Öffentliches Recht - Jura Intensiv
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RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT Öffentliches Recht Standort: Verkehrszeichen Problem: Bekanntgabe, Erkennbarkeit OVG NRW, BESCHLUSS VOM 25.11.2004 kehrszeichen bereits mit dem Aufstellen gegenüber 5 A 850/03 (NWVBL 2005, 176) jedermann wirksam wird, also unabhängig vom Heran- nahen (BVerwGE 102, 316, 318; OVG NRW, NJW 1990, 2385). Hierfür spricht § 45 IV StVO, der eine Problemdarstellung: anderweitige Bekanntgabe zulässt, “sofern die Aufstel- In der Entscheidung des OVG NRW ging es um die lung von Verkehrszeichen [...] nicht möglich ist.” Of- Frage, welche Anforderungen an die Erkennbarkeit fen geblieben ist lediglich die i.d.R. rein akademische eines Verkehrszeichens zu stellen sind. Ist es für den Frage, ob es sich dabei um einebesondere Form der Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar, ist es nämlich öffentlichen Bekanntgabe nach § 41 III 2 VwVfG han- nicht wirksam geworden, kann mithin auch nicht als delt oder die StVO das VwVfG insgesamt verdrängt. Grundlage für die Ahndung von Verstößen (Bußgelder Die Unterschiede zwischen alter und jetziger Recht- oder wie hier Abschleppen mit anschließendem Kos- sprechung zeigen sich insbesondere im Hinblick auf tenbescheid) herangezogen werden. Das Gericht stellt die Rechtsschutzmöglichkeiten: Wird das Verkehrszei- fest, dass chen mit Aufstellen bekannt gegeben, lässt sich mit - an die Erkennbarkeit der Verkehrszeichen für den dem Wortlaut des § 70 I VwGO gut vertreten, dass in ruhenden Verkehr geringere Anforderungen zu stellen diesem Moment für jedermann die Widerspruchsfrist seien als im fließenden Verkehr, weil der Parkende beginnt (die mangels Rechtsmittelbelehrung nach § 58 eine eigene Erkundigungs- und Informationspflicht I, II VwGO ein Jahr beträgt). Käme es auf das Heran- über die bestehenden Parkregelungen habe, nahen an, würde erst beim erstmaligen Passieren des - das Verkehrszeichen nicht nur beim Aufstellen, son- Verkehrszeichens die Frist beginnen, und zwar für je- dern wegen seiner Eigenschaft als Dauer-VA die gan- den einzelnen Passanten gesondert. Beides ist nicht ze Zeit über erkennbar sein müsse und ideal: Im letzteren Fall würde nie Rechtssicherheit ein- - eventuelle Unklarheiten über die Erkennbarkeit zu treten, im ersteren Fall wird die Rechtsschutzmöglich- Lasten der Behörde gingen. keit arg verkürzt. Zieht jemand bspw. in eine neue Stadt um, müsste er (vorbehaltlich §§ 70 II, 60 Prüfungsrelevanz: VwGO) das Halteverbot vor seiner neuen Wohnung Verkehrszeichen, die nach heute ganz h.M. Verwal- trotz unterstellter Rechtswidrigkeit gegen sich gelten tungsakte in Form von Allgemeinverfügungen darstel- lassen, wenn es seit mehr als einem Jahr besteht, ob- len (§ 35 S. 2 VwVfG, vgl. zum Streit über die Rechts- wohl er überhaupt keine Möglichkeit hatte, dieses vor natur die Vertiefungshinweise), bedürfen zu ihrer Fristablauf anzufechten, ja auch nur zur Kenntnis zu Wirksamkeit der Bekanntgabe, § 41 VwVfG. Grund- nehmen. Gegen diese unschöne, von der aber h.M. sätzlich bedeutet Bekanntgabe den behördlich veran- durchaus gebilligte Konsequenz werden in der Litera- lassten Zugang beim Betroffenen. Dass dies bei All- tur gelegentlich Stimmen laut, die dies mit Art. 19 IV gemeinverfügungen nicht möglich ist, liegt auf der GG für nicht vereinbar halten (z.B. Bitter/Konow, Hand. Für diese wird daher häufig auf die öffentliche NJW 2001, 1386). Bekanntgabe (§ 41 III 2 VwVfG) zurückgegriffen. In jedem Fall genügt aber für die Bekanntgabe das Für Verkehrszeichen hatte die Rspr. ursprünglich ver- Aufstellen auch nach jetziger Rspr. nur dann, wenn ein treten, dass sie - ihre Erkennbarkeit, nicht aber tatsäch- durchschnittlich sorgfältiger Passsant das Verkehrs- liche Kenntnisnahme vorausgesetzt - dem Verkehrs- zeihen “mit einem raschen und beiläufigen Blick” (- so teilnehmer beim erstmaligen Herannahen bekannt ge- wörtlich BVerwGE 102, 316, 318) erkennen konnte. geben werden und für ihn solange wirksam bleiben, Hierzu sollte man sich merken, dass dies - jedenfalls wie sie fortbestehen. Bei jedem neuen Herannahen nach dem vorliegenden Beschluss des OVG NRW - sollte es sich dann nur noch um eine sogen. “wieder- nur für den fließenden Verkehr gilt, während für den holende Verfügung” ohne eigenen Regelungscharakter ruhenden Verkehr dem Passanten eine Erkundigungs- handeln (BVerwGE 27, 181; 59, 221). Mittlerweile pflicht auferlegt wird, an die Erkennbarkeit also deut- geht das BVerwG jedoch im Anschluss an eine Ent- lich geringere Anforderungen gestellt werden. scheidung des OVG Münster davon aus, dass ein Ver- -320-
ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 Vertiefungshinweise: stellt. Insbesondere lag kein Verstoß gegen ein Halt- “ Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verkehrszeichen: oder Parkverbot vor, der das Vorgehen des Beklagten VGH Kassel, RA 1999, 457 = NJW 1999, 2057; Rinze, hätte rechtfertigen können. NZV 1999, 399; Klenke, NWVBl 1994, 288 I. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO “ Verkehrszeichen als Verwaltungsakt: BVerwGE 27, Das Parken war nicht unzulässig nach § 12 Abs. 3 Nr. 181; 59, 221; 92, 32; 97, 214; BayVGH, NVwZ 1984, 3 StVO. Danach ist das Parken vor Grundstücksein- 383; Prutsch, JuS 1980, 566 und ausfahrten verboten. Das jeweilige Verbot er- “ Verkehrszeichen als Rechtsverordnung: BayVGH, streckt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift jedoch NJW 1978, 1988; Renck, JuS 1967, 545; Obermayer, nicht auf weiteren Straßenraum neben den Ein- bzw. NJW 1980, 2387 Ausfahrten (vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrs- “ Klagebefugnis gegen Verkehrszeichen: BVerwG, recht, 35.Aufl., 1999, StVO, § 12 RdNr. 47). Entspre- RA 2004, 312 = DVBl 2004, 518 chend dem Zweck dieses Parkverbots, die Anlieger vor Behinderungen in der Benutzung der Einfahrt zu Kursprogramm: ihrem Grundstück und der Ausfahrt von ihm durch “ Examenskurs : “Die defekte Parkuhr” parkende Fahrzeuge zu schützen, genügt es daher “ Examenskurs : “Das mobile Halteverbot” grundsätzlich, dass die Fahrbahn in der Breite einer normalen Torausfahrt freigehalten wird (vgl. OLG Karlsruhe, Die Justiz 1979, 237). Verlangen besondere Leitsätze: örtliche Gegebenheiten sowie die Art des zu erwarten- 1. Damit straßenverkehrsrechtliche Ge- und Verbo- den Zufahrtverkehrs im Einzelfall die Freihaltung ei- te die ihnen zugedachte Wirkung entfalten können, nes längeren Fahrbahnabschnitts, so muss dies für den ist die zuständige Behörde gehalten, die Erkenn- Verkehrsteilnehmer erkennbar sein (vgl. OLG Karls- barkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtlichen ruhe, a.a.O.). Regelung zu gewährleisten. Das Kraftfahrzeug des Klägers stand nicht unmittelbar 2. Lässt sich nicht mehr aufklären, ob der Ver- vor der Ein- und Ausfahrt, sondern so versetzt, dass kehrsteilnehmer bei Aufbringung der gebotenen für den normalen Straßenverkehr die Zu- und Abfahrt Sorgfalts- und Informationspflicht das Verkehrs- problemlos möglich war. Für den Kläger war- jeden- zeichen erkennen konnte, geht dies zu Lasten der falls bei Außerachtlassung der Grenzmarkierung- nicht Behörde, die die Abschleppmaßnahme veranlasst erkennbar, dass eine weitere Fläche jenseits des durch hat und zur Deckung ihres Aufwands Gebühren weiße Streifen markierten Ein- und Ausfahrtbereichs erhebt. zur Vermeidung von Behinderungen freizuhalten wä- re. Sachverhalt: Der Kläger ist Halter eines Pkw, den er zur Nachtzeit II. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 8 Buchst. d StVO seitlich einer Toreinfahrt auf der Fahrbahn parkte. Das Parken war ebenfalls nicht gem. § 12 Abs. 3 Nr. 8 Dort befindet sich eine weiße Grenzmarkierung für Buchst. d StVO verboten, da es an einer wirksamen Halt- und Parkverbote (Zeichen 299), die nach Vortrag Grenzmarkierung für ein Parkverbot (Zeichen 299) des Klägers zum Zeitpunkt des Parkvorgangs auf fehlte. Offen bleiben kann, ob der Parkverbotsbereich Grund Abnutzung nur noch in Farbresten vorhanden nach § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO wirksam nur durch eine und daher - was vom Beklagten bestritten wird - bei durchgehende Markierung des erweiterten Parkver- Dunkelheit nicht mehr erkennbar war. Ein Beamter botsbereichs - also auch vor der Ein- und Ausfahrt des Beklagten ließ das Kraftfahrzeug des Klägers am selbst (so BayObLG, VRS 62, 145 f.; siehe auch OLG folgenden Morgen abschleppen, da es einen Sattel- Köln, VRS 82, 140) oder auch durch eine bloße Mar- schlepper hinderte, durch die Toreinfahrt zu gelangen. kierung der Flächen, um die die Parkverbotszone er- Der Eigentümer des angrenzenden Grundstücks über- weitert werden soll (so OLG Karlsruhe, a.a.O.), strich die Grenzmarkierung wenige Wochen nach dem gekennzeichnet werden kann. Abschleppvorgang mit weißer Farbe. Der Beklagte setzte gegenüber dem Kläger eine Verwaltungsgebühr 1. Erkennbarkeit der Regelung für das Abschleppen fest. Die hiergegen nach erfolglo- Auch wenn keine durchgehende Markierung erforder- sem Widerspruchsverfahren erhobene Klage wies das lich ist, soweit auf andere Weise deutlich wird, wel- VG ab. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg. cher Parkverbotsbereich jeweils verlängert wird, so muss die Markierung jedenfalls so beschaffen sein, Aus den Gründen: dass sie für den Verkehrsteilnehmer bei Aufbringen Die dem Gebührenbescheid zu Grunde liegende Ab- der im Verkehr gebotenen Sorgfalt erkennbar ist. Aus schleppmaßnahme war rechtswidrig. Das Kraftfahr- dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass straßenverkehrs- zeug des Klägers war verkehrsordnungsgemäß abge- rechtliche Ge- und Verbote so angebracht sein müssen, -321-
RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT dass der sorgfältig handelnde, dem Gebot des § 1 rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die StVO folgende Verkehrsteilnehmer die Anordnung Vollstreckungsmaßnahme erfüllt waren. ohne weitere Überlegung eindeutig erfassen kann (vgl. So liegt der Fall hier. Der Senat vermag nicht die OVG NRW, DÖV 1991, 120 f.). notwendige Gewissheit zu gewinnen, der Kläger habe die Grenzmarkierung bei Abstellen seines Kfz in der 2. Erstreckung auf die gesamte Geltungsdauer Nacht auch bei Aufbringen der gebotenen Sorgfalt er- Dieses Erfordernis gilt nicht nur bei der erstmaligen kennen können. Der Kläger hat vorgetragen, auf der Anbringung. Damit die Ge- und Verbote fortdauernd Fahrbahn hätten sich lediglich Farbreste befunden, die die ihnen zugedachte Wirkung entfalten können, ist er in der Nacht aufgrund der Dunkelheit nicht habe die zuständige Behörde gehalten, die ausreichende wahrnehmen können. Dagegen hat der die Erkennbarkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtli- Abschleppmaßnahme veranlassende Beamte des Be- chen Regelungen zu wahren und zu erhalten. Kommt klagten erklärt, die Grenzmarkierung sei als solche gut die zuständige Behörde dem nicht nach, und werden zu erkennen gewesen. Für den Senat ist nicht feststell- die Regelungen aufgrund Abnutzung oder Witterungs- bar, welche dieser widersprechenden Aussagen richtig einflüssen derart unkenntlich, dass die Erkennbarkeit ist. Zwar hat der Kläger ein gewichtiges Eigeninter- im oben beschriebenen Sinne nicht mehr gegeben ist, esse, die Erkennbarkeit der Grenzmarkierung zu be- so verlieren sie ihre Wirksamkeit (vgl. OLG Stuttgart, streiten. Indes spricht der Umstand, dass wenige Wo- VRS 95, 441, 442). Dabei sind an die Sichtbarkeit von chen nach dem hier streitigen Abschleppvorgang ein Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen, Nachzeichnen der Grenzmarkierung für nötig befun- niedrigere Anforderungen zu stellen als an solche des den wurde, zumindest für einen entsprechenden Er- fließenden Verkehrs. Einen Verkehrsteilnehmer, der neuerungsbedarf, mag diese Maßnahme auch nicht von sein Kfz abstellt, treffen dementsprechend andere der zuständigen Behörde durchgeführt worden sein. Sorgfalts- und Informationspflichten hinsichtlich der Das Gericht hat ebenfalls keinen Grund, an der Glaub- maßgeblichen örtlichen Verkehrsregelungen als einen würdigkeit des Beamten der Beklagten zu zweifeln. Teilnehmer am fließenden Verkehr (vgl. OVG NRW, Freilich beruht dessen Aussage, die Grenzmarkierung Beschluss vom 11.6.1997 - 5 A 4278/95). sei gut zu erkennen gewesen, nicht auf eigener Wahr- nehmung zur Nachtzeit, sondern ausschließlich auf 3. Beweislast bei der Behörde seiner Einschätzung am Morgen. Dabei hat er zwar Lässt sich nicht (mehr) aufklären, ob der Verkehrsteil- nach eigenem Bekunden einerseits die Sichtbehinde- nehmer bei Aufbringen der danach gebotenen Sorg- rung aufgrund Dunkelheit bzw. Dämmerung, anderer- falts- und Informationspflicht das Verkehrszeichen seits die dort vorhandene Straßenbeleuchtung be- wahrnehmen und erkennen konnte, gereicht dies der rücksichtigt. Es bleibt jedoch ungewiss, ob der Beamte Behörde zum Nachteil, die zum Zwecke der Voll- bei Tageslicht den Einfluss dieser Umstände auf die streckung die Abschleppmaßnahme veranlasst hat und Erkennbarkeit der Markierung zur Nachtzeit genau ab- nunmehr zur Deckung ihres Aufwands Gebühren er- schätzen konnte. hebt. Sie trägt die materielle Beweislast dafür, dass die Standort: Polizei- und Ordnungsrecht Problem: Zustandsstörer OVG NRW, BESCHLUSS VOM 06.09.2004 tont ausdrücklich, dass z.B. ein Grundstückseigentü- 13 A 3802/02 (NWVBL 2005, 177) mer zur Entsorgung von Kampfstoffen in seinem Bo- den ebenso verpflichtet werden kann wie der Eigentü- mer eines Hangs zu Präventionsmaßnahmen gegen Problemdarstellung: einen Erdrutsch. Anders liegt es jedoch dann, wenn die Im Beschluss des OVG NRW ging es um die Frage, Gefahrenquelle nicht - wie in den genannten Beispie- welche Anforderungen an die Inanspruchnahme als len - die Sache selbst ist, sondern diese nur in die Ge- Zustandsstörer nach dem Polizei- und Ordnungsrecht fahrverursachung verstrickt wird. So kann ein Flugha- der Länder zu stellen sind. fenbetreiber nicht zu Präventionsmaßnahmen gegen Durchgesetzt hat sich beim Verhaltens- wie beim Zu- terroristische Anschläge verpflichtet werden, weil die- standsstörer die Theorie der unmittelbaren Verursa- se Gefahr - im Gegensatz zu den Erdrutschgefahren im chung, wonach nur der Letztverantwortliche stört, also Beispiel zuvor - nicht in dem Grundstück wurzelt. der, dessen Verhalten bzw. Sache auf einem imaginä- Ebenso lag es im zu entscheidenden Fall, in dem eine ren Zeitstrahl bis zum Eintritt der Gefahr den letzten Tochter der Deutschen Bahn AG für Schäden verant- Kausalbeitrag leistet. wortlich gemacht werden sollte, die von in einem Tun- Irrelevant sind hingegen Kriterien wie Verschulden nel nistenden Tauben ausgingen. oder auch nur Kenntnis von der Gefahr. Das OVG be- -322-
ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 Prüfungsrelevanz: valenz: VGH Kassel, RA 2000, 12 = NJW 1999, 3650 Die Kausalität zwischen einem Verhalten oder einer “ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Ad- Sache und dem Eintritt einer Gefahr ist in allen Bun- äquanz: OLG Koblenz, RA 2003, 678 = DVBl 2003, desändern Voraussetzung für die Inanspruchnahme zur 1342; VG Osnabrück, NdsVBl 2002, 87 Störungsbeseitigung. Liegt sie nicht vor, bleibt nur ein “ Theorie der rechtswidrigen Verursachung: Pietzker, an enge Voraussetzungen geknüpfter Rückgriff auf DVBl 1984, 457, 459; Herrmann, DÖV 1987, 666 den sogen. Nichtstörer, dessen Heranziehung jedoch “ Mittelbare Störer: BGH, NJW 2000, 2901; VG Ber- stets subsidiär zu staatlichem Handeln ist, m.a.W. nur lin, RA 2001, 483 = AfP 2001, 437 m.Anm. Kreile in Betracht kommt, wenn der Staat selbst außerstande ist, eine Gefahr zu bekämpfen. Kursprogramm: Die herrschende Theorie der unmittelbaren Verursa- “ Examenskurs : “Waffen-SS” chung ist grundsätzlich denkbar einfach zu handhaben. Stellt man sich die Frage, wer den letzten Beitrag auf “ Examenskurs : “Die Vögel” dem Weg zum Eintritt der Gefahr geleistet hat, erhält man als Antwort den Störer. Ausnahmen bilden nur Leitsatz: der sogen. Zweckveranlasser und der latente Störer. Der Deutschen Bahn kann nicht als Zustandsstöre- Beide setzen nur eine mittelbare Vorursache, sind aber rin aufgegeben werden, gegen das Nisten und Brü- trotzdem Störer. Der Zweckveranlasser, weil er das ten von Tauben in einer Bahnunterführung auf ih- letztlich gefährliche Verhalten will (so die subjektive re Kosten ein Netz spannen zu lassen. Theorie) bzw. man hätte vorhersehen können, dass sein Vorverhalten in eine Gefahr mündet (so die ob- Sachverhalt: jektive Theorie). Nachdem sich der Beklagte seit 1994 zunächst selbst Auf den latenten Störer wurde früher bei emittierenden bemüht hatte, der Verschmutzung durch Tauben unter Anlagen zurückgegriffen, bei denen nicht die Emission der Bahnunterführung G. in D. Herr zu werden, erließ selbst die Gefahr heraufbeschwor, sondern erst ein er gegen die Klägerin, eine Gesellschaft der Deutschen weiteres Ereignis (z.B. hinzu kommende Umweltein- Bahn, unter dem 24.6.1999 eine auf §§ 10, 13 flüsse). Heute liegt die Lösung dieser Fälle eher im BSeuchG i. V. m. § 18 OBG NRW gestützte Ord- Immissionsschutzrecht, das die große Mehrzahl von nungsverfügung, mit der er der Klägerin aufgab, in- ihnen eigens regelt. nerhalb von vier Wochen nach Zustellung der Verfü- gung an der Bahnunterführung durch das Anbringen Die Theorie der unmittelbaren Verursachung ist übri- einer Netzabspannung “das dauerhafte Ansammeln, gens nicht unbestritten: Eine Mindermeinung vertritt Nisten und Brüten von Tauben unter der Brückenkon- die Theorie der rechtswidrigen Verursachung, wonach struktion zu unterbinden”. Störer ist, wer rechtswidrig handelt, wer also m.a.W. Durch Urteil vom 17.7.2002 gab das VG der Klage mit seinen Rechtskreis überschreitet. Diese Theorie ver- der Begründung statt, die Klägerin könne nicht als mischt jedoch die Kausalität mit dem dem Polizei- und Störerin herangezogen werden, weil die Gefahr un- Ordnungsrecht fremden Kriterium der Rechtswidrig- mittelbar durch das Verhalten der Tauben ausgelöst keit, ja setzt diese Begriffe sogar gleich. Das ist nicht werde, für das die Klägerin nicht verantwortlich sei. gerechtfertigt, denn hätten die Landesgesetzgeber dies Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. gewollt, hätten sie die Rechtswidrigkeit - wie an zahl- losen anderen Stellen im deutschen Recht - in die Nor- Aus den Gründen: men zu Bestimmung des Störers aufgenommen. Dies wäre auch nicht sinnvoll gewesen, denn auch recht- A. Ermächtigungsgrundlage mäßige Verhaltensweisen müssen unterbunden werden Der Beklagte stützt sich als Eingriffsnorm auf § 13 können, wenn sie für andere gefährlich sind. Außer- Abs. l BSeuchG. Vom Vorliegen der Voraussetzungen dem bekommt die Theorie der rechtswidrigen Verursa- dieser inzwischen durch Regelungen des Infektions- chung Probleme bei einer Gefahr für die öffentliche schutzgesetzes vom 20.7.2000 (IfSG) abgelösten, aber Ordnung, die in vielen Bundesländern neben die öf- auf den vorfliegenden Fall einer Anfechtungsklage, bei fentliche Sicherheit tritt. Wer gegen die öffentliche der in der Regel auf die Rechtslage im Zeitpunkt des Ordnung verstößt, handelt gerade nicht rechtswidrig, Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des sondern verstößt gegen ungeschriebene, ethisch-mora- Widerspruchbescheides vom 8.2.2000, abzustellen ist, lische Verhaltensgebote, sodass es hier niemals einen noch anwendbaren Vorschrift kann zu Gunsten des Störer geben könnte, wollte man auf die Rechtswidrig- Beklagten ausgegangen werden, zumal die Parteien keit des Verhaltens abstellen. hierum nicht streiten. Vertiefungshinweise: B. Störereigenschaft “ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Äqui- Die Berechtigung für die Heranziehung der Klägerin -323-
RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT entnimmt er § 18 Abs. l OBG NRW, was grundsätz- gen zu schaffen (vgl. BVerwG, DÖV 1986, 287). In lich mangels entsprechender Regelung im Bundesseu- dem vorstehend zitierten Urteil wird für das Erforder- chengesetz statthaft ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom nis einer Unmittelbarkeit als Grund angeführt, ohne 18.9.1987 - 3 B 21.87). § 18 OBG NRW regelt die diese würde die polizeiliche Zustandshaftung zu einer Verantwortlichkeit für den Zustand von Sachen wie konturenlosen Billigkeitshaftung, da andere haftungs- folgt: “Geht von einer Sache oder einem Tier eine Ge- beschränkende Kriterien wie Rechtswidrigkeit oder fahr aus, so sind die Maßnahmen gegen den Eigentü- Schuld fehlen. Dem schließt sich der Senat in Über- mer zu richten. Soweit nichts anderes bestimmt ist, einstimmung mit dem angefochtenen Urteil an. sind die nachfolgenden Vorschriften entsprechend auf Tiere anzuwenden.” II. Subsumtion Im Rahmen der wertenden Betrachtung schlägt durch, I. Theorie der unmittelbaren Verursachung dass die Verwirklichung der Gefahr von wilden Tieren § 18 Abs. l OBG ist jedoch keine ausreichende Grund- ausgeht, das Brückenbauwerk aber - anders als in den lage für die Inanspruchnahme der Klägerin. Das ergibt beiden Fällen der Kampfstoffe und der Felsabgänge - sich daraus, dass die Gefahr, die von dem Taubenkot die Gefahr nicht in sich selbst trägt. Um eine tatsäch- ausgeht, nicht unmittelbar mit dem Zustand des liche Verbindung zu der Brücke herzustellen, muss auf Brückenbauwerks ursächlich in Verbindung steht. die Nistplätze in dem Brückenbauwerk abgestellt wer- den, von denen selbst aber ebenfalls keine Gefahr aus- 1. Sache selbst als Gefahrenquelle geht. Unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten ist Nach der Rechtsprechung besteht allerdings die Haf- die Nähe der Tiere zu dem Brückenbauwerk weiter tung eines Grundstückseigentümers als sog. Zustands- dadurch relativiert, dass sich zwar die Tiere häufig, störer wegen der sog. Zustandsverantwortung für ein aber nicht notwendigerweise dort entleeren. Die feh- Grundstück auch dann, wenn die Gefahr von in ein lende Unmittelbarkeit wird auch dadurch erhellt, dass Grundstück eingebrachten Sachen, etwa Kampfmit- es im Bereich des Beklagten - aktenkundig - nicht nur teln, über die der Eigentümer des Grundstücks schon unter der fraglichen Brücke (und möglicherweise unter mangels Kenntnis von ihnen keine Sachherrschaft hat, weiteren Brücken) Verunreinigung durch Tauben gibt, oder wenn die Gefahr wie Felsbruch von einem Natur- sondern auch anderenorts und in Großstädten allge- ereignis ausgeht. mein eine Taubenplage festzustellen ist (vgl. Frankfur- Der Grund ist, dass sich aus der tatsächlichen und ter Allgemeine Zeitung vom 9.7.2004, Seite 7 “Neue rechtlichen Sachherrschaft über das Grundstück wegen Hackordnung am Opernplatz”). Das Problem würde der Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. l sich durch die angeordnete Netzabspannung allenfalls Satz 2 GG eine Pflicht ergibt, in Bezug auf dieses örtlich, aber nicht grundsätzlich verändern. Die Gefahr Grundstück für Störungsfreiheit zu sorgen (vgl. würde sich nämlich verlagern, da kein Anhaltspunkt BVerwG, Buchholz, 402.41, Allg. PolizeiR Nr. 65 be- dafür besteht, dass die Verhinderung des Nistens im treffend vermutete Kampfmittel, und NJW 1999, 231, Bereich der Brücke zu einer insgesamt geringeren betreffend Felsabgänge). In diesen Fällen wird aus der Taubenbelastung führen würde. Die Tauben als wilde Sachqualität des Grundstücks und der Sachherrschaft Tiere würden gegebenenfalls andere Nist- und Brut- über das Grundstück die Unmittelbarkeit der Gefahr in plätze suchen, und ihren Kot anderenorts abgeben. Zu Bezug auf das Grundstück abgeleitet. Gunsten des Beklagten mag allerdings sprechen, dass die Verlagerung der Nester nicht wieder zu einer ähnli- 2. Gefahrverursachung durch höhere Gewalt oder chen Konzentration der Tauben und der von ihnen aus- Dritte gehenden Gefahr führen müsste. Deshalb dürfte das Ob die Unmittelbarkeit - wie in den vorstehenden Fäl- Erfordernis der Eignung der angeordneten Netz- len - noch gegeben ist, ist von Fall zu Fall in wertender abspannung - eine weitere Voraussetzung der Rechtmä- Betrachtung festzustellen. ßigkeit einer Ordnungsverfügung-nicht wegen der blo- Der Zustand einer Sache und die Sachherrschaft über ßen Vertreibung der Tauben zu anderen Nistplätzen sie können im Verhältnis zu der Gefahr oder dem entfallen. Ein indizieller Gesichtspunkt bei der Bewer- Schaden auch eine nur entferntere, mittelbare Ursache tung der Unmittelbarkeit zwischen Gefahr und darstellen; solche mittelbaren Ursachen lösen die poli- Brückenbauwerk bleibt die Verschiebung des Pro- zeiliche Zustandshaftung jedoch nicht aus. So liegt der blems trotzdem. Fall etwa, wenn die Gefahr oder der Schaden unmittel- Die fehlende Unmittelbarkeit ergibt sich in Bezug auf bar durch eine Missbrauchshandlung eines Dritten das klägerische Brückenbauwerk ferner dadurch, dass ausgelöst wird, mag von der Sache auch ein gewisser nicht die Belästigung durch den von den Tauben abge- Anreiz für diesen Missbrauch ausgehen. Deshalb ist gebenen Kot schon die Gefahr bildet, sondern erst der etwa der Betreiber eines Flughafens nicht aus allge- Umstand, dass dieser auf der Straße trocknet und als meinen Gründen der Gefahrenabwehr verpflichtet, Staub von Menschen eingeatmet werden kann. Hin- (auf eigene Kosten) Schutz vor terroristischen Anschlä- zukommt, dass es sich damit zugleich auch um ein -324-
ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 Problem der insoweit nicht ausreichenden Straßenreini- Ratten oftmals durch Lagerung von Unrat oder Abfall gung durch den dafür zuständigen Beklagten handelt. oder durch sonstige dem Grundstück eigene Diese zu dem Umstand, dass die Tauben wilde Tiere Anziehungspunkte der Fall ist. Gegebenenfalls kommt sind, hinzukommenden Gesichtspunkte machen den ferner eine Inanspruchnahme sogar nicht verantwortli- Fall entgegen dem Vorbringen des Beklagten auch cher Personen nach § 19 OBG NRW in Betracht. unvergleichbar mit der Inanspruchnahme eines Grund- Nicht immer, wenn eine Gefahr zu beseitigen ist, muss stückseigentümers wegen Ratten, die regelmäßig darin auch ein anderer in Anspruch genommen werden kön- besteht, dass ihm das Auslegen von Rattengift auf sei- nen. Ein weiterer Anwendungsbereich des § 13 nem Grundstück aufgegeben wird. Wenn der Beklagte BSeuchG wäre im Übrigen gegeben, wenn sich der meint, bei der Auslegung des VG würde § 13 Abs. l Beklagte, nachdem er seit zehn Jahren mit anderen BSeuchG ins Leere gehen, da grundsätzlich niemand Mitteln versucht, des Taubenproblems Herr zu wer- als Störer in Anspruch genommen werden könne, ist den, entschließen würde, die Tiere zu töten, weil die dem schon wegen der Fallgruppe der Handlungsstörer Behörde nach § 13 BSeuchG nämlich wirksam zu han- nicht zu folgen. Außerdem ist grundsätzlich auch eine deln hat. Wie auch die Klägerin zutreffend ausgeführt Inanspruchnahme eines Grundstückseigentümers als hat, würde ihm dann gegenüber den Regelungen des Zustandsstörer nicht ausgeschlossen, wenn die Gefahr Tierschutzgesetzes ebenfalls § 13 BSeuchG bzw. die und das Grundstück hinreichend eng (unmittelbar) in Nachfolgeregelung zur Seite stehen. Beziehung stehen, was z.B. im Zusammenhang mit Standort: Wiedereinsetzung Problem: Doppelverschulden OVG NRW, BESCHLUSS VOM 29.09.2004 Vertiefungshinweise: 13 A 4479/02 (NWVBL 2005, 196) “ Keine Wiedereinsetzung in die Frist des § 47 II VwGO möglich: OVG NRW, RA 2005, 252 = NVwZ- Problemdarstellung: RR 2005, 290; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 201 (offen gelassen) Wird eine gesetzliche Frist versäumt, kann nach § 32 VwVfG im verwaltungsbehördlichen Verfahren Wie- “ Übertriebene Anforderungen an die Wiedereinset- dereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. zung: BVerfG, RA 2000, 2 = NJW 1999, 3701 Die Vorschrift setzt jedoch voraus, dass die Fristver- “ Wiedereinsetzung bei Wegfall des Hindernisses säumnis nicht auf ein Verschulden des Antragstellers während der noch laufenden Frist: BVerwG, RA 1999, zurückzuführen ist. 416 = NVwZ-RR 1999, 472 Hiervon gibt es nach der überwiegenden Rechtspre- chung, der sich auch das OVG NRW im vorliegenden Kursprogramm: Beschluss anschließt, eine Ausnahme: Wenn neben “ Examenskurs : “Schiefe Schieferplatten” dem Antragsteller auch die Behörde ein Verschulden am Fristversäumnis trifft (Doppelverschulden), kann Leitsatz: Wiedereinsetzung gewährt werden. “Kann” bedeutet, Trifft auch die Behörde für die Versäumung einer dass je nach Einzelfall entschieden werden muss, ob Antragsfrist ein Verschulden, so kann Wiederein- der Mitverschuldensanteil der Behörde so gravierend setzung in den vorigen Stand zu gewähren sein. ist, dass angesichts dessen vom Antragsteller nicht mehr in zumutbarer Weise erwartet werden konnte, Sachverhalt: dass er die Frist wahrt. Die Klägerin beantragte im Mai 1995 die Verlänge- rung der Zulassung eines Arzneimittels, das erstmals Prüfungsrelevanz: unter dem 18.11.1985 zugelassen worden war. In dem Die Entscheidung wirkt sich in allen Wiedereinset- Verlängerungsbescheid der Beklagten vom 23.9.1999 zungsfällen aus, in denen ein Doppelverschulden in heißt es, die Verlängerung werde für fünf Jahre erteilt. Rede steht. Das OVG betont, dass der hier einschlägi- Im Oktober 2000 fragte die Klägerin bei der Beklagten ge § 32 VwVfG dem im verwaltungsgerichtlichen an, ob die Verlängerung bis zum 23.9.2004 oder bis Verfahren geltenden § 60 VwGO insoweit gleichzu- zum 18.11.2005 reiche; sollte die Verlängerung nur stellen sei. § 60 VwGO gilt wegen § 70 II VwGO bis zum 18.11.2000 gelten, beantrage sie eine erneute nicht nur für gerichtliche Rechtsbehelfe, sondern auch Verlängerung und die Wiedereinsetzung in den vori- für die Widerspruchsfrist. gen Stand hinsichtlich der dann versäumten Hinsichtlich weiterer Probleme zur Wiedereinsetzung Drei-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 Satz l AMG. Die sei auf die folgenden Vertiefungshinweise verwiesen. Beklagte lehnte den Antrag als unzulässig ab. Mit ihrer Klage auf Bescheidung in der Sache hatte die Klägerin -325-
RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT in beiden Instanzen Erfolg. Verschuldens auch der Behörde zu berücksichtigen. Aus Art. 2 Abs. l i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich Aus den Gründen: ein allgemeines Grundrecht auf ein faires Verfahren. Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt u.a., dass A. Verschulden der Klägerin ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Feh- Zwar hat die Klägerin die Drei-Monats-Frist des § 31 lern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfah- Abs. 3 Satz 1 AMG (zur Auslegung des § 31 AMG rensnachteile ableiten darf (vgl. BVerfGE 78, 123, und zur Fristberechnung vgl. Urt. des Senats v. 126). Ausdrücklich hat das BVerfG (Beschluss vom 27.4.2004 - 13 A 3596/01 -, noch nicht veröffentlicht, 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03, Rz. 11) formuliert: Beruhe Revisionsaktenzeichen: BVerwG 3 C 22.04) versäumt. eine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, seien Dies war nach den Maßstäben des vorstehend genann- die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung “mit be- ten Senatsurteils, an denen festgehalten wird, auch sonderer Fairness” zu handhaben. Zwar sind die ge- schuldhaft. nannten Entscheidungen des BVerfG jeweils zu ge- richtlichen Verfahren ergangen. Da es für den durch B. Verschulden der Behörde Art. 2 Abs. l GG geschützten Kreis aber keine Bedeu- Jedoch hätte die Beklagte den insofern - nach den über- tung hat, ob er durch überspannte Anforderungen bei zeugenden Feststellungen des angefochtenen Urteils, Gericht in seinem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten die die Beklagte hingenommen hat, auch rechtzeitig - Justizgewährungsanspruch verletzt wird oder ob er gestellten Wiedereinsetzungsantrag positiv bescheiden sein Anliegen erst gar nicht vor Gericht bringen kann, müssen, was das VG nachgeholt hat und nachholen weil er im Verwaltungsverfahren unfair behandelt konnte (vgl. OVG NRW, NWVBl. 1996, 156). Wie in wird, und sich Art. 20 Abs. 3 GG auch an die vollzie- dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, steht hende Gewalt richtet, sieht sich der Senat nicht gehin- § 31 Abs. l Nr. 3 AMG einer Statthaftigkeit der Wie- dert, das vom BVerfG betonte Fairnessgebot bei be- dereinsetzung gem. § 32 Abs. 1 VwVfG nicht entge- hördlichen Fehlern auch im Rahmen des § 32 VwVfG gen. zu berücksichtigen (so auch BVerwG, NVwZ 1994, 575). I. Zumutbarkeit der Fristwahrung Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist dem Betroffenen C. Auswirkungen je nach Einzelfall auf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn er Wie und unter welchen Umständen eine behördliche ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Mitschuld geeignet ist, ein eigenes Verschulden des Frist einzuhalten. Unverschuldete Fristversäumung er- Betroffenen zu relativieren, ist von Fall zu Fall in wer- fordert, dass dem Betroffenen nach den gesamten Um- tender Betrachtung festzustellen. Ob behördliches ständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die (Mit-)Verschulden gegebenenfalls die Einhaltung ei- Frist versäumt hat und ihm die Einhaltung der Frist ner Frist unzumutbar macht oder dadurch das Ver- zumutbar war. Es darf also nicht diejenige Sorgfalt au- schulden des Betroffenen überlagert wird oder auf ßer Acht gelassen werden, die einem gewissenhaften sonstige Weise entfallen lässt, ist eher eine akademi- und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrneh- sche Frage, die keiner Entscheidung bedarf. Das gilt menden Verfahrensbeteiligten geboten und zumutbar auch für die Möglichkeit, dass sich die Behörde auf ist (vgl. etwa BVerwG, NJW 1990, 3103; NJW 1976, das Verschulden des Betroffenen bei ursächlichem 1332, wo zugleich ausgeführt wird, mit § 60 Abs. l eigenen Verschulden nicht berufen darf (so BVerwG, VwGO [der § 32 Abs. l VwVfG entspricht] könnten a.a.O.). Jedenfalls ist im vorliegenden Fall das Ver- Härten aufgefangen werden; die Vorschrift ermögli- schulden der Klägerin in einem solchen Maße durch che, dort zu helfen, wo dazu wegen der konkreten Ge- Umstände aus der Sphäre der (beklagten) Behörde be- gebenheiten Anlass besteht). einflusst, dass hier die gebotene Fairness schon zu ei- ner Wiedereinsetzung durch die Beklagte selbst hätte II. Faires Verfahren führen müssen, sodass die Wiedereinsetzung durch das Das Kriterium der Zumutbarkeit räumt die Möglich- VG nicht zu beanstanden ist. [...] keit ein, den vom Gesetz nicht geregelten Fall eines -326-
ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 Standort: § 38 VwVfG Problem: E-Mail und Schriftformerfordernis OVG LÜNEBURG, BESCHLUSS VOM 17.01.2005 3. Wenn es um formgebundene Rechtsbehelfe geht, 2 PA 108/05 (NVWZ 2005, 470) z.B. einen Widerspruch nach § 70 I VwGO oder eine Klageerhebung nach § 81 VwGO, wird auf die Wah- rung der Form häufig schon in der Frist einzugehen Problemdarstellung: sein, wenn der Rechtsbehelf fristgebunden ist. Denn Das OVG Lüneburg verneint im vorliegenden Be- nur ein formgerecht eingereichter Rechtsbehelf wahrt schluss die Frage, ob eine E-Mail dem Schriftformer- die Frist. Gibt es keine Fristen, wie z.B. im Regelfall fordernis des § 38 I 1 VwVfG für die wirksame Abga- bei Leistungs- und Feststellungsklagen oder Anträgen be einer Zusicherung genügt. Einschränkend weist das im vorläufigen Rechtsschutz, muss die Formwahrung Gericht darauf hin, dass dies jedenfalls für solche E- bei Problemen in einem eigenen Prüfungspunkt in der Mails gelte, die nicht mit einer digitalen Signatur ver- Zulässigkeit erörtert werden. sehen sind. 4. Schließlich können auch Mitwirkungsakte des Bür- Der Beschluss fügt sich nahtlos in die Linie anderer gers formgebunden sein (z.B. Anträge im förmlichen Gerichtsentscheidungen ein, in denen es um die Frage Verwaltungsverfahren nach § 64 VwVfG). In diesen ging, ob dem herkömmlichen Schriftformerfordernis Fällen kommt die Form des Antrags unter den formel- durch die Verwendung von modernen Kommunika- len Voraussetzungen für einen Anspruch auf das be- tionsmitteln genügt werden kann. Für das Telefax ist gehrte Verwaltungshandeln zur Sprache. dies mittlerweile in § 130 Nr. 6 ZPO, der über § 173 VwGO auch im Verwaltungsprozess gilt, Gesetz ge- worden. Für sogen. “Computerfaxe”, also solche, die Vertiefungshinweise: direkt aus dem PC online versendet werden, ohne vor- “ Zulässigkeit des Computerfaxes: GS-OBG, RA her ausgedruckt und unterschrieben worden zu sein, 2000, 607 = NJW 2000, 2340; BGH, RA 1999, 15 = hat sich die Rspr. in Person des Gemeinsamen Senats NJW 1998, 3649; BSG, NJW 1997, 1254; Düwell, der Obersten Bundesgerichte nach langem Hin und NJW 2000, 3334; Schwachheim, NJW 1999, 621 Her schließlich dazu durchgerungen, auch diese jeden- falls dann zuzulassen, wenn sie mit einer eingescann- Kursprogramm: ten Unterschrift versehen sind (siehe Vertiefungshin- “ Examenskurs : “Ausgespielt” weise). Hierzu lässt sich - mit aller Vorsicht - sagen, dass eine E-Mail mit digitaler Signatur von einem sol- Leitsatz: chen Computerfax nicht mehr weit entfernt ist, man Eine E-Mail ohne digitale Signatur wahrt auf kei- also gespannt sein darf, ob sich in dieser Hinsicht die nen Fall die für eine wirksame Zusicherung erfor- Rspr. weiterhin so konservativ zeigt wie hier das derliche Schriftform. OVG. Sachverhalt: Prüfungsrelevanz: Die ASt. begehrt Prozesskostenhilfe für den Rechts- Formprobleme lassen sich an vielen Stellen leicht in streit über ihre Zulassung zum Hochschulstudium. Zur Examensaufgaben einbinden. Je nach Fallkonstellation Begründung der Erfolgsaussichten eines solchen Pro- verschieben sich Prüfungsstandort und Rechtsfolgen. zesses beruft sie sich u.a. auf eine E-Mail der Ag., Die wichtigsten Fälle sind (ohne Anspruch auf Voll- welcher sie die verbindliche Zusicherung eines Stu- ständigkeit): dienplatzes entnehmen will. Der Antrag blieb ohne 1. Formfehler können sich zum einen auf die Wirksam- Erfolg. keit behördlicher Erklärungen auswirken, wenn dies besonders angeordnet ist, wie hier nach § 38 I 1 Aus den Gründen: VwVfG auf die Wirksamkeit der Zusicherung eines Soweit die Ast. mit ihrer Beschwerde erneut geltend Verwaltungsakts oder über §§ 57, 59 I VwVfG i.V.m. macht, das Internationale Büro der Ag. habe ihr unter 125 BGB beim öffentlich-rechtlichen Vertrag. dem 6.12.2004 die Zulassung zu dem von ihr ange- 2. Beim Verwaltungsakt selbst führt ein Verstoß gegen strebten Studium rechtswirksam zugesichert, kann dies eine abweichend von § 37 II VwVfG ausnahmsweise nicht zum Erfolg ihrer Beschwerde führen. Die E-Mail erforderliche Schriftform (z.B. im förmlichen Verfah- des Internationalen Büros vom 6.12.2004, auf die sich ren nach § 69 II VwVfG oder beim Widerspruchsbe- die Ast. beruft, genügt nicht den Anforderungen an scheid nach § 73 III VwGO) hingegen grds. nur zur eine Zusicherung i.S. des § 38 VwVfG, kann der Ast. (formellen) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, die also ebenfalls die erstrebte Hochschulzulassung nicht zwar nicht nach § 45 VwVfG heilbar ist, jedoch nach § vermitteln, wie dies das VG in dem Beschluss vom 46 VwVfG unbeachtlich sein kann. 22.12.2004 bereits zutreffend erkannt hat. -327-
RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT I. E-Mail genügt nicht der Schriftform ob die betreffende E-Mail vollständig und inhaltlich Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats bereits richtig ist und ob sie tatsächlich von dem in ihr ange- daraus, dass die E-Mail nicht dem Schriftformerforder- gebenen Aussteller stammt. nis des § 38 I 1 VwVfG entspricht. Auch wenn die modernen, insbesondere die elektronischen Kommuni- II. Abgabe einer Zusicherung kationsformen im Rechtsverkehr eine immer größere Aber selbst wenn man die Schriftform durch die fragli- Bedeutung gewinnen, bedeutet dies nicht, dass eine che E-Mail hier als gewahrt ansehen wollte - auch dies schlichte E-Mail dem in § 38 I 1 VwVfG zum Schütze stellt eine selbstständig tragende Erwägung des Be- einer Behörde vor übereilten Bindungen angeordneten schlusses dar -, könnte die Ast. aus der E-Mail einen Schriftformerfordernis genügt. Anspruch auf Zulassung zu dem von ihr angestrebten Hierbei kann der Senat offen lassen, ob unter Schrift- Studium nicht herleiten. Denn der Erklärung fehlt ent- form i. S. des § 38 VwVfG nach dem Willen des Ge- gegen der Ansicht der Ast. der für eine Zusicherung setzgebers nur ein Papierdokument zu verstehen ist (so erforderliche Bindungswille. Wie nämlich die in der Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2004, § 38 E-Mail verwende Formulierung “voraussichtlich” auch Rdnr. 35 a). Denn nach dem Kenntnisstand dieses Pro- für Außenstehende hinreichend deutlich macht, sollte zesskostenhilfeverfahrens erfüllt die fragliche E-Mail der Ast. die erstrebte Zulassung zum Studium nicht vom 6.12.2004 schon deshalb nicht das Schriftformer- garantiert, zu ihren Gunsten durch die E-Mail ein fordernis i. S. des § 38 I 1 VwVfG, weil nicht erkenn- entsprechender Anspruch auf Zulassung noch nicht bar ist, dass die E-Mail mit elektronischer Signatur begründet werden. Vielmehr wurde der Ast. eine Zu- versandt worden ist. Ohne die Sicherungen durch eine lassung nur in Aussicht gestellt. Dies reicht aber für digitale Signatur kann aber nicht mit der erforderli- die Annahme einer Zusicherung nach § 38 VwVfG chen, von dem Schriftformerfordernis des § 38 I 1 nicht aus. VwVfG aber gebotenen Sicherheit festgestellt werden, Standort: Berufung Problem: Bindung des OVG an Zulassung BVERWG, URTEIL VOM 29.07.2004 Bedeutung sei in § 124 II Nr. 3 VwGO aber als Beru- 5 C 65.03 (BAYVBL 2005, 283) fungszulassungsgrund genannt, so dass sich Übertra- gung auf einen Einzelrichter und Berufungszulassung Problemdarstellung: nach § 124 II Nr. 3 VwGO ausschlössen. Im Berufungsrecht der VwGO ist ganz grundsätzlich Das BVerwG kontert diese Argumentation mit zwei zwischen den Fällen zu unterscheiden, in denen das Erwägungen: Zum einen entscheiden unterschiedliche VG die Berufung zulässt (§124a I bis III VwGO) und Spruchkörper über die “grundsätzliche Bedeutung”, denen, in denen das VG sich nicht zur Berufung äußert nämlich im Übertragungsbeschluss die Kammer und in (§ 124a IV bis VI VwGO). Die theoretisch denkbare der Berufungszulassung der Einzelrichter. Zum ande- dritte Möglichkeit, eine explizite Nichtzulassung, ren werden diese Entscheidungen zu unterschiedlichen schließt § 124a I 2 VwGO aus. Zeitpunkten getroffen, nämlich am Beginn (Übertra- Hier geht es um den ersten Fall, in dem das VG die gungsbeschluss) bzw. am Ende der Instanz (Beru- Berufung zugelassen hat. Die Entscheidung des fungszulassung). Ändere sich die Beurteilung der BVerwG betrifft die Frage, ob das Oberverwaltungs- grundsätzlichen Bedeutung im Prozessverlauf, könne - gericht eine solche Zulassung gebunden ist, oder es müsse aber nicht - der Einzelrichter nach § 6 III eine zugelassene Berufung gleichwohl mangels Vor- VwGO die Sache an die Kammer zurückübertragen. liegen eines Zulassungsgrundes (§ 124 II Nr. 3, 4 Dieses Ermessen zeige, dass ein Einzelrichter am Ende VwGO) als unzulässig “verwerfen” (§ 125 II 1 der Instanz durchaus mit einer Sache von grundsätzli- VwGO) darf. Auf den ersten Blick beantwortet § 124a cher Bedeutung konfrontiert sein könne. I 2 VwGO diese Frage eindeutig, denn dort ist die Bin- dungswirkung ausnahmslos und unbedingt fest- Prüfungsrelevanz: geschrieben. Aus dem Machtwort des BVerwG spricht die deutliche Der VGH Mannheim kam allerdings auf die Idee, dass Tendenz, jede Aufweichung des § 124a I 2 VwGO dies jedenfalls dann nicht gelten könne, wenn ein Ein- durch die Oberverwaltungsgerichte im Keim zu ers- zelrichter nach § 6 VwGO entschieden habe. Denn ein ticken. In Examensaufgaben gibt es daher nach wie Einzelrichter dürfe nach § 6 I Nr. 1, 2 VwGO nur ent- vor keine Veranlassung, an der Bindungswirkung zu scheiden, wenn die Sache weder tatsächliche noch zweifeln. Sollte der Sachverhalt allerdings explizit die rechtliche Schwierigkeiten aufweise und keine grund- hier aufgeworfene Problematik aufgreifen, ist sie sätzliche Bedeutung habe. Gerade diese grundsätzliche selbstverständlich zu erörtern. -328-
ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 Daneben lohnt es sich auf die vom BVerwG in einem B. Umfang der Bindungswirkung Nebensatz ausgesprochene Anmerkung hinzuweisen, Diese Bindung bezieht sich allerdings nur auf die Zu- dass die Bindungswirkung des § 124a I 2 VwGO sich lassung selbst, nicht dagegen auf andere Zulässigkeits- nur auf die Berufungszulassungsgründe bezieht, nicht voraussetzungen wie die Statthaftigkeit der Berufung hingegen auf die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzun- nur gegen grundsätzlich berufungsfähige Entscheidun- gen der Berufung wie ihre Statthaftigkeit (nur gegen gen im Sinne von § 124 Abs. l VwGO (vgl. dazu Urteile i.S.d. § 124 I VwGO), die formelle Beschwer BGH, MDR 2003, 41 = NJW 2003, 211). Mit § 124 a (ungeschriebene allgemeine Prozessvoraussetzung: Abs. 1 Satz 2 VwGO hat der Gesetzgeber klargestellt, Tenor entspricht nicht voll dem Antrag), die Postula- dass die Zulassungsentscheidung nicht der Überprü- tionsfähigkeit (§ 67 I VwGO), Form und Frist (Mo- fung durch das Oberverwaltungsgericht unterliegt, natsfrist für die Einlegung, Zweimonatsfrist für die sondern dieses bindet (zur Bindung der Revisionszu- Begründung, § 124a II 1, III 1 VwGO; das Schriftfor- lassung nach § 132 Abs. 3 VwGO vgl. BVerwGE 102, merfordernis ergibt sich aus § 124 III VwGO passim). 95, 98 f. unter Hinweis auf BT-Drs. 11/7030 S. 33). C. Einzelrichter als Verwaltungsgericht Vertiefungshinweise: Die Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zu- “ Keine Umdeutung der Berufung in Antrag auf Zu- lassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht lassung der Berufung: BVerwG, RA 1999, 366 = NJW sieht auch das Berufungsgericht. Es verneint sie aber 1999, 641 im Streitfall zu Unrecht mit der Begründung, der nach § 6 Abs. l Satz 1 VwGO bestimmte Einzelrichter sei Kursprogramm: nicht “Verwaltungsgericht” im Sinne des § 124 a Abs. “ Examenskurs : “Stuckateurgewerbe” l Satz 1 VwGO. Leitsatz: I. Gleichsetzung von Kammer und Einzelrichter als Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung Spruchkörper der Berufung durch den Einzelrichter gebunden. Denn der Einzelrichter, dem der Rechtsstreit nach § 6 VwGO zur Entscheidung übertragen ist, entscheidet Sachverhalt: als Verwaltungsgericht. Er ist in § 5 Abs. 3 VwGO Nachdem das Verwaltungsgericht durch einen Einzel- neben der Kammer ausdrücklich als Entscheidungs- richter nach § 6 VwGO die Berufung zum Oberver- organ des Verwaltungsgerichts genannt. waltungsgericht gem. § 124a I VwGO zugelassen hat- te, verwarf dieses die vom Beklagten eingelegte Beru- II. Kein Widerspruch zu § 124a I 1 VwGO fung als unstatthaft. Das BVerwG gab der Revision Zutreffend stellt das Berufungsgericht zwar heraus, statt und verwies den Rechtsstreit an das OVG zurück. dass die Voraussetzungen für die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. l Satz Aus den Gründen: 1 VwGO, hier: keine grundsätzliche Bedeutung der Die Revision ist begründet und führt zur Zurückver- Rechtssache, und für die Zulassung der Berufung nach weisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Zu Un- § 124a Abs. l Satz 1 VwGO, hier: grundsätzliche recht hat das Berufungsgericht die Berufung des Be- Bedeutung der Rechtssache, gegenläufig sind. Das klagten als nicht statthaft verworfen. Seine Auf- rechtfertigt aber nicht die Annahmen des Berufungs- fassung, die Berufung sei nicht wirksam zugelassen gerichts, der Gesetzgeber habe die Entscheidungszu- worden, verletzt Bundesrecht. Denn nach § 124 a Abs. ständigkeit des Einzelrichters in Fällen grundsätzlicher l Satz 2 VwGO war das Berufungsgericht an die Beru- Bedeutung ausgeschlossen und der Einzelrichter sei an fungszulassung durch den Einzelrichter gebunden. die Bewertung der Kammer, die Rechtssache habe kei- ne grundsätzliche Bedeutung, gebunden. Denn die be- A. Zulassung durch das VG zeichneten gegenläufigen Voraussetzungen beziehen Gegen Endurteile, wie hier das Urteil des Ver- sich zwar auf denselben Rechtsstreit, aber auf zwei waltungsgerichts Stuttgart vom 27.1.2003, steht den verschiedene Entscheidungen, die je zu einer anderen Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Ver- Zeit, mit anderer Prüfungsdichte und von anderen waltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zu- Richtern zu treffen sind. gelassen wird (§ 124 Abs. 1 VwGO). Das Ver- Zwar lässt die Frage, ob eine Rechtssache grundsätzli- waltungsgericht lässt die Berufung indem Urteil zu, che Bedeutung hat, nur eine Antwort zu. Die Antwort wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 (grundsätzli- hängt aber ab vom Erkenntnisstand zur Zeit der Ent- che Bedeutung) oder Nr. 4 (Divergenz) vorliegen (§ scheidung und von der Beurteilung des/r entscheiden- 124a Abs. l Satz 1 VwGO). Das Oberverwaltungsge- den Richter(s). richt ist an die Zulassung gebunden (§ 124 a Abs. 1 Es entspricht der beabsichtigten Verfahrensbeschleuni- Satz 2 VwGO). gung, wenn die Entscheidung über die Übertragung -329-
RA 2005, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT auf den Einzelrichter in einem relativ frühen Verfah- rensstadium getroffen wird, in dem der Prozessstoff IV. Keine Rückübertragungspflicht bei nachträglich noch nicht umfassend bearbeitet worden ist. Es ist des- erkannter grundsätzlicher Bedeutung halb nicht auszuschließen, dass sich die Beurteilung Ausgehend von der zutreffenden Erkenntnis, dass es der grundsätzlichen Bedeutung bei weiterer Durch- möglich ist, dass die Kammer rechtsfehlerhaft die dringung des Prozessstoffs im Laufe des Prozessver- grundsätzliche Bedeutung der Sache beim Übertra- laufs ändern kann. gungsbeschluss verkannt hat, sieht das Berufungsge- Es gehört zum Rechtsleben, dass Rechtsfragen abhän- richt ungeachtet der von ihm vertretenen Bindung des gig von der Beurteilung des/r entscheidenden Rich- Einzelrichters an die Bewertung durch die Kammer ter(s) entschieden werden und deshalb unterschiedli- (fehlende grundsätzliche Bedeutung) die Möglichkeit, che Entscheidungen zu identischen Rechtsfragen er- dass der Einzelrichter entgegen der Einschätzung der gehen. Dem trägt das Gesetz durch die Möglichkeit Kammer zur Auffassung gelangt, dass die Sache einer Überprüfung im Rechtsmittelverfahren und bei- grundsätzliche Bedeutung aufweise. Zu Unrecht ver- spielsweise auch einer unterschiedlichen Beurteilung neint es jedoch die Befugnis des Einzelrichters, die der grundsätzlichen Bedeutung durch Verwaltungs- Berufung zuzulassen, mit der Begründung, in diesem gericht und Oberverwaltungsgericht Rechnung. Fall liege eine wesentliche Änderung der Prozesslage Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass die im Sinne von § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor mit der Kammer bei ihrer Entscheidung über die Übertragung Folge, dass das durch § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO einge- in der Beschlussbesetzung mit drei Berufsrichtern eine räumte Ermessen auf null reduziert und der Einzelrich- grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verneint ter zur Rückübertragung verpflichtet sei. und den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzel- Zum einen darf der Einzelrichter die Sache, wenn er richter zur Entscheidung überträgt, dieser aber eine ihre grundsätzliche Bedeutung bejaht, nur dann nach § grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht und 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf die Kammer zurücküber- die Berufung in seiner Entscheidung des Rechtsstreits tragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung zulässt. der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätz- liche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwie- III. Keine Bindung des Einzelrichters an Auffassung rigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der übertragenden Kammer also nicht schon dann, wenn er sie anders als die Kam- Die vom Berufungsgericht angenommene Bindung des mer als grundsätzlich ansieht (BGH, MDR 2004, 49 = Einzelrichters an die Bewertung der Kammer im NJW 2003, 2900 zu dem insoweit vergleichbaren § Übertragungsbeschluss, dass die Rechtssache keine 526 Abs. 2 Nr. l ZPO). Entgegen der Auffassung des grundsätzliche Bedeutung habe, lässt sich dem Gesetz Berufungsgerichts kann deshalb in der von der Kam- nicht entnehmen. Anders als § 130 Abs. 3 und § 144 mer abweichenden Beurteilung der grundsätzlichen Abs. 6 VwGO, die für den Fall der Zurückverweisung Bedeutung durch den Einzelrichter nicht selbst eine eine Bindung an die rechtliche Beurteilung der Rechts- wesentliche Änderung der Prozesslage gesehen wer- mittelentscheidung regeln, bestimmt § 6 VwGO eine den. Eine Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung, Bindung an die der Übertragungsentscheidung zugrun- die sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozess- de liegende rechtliche Beurteilung nicht. Gebunden ist lage “ergibt”, kann nicht selbst die vorausgesetzte we- der Einzelrichter an die Entscheidung der Kammer, sentliche Änderung sein. [...] also die Übertragung des Rechtsstreits auf ihn, nicht Zum anderen verpflichtet § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO den jedoch an die dieser Entscheidung zugrunde liegende Einzelrichter nicht zur Rückübertragung, sondern Beurteilung des Rechtsstreits. Mit der Übertragung räumt ihm, anders als § 6 Abs. l Satz 1 VwGO für die geht die Entscheidungsbefugnis für den Rechtsstreit Übertragung selbst (soll übertragen), ein nicht inten- uneingeschränkt auf den Einzelrichter über; er, nicht diertes Ermessen (kann zurückübertragen) ein. Wenn die ganze Kammer, entscheidet am Ende im Urteil der Einzelrichter aber bei grundsätzlicher Bedeutung nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht zurückübertragen muss, sondern kann, lässt das gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. l Satz 1 Gesetz die Entscheidung des Einzelrichters auch in Fäl- VwGO) auch darüber, ob die Rechtssache grundsätzli- len von grundsätzlicher Bedeutung zu. che Bedeutung hat und die Berufung zuzulassen ist. -330-
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