht aber für
digitale Signatur kann aber nicht mit der erforderli-    die Annahme einer Zusicherung nach § 38 VwVfG
chen, von dem Schriftformerfordernis des § 38 I 1        nicht aus.
VwVfG aber gebotenen Sicherheit festgestellt werden,

Standort: Berufung                                          Problem: Bindung des OVG an Zulassung

BVERWG, URTEIL VOM 29.07.2004                            Bedeutung sei in § 124 II Nr. 3 VwGO aber als Beru-
5 C 65.03 (BAYVBL 2005, 283)                             fungszulassungsgrund genannt, so dass sich Übertra-
                                                         gung auf einen Einzelrichter und Berufungszulassung
Problemdarstellung:                                      nach § 124 II Nr. 3 VwGO ausschlössen.
Im Berufungsrecht der VwGO ist ganz grundsätzlich        Das BVerwG kontert diese Argumentation mit zwei
zwischen den Fällen zu unterscheiden, in denen das       Erwägungen: Zum einen entscheiden unterschiedliche
VG die Berufung zulässt (§124a I bis III VwGO) und       Spruchkörper über die “grundsätzliche Bedeutung”,
denen, in denen das VG sich nicht zur Berufung äußert    nämlich im Übertragungsbeschluss die Kammer und in
(§ 124a IV bis VI VwGO). Die theoretisch denkbare        der Berufungszulassung der Einzelrichter. Zum ande-
dritte Möglichkeit, eine explizite Nichtzulassung,       ren werden diese Entscheidungen zu unterschiedlichen
schließt § 124a I 2 VwGO aus.                            Zeitpunkten getroffen, nämlich am Beginn (Übertra-
Hier geht es um den ersten Fall, in dem das VG die       gungsbeschluss) bzw. am Ende der Instanz (Beru-
Berufung zugelassen hat. Die Entscheidung des            fungszulassung). Ändere sich die Beurteilung der
BVerwG betrifft die Frage, ob das Oberverwaltungs-       grundsätzlichen Bedeutung im Prozessverlauf, könne -
gericht eine solche Zulassung gebunden ist, oder es      müsse aber nicht - der Einzelrichter nach § 6 III
eine zugelassene Berufung gleichwohl mangels Vor-        VwGO die Sache an die Kammer zurückübertragen.
liegen eines Zulassungsgrundes (§ 124 II Nr. 3, 4        Dieses Ermessen zeige, dass ein Einzelrichter am Ende
VwGO) als unzulässig “verwerfen” (§ 125 II 1             der Instanz durchaus mit einer Sache von grundsätzli-
VwGO) darf. Auf den ersten Blick beantwortet § 124a      cher Bedeutung konfrontiert sein könne.
I 2 VwGO diese Frage eindeutig, denn dort ist die Bin-
dungswirkung ausnahmslos und unbedingt fest-             Prüfungsrelevanz:
geschrieben.                                             Aus dem Machtwort des BVerwG spricht die deutliche
Der VGH Mannheim kam allerdings auf die Idee, dass       Tendenz, jede Aufweichung des § 124a I 2 VwGO
dies jedenfalls dann nicht gelten könne, wenn ein Ein-   durch die Oberverwaltungsgerichte im Keim zu ers-
zelrichter nach § 6 VwGO entschieden habe. Denn ein      ticken. In Examensaufgaben gibt es daher nach wie
Einzelrichter dürfe nach § 6 I Nr. 1, 2 VwGO nur ent-    vor keine Veranlassung, an der Bindungswirkung zu
scheiden, wenn die Sache weder tatsächliche noch         zweifeln. Sollte der Sachverhalt allerdings explizit die
rechtliche Schwierigkeiten aufweise und keine grund-     hier aufgeworfene Problematik aufgreifen, ist sie
sätzliche Bedeutung habe. Gerade diese grundsätzliche    selbstverständlich zu erörtern.
                                                    -328-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                           RA 2005, HEFT 6

Daneben lohnt es sich auf die vom BVerwG in einem       B. Umfang der Bindungswirkung
Nebensatz ausgesprochene Anmerkung hinzuweisen,         Diese Bindung bezieht sich allerdings nur auf die Zu-
dass die Bindungswirkung des § 124a I 2 VwGO sich       lassung selbst, nicht dagegen auf andere Zulässigkeits-
nur auf die Berufungszulassungsgründe bezieht, nicht    voraussetzungen wie die Statthaftigkeit der Berufung
hingegen auf die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzun-   nur gegen grundsätzlich berufungsfähige Entscheidun-
gen der Berufung wie ihre Statthaftigkeit (nur gegen    gen im Sinne von § 124 Abs. l VwGO (vgl. dazu
Urteile i.S.d. § 124 I VwGO), die formelle Beschwer     BGH, MDR 2003, 41 = NJW 2003, 211). Mit § 124 a
(ungeschriebene allgemeine Prozessvoraussetzung:        Abs. 1 Satz 2 VwGO hat der Gesetzgeber klargestellt,
Tenor entspricht nicht voll dem Antrag), die Postula-   dass die Zulassungsentscheidung nicht der Überprü-
tionsfähigkeit (§ 67 I VwGO), Form und Frist (Mo-       fung durch das Oberverwaltungsgericht unterliegt,
natsfrist für die Einlegung, Zweimonatsfrist für die    sondern dieses bindet (zur Bindung der Revisionszu-
Begründung, § 124a II 1, III 1 VwGO; das Schriftfor-    lassung nach § 132 Abs. 3 VwGO vgl. BVerwGE 102,
merfordernis ergibt sich aus § 124 III VwGO passim).    95, 98 f. unter Hinweis auf BT-Drs. 11/7030 S. 33).

                                                        C. Einzelrichter als Verwaltungsgericht
Vertiefungshinweise:
                                                        Die Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zu-
“ Keine Umdeutung der Berufung in Antrag auf Zu-        lassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht
lassung der Berufung: BVerwG, RA 1999, 366 = NJW        sieht auch das Berufungsgericht. Es verneint sie aber
1999, 641                                               im Streitfall zu Unrecht mit der Begründung, der nach
                                                        § 6 Abs. l Satz 1 VwGO bestimmte Einzelrichter sei
Kursprogramm:                                           nicht “Verwaltungsgericht” im Sinne des § 124 a Abs.
“ Examenskurs : “Stuckateurgewerbe”                     l Satz 1 VwGO.

Leitsatz:                                               I. Gleichsetzung von Kammer und Einzelrichter als
Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung         Spruchkörper
der Berufung durch den Einzelrichter gebunden.          Denn der Einzelrichter, dem der Rechtsstreit nach § 6
                                                        VwGO zur Entscheidung übertragen ist, entscheidet
Sachverhalt:                                            als Verwaltungsgericht. Er ist in § 5 Abs. 3 VwGO
Nachdem das Verwaltungsgericht durch einen Einzel-      neben der Kammer ausdrücklich als Entscheidungs-
richter nach § 6 VwGO die Berufung zum Oberver-         organ des Verwaltungsgerichts genannt.
waltungsgericht gem. § 124a I VwGO zugelassen hat-
te, verwarf dieses die vom Beklagten eingelegte Beru-   II. Kein Widerspruch zu § 124a I 1 VwGO
fung als unstatthaft. Das BVerwG gab der Revision       Zutreffend stellt das Berufungsgericht zwar heraus,
statt und verwies den Rechtsstreit an das OVG zurück.   dass die Voraussetzungen für die Übertragung des
                                                        Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. l Satz
Aus den Gründen:                                        1 VwGO, hier: keine grundsätzliche Bedeutung der
Die Revision ist begründet und führt zur Zurückver-     Rechtssache, und für die Zulassung der Berufung nach
weisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Zu Un-        § 124a Abs. l Satz 1 VwGO, hier: grundsätzliche
recht hat das Berufungsgericht die Berufung des Be-     Bedeutung der Rechtssache, gegenläufig sind. Das
klagten als nicht statthaft verworfen. Seine Auf-       rechtfertigt aber nicht die Annahmen des Berufungs-
fassung, die Berufung sei nicht wirksam zugelassen      gerichts, der Gesetzgeber habe die Entscheidungszu-
worden, verletzt Bundesrecht. Denn nach § 124 a Abs.    ständigkeit des Einzelrichters in Fällen grundsätzlicher
l Satz 2 VwGO war das Berufungsgericht an die Beru-     Bedeutung ausgeschlossen und der Einzelrichter sei an
fungszulassung durch den Einzelrichter gebunden.        die Bewertung der Kammer, die Rechtssache habe kei-
                                                        ne grundsätzliche Bedeutung, gebunden. Denn die be-
A. Zulassung durch das VG                               zeichneten gegenläufigen Voraussetzungen beziehen
Gegen Endurteile, wie hier das Urteil des Ver-          sich zwar auf denselben Rechtsstreit, aber auf zwei
waltungsgerichts Stuttgart vom 27.1.2003, steht den     verschiedene Entscheidungen, die je zu einer anderen
Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Ver-      Zeit, mit anderer Prüfungsdichte und von anderen
waltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zu-     Richtern zu treffen sind.
gelassen wird (§ 124 Abs. 1 VwGO). Das Ver-             Zwar lässt die Frage, ob eine Rechtssache grundsätzli-
waltungsgericht lässt die Berufung indem Urteil zu,     che Bedeutung hat, nur eine Antwort zu. Die Antwort
wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 (grundsätzli-    hängt aber ab vom Erkenntnisstand zur Zeit der Ent-
che Bedeutung) oder Nr. 4 (Divergenz) vorliegen (§      scheidung und von der Beurteilung des/r entscheiden-
124a Abs. l Satz 1 VwGO). Das Oberverwaltungsge-        den Richter(s).
richt ist an die Zulassung gebunden (§ 124 a Abs. 1     Es entspricht der beabsichtigten Verfahrensbeschleuni-
Satz 2 VwGO).                                           gung, wenn die Entscheidung über die Übertragung
                                                   -329-
RA 2005, HEFT 6                                                                           ÖFFENTLICHES RECHT

auf den Einzelrichter in einem relativ frühen Verfah-
rensstadium getroffen wird, in dem der Prozessstoff       IV. Keine Rückübertragungspflicht bei nachträglich
noch nicht umfassend bearbeitet worden ist. Es ist des-   erkannter grundsätzlicher Bedeutung
halb nicht auszuschließen, dass sich die Beurteilung      Ausgehend von der zutreffenden Erkenntnis, dass es
der grundsätzlichen Bedeutung bei weiterer Durch-         möglich ist, dass die Kammer rechtsfehlerhaft die
dringung des Prozessstoffs im Laufe des Prozessver-       grundsätzliche Bedeutung der Sache beim Übertra-
laufs ändern kann.                                        gungsbeschluss verkannt hat, sieht das Berufungsge-
Es gehört zum Rechtsleben, dass Rechtsfragen abhän-       richt ungeachtet der von ihm vertretenen Bindung des
gig von der Beurteilung des/r entscheidenden Rich-        Einzelrichters an die Bewertung durch die Kammer
ter(s) entschieden werden und deshalb unterschiedli-      (fehlende grundsätzliche Bedeutung) die Möglichkeit,
che Entscheidungen zu identischen Rechtsfragen er-        dass der Einzelrichter entgegen der Einschätzung der
gehen. Dem trägt das Gesetz durch die Möglichkeit         Kammer zur Auffassung gelangt, dass die Sache
einer Überprüfung im Rechtsmittelverfahren und bei-       grundsätzliche Bedeutung aufweise. Zu Unrecht ver-
spielsweise auch einer unterschiedlichen Beurteilung      neint es jedoch die Befugnis des Einzelrichters, die
der grundsätzlichen Bedeutung durch Verwaltungs-          Berufung zuzulassen, mit der Begründung, in diesem
gericht und Oberverwaltungsgericht Rechnung.              Fall liege eine wesentliche Änderung der Prozesslage
Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass die     im Sinne von § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor mit der
Kammer bei ihrer Entscheidung über die Übertragung        Folge, dass das durch § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO einge-
in der Beschlussbesetzung mit drei Berufsrichtern eine    räumte Ermessen auf null reduziert und der Einzelrich-
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verneint         ter zur Rückübertragung verpflichtet sei.
und den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzel-   Zum einen darf der Einzelrichter die Sache, wenn er
richter zur Entscheidung überträgt, dieser aber eine      ihre grundsätzliche Bedeutung bejaht, nur dann nach §
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht und       6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf die Kammer zurücküber-
die Berufung in seiner Entscheidung des Rechtsstreits     tragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung
zulässt.                                                  der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätz-
                                                          liche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwie-
III. Keine Bindung des Einzelrichters an Auffassung       rigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist,
der übertragenden Kammer                                  also nicht schon dann, wenn er sie anders als die Kam-
Die vom Berufungsgericht angenommene Bindung des          mer als grundsätzlich ansieht (BGH, MDR 2004, 49 =
Einzelrichters an die Bewertung der Kammer im             NJW 2003, 2900 zu dem insoweit vergleichbaren §
Übertragungsbeschluss, dass die Rechtssache keine         526 Abs. 2 Nr. l ZPO). Entgegen der Auffassung des
grundsätzliche Bedeutung habe, lässt sich dem Gesetz      Berufungsgerichts kann deshalb in der von der Kam-
nicht entnehmen. Anders als § 130 Abs. 3 und § 144        mer abweichenden Beurteilung der grundsätzlichen
Abs. 6 VwGO, die für den Fall der Zurückverweisung        Bedeutung durch den Einzelrichter nicht selbst eine
eine Bindung an die rechtliche Beurteilung der Rechts-    wesentliche Änderung der Prozesslage gesehen wer-
mittelentscheidung regeln, bestimmt § 6 VwGO eine         den. Eine Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung,
Bindung an die der Übertragungsentscheidung zugrun-       die sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozess-
de liegende rechtliche Beurteilung nicht. Gebunden ist    lage “ergibt”, kann nicht selbst die vorausgesetzte we-
der Einzelrichter an die Entscheidung der Kammer,         sentliche Änderung sein. [...]
also die Übertragung des Rechtsstreits auf ihn, nicht     Zum anderen verpflichtet § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO den
jedoch an die dieser Entscheidung zugrunde liegende       Einzelrichter nicht zur Rückübertragung, sondern
Beurteilung des Rechtsstreits. Mit der Übertragung        räumt ihm, anders als § 6 Abs. l Satz 1 VwGO für die
geht die Entscheidungsbefugnis für den Rechtsstreit       Übertragung selbst (soll übertragen), ein nicht inten-
uneingeschränkt auf den Einzelrichter über; er, nicht     diertes Ermessen (kann zurückübertragen) ein. Wenn
die ganze Kammer, entscheidet am Ende im Urteil           der Einzelrichter aber bei grundsätzlicher Bedeutung
nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens         nicht zurückübertragen muss, sondern kann, lässt das
gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. l Satz 1               Gesetz die Entscheidung des Einzelrichters auch in Fäl-
VwGO) auch darüber, ob die Rechtssache grundsätzli-       len von grundsätzlicher Bedeutung zu.
che Bedeutung hat und die Berufung zuzulassen ist.

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